Eine Formalie in Kiew - Dmitrij Kapitelman - E-Book

Eine Formalie in Kiew E-Book

Dmitrij Kapitelman

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Beschreibung

Dmitrij Kapitelman erzählt von einer Familie, die in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen, und am Ende ohne jede Heimat dasteht. „Erst durch dieses Buch ist das Verstehen der Migration, des Nicht-Dazugehörens und des Dazwischen möglich.“ Olga Grjasnowa

Eine Formalie in Kiew“ ist die Geschichte einer Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen, und am Ende ohne jede Heimat dasteht. Erzählt mit dem bittersüßen Humor eines Sohnes, der stoisch versucht, Deutscher zu werden.
Dmitrij Kapitelman kann besser sächseln als die Beamtin, bei der er den deutschen Pass beantragt. Nach 25 Jahren als Landsmann, dem Großteil seines Lebens. Aber der Bürokratie ist keine Formalie zu klein, wenn es um Einwanderer geht. Frau Kunze verlangt eine Apostille aus Kiew. Also reist er in seine Geburtsstadt, mit der ihn nichts mehr verbindet, außer Kindheitserinnerungen. Schön sind diese Erinnerungen, warten doch darin liebende, unfehlbare Eltern. Und schwer, denn gegenwärtig ist die Familie zerstritten.

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Über das Buch

Dmitrij Kapitelman kann besser sächseln als die Beamtin, bei der er den deutschen Pass beantragt. Nach 25 Jahren als Landsmann, dem Großteil seines Lebens. Aber der Bürokratie ist keine Formalie zu klein, wenn es um Einwanderer geht. Frau Kunze verlangt eine Apostille aus Kiew. Also reist er in seine Geburtsstadt, mit der ihn nichts mehr verbindet, außer Kindheitserinnerungen. Schön sind diese Erinnerungen, warten doch darin liebende, unfehlbare Eltern. Und schwer, denn gegenwärtig ist die Familie zerstritten. »Eine Formalie in Kiew« ist die Geschichte einer Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen, und am Ende ohne jede Heimat dasteht. Erzählt mit dem bittersüßen Humor eines Sohnes, der stoisch versucht, Deutscher zu werden.

Dmitrij Kapitelman

Eine Formalie in Kiew

Hanser Berlin

Verfliegende Landsleute

Viel zu früh am Abfluggate in Leipzig und allein zwischen den leeren Sitzreihen, kommt mir ein Rat meiner Mutter in den Sinn. Ein ukrainischer Rat, eigentlich eher ein Verbot. Ich musste es seit Ewigkeiten nicht mehr bedenken, es war nicht nötig hierzulande.

In meinem ersten Leben aber, meinem ersten Land, schlenderten wir durch die Straßen Kiews, als mich Mama ruckartig anhielt. Ich war bedenkenlos auf einen Gullydeckel getreten. Damals-Mama beugte sich herunter, sah mir ernst in die Augen und sprach: »Zaja«, mein Häschen, »in diesem Land darfst du niemals auf Gullydeckel treten, hörst du? Du weißt nie, ob sie festgeschraubt sind, und dann fällst du rein und kommst nie wieder zu uns hoch! Versprich mir, dir das zu merken.«

Offenbar habe ich mein Versprechen gehalten. Das ist schon mal etwas, das uns unterscheidet.

»Achtung, eine Durchsage für Passagiere von Ukraine International Airlines. Flug D328 nach Kiew verzögert sich um voraussichtlich zwei Stunden. Wir bitten dies zu entschuldigen und danken für Ihr Verständnis.«

Meine deutschen Landsleute fuchteln verständnislos mit den Armen. Meine ukrainischen Landsleute zucken nur ungerührt mit den Schultern, wenig überrascht von der zweistündigen Verspätung unseres planmäßig zweistündigen Flugs. Ich hatte mich schon gewundert, warum die alle so spät zum Boarding eintrudeln. Dabei taten sie nur, was Ukrainer täglich tun — nicht an die Ukraine glauben. Als einer, der die postsowjetische Staatssäure mit der Muttermilch aufsog, hätte ich das eigentlich wissen müssen.

Mama, warum können Kanalisationsdeckel in Kiew fatale Fallen sein? Weil es die Ukraine ist. Warum kommt die Feuerwehr nicht, um einen wieder rauszuholen? Weil es die Ukraine ist. Wieso ist die Luft radioaktiv, die Chirurgin betrunken, der Notar ebenso, der Briefträger Analphabet, der Straßenhund auf nur einem Ei kastriert und jede Präsidentin am Ende der Amtszeit steinreich? Weil es die Ukraine ist, Stupid.

Und genau dorthin muss ich nun zurück, um jemanden zu bestechen. Keinen Schimmer, wen. Ich weiß nur, dass irgendjemand geschmiert gehört. Nur so kann ich deutscher Staatsbürger werden. Legal geht es nicht, auch nicht nach einem Vierteljahrhundert als hiesiger Landsmann.

Aber alles der rechtmäßigen Reihe nach.

Vor einer Weile beschloss ich also, endlich die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Auf einer von sibirischen Katzen vollgepissten Treppe hockend. In die Märzsonne blinzelnd, existenzielles Mittelfeld, etwas verlassen vielleicht. An jenem Tag auf der Treppe eröffnete ich mir selbst, dass es nun so weit sei. Zeit, den offiziellen deutschen Stempel zu holen, den mir die Jahre längst aufgedrückt hatten. Wie kompliziert konnte das schon sein, bei meinem Werdegang? 1994 im Alter von acht Jahren immigriert, deutsch eingeschult, sozialisiert, studiert. Berufstätig, steuerpünktlich, verfassungspatriotisch. Nicht zu vergessen hellhäutig, das bürgert hierzulande besonders verlässlich ein. Stets meine Einkäufe in weniger als sieben Sekunden verstauend, so wie es in diesen Gefilden Brauch ist seit jeher. Manchmal vermute ich, dass sogar Frau Kunze, meine Sachbearbeiterin bei der Ausländerbehörde, mich insgeheim für einen Deutschen hält. Dass sich in Gestalt von uns beiden einfach zu viele kulturelle und kommunikative Übereinstimmungen gegenübersitzen, als dass sie behaupten könnte, ich sei nicht imstande, so deutsch zu sein wie sie. Wenn alles gesagt und geschmiert ist, werde ich Frau Kunze mal fragen, ob meine Vermutung stimmt.

Früher tönte ich, mein Gesicht niemals unter einem Bundesadler sehen zu wollen. Und behauptete, es sei wegen der Shoa und der blutrünstigen Neonazis, die uns durch Leipziger Plattenbausiedlungen gejagt haben. Wegen der Zigaretten, die sie lachend an uns ausdrückten, den Kampfhunden, die sie auf uns hetzten, den Pistolen, die sie uns beim Eisessen am Kulkwitzer See an den Kopf hielten. Und den deutschen Polizisten, die nie etwas gegen die deutschen Nazis taten. Aber das war glatt gelogen. Ich war einfach zu faul für den ganzen Papierkram bei der Ausländerbehörde. Dem Dummdödel von damals war schlicht nicht klar, wie krass ein deutscher Ausweis privilegiert, wie sehr er das Leben erleichtert.

In fast alle Länder der Welt reisen können, ohne Visaanträge! Während ich als Ukrainer nach einem Vierteljahrhundert immer noch der Residenzpflicht unterliege und theoretisch nicht mal in einem anderen Bundesland als Sachsen wohnhaft gemeldet sein darf. Im Alltag kommt zwar kein Beamter darauf, mich auf unbefugtes Bundesland-Hopping zu überprüfen. Ich habe ja einen gewinnenden Mantel an und blaue Augen. Aber die gesetzliche Grube im Hinterkopf ist dennoch tief. In dieser Grube gibt es weder Freiheit noch Gleichberechtigung. Nicht mal bei den banalen Belangen. Der kaltfüßige, hadernde Blick der Vermieterin mit Perlenkette, wenn ich meinen ukrainischen Ausweis bei der Mietvertragsunterzeichnung auspacke. Als hätte ich ihr durch Aussehen und Sprache bis dahin etwas vorgemacht.

Über eine rote Ampel gehen, von der Polizei erwischt und unter Inländerkriminalität vermerkt werden. Aus dem Urlaub heimkommen, ohne dass die Bundespolizisten einen beäugen wie die personifizierte Armutsmigration. Endlich eine Stimme gegen die Faschisten in die Urne schmettern: Wählen dürfen! Das sind die Dinge, die zählen! Ukrainisch-russisch-jüdisch-deutsch, solche Identitätsoberflächen haben mich früher gejuckt, als ich dreißig und noch jünger war. Jetzt bin ich viel älter (zweiunddreißig) und weiser. Ich will ein administrativ möglichst komfortables Dasein fristen, mit so wenig bürokratischem Ballast und Begrenzungen wie möglich. Stattdessen verspüre ich eine Art zeitgeschichtlichen Eispickel im Rücken. Wer weiß, wie weit die Faschisten in Deutschland noch von der Macht entfernt sind, liebe Landsleute. Ihre Partei erhält immer mehr Stimmen. Möglich, dass Deutschsein bald wieder offiziell über Blut, Farbe, Parteibuch und Religion definiert wird. Dann ist es zu spät für mich. Ich sage es ja nicht gern, aber mit einem deutschen Pass ließe sich Deutschland notfalls sogar mit mehr Optionen verlassen. Und damit es nicht so weit kommt, benötigt dieses verwundete Land neue Demokratiedeutsche wie mich. Wir sind Frischluft, da stimmen Sie mir doch sicherlich zu? Unter uns gesprochen: Frischluft ist eine fast so feine deutsche Vokabel wie Fruchtfleisch.

Ich vereinbarte also einen Termin bei der Ausländerbehörde Leipzig und saß bald Frau Kunze im Raum B.106 des Technischen Rathauses gegenüber. »Immor harrainspoziert«, rief sie im sächsischen Singsang, grüßend und maßregelnd zugleich.

Akte auf: Kunze.

Nationalität: Sächsisch.

Geboren: Vor etwa fünfzig Jahren.

Körpergröße: In wohlständigem Maße vorhanden.

Grundhaltung: In Routine zu glaubhafter Freundlichkeit gereift.

Äußere Auffälligkeiten: Großes Grübchen, eigentlich eher ein senkrechter Grübchenstreifen, in der Mitte des Kinns. Bernsteinkettchen.

Ich hätte spielend leicht mit einem Nu, abor frailisch spiegelsächseln können. Einfach um zu sehen, wie die Güdste reagiert. Aber wozu? Unser erstes Aufeinandertreffen dauerte ohnehin nicht lange. Frau Kunze händigte mir ein Antragsformular und Merkblätter zu den geforderten Unterlagen aus. Ganz behände. Bis ich alles beisammenhatte, was verlangt wurde, dauerte es dann allerdings eineinhalb Jahre.

Auf die zwei Stunden Warterei am Flughafen kommt es jetzt also auch nicht mehr an, denke ich und zucke mit einer gelassenen restukrainischen Schulter, als Otez, mein Vater, mich anruft. Das tat er früher jeden Tag, zuletzt jedoch kaum noch. Weil ich meistens nicht rangehe. An jenem sonnigseltsamen Tag auf der Treppe traf ich auch die Entscheidung, nicht mehr mit meinen Eltern zu reden. Vielleicht traf sie auch eher mich — unvermittelt und doch überfällig.

Moment mal: eineinhalb Jahre, um alle Unterlagen zu besorgen? Ist es wirklich dermaßen kompliziert? Sie wundern sich vielleicht, liebe Landsleute. Was muss man überhaupt beweisen, um Deutscher zu werden? Und was hat das bitte mit Korruption in Kiew zu tun?

Nun, hauptsächlich geht es bei einem Einbürgerungsantrag darum, zu belegen, dass man Geld hat. Armut ist das absolute Ausschlusskriterium, der Staat holt sich keine strukturelle Schwäche in den Volkskörper. Arbeitsverträge, Steuerbescheide, Kontoauszüge, Mietauskünfte und diverse Versicherungspolicen, sehr viele Versicherungspolicen — das macht den Ausländer nachträglich deutsch.

Ein wenig kommt es auch auf den Charakter des Prätendenten an. Weshalb sonst wird verlangt, einen ausführlichen handschriftlichen Lebenslauf zu verfassen? Ob Frau Kunze so genau darin geschmökert hat, wage ich zu bezweifeln. Vermutlich geht es eher um die Schrift selbst. Selbstsicherer, raumgreifender Auftaktbuchstabe? Wie bewegen wir uns am Rand? Veritable Vorlage für einen psychologischen Abstrich. Wissen Sie, liebe Landsleute, wie schwer es jemandem aus der Tastengeneration fällt, via monomanueller Hand zu schreiben? Kurz vorm Gelenkinfarkt stand ich! Sicher liest sich das Ganze wie das Werk eines Geistesgestörten. Und zugegeben, ein wenig demütigend war es auch, nach fünfundzwanzig Jahren eine solche Selbstauskunft verfassen zu müssen. Gesellschaftlich auf null zurückgesetzt fühlt man sich. Ausstoßbar.

Otez leuchtet ein zweites Mal auf meinem Handydisplay auf. Na schön. Vielleicht, weil es sich so bitter anfühlt, allein und zerstritten in die Stadt unserer Vergangenheit aufzubrechen, gehe ich ran. Vater erfährt von meinem bevorstehenden Korruptionskreuzzug und ist aufgebracht.

»Mich schüttelt es vor Sorge, dass du so etwas gerade jetzt an der Backe hast. So ein Golownjak!«

Außer uns gesprochen: Golownjak ist Russisch und meint einen außerordentlich anstrengenden, menschengemachten Kopfschmerz.

Ja, ja, Vati-Shabbati. Immer schüttelt es dich vor Sorge. Nur in Bewegung, um das Problem in den Griff zu kriegen, setzt die Sorge dich nie. Alles ist so anders geworden. Damals-Mama in Kiew war die Liebe selbst. Heute-Mutter ist ein anderer Mensch, ich erkenne sie nicht wieder. Es ist leichter, auf sie wütend zu sein, weil sie nie Süßholz raspelt wie Vater. Sie ruft auch gar nicht erst an.

»Joschik (Iglein), pass auf und zeig nicht zu sehr, dass du aus dem Westen kommst und Geld hast, ja? Sonst folgt dir einer mit einem Ziegelstein und schlägt dir den Kopf ein. Und versprich mir, vorsichtig zu sein mit dem Russisch-Sprechen. Das mögen sie in der Ukraine gerade überhaupt nicht, wegen dem Krieg.«

Ukrainisch verstehe ich kaum, wir kamen damals aus dem russischsprachigen Teil. Es klingt wie eine Art slawisches Mandarin für mich. Klang es schon beim letzten Mal, als ich drüben war — vor siebzehn Jahren.

»Okay, nicht reden, arm sein, Kopf nicht mit einem Ziegelstein einschlagen lassen. Klingt vernünftig. Wir hören uns.«

»Warte.«

»Ja?«

»Deine Mutter ist sehr traurig. Gestern hat sie sogar geweint.«

Ich schweige einen Moment. Mehrere Momente.

»Du weißt, warum ich nicht mit euch rede.«

»Ja, ich weiß. Weil sich nichts ändert.«

»Ja.«

»Nuh, dös schaut doch gonz guht aus«, lobte Frau Kunze meine migrantische Money-Mappe, die gesammelten Werte.

Frau Kunze scheint eine recht unaufgeregte Sachbearbeiterin zu sein. Schwerfällige, hinter einer Brille hockende grüne Augen. Verweilt in einer Art Suggestionsstarre, die signalisieren soll: Ich mache die Gesetze nicht, ich bewerte die Gesetze nicht, ebenso wenig wie dich persönlich. Kooperierst du, kooperiere ich.

In Sachsen, wo immer wieder Einzelfälle von nicht rechtsextremen Polizisten und Justizvollzugsbeamten bekannt werden, ist Frau Kunze tendenziell eher eine neutrale Freundin als eine neutrale Feindin.

Die Loyalitätserklärung zum Grundgesetz war eine Frage von wenigen Minuten. Sind Sie loyal zum Grundgesetz? Ja. Gut. Unterschrift. »Mir brauch’n jetzt nür nöch eine arneuerde Gebürdsurgünde un eine Abösdille von Ihn’n.«

Erneuerte Geburtsurkunde? Wirklich? Nach fünfundzwanzig Jahren? Und was war das andere? Wussten Sie, liebe Landsleute, dass eine Apostille eine Beglaubigungsform im internationalen Schriftverkehr ist? Oder, um es mit den volksnahen Worten von Frau Kunze auszudrücken: »Doas ist die behördliche Beschdädiung einör behördlichen Beschdädigung von dar nächsthöheren’n Behörde.« Und dann sagte sie: »Die könn’n Sie nur in dar Ukraine krieg’n.«

Ich bin wirklich geboren worden und habe das auch mit Originaldokumenten samt amtlicher Übersetzung ins Deutsche bezeugt, alles hatte seine Richtigkeit. Das wusste auch Frau Kunze, es stand ihr förmlich ins Grübchen geschrieben. Und dennoch verlangte sie diesen völlig überflüssigen Staatsstunt.

»Öhne diese Dogümende konn ich leidör nischd für Sie tu’n.«

»Frau Kunze, ich weiß überhaupt nicht, wo und wie ich diese Apostase —«

»Abösdille.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wo und wie ich diese Apostille in Kiew besorgen soll.«

»Joa, üm den Ümgang mid den ukrainsch’n Behörd’n beneide ich Sie ooch nisch. Dar gibt’s immor besönders viele Üngereimdhaiden. Un jetzt noch der Köhmikar bei euch als Präsidend …«

Bei uns? Hier ist mein bei uns! Deswegen sitze ich doch in Ihrem mit guter deutscher Gesetzlichkeit geölten Büro! In der Ukraine dagegen funktioniert kein Behördengang ohne Bestechung. Aber wie ist man in Kiew korrekt korrupt? Keine Ahnung. Als wir weggingen, spielte ich noch mit Ninja Turtles, und meine größte Gaunerei bestand darin, die Post aus unserem löchrigen Briefkasten zu fischen.

»Mach’n Se sich mal nisch varrückt, Sie ham ja alle Zeit der Welt, die Dogümende zu besorg’n. Vor Septembor werd’n mar eh keine Einbührchorrungsprögnöse ausstell’n.«

Als sie all das starr suggerierte, war es Anfang April. Jetzt neigt sich schon der Juli dem Ende entgegen. Reiche ich die Papiere nicht rechtzeitig ein, verfällt mein Antrag, zumindest habe ich Frau Kunze so verstanden.

Dass es nach einem Vierteljahrhundert als Mitglied der deutschen Gesellschaft so hinterhältig schwer werden würde, amtlich als Mitglied der deutschen Gesellschaft anerkannt zu werden, hätte ich mir nie träumen lassen.

Unter uns gesprochen: Die Redewendung sich etwas träumen lassen hat etwas sehr Deutsch-Dienstleistungsgewisses. Eine Flugverspätung von zwei Stunden hätte sich Joachim Sauer an jenem Morgen nicht träumen lassen.

Das Boarding beginnt. Höchste Zeit, Vater abzuwimmeln. »Bringst du uns wenigstens Salo aus Kiew mit?«, murmelt er kleinlaut.

Salo ist Würzspeck und der wahre Stolz der Nation. Womöglich das einzige Wahrzeichen, das die ukrainischen Landsleute niemals verspotten. Ich gebe mein einsilbiges Wort.

Der Shuttle-Bus fährt zu irgendeiner entlegenen Startbahn. Es dauert so lange, dass ich noch die Quartalssteuern ans Finanzamt Leipzig überweisen kann. Die deutschen Landsleute werden mürrisch, als hätte jemand gerade neun Komma acht Sekunden lang seine Einkäufe bezahlt. Die ukrainischen Landsleute fangen an zu scherzen, man habe vielleicht versehentlich eine Busfahrt nach Kiew gebucht. Ich betrachte eine Mutter und ihren Sohn. Sie bestehen erkennbar aus derselben Materie, auch wenn die Evolution den Jungen ein wenig angezickt und ihm eine gröbere Nase und rötlicheres Haar verpasst hat. Die Mutter deutet auf etwas offenbar Amüsantes draußen, und sie kichern einvernehmlich. Seit meine Mutter und ich zerstritten sind, wirft es mich manchmal aus der Bahn, wenn sie mich aus dem Spiegel ansieht. Ich habe es mit mehr Bart versucht, aber von den Augen ist einfach nicht abzusehen.

Vom ersten Staatsfamilienleben zum zweiten Staatsfamilienleben

Ohne die Ukraine, ohne unser erstes Staatsleben, gäbe es mich nicht. Nein, das ist zu unkonkret. Ohne ukrainischen Würzspeck gäbe es mich nicht, weil sich meine Eltern sonst wohl nie kennengelernt hätten. Vor etwa vierunddreißig Jahren schlenderte eine junge Frau namens Vera über den Kiewer Bessarabka-Basar, hielt an einem Stand inne und kaufte einen saftigen Streifen Salo. Dann stolzierte sie weiter, leicht federnd und mit etwas nach außen zeigenden Füßen. Diese Fußstellung hatte sie noch von ihrer Zeit beim Ballett. Eine schlanke, eigenwillige Schönheit, eine schöne Eigenwilligkeit. Spielte irgendwo Musik, schwirrte Vera hin. Imponierte ihr ein fetziger Hut, setzte sie ihn sich auf. Langweilte sie ein Verehrer, weilte sie nicht lang bei ihm.

Plötzlich trat ihr ein kleiner, rundlicher Lockenkopf in den Weg, plusterte sich auf: Leonid, dem sie bald den albernen Schnurrbart untersagen würde. Dieser Leonid eröffnete ihr, dass er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eine so bezaubernde Frau mit derart minderwertigem Würzspeck davongehen zu lassen. Vera vertraute Leonids drolliger Gewissenhaftigkeit am Wegesrand, spürte wohl etwas darin. So unförmig er daherkam, so schneidig konnte dieser junge Mann auftreten. Ein rastloser, energetischer Flummi, mit mehreren Taschen über der Schulter. Ständig etwas berechnend, spekulationsschnüffelnd, nach China schießend, dort alles von Batterien bis Angorapullis aufkaufend, um es in der mangelwarigen Ukraine für ein Vielfaches zu verscherbeln. Einer, der aus Spänen Honigmelonen machen konnte. Einer, der den großen Sprung schaffen, unabhängig sein und leben, nein, bestmöglich leben wollte. Der sowjetische Staat war ihm dabei stets im Weg: Er verteilte die gleichen Trockenäpfel an alle und überwachte, wer sie wie und wann kaute. Wobei, eigentlich behauptete er nur, dass alle die gleichen Trockenäpfel bekämen, was Leonid wusste und hasste.

Vera mit dem diskreditierten Speck erkannte schnell, dass dieser selbsternannte Schweinefleischspezialist Jude sein dürfte. So sagt sie es selbst. Und sie wusste um die politischen Schwierigkeiten, die das im Trockenapfelstaat mit sich brachte. Leonids Eltern konnten nichts gegen die Liaison mit einer Gojfrau einwenden, denn sie waren bereits tot. Leonid wiederum erfuhr früh genug, dass Veras Mutter, Proskofja Mechalowna, als die glühendste Antisemitin in ganz Soroki galt, Veras Geburtsstadt in Moldawien. Und dass Vera eine kleine Tochter aus erster Ehe namens Tonja großzog. Nichts davon schmälerte die Verliebtheit dieser zwei Verrückten, im Gegenteil, bald schwoll der Bauch meiner Mutter an. Erst vom guten Salo, dann von mir.

Kaum erblickte ich das ideologisch klare Licht der sowjetischen Welt, stand Ärger mit dem System ins Haus. Weil es in Kiews Geburtskliniken strikte Milchquoten gab und ich wie ein Wahnsinniger nach einer sofortigen Neuberechnung der Rationen schrie. Die Stationsärztin schimpfte mich einen Nuckel-Imperialisten. Bald geriet ich ein zweites Mal mit der kommunistischen Ordnungsmoral aneinander, weil ich ein sehr faules Kleinkind abgab. Vera und Leonid fürchteten schon, ich könnte behindert sein, weil ich partout den Kopf nicht heben wollte. Bis ihnen ein Arzt klarmachte, dass dieser kleine Drückeberger sich nur nicht die Mühe dazu machte.

Beide Konflikte kulminierten in meiner Vorliebe für Wareniki mit Quark, die als leniwiji — faul — bezeichnet werden, weil sie schön durchhängen müssen. Damals-Mama war eine Großmeisterin darin, sie zu bekömmlichen Teigenichtsen zu kneten. Ja, auch wenn Vera und Leonid sicher sagen würden, dass jene Jahre radioaktiv sowie sozio-ökonomisch verseucht waren: Für mich ließ es sich prima in Kiew aushalten. Damals-Mama und Damals-Papa sorgten sich ständig um den Smog in der Stadt, ich dagegen fand den Benzingeruch der alten sowjetischen Viereck-Autos heimelig. Fuhren sie uns doch immer sicher nach Hause in unsere kleine Chruschtschowka, wo die Babuschkas im Hof bereits verstanden hatten, wie bezaubernd ich bin, und diesen Umstand mit Süßigkeiten aufrechterhielten. Mein liebster Spielplatzfreund Rostik wohnte nebenan, meinem Wunsch nach einem eigenen Hund wurde entsprochen, dem nach einer Katze ebenso. Und die Tage, na ja, die Nachmittage mit meiner Schwester Tonja waren mir auch lieb.

Tonja lebte damals bei Proskofja Mechalowna, ein freundlicher Gott habe sie selig. Die winzige Wohnung in der Chruschtschowka war zu klein für uns alle, Tonjas Rollstuhl passte nicht einmal durch den engen Türrahmen des für unaufhaltsame sowjetische Arbeiter vorgesehenen Ziegelsteinhauses. Der Rollstuhl war nötig geworden, weil Tonja nach etwa sechs gesunden Jahren immer kränker und kränker wurde. Bis sie irgendwann nicht mehr laufen konnte und sich krümmte wie ein Kringel von einem Menschen. Vielleicht war es ein Hirnschlag, vielleicht ein Gendefekt, der meine Schwester immer kränker machte. Meine Mutter hat mir die medizinische Ursache nie genau auseinandergesetzt. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich bis heute nicht auf einer präzisen Antwort bestanden habe. Ich bin wahrscheinlich ein mieser kleiner Bruder. Andererseits würde dieses Wissen nichts an der Wirklichkeit ändern.

Lessja Sawelewna, unsere Privatlehrerin, sie roch immer ein wenig wie der Kuli, mit dem wir übten, und nach Trockenäpfeln, unterrichtete anfänglich sowohl Tonja als auch mich. In Omas Wohnung, die zwar älter und knarziger war, aber irgendwie netter gemeint schien. Die Decken waren ganz weit weg vom Kopf und an den Rändern feierlich verschnörkelt. Das Haus, in dem sie lebte, war auch nicht glatt aus roten Ziegeln, sondern grün-weiß und aufwändig geschwungen. Tonja und ich lernten also Rechnen und Schreiben, Proskofja Mechalowna stritt manchmal mit ihren beiden Wellensittichen. Ich glaube, sie warf ihnen Schamlosigkeit vor. Irgendwann am Nachmittag holten mich dann Damals-Mama und Damals-Papa ab. Und wir flanierten ein wenig durch die riesige Stadt, die mir dank ihnen nicht das Geringste anhaben konnte.

Eines Tages, mir war bereits Veras und Leonids Hochzeitsmedaille in einer samtroten Schatulle anvertraut worden, schrieben die beiden sich für Deutschkurse ein. Und sprachen immer öfter von Germania. Dabei hatte ich doch gerade erst das Liedchen zum russischen Alphabet gelernt.

»Soso lala, soso lala«, flötete Leonid seine erste deutsche Lieblingsvokabel und grinste wie der Zirkusdirektor des Jahres. Gleichzeitig begannen beide mir einzubläuen, dass in Germania Schluss sein würde mit dem ewigen Müßiggängertum.

»Dort wirst du ein Fremder sein, den niemand braucht! Wenn du da nicht den ganzen Tag arbeitest und wie ein Besessener lernst, wird überhaupt nichts aus dir!«

Und Proskofja Mechalowna krakeelte von der Seite: »Nicht mal als Kloputzer werden sie dich in Germania nehmen!«

Das Schreckgespenst vom faulen Einwanderer: Niemand fürchtet es mehr als der Einwanderer selbst. Ich wusste nicht, was genau Germania eigentlich ist, nahm mir die sinisteren Prophezeiungen aber sehr zu meinem siebenjährigen Herzen. Ausgerechnet Proskofja Mechalowna erklärte dann kurz vor der Abreise, dass sie eigentlich lieber nach Israel wolle. Das hatte weniger mit einer inneren Umkehr oder dem Heiligen Land an sich zu tun als mit irgendeiner Tjotja (Tante) in der Schlange am Sardinenstand auf dem Fischmarkt, die ihr gesagt hatte, dass es gut sei in Israel. Und was die normalen Ljudi, die Landsleute, sagten, das war für Proskofja Mechalowna Gesetz.

Ausgerechnet an einem achten Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation, erhielten meine Eltern die Einreisegenehmigung für die Bundesrepublik per Post. Leonid und Vera lasen das Schreiben noch in der Tür. Mit ungläubiger Vorfreude, die besonders Leonids Gesicht immer strahlender schimmern ließ. »Ab heute ist das ein doppelter Feiertag, ein Tag des Sieges! Deutsche Soldaten, deutsche Offiziere, soso lalala, soso lala«, sang er wie losgelöst, triumphierend durch die Chruschtschowka tänzelnd. Der Zirkusdirektor flog majestätisch durch die Manege, auf dem Rücken zahmer weißer Herrenrassentiger. Den Siebenleuchter nahm er dann trotzdem nicht mit, zu schwer.

Mit ein paar Koffern, einem Sony-Fernseher, einigen schönen Vasen (Vera waren sie nicht zu schwer), einer Sibirischen Katze, einem Basset Hound und etwa sechzigtausend Deutschmark brachen wir in das neue Land auf. Der Busfahrer brummte durchs Mikrofon, dass wir gleich zur ukrainisch-polnischen Grenze kämen, Zeit für die Kollekte. »Die Tamoschniki (Grenzbeamte) lassen vieles durchgehen, wenn vieles durchgeht.« Also legten alle Insassen Dollarscheine in ihre Pässe und reichten sie nach vorne durch. Damals-Mama gab auch mir einen Dollar, ich legte ihn staatstragend in meinen Pass.

Als wir uns später der deutschen Grenze näherten, wollte ich zeigen, wie aufmerksam ich alles verfolgt hatte. Ich sagte zu Papa, dass er die Dollar rausholen solle, aber er lächelte beseelt und sagte, dass in Germania keine Kollekte mehr nötig sei. Papa schaute Mama an, die beiden lachten und küssten einander leicht überschwänglich. Wie zwei Menschen, die lange auf diesen bestimmten Kuss gewartet hatten.

Der Bus hielt in den Morgenstunden in einem Städtchen namens Meerane. Und während meine Eltern die Koffer ausluden, sah ich einen Igel von einem Busch zum anderen flitzen. Recht so, Herr Igel, Tempo, Tempo — das ist Germania! Wir zogen in Sachsens schönsten blau-weißen Baucontainer. Und blieben ein Jahr im Asylheim. Mit Abstand am schnellsten integrierte sich die Katze, Marta. Beseelt vom wirtschaftswunderlichen Pioniergeist, ging sie, ohne Zeit zu verlieren, im angrenzenden deutschen Waldgut jagen. Und legte Versorgungsmaus um Versorgungsmaus vor unserem Fenster ab. Man hat versucht, Marta zu erklären, dass die Nachfrage das Angebot bestimmen sollte, aber sie wollte das nicht hören. So wie wir nicht auf die Bezeichnung »jüdische Kontingentflüchtlinge« hören wollten, doch das waren und sind wir offiziell.

Im achten Stock des Plattenbaus am Leipziger Stadtrand legte Marta natürlich keine Mäuse mehr vor dem Fenster ab. Doch ausgerechnet dort stank meinen Eltern plötzlich die Außenwelt, ihr neues, selbsterwähltes Land, und der süßlich verdummende Duft von Verklärung stieg auf. Sie begannen, die Ukraine zu glorifizieren!

»Dein stinkendes Leipzig ist nichts gegen Kiew, Dima«, sagte Mama nun, als wäre die Auswanderung meine Entscheidung gewesen. Absurd, meinen Sie nicht, liebe Landsleute? Vielleicht war das der Augenblick, in dem ich zu ahnen begann, dass unsere Reise noch lange nicht beendet war. Dass ein Aufbruch noch keine Ankunft ist. Und dass sich unsere Familie unterwegs für immer verändern würde. »Du bist ja sowieso schon einer von denen, ein Deutscher«, sagte sie, als wäre ich ein gammliger Fisch. Vielleicht wollte ich allein deshalb all die Jahre lang niemals Deutscher werden. Um meinen Eltern zu beweisen, dass ich doch ganz und gar zu ihnen gehöre. Ganz egal, wo wir waren.

Als das Abenteuer Auswanderung zum Alltag schrumpfte, standen die Dinge soso lala