Das Launland - Johann S. Warhoff - E-Book
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Johann S. Warhoff

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Beschreibung

So viele Welten sind bereits erlebt, so viel wurde bereits durchgangen. Alles Leben ist doch so innig mit dem Denken verbunden, ist im ständigen Tanz zueinander vereint. Jedes Wort legt sich über unsere Wahrnehmung wie ein seidenes Tuch, ist dem Leben, dem unendlich fließenden Gewässer, das Flussbett, ist Richtung und Hindernis. Bald finden mehr und mehr verzweigte Flüsse, ja beinahe unendlich viele, zueinander, die im großen See münden, wallend, stürmend, und kämpfen lange noch in türmenden Wellen, die gegeneinander preschen. Irgendwann, da findet das Wogen ein Ende, dann ist jedes Gewässer berührt, ist sich nicht mehr zwei, sondern eins und wird ruhig, bis es spiegelglatt in sich ruht und die Röte der Sonne, die wie des Himmels Blut die Wolken färbt, im klaren Wasser erscheint und eine verkehrte, neue Welt entsteht. Lasse dich fallen in die unendliche Welt des Launlands, denn hier ist der Mythos noch im Äußeren verwoben, belebt felsige Hänge und kriecht im Nebelschleier durch die dunklen Wälder. Jede Rinde, jeder Stein, jedes Tier trägt das Unbekannte mit sich und belebt Ängste, Träume und Hoffnungen, belebt die Fantasie und lässt dich in ihr versinken. Die Urwesen, die hier so lange schon weilen, warten auf dich. Doch sei gewarnt! Denn im tiefen Mysterium lauern auch dunkle Gefahren …

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Johann S. Warhoff

 

Das Launland

 

Märchen, Mythen und Sagen

aus dem Launland

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Willkommen im Launland

Das Moosweiblein

Der Waldschrat

Die wilde Jagd

Maria und die Kobolde

Die Hexe

Ein Weidenbaum

Der Schmied und der Kaiser

Zwischen Liebe und Wahn

Hlaldrutze

Die Seetänzerin

Der Wiedergänger

Der Durst der Urbiester

Der Schauber

Der Wechselbalg

Der Bergkönig

Spaltung des rechtschaffenen Geistes

Der Fisch

Das Leben der Toten

Das Wispern im Untergrund

Der Drache

Die Eis Nymphe

Der Tanz von Gott und Teufel

Gestaltwandler

Der Krampus

Der Höhlentroll

Venedigermandln

Der Fremde am See

Das Leuchten des Waldes

Der Teufel im Kleriker

Die Zeit

Auf Wiedersehen!

 

Willkommen im Launland

 

 

Dichter Nebel verschleiert das verschlafene Tal. Frühmorgens ist es und die Wolkendecken wandern dicht und langsam durch die Landschaft. Vor fern hört man leises Knarzen und die sanften Wogen, die versuchen, Welle um Welle, auf den bemoosten und Wurzel durchzogenen Boden zu klettern. Sofort sinkst du ein Stück hinein und der Schlamm türmt sich auf, an den Seiten deines dichten Schuhwerks. Der Stoff deines durchnässten Mantels hält deinen Körper eng umschlungen und klebt an deiner Haut, die Kapuze umfängt dein Haupt und deine Ohren und dämpft jedes Geräusch. Wieder leises Knarzen. Du blickst auf und als die Nebelschwaden von einer leichten Brise zur Seite geschoben werden, siehst du ein kleines, modriges Ruderboot, das, angebunden an einen modrigen, alten Steg, mit jeder noch so sanften Welle, gegen das Holz stößt. Du schreitest voran. Zu deiner Seite ist der dichte, dunkle Wald, dessen unbewegte Stille sowohl Mysterium, als auch Gefahr verbirgt, der sich auf steilem Hang und felsigen Wänden einem bis in die Wolken ragenden Berg angleicht und zu deiner anderen Seite der leise plätschernde See, dessen Weite unüberblickbar scheint, vor allem im Nebel, der wie ein Vorhang darüber schwebt, aus dem sich lediglich in weiter Ferne die hohen Gipfel und Kämme des ihn umgebenden Gebirges heben. Du musst aufpassen, dass die feuchte Erde dein dicht anliegendes Gewand nicht benetzt und oft musst du deinen Gang an die herausragenden Wurzeln, die dich zu Fall zu bringen drohen, anpassen. In dieser geballten Stille heben sich deine Schritte, seien sie auch noch so bewusst und leise, deutlich hervor. Auf der anderen Seite des großen Berges, hinter dem Wald, zu dem diese lang vergessene Straße führt, muss das alte, verlassene Dorf liegen, inzwischen bestimmt nur noch Ruinen, das mit genauso vielen Mythen und Sagen umwoben ist, wie diese ganze, kaum berührte Gegend. Wieder eine leichte Brise und du siehst eine alte und Moos überzogene Holzbank. Die Ranken versuchen sich bereits an ihr empor zu schlingen. Ein Baumstamm in Menschengröße sitzt darauf … Ja, tatsächlich darauf zu sitzen scheint er. Dahinter erkennst du ein altes Holzhaus mit dunklen, quer gebauten Balken, doch die Türe siehst du nicht, da an deren Seiten der Nebel wieder dicker wird. Eine Möwe kräht. Du holst tief Luft. „Hallo?!", rufst du, in der Hoffnung und Befürchtung, jemand würde antworten. Hier könne doch niemand mehr leben ... Keine Antwort ... Die Möwe kräht abermals und kommt flatternd auf einem Pfahl des Stegs zum Sitzen. Sie putzt ihre Flügel. Das Boot schlenkert und stößt wieder leicht gegen den Steg. Ein Knarzen, doch diesmal ganz nah ... Etwas bewegt sich ... Der Baumstamm, der auf der Bank sitzt! Mit hölzernem Knacken entzweien sich die Beine und mit fester Bewegung trennt sich dieser sich von der Bank! Ein Schauer läuft dir über den Rücken und dein Herzschlag scheint auszubleiben. Der Baumstamm steht auf. Die Rinde löst sich an mehreren Stellen und bröckelt zu Boden, samt Tausendfüßler und Asseln, die sofort in alle Richtungen davon fliehen. Zwei menschliche, tiefliegende Augen öffnen sich und befreien sich von der Erde, die verkrustet darüber gelegen hat. Fassungs- und atemlos betrachtest du die Gestalt. „Ach! ... Besuch?", fragt sie langsam. Du antwortest nicht, sondern fällst nach hinten zu Boden. „Nur keine Scheu!" Die Gestalt spreizt plötzlich seine Finger, greift auf seinen Kopf und zieht davon etwas ab, legt es sich an die Brust und verbeugt sich. „Gestatten? Mein Name ist ... uff ... Mein Name ... der ist mir entfallen ... Nenn mich einfach 'Freund'.", auf seinem Gesicht bröckelt nun ebenfalls Rinde und Erde ab und zeigen ein Lächeln; ein freundliches Lächeln, mit so tiefer Ehrlichkeit beseelt, dass all der Schrecken mit einem Mal von dir abfällt. „Huch! Hier ist ja alles verdreckt!", schimpft die Gestalt und schlägt das vom Kopf gezogene gegen sein Bein, bis auch dieses von sämtlichem Morast befreit ist. Freudig betrachtet er seinen grünen Jägerhut und setzt ihn wieder auf. Sein Blick legt sich abermals auf dich und nach längerem, bedächtigem Betrachten, bahnt sich eine Realisation in seinen Augen an: „Wie lange bin ich denn hier gesessen?" Immer noch sprachlos suchst du nach einer Antwort: „Ich ... weiß es nicht ..." Stille. Wieder breitet sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, hin zu einem heiteren, ansteckenden Lachen: „Da habe ich mich wohl im See verloren!" Mit haltlosem Grinsen im Gesicht, bleibt sein Blick weiter an dir haften. „... Wenn dich nachher der Hunger plagt, kannst du mich gerne besuchen." Seine Augenbrauen ziehen sich einladend in die Höhe und als deine Antwort ausbleibt, dreht er sich um und stapft davon, du hörst allein seine Schritte auf der nassen Erde klar und deutlich, bis er im dichten Schleier des Nebels verschwunden ist. Obwohl du bestürzt sein solltest, bleibt doch nur aufregende Spannung in dir. Obwohl tausende Gedanken rasen sollten, bleibt nur die Stille und Sprachlosigkeit zurück. Du raffst dich auf. Deine mit Schlamm überzogenen Hände klopfst du dir an der ohnehin schon dreckigen Hose ab, dann blickst du in den Nebel, dem Fremden hinterher: „Sowas aber auch ..." Wenige Schritte und du bist an der Bank angekommen. Du lässt dich fallen. Modriges Knarzen aus dem Wald hinter dir. Sanfte Wellen und das Klacken des Bootes. Die Möwe breitet ihre Flügel aus und flattert davon. „... sowas aber auch ..." Du atmest aus. Trotz aller Nässe, trotz der Feuchtigkeit des Nebels und trotz der frischen Morgenluft, die deine Knochen durchzieht, fühlst du eine Behaglichkeit. Ein Gefühl, als wärest du genau am richtigen Ort, zur richtigen Zeit und fern von alledem, das einst in deinem Gemüt lag. Du öffnest die Knöpfe, ziehst dir die Kapuze vom Kopf und legst deinen Mantel ab. Deine engen Schuhe sehen plötzlich so albern aus ... wie sie da im Schlamm sitzen. Klobig und falsch. Du ziehst sie aus und wirfst sie davon. Welch befreiendes Gefühl … die Luft schmiegt sich um deine Zehen. Deine Fußsohlen berühren den kalten Boden und sinken sofort ein Stück in die weiche und doch stabile Erde hinein. Dein Blick schweift zum See. Der Nebel verzieht sich, einige wenige Sonnenstrahlen brechen durch die dichte Wolkendecke hindurch und legen sich funkelnd über die sanften Wellen. Der See wird still und das Klacken des Bootes hört auf. „... sowas aber auch ..." Entspannt und zufrieden seufzt du und deine Lider werden schwer und fallen zu ... du bist angekommen.

 

Das Moosweiblein

 

Tabak, Kaffee, Wein und Schmuck … feinste Ware haben sie auf ihren Rücken und den ihrer Esel geladen, wandern eifrig in hellster Sonne, die die vielen Berggipfel und deren Grade, die scheinbar unendlich grüne Wiese, gebrochen durch die unzählbaren Tupfer weißer und gelber Blumen, überzieht. Echos hallen durch die malerischen Weiten, schallen hohen Felswänden entgegen, die wie Burgen aus all den im Winde rauschenden Hügel ragen; jeder ihrer Schritte ist weit vernehmbar, doch von keinem anderen Menschen gehört. Abends erst schaffen sie es in die Hütte, die sie angesteuert haben, entladen erleichtert ihre Ware und stellen sie vorerst auf den Boden. Eine Nacht verbringen sie hier, wie jedes Mal, rasten während dieser in der alten, verfallenen Hütte, die aber durchaus noch weiß, sich gegen das unbeständige Wetter in den weiten Bergen zu behaupten und eben dies auch einmal mehr beweisen muss, als ein kräftiger Sturm mit dunklen Wolkengebilden über das Land zieht und sausend gegen die dicken Holzwände prescht. Als der Wind versiegt, hinterlässt er den prasselnden Regen, der als Nachwehe des Sturmes nass und kalt gegen das Dach fällt. Gudmund beobachtet ihn durch das Fenster hindurch, während seine Kameraden bereits allesamt in Sicherheit von den Melodien des Wetters in den Schlaf geschaukelt worden sind, sinnt jedem Tropfen hinterher, beobachtet die sanften Schatten, die auf den See treffen und feine Wogen erklingen lassen. Er sehnt sich seines Heims, seiner Frau, seinem Neugeborenen, die in einer heimeligeren Welt, voller Liebe und Geborgenheit auf ihn warten und jede Stunde hoffen, er würde die beschwerliche Reise auch diesmal gut überstehen. Als die Sonnenstrahlen dann seine aufzuckenden Augenlider berühren, war er lange schon eingeschlafen und hat vom süßesten, sorgenlosen Leben in den Armen seiner Familie geträumt. Seine Kameraden sind bereits aufgestanden und binden die schweren Waren um die Rücken der Esel. Sie treiben Gudmund an, seine Sachen zu packen und seine Kraxe1 zu schultern, wollen sie schließlich ihre Heimat, genauso wie er, noch an diesem Abend erreichen. Die Wolken von gestern scheinen verflogen und hinterlassen bloß dünne Teppiche am Himmel, die die Hitze der Sonne verschleiern und Regentropfen, die immer noch an den Grashalmen klammern.

Der Boden ist durchnässt und der Weg ist anstrengend und gibt oft erweicht unter ihren Tritten nach, was sie zu größter Vorsicht nötigt. Der Kamm, den sie entlang gehen, erstreckt sich gerade und grün, hat zu beiden Seiten dichte Fichtenwaldstriche und wird bald gebrochen von einem reißenden, quer fließenden Strom, an dessen anderer Seite ein riesiger Berg in den Himmel sticht. Des Teufels Brücke müssen sie überqueren, eine lange, schmale Brücke aus Stein und ohne Geländer, die hoch ober dem Fluss, der seine tiefe Furche durchs Tal gräbt, den Kamm und den Berg verbindet. Noch sind sie nicht angekommen, doch deuten sie bereits jetzt das heilige Kreuz auf ihrer Brust. Die Wolken, die Morgens noch harmlos ausgesehen haben, häufen sich, ballen gegeneinander und fliegen nun dunkel und bedrohlich mit dem ansteigenden Wind durch den Himmel hindurch. „Wir müssen uns beeilen!“, ruft der Führer und beginnt seinen Weg über die schmale Steinbrücke, einen der Esel bei der Hand, am Zügel festgehalten und lenkt diesen festen, geraden Schrittes hinüber. Der nächste folgt, dann der nächste. Gudmund bildet das Schlusslicht und hat vor sich einen letzten Kameraden, der den anderen Esel mit sich führt. Der Himmel hat sich in der Zwischenzeit nicht gelockert, schwimmt sogar noch düsterer durch das Gebirge und das unheilvolle Sausen, das vom Gipfel herab weht, wird lauter. Fast schon sind sie an der anderen Seite angekommen, wo ihre Kameraden auf sie warten, sie antreiben, sie zu sich rufen, damit sie sich beeilten. Der Esel bockt, will sich von den Zügeln befreien und wieder zurück und geht nur widerwillig, Schritt um Schritt, von den beschwichtigenden Lauten seines Herren geleitet, weiter. Das Sausen wird eiliger. Die Rufe der Freunde werden stumm in seinen Ohren und mit einem plötzlichen Windstoß, in einem ungläubigen Moment, sieht er sich selbst, genauso wie seinen Freund und den Esel, von der Brücke gestoßen. Ohne zu wissen wie, schafft er es sich mit einer Hand an der Steinkante festzukrallen, blickt zur Seite und sieht zwei Gestalten erbarmungslos hinab segeln und von den tosenden Stromschnellen verschluckt werden. Er ruft ihnen in Schrecken hinterher, doch hört er seine eigenen Worte nicht. Kein Geräusch dringt in seine Ohren. Knapp hinter der Brücke stehend und kniend, flehend und schreiend, sieht er die verzweifelten Rufe der anderen. Sie rufen ihn an, strecken ihm ihre Hände entgegen, doch sind sie viel zu weit entfernt. Einer will sogar zurück auf die Brücke kriechen, um ihm zu helfen und dennoch ist es zu spät. Das Gewicht auf seinem Rücken zieht ihn hinab. Der spärliche Griff, die blutleeren Finger können es nicht lange halten und da fällt er, sieht die Brücke, die Kameraden, den Berggipfel, in weitere und weitere Ferne entschweben und spürt sich bald von tosenden Wellen entgegengenommen, getragen und geschleudert, bis ihm das Bewusstsein entgleitet.

 

Er wacht auf … welch ein Wunder! Welch Engel muss ihn geschützt und gerettet haben … er liegt gegen einen herausragenden Stamm bis zur Hälfte seines Körpers im leicht plätschernden Wasser. Die Stromschnellen müssen bereits lang hinter ihm liegen und ihn weit weg gespült haben. Er blickt sich um und findet hohe, dichte Bäume, die in den immer noch düsteren Himmel ragen. Unter großen Schmerzen schafft er es, sich aus dem Wasser zu hieven und erschöpft auf den Waldboden fallen zu lassen. Hinter sich spürt er die schwüle Luft, die dick durch den belebten, verwachsenen Wald zieht, die gegen seine zitternden Glieder drängt und diese umhüllt. Lange Zeit verbringt er derart reglos, lässt die Sonne sinken und den Mond steigen, fällt immerzu in den tiefen, erholsamen Schlaf hinein und wird wieder hinausgezogen, spürt Getier über seinen trocknenden Leib krabbeln und hört Stimmen, die doch zu fern und verzerrt klingen, um nicht ausgedacht zu sein. Als die Morgendämmerung schließlich einsetzt und der schwarze Himmel sich in helles Grau verwandelt, bringt Gudmund genügend Kraft auf, um aufzustehen und seine Situation zu durchleuchten. Vor sich sieht er nur den Fluss, auf dessen anderen Seite, genauso wie auf der seinen, lediglich der modrige Wald mit all seinen Hindernissen liegt. Eine Weile klettert er am Ufer entlang, in der Hoffnung, es wäre derart ein Vorankommen möglich, gibt dieses Unterfangen aber bald auf, doch zu seiner Freude findet er tatsächlich seine Kraxe, bis auf einige kleinere Risse unbeschädigt, ebenfalls ans Ufer angespült. Der Schutzengel habe es äußerst gut mit ihm gemeint! Die wertvollen Waren sind noch wohl darin verstaut: Tabak, Kaffee und einige wenige Schmuckstücke. Der Gedanke kommt, dass sein Freund, der ebenfalls in die gierigen Schlünde, in den Fluss fiel, möglicherweise auch überlebt habe. Am Ufer ist leider bald kein Weiterkommen mehr möglich, da Bäume und Felsen sich verstellen, doch geht er weiter durch den Wald hindurch, stampft mit seinem leichten Schuhwerk voran, dem durch all dem Unrat, den Steinen, Ästen und teils spitzen Sträuchern, Löcher gebohrt werden und ruft dabei immerzu seines Freundes Namen, doch bekommt keine Antwort.

Kurz bevor das helle Grau, welches durch die Bäume zu erahnen ist, sich wieder zur Dunkelheit neigt, findet er nach langem umher stapfen, was er vorher noch für eine Lichtung hielt, einen Pfad. Er sinkt betend darnieder, sein Glück scheint unendlich, denn ein Pfad bedeutet die sichere Wiederkehr in die Zivilisation, bedeutet seine sehnliche Rettung. Nicht sicher, welche Richtung er gehen soll, entscheidet er sich schließlich für die der Flussströmung entgegengesetzte.

Tage und Nächte brechen herein, provisorische Unterschlüpfe aus Ästen und Blättern, in Felskluften und Baumkuhlen, dienen als Schlafplätze, der Pfad verzweigt sich immerzu und immerzu muss er sich erneut entscheiden, wohin sein Weg ihn führte. Die Natur gleicht sich, egal wie weit er wandert; Fichten, Tannen und Buchenbäume zieren den Weg, ragen weit in den Pfad hinein und verdecken ihn manchmal gar zur Unkenntlichkeit, vergraben ihn unter Wurzelgeflecht, morschem Geäst und umgefallenen Totholz. Manchmal scheinen sie näherzurücken, scheinen ihn unter ihren Ästen ersticken zu wollen, sich seiner zu bemächtigen, ihn aufzehren zu wollen. Die schwere Kraxe, die er weiterhin mit sich trägt, ist das Einzige, was seine Sinne noch hält, in der festen Hoffnung, er würde den Weg mit den heilen Waren nach Hause schaffen.

Wolfsgeheul, welches von Nacht zu Nacht lauter zu werden scheint, bringt ihn einmal mehr um den sehnlichen Schlaf. Tagsüber stapft er weiter und weiter. Stimmen ertönen in seinen Gedanken, die nicht seine eigenen zu sein scheinen. Er denkt sie als Zeichen seines Wahns, denkt sie seien die Stimmen seiner Sehnsucht, die aus seinem Kopf gewachsen und nun gegen ihn drängen, doch kann er sich des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass die Stimmen aus dem dunklen Wald kommen, dass etwas nach ihm ruft, etwas Bedrohliches. Eben noch bleibt sein Blick dort hängen, als er gegen einen breiten, toten Baum stößt, der den Weg versperrt. Er will darüber klettern, so wie jedes Mal, als er die Eigenheiten, die Brüche, die hervor ragenden Äste bemerkt, die doch einem ihm bereits bekannten teuflisch ähnlich sehen … er betrachtet ihn genauer und wie vom Blitz durchstoßen, fällt ihm ein abgebrochener Ast auf, ein Ast, der von ihm, beim letzten Darüberklettern, abgebrochen worden sein muss. Er ist zuvor bereits hier gewesen … der Pfad, die Abzweigungen, die er wählte, haben ihn im Kreis geführt!

Verzweigungen um Verzweigungen, Verästelungen und Umwege, alle führen zu nichts, nirgendwo scheint ein Ausgang, eine Lichtung, ein Dorf, ein Haus, eine verlassene Unterkunft, alles führt nur zum Gleichen. Sein Verstand wird bereits schlapp. Von überall ertönt drängendes Flüstern, durchbrochen von Kinderstimmen, die heiter lachen und dann verlassen nach Hilfe rufen. In seinen Augenwinkeln scheinen immerzu Schatten an ihm vorbeizuhuschen, scheinen Scherze mit ihm zu treiben, scheinen danach zu trachten, seinen Geist endgültig zu bezwingen. Irgendwann dann, als seine Kräfte an den letzten Reserven gezehrt haben, fällt er nieder, lässt die Kraxe von den Schultern und bleibt am Rücken, den Blick zum Himmel gerichtet, liegen. Die Welt entgleitet ihm, Schwindel lässt die Bäume vor und zurück wiegen, sich drehen und Kopf stehen, bis sich das Bild einpendelt und das vielstimmige Rauschen der Blätter in den Vordergrund tritt. Sein Glück habe ihn verlassen. Der Engel, der ihn geleitet habe, sei entflogen und habe ihn seinem Schicksal überlassen und dieses Schicksal würde nun seinen finalen Tribut verlangen. Sein Leben zieht an seinen Augen vorbei, seine Kindesjahre und seine Jugendjahre, seine Freunde und seine Kameraden, seine geliebte Familie, um die er nicht mehr sorgen können werde, alles muss er verlassen, sobald er der Welt entschweben würde. Die endlosen Wege, die tausendfach verzweigten Pfade, die er die letzten, höllischen Tage durchlaufen hat, leuchten vor seinen Augen wieder auf und zeitgleich setzt sich beißender Zweifel auf ihn nieder, denn wie könne es nur sein, dass keiner dieser Menschen gefertigten Pfade irgendwo nennenswertes hinführe? … Hier müsse doch etwas anderes am Werk sein, etwas Übernatürliches, teuflisches … wieder ein Huschen in seinem Augenwinkel. Er blickt hin und tatsächlich! Der Ast eines Baumes hat sich eben rasch, hektisch, bevor er ihn klar und deutlich gesehen hätte, bewegt. Er springt auf. „Hab ich dich!“, ruft Gudmund in heller Aufregung. „Ihr wart es die ganze Zeit! Ihr habt die Wege verstellt, habt euch mir in den Weg gelegt!“ Aufwallende Wut und Ärger übermannen ihn, geben seinem Körper wieder Kraft und außer sich greift er nach einem Ast und schmettert diesen ihn angestauter Frustration gegen den Stamm, des eben gehuschten Baumes. „Ihr verdammten, verfluchten, Bäume! Still sein sollt ihr! Unbewegt die Natur decken, wachsen und Holz schenken sollt ihr, doch nicht mich zum Wahnsinn treiben!“ Bis der Ast bricht, schlägt er zu, dann nimmt er sich den nächsten, verdrischt Baum mit Baum, schlägt in schäumender, unkontrollierter Wut, bis der Atem lauter wird, als der Ärger und er zur Ruhe kommen muss.

Eine flackernde Hoffnung erhebt sich, er packt die Kraxe und macht sich wieder auf den Weg, nicht aber auf den, den die wandelnden, flüsternden Bäume ihm bereitlegten, sondern auf seinen eigenen. Er lenkt vom Weg ab, geht hinein ins Unterholz, schlägt sich durch die Verästlungen und Dornensträucher, lässt morsches Holz unter seinen schweren Tritten krachen und verlässt alle Wege. Er glaubt den Bäumen einen Schritt voraus, glaubt sie abzuhängen, denkt sie in Angst zu versetzen, da das Flüstern und die Rufe von fern und nah immer lauter werden und ihn von seinem eigenen Pfad abbringen wollen. Doch durch das Unterholz zu streifen erfordert mehr Kraft und die, da er tagelang schon nichts gegessen hat, versiegt ihm bald wieder. Der Wald ist in Nebel gehüllt; die Bäume und Äste verdunkeln vor seinem Blick, stehen wie schwarzweiße Silhouetten reglos in spätem Tageslicht. Gravuren und Formationen lassen Gesichter erahnen, die todesgierig in ihn hinein starren, die laut flüstern und hungrig darauf warten, dass er sich endlich seinem Schicksal ergäbe. Die Rinden der Bäume formen unheimlich geschnitzte Augen, alles scheint ihn zu beobachten, überall sind Wesen. Er stemmt sich, seinem kreisenden Verstand Ruhe gönnend, an einem Moos überzogenen Stamm ab, der quer gefallen im Dickicht liegt … Plötzlich öffnen sich zwei Augenlider am Stamm, die im hellen Weiß eine braune, klare Iris umgeben. Gudmund erschrickt, taumelt zurück, doch erkennt sogleich ein kleines Wesen, welches ihm bis zu den Knien reicht, das sich vom Baum, dem es so ähnlich sieht, abhebt. Statt Haar hat es Moos, welches das Wesen bis über den Rücken wie einen Mantel bedeckt und ihren holzigen Körper umhüllt. Kleine Pilze und Unrat besetzen ihr Wald gleiches Antlitz, nur die hölzernen, faltigen Umrisse ihres Gesichtes sind befreit. Für einen Moment beobachtet sie ihn, sieht ganz und gar aus wie eine alte, weise Dame, bevor sie die Augen schließt, sich auf ihr Hören und Fühlen verlassend und ihre Züge zufrieden und selig in inniges Mitgefühl sinken. Gudmund ist wie verzaubert. „Ein Moosweiblein ...“, flüstert er ehrerbietig, als eine klare Stimme in seinem Kopf ertönt: „Du gehörst hier nicht her, nicht wahr? Du gehörst in die Welt der Menschen.“ Gudmund nickt. „Aber ja, ich wurde angeschwemmt, suche schon lange nach einem Weg hinaus, doch ...“ Ihre Stimme ist lieblich und rein, wie die einer jungen, dennoch erfahrenen Frau und erklingt nur in seinem Geiste, überstrahlt alle wirren Gedanken und lässt eine Lichtung erblühen, in der Sonne und Vogelgezwitscher seinen Verstand beruhigen. „… doch die Wege scheinen nie ihr Ziel zu finden.“ „So ist es!“ „Die Wälder sind seit der Ausbreitung des Menschen in ihrer Existenz bedroht. Viel Leben beherbergt ein Wald und dieser hier hat gelernt sich zu schützen. Irrwurzen durchziehen den Boden und lassen keinen Menschen wieder hinaus.“ „Niemanden? … Kannst du mir helfen, Moosweiblein? Ich bitte dich! Frau und Kinder warten auf mich!” Liebevoll und ruhig lächelt sie. „Hab keine Angst, mein lieber Mensch …” … und mit diesen Worten verschwindet sie vor seinen Augen, ihre Umrisse lösen sich auf zu Holz und Rinde, einen sich wieder mit dem Baum und dem Moos. Sonnenlicht fällt ein, strahlt zwischen den Blättern hindurch, hell und glühend, wie ein himmlischer Pfad. Das Vogelgezwitscher und die Lichtung im Herzen scheinen nach außen und ein Weg, inmitten des Waldes, erblüht. Schmetterlinge tummeln sich dort, Rehe und Hirsche fliehen darüber und Blumen ragen schillernd dem Licht entgegen. Er begeht ihn, macht Schritt um Schritt, einer hallt heiliger in seiner dürstenden Seele als der andere; der Wald endet, das Sonnenlicht fällt gegen seine an Dunkelheit gewöhnten Augen, er kneift sie zusammen und im selben Moment ertönt die Stimme des Mossweibleins einmal mehr in seinem Kopf: „Sag den Menschen nicht, dass du mir hier begegnet bist … das Tier im Manne jagt, was es nicht versteht und die Natur ist ihm schon zu lange entglitten.“ Er dreht sich um, will den Pfad und das Moosweiblein einmal noch erblicken, doch der Wald hat sich bereits verschlossen, die Bäume versperren die Sicht auf ihr Inneres. „Danke!“, hallen seine Worte noch einsam im Wald hinterher. Die Lichtung führt zu einer viel begangenen Straße, die wiederum bald auf eine ihm bekannte Route führt, die die Brücke des Teufels lang hinter sich lässt.

 

Unterwegs traf er viele Bauernhöfe und Behausungen, die ihm Verpflegung ertauschten und wieder Kraft gaben. Am darauffolgenden Tage dann schaffte er es in seine Heimat im Launland, zu seiner geliebten, überglücklichen Familie, mit vollbeladener Kraxe, von dessen verkauften Güter sie einige Zeit gut und sorgenlos leben konnten. Seine Kameraden hatten ebenfalls den Weg in die Heimat geschafft und empfingen ihn froh, doch ungläubig. Sein wunderliches Überleben dieses weiten Sturzes, der reißenden Stromschnellen und des langen Marsches im vom Menschen verlassenen Wald wurde viel und lang erzählt und besungen, doch die rettende Erscheinung des Moosweibleins behielt er stets für sich, schließlich hatte er ihr dies versprochen.

 

 

Der Waldschrat

 

Nacht ists, finster sind die Wälder und laut die Geräusche, die die schwere Stille hier und da unterbrechen. An der Seite, im Tal unten, da fließt ein kleiner Bach in dieser kühlen Frühlingsnacht, der stetig sein leises Plätschern von sich gibt, der nach hinten, über viele Steine und Felsen hinweg, einem weiten, heute ruhigen, wellenlosen See zuläuft. Der Mond steht voll und hell, als das Mädchen, nackt, nass und frierend, den einsamen Waldweg, vom See weg, entlang läuft. Tränen sind in ihrem Gesicht, die in der Finsternis nicht zu sehen wären und ihre Arme sind schützend über ihren zarten Busen gelegt. Ausgenutzt, betrogen und verspottet um ihre früh aufkeimende Weiblichkeit fühlt sie sich, zornig und dem Gelächter schutzlos ausgesetzt. Bald wäre sie Zuhause, im Schutz der Familie, im Vertrauten, doch auch im Urteilenden. Nein, sie will lieber alleine sein, setzt sich mit verschlossenen Armen gegen den nächsten Baum und lässt ihren Tränen freien Lauf. Die Jungen aus dem Dorf, zusammen mit ihrer geglaubten Freundin, haben sie in den See gelockt, um ihr die Kleidung zu stehlen, um ihre Scham auszunutzen und sich über ihre Blöße zu belustigen. Lange noch hat sie sie lachen hören, auf dem weiten Weg nach Hause und der Zorn und der Verrat, der Bruch ihres fragilen Vertrauens, frisst sich mit jeder verstreichenden Minute tiefer in sie hinein. Dabei wünschte sie sich doch einen Menschen, einen Mann, der sie liebte, wie sie ist, der ihre Gestalt und ihre Seele liebte … Eine Weile sitzt sie da, lässt ihren Körper frieren und die Erlebnisse sich setzen, lässt die Tränen fließen, sanft wie den Bach, lässt sie trocken werden, bis auch die Empfindung der Wehrlosigkeit einer trauernden Akzeptanz weicht. Einmal noch wischt sie ihre Arme über ihre feuchten Augen, schwört sich den Menschen in ihrem missbrauchten Vertrauen ein für alle Mal ab und will aufstehen um in Scham und Schande zurück nach Hause zu kehren, als ein tiefes, kurzes Brummen, gefolgt von knackenden Ästen ertönt, verursacht durch eine große, schwerfällige Kreatur, dessen Umrisse schwach in der Finsternis auf der gegenüberliegenden Seite des Wegesrands erscheinen. „Oh Schreck, was bist du? Ein Bär?! Hinfort, verschwinde doch!“ Doch die Gestalt bewegt sich nicht, bleibt ruhig und reglos stehen. Der Schrecken, der beengend ihren Körper erschüttert hat, der weicht langsam, als sie merkt, dass diese Kreatur nicht gewillt ist, sie anzugreifen, nein, die Kreatur steht nur, bleibt starr, im Schatten der Bäume verborgen. „Wer bist du?“, fragt sie nun, in der Hoffnung, sie würde eine Antwort bekommen, doch bleibt diese aus. Vielleicht ist es ein Junge aus dem Dorf? Doch kennt sie niemand, mit dieser Größe … es muss ein Tier sein oder etwas anderes, übernatürliches. „Willst du mich fressen, willst du mir böses?!“ Doch die Antwort bleibt aus. „Ach … solltest du ein Mensch sein, so verschwinde! Mit euch will ich nichts mehr am Hut haben!“ … Bei all der Stille und auch Kraft, die dieses Wesen ausstrahlt, fühlt sie doch eine merkwürdige Anziehung. Fühlt sich gar nicht schüchtern, fühlt sich in ihrer Nacktheit gar nicht unsicher, nicht bedroht und auch nicht schambehaftet. Behutsam, vorsichtig lockert sie ihre Arme, lässt sich offen und verletzlich, lässt diesem Unbekannten die Sicht gewähren, steht langsam auf, will es sehen, was da steht und als der Mond weiterwandert, nicht mehr von den Bäumen verdeckt, scheint ein Streifen über das Gesicht des Wesens. Das Mädchen erschrickt für einen Moment, nur kurz, bevor sie dann umso interessierter und angezogener auf das Wesen, mit diesem menschlichen Gesicht, mit der dicken Nase, aus der ein Blatt herauswächst, mit dem spitzen, mit Rinde überzogenem Kinn, mit dem schmalen, in sich gekehrten Mund und den hölzernen Augen, welche in die Ferne und auch nirgends wohin zu schauen scheinen, blickt. Der Körper ist mehr Baum, als Mensch, mit Ästen und Blättern, die ihm aus dem Rücken wachsen, mit Armen, die erst an der Schulter menschlich und fleischlich beginnen und sich dann bald zu einem gewundenen Ast verformen und mit zwei Beinen, mehr Stämme, Wurzeln, die kräftig der Erde entgegenwachsen. Wieder ein kurzes Brummen vom Geschöpf. „Was bist du? ...“ Angst könnte man meinen, müsste man in ihrer Stimme hören, befremden, doch sind ihre Worte rein und klar, voller lieblicher Neugierde. „Ein Waldgeschöpf … und so wie ein Mensch, ein Mann siehst du aus. Wie wunderlich du doch bist ...“ Sie geht die wenigen Schritte, die die beiden trennen, darauf zu, während das Wesen lautlos, unbewegt bleibt, in die Ferne schauend. Die Lust es zu berühren, die aufregende Gefahr und das Brennen im Inneren sind größer als die Mahnungen ihres Verstandes und vorsichtig, zärtlich, bedächtig und mit der größten Spannung, die jede Berührung voller, naher und wirklicher erscheinen lässt, streicht sie mit ihrem Zeigefinger über seine fleischliche Wange, hinunter zu seinem hölzernen, härteren Kinn. Das Wesen bleibt still, unbewegt. Sie fährt über seine Lippen, streichelt nun mit der ganzen, weichen Hand über sein Gesicht, wartet auf seine Reaktion und als keine passiert, da küsst sie ihn, offen, ganz in ihrer Nacktheit erblühend. Sie verrät ihm ihren Namen, spricht mit ihm, lässt ihre Gedanken an ihm aus, schaut mit ihm hinaus, in die Ferne und als der Tag anbricht, als die Sonne aufgeht und ihre ersten wärmenden Lieder singt, da beginnt sich das Wesen zu regen, dreht sich um und trottet davon. Sie ruft ihm hinten nach, dass sie morgens wieder hier sein werde, dass sie auf ihn warte. Als er dann hinter dem Hügel verschwunden ist, läuft auch sie nach Hause, ist durchflutet von Empfindungen und umarmt von Liebesgefühlen. Sie schafft es unbemerkt durch das Fenster in ihr Zimmer zu klettern und zieht sich neue Kleidung an. Über die Nacht am See will sie keinesfalls reden und über ihren neuen Geliebten, über das Wesen, mit dem starken, stetigen Blick, welches ihre wonnevollen Berührungen und Liebkosungen ebenso wonnevoll hinnahm, genauso wenig.

In der Nacht darauf, schleicht sie sich wieder zu ihrem Ort, in Bangen und Sorge, das Waldwesen würde nicht erscheinen, doch als die Gestalt wieder dort steht, im Schatten, an derselben Stelle wie gestern auch, da fühlt sie sich in ihrem Glauben bestätigt, fühlt, dass er das Umgarnen so genossen habe, wie sie, dass der Bund, den sie nun so innig im Herzen hält, auch in seinem gehalten werde. Wieder küsst sie ihn, legt sich gegen seine feste Brust, streicht über seinen verästeten Arm, wie über eine Narbe, die ein Krieger vor seiner Geliebten zu verstecken sucht, doch diese ihn voll und ganz, in seiner Hässlichkeit, sowie in seiner Schönheit, so wie das Leben ihn geformt, akzeptiert und liebt. Hier und da ertönt sein tiefes, kurzes Grummeln, für sie bald sein Ausdruck ihrer Liebe, den einzigen, den dieses zur Reglosigkeit bestimmte Geschöpf beherrscht.

Des Mädchens Laune ist über allen Wolken, ist gehoben und getragen von Frühlingsgefühlen, wie sie nur die Verliebten kennen. In der Familie wird ihr neues Verhalten bald bemerkt, doch meint sie nur, sie habe, eins mit der Jahreszeit, das für sie geschaffene Leben genießen gelernt. Auch im Dorf wird es bemerkt; ihre ehemalige Freundin, die zusammen mit den Jungen ihre Kleider stahl und sie auslachte, kommt eines Tages mit einem schlechten Gewissen zu ihr, um sich zu entschuldigen, doch muss sie sehen, dass sie keinen Groll mehr hegt, dass sie von so inniger Vergnügtheit umsponnen ist wie noch nie. Ein Anflug von Neid und Misstrauen bleibt in der Freundin, nach dieser fruchtlosen Unterhaltung, die mehr einseitig war und zumeist mit verschwiegenem Summen beantwortet wurde. Bald, da empfindet das Dorf sie als sonderbar und ein wenig verrückt, mit ihrer eingekehrten Art, mit ihrem unerklärten Frohsinn, der nur ihr selbst zu gelten scheint.

 

Ihre Wonne hält noch für lange Zeit an, doch irgendwann, da beginnt ihr Summen abzuklingen, da fühlt sie, dass in ihrem Herzen doch etwas fehlt, nein, sogar etwas vergeht, verfault, stirbt und je weniger ihre Mitmenschen mit ihr reden, desto tiefer erscheint ihr dieses Gefühl. Bei Nacht, wenn sie sich mit ihrem geheimen Liebhaber trifft, da beginnt sie etwas zu vermissen, bemerkt zunehmend, wie reglos dieses Wesen doch ist. Kein einziges Mal hat es sie angesehen, hat, bis auf ein gelegentliches, eigentlich in gar keinem Zusammenhang stehenden Grummeln, nie auf sie, auf ihre Liebe, auf ihr Berühren, auf ihr Küssen, geantwortet. Immerzu steht es nur da, starrt in die Ferne und doch auch ins Nichts hinein. Sein Blick, der stramme, steife, stetig präsente Blick, wirkt mit einem Mal so leer, so hölzern … Sie will sich diesem Gedanken erwehren, doch nimmt dieser unweigerlich überhand: Er wirkt so … tot. Würde er doch zumindest wie der eines Tieres sein, würde er doch wenigstens auf sie reagieren, mit Liebe, mit Verachtung, mit Freude, mit Spott, mit egal was, doch bleibt er doch immerzu leer, gerade und still. So sehr sie am Anfang Freude daran hatte, sein stilles Wesen mit ihrem Tanz zu füllen, so sehr stellt sie mehr und mehr fest, dass sie doch nur mit sich alleine getanzt hat … Die Nacht ist wieder um, das Wesen entfernt sich wieder über den Hügel und das Mädchen bleibt tränend zurück.

Nacht ist es. Mit ihrem Wesen ist sie zusammen, schmiegt sich an ihn, liebt ihn, hat ihn gern. Der Mond ist grell heute, wirkt schaurig und lässt die Bäume und auch das Baumwesen tiefe, lange Schatten ziehen. Ein Knarzen … was ist das? Ein Tier? Nein, das Wesen, ihr Geliebter regt sich mit einem Mal. Doch nicht schön und liebend, sondern furchterregend und befremdlich ist er, als ein gefühlloses, leeres Grinsen, in dem er alle seine Zähne zeigt, sich in sein Gesicht treibt, seinen starren Augen wird Leben eingehaucht und sein Blick, seine lieblosen Augen bewegen sich wie eine Puppe auf sie hinab. Sie will schreien, doch kommt ihr kein Ton mehr über die Lippen. Seine Arme, sie bewegen sich nun auch, knackend und raschelnd, seine Äste bewegen sich wie Hände, die mit einem plötzlichen Stoß in ihre Brust bohren. Immer noch kommt kein Ton aus ihr heraus, kein Schreien, kein schmerzverzerrtes Schreien, sondern nur bleiche Reglosigkeit, als das Wesen, immer noch starr grinsend, das Herz aus ihrer Brust zieht, es in die Höhe hebt, den Schlund öffnet und in seine Tiefen, für immer verspeist, fallen lässt.

Sie wacht auf, schweißgebadet, den Tränen nahe … sie weiß, was dieser Traum zu bedeuten hat und sofort greift sie sich an ihre wild schlagende Brust. Das Wesen, das starre, leblose Wesen, hat ihr Herz. Verschlungen und verdaut, gehört es ihm.

So sehr will sie die Nächte fernbleiben, will sich lösen, will wieder zu den Lebenden zurückkehren, will lachen und feiern, will weinen und trauern, will sich sogar auslachen lassen, über ihren verletzlichen Körper, doch schafft sie es nicht, dem Wesen und ihrem Herzen fernzubleiben. So oft hat sie versucht, dieser einseitigen Beziehung ein Ende zu machen, hat versucht, ihre Abhängigkeit an ihn zu bremsen und in Abneigung oder gar Furcht zu verwandeln, doch bleibt sie im Bann, bleibt gefangen und gequält. Taub macht sie dieser Zwist im Inneren, stumpf wird sie, je länger sie in seine stumpfen Augen schaut. Zu spät hat sie ihren Fehler bemerkt und nun gibt es kein Zurück mehr.

Ihre Mitmenschen sehen sie immer seltener und auch die Familie. Sie fühlt schon zu lange keinen Bund mehr zu ihnen, hat sich ihrer Welt entledigt und streift die meiste Zeit, wenn sie Nachts nicht mit ihrem Objekt der Liebe beisammen ist, alleine und zunehmend regloser durch die Wälder. Einsamkeit fühlt sie schon lange nicht mehr, das Sterben, das Faulen im Herzen hat ihr anfangs noch Schmerzen bereitet, doch ist dieser mittlerweile in den Hintergrund gerückt, genauso wie das Rascheln der Bäume, das Sausen des Windes und auch das stetige Plätschern des Baches. Bei Nacht, da vergisst sie sogar häufig auf ihr Treffen und stapft stattdessen alleine und gedankenlos durch den Wald dahin. Auch das Essen und das Trinken vergisst sie. Eines Tages, da findet sie einen ruhigen Platz, an dem man gut stehen kann. Der Platz hat zwar keine Besonderheiten, ist ohne Ausblick und irgendwo am Waldrand, doch scheint ihr dieser genau richtig, für ihre nächtlichen Wanderungen. Kurzer, schnell wieder verglühender Schrecken regt sich in ihr, als sie ihren Arm nicht mehr bewegen kann. Strengt sich dann fest an, bis es knackt und ihr Arm wieder angewinkelt ist. Blätter und Moos tummeln sich auf ihrem Handrücken, doch kümmert sie dies nicht mehr, überhaupt kümmert sie gar nichts mehr, hat weder Lust noch Freude, hat weder Scham noch Liebe, ist schlicht hier. Das Leben, die Gedanken, die Bilder im Inneren und Äußeren zerstückeln in ihre Einzelteile, zerfallen vor ihren vergehenden Augen, vor ihrem dimm werdenden Blick. Zwar sieht sie noch, doch schließt ihre Seele, ihr Bewusstsein, die Lider, wird matt, wird Schlaf, vergeht.

 

Kaum mehr vom Baum zu unterscheiden war sie seitdem, für Wanderer schwer nur zu erkennen, dass in all dem Moos, der Rinde und dem Gehölz auch die leere Hülle eines Mädchens weilte, nur Nachts, wenn sie sich dann an ihren gewählten Platz begab, bewegte sie sich, konnte man ein kurzes, tiefes Grollen hören, bis sie stehen blieb und leer und hölzern in die Ferne und doch ins Nichts hinein blickte.

Die wilde Jagd

 

Ein Schauer geht durch die Wälder. Die Bäume beginnen zu knarzen und im Takt vom Heulen des Windes zu wiegen. „Es ist wieder so weit“, flüstert eine alte Dame im Schaukelstuhl bedeutungsvoll, als sie plötzlich ihre blinden, weißen Augen aufreißt, als würde sie etwas sehen, das anderen verborgen bliebe. Von draußen hört man hektische Rufe, Fenster und Türen werden schnell zugeschlagen, Bretter dagegen genagelt. „Wo ist Magdalena? Wo ist Magdalena!“, ruft eine Mutter außer sich, als sie das Fehlen ihres Kindes bemerkt und will zur Türe hinaus, doch hält sie ihr Mann entschieden am Arm zurück: „Es ist zu spät! Bestimmt ist sie rechtzeitig untergekommen.“ Ein letztes Brett, ein letzter Nagel und nun sitzen sie alle aneinandergedrückt und erwartend. Ungewissheit und Stille macht sich breit, von draußen ist nichts mehr zu hören. Die Wassertropfen, vom undichten Strohdach, die in den kleinen halbvollen Eimer fallen, drängen sich in den Vordergrund. Fast wie ein Metronom ertönen die aufprallenden Tropfen in der kleinen Strohhütte und geben der kaum auszuhaltenden Spannung Kontrast. „Pssst … hört ihr?“ Inmitten der Stille beginnt es zu sausen, erst leise und von weit. Langsam spüren sie etwas gegen die Wände drücken. Der Kinder Atem schnellt angsterfüllt in die Höhe, das Pfeifen wird lauter. „Gleich kommen sie, gleich kommen sie!“, ruft die Schwester und die Mutter drückt ihre Kinder noch fester gegen die Brust. „Oh, Magdalena, sei bitte in Sicherheit!“ Plötzlich und mit mächtigem Getöse presst der Wind gegen die Fenster, lässt das Holz knarzen und sucht sich gewaltsam einen Weg ins Innere. Ein Ruck und das Sausen wird klar und laut. „Die Türe!“, ruft der Vater, springt sogleich auf die Beine und rennt hin. Ihm ist, als würde sein Kopf vom Hals geweht, als der Wind versucht ihn mit unbändigem Sog aus dem Hause zu ziehen. Die Mutter und die Kinder schreien nach ihm; der Vater indes schnappt nach dem Knauf, der nach außen im Wind schlackernden Türe und zieht sie mit aller Kraft zu. Das schrille Getose der wilden Jagd wird wieder etwas dumpfer, doch pfeift es noch durch die Schlitze der zugenagelten Bretter und drückt bedrohlich gegen die Wände. „Wann hört es endlich auf, Großmutter?!“, ruft der Enkel in heller Panik. „... gleich“, meint diese mit immer noch weit geöffneten Augen und umher wandernden Pupillen. Der Vater, der beide Beine gegen die Wand gestemmt hält, um die Türe dem Zug entgegenzuhalten, fliegt mit einem Mal zu Boden, das tosende Pfeifen wird leiser und wandert davon, das Ächzen des Hauses versiegt … Die Mutter tastet erleichtert ihre Kinder ab, bevor sie aufspringt, ihrem am Boden liegenden, schwer atmenden Mann ausweicht und aus dem Hause läuft: „Magdalena!“ Die mächtige Jagd der Toten, die weit oben, in dichten, unheiligen Wolkenbildern durch den Himmel reiten, zieht weiter; kurz und stürmisch ist sie durch das Dorf geflogen. Die Kinder liegen sich froh lachend in den Armen, das Sausen ist nur noch in weiter Ferne, der Großmutter Augen allerdings sind immer noch weit aufgerissen und die Pupillen suchen umher: „Herr im Himmel! Sie haben ein Opfer gefunden! …“

Es dauerte nicht lange, da fanden die Bewohner des Launlands ihn. Ein Baum inmitten der Dorfstraße, mit Wurzeln, die an laufende Beine erinnerten, mit Rinde, die dem Gesicht eines kleinen Mädchens ähnelte. Eine Mutter stürzte zu Boden, griff in tiefster Trauer mit beiden Händen nach dem Gesicht und blickte in die verzweifelten und angsterfüllten Umrisse des Baumes, dem sie alle, Ast um Ast, an Ort und Stelle, beim rasanten Wachsen zusehen konnten, bis auch der Mutter Hände, dann die Arme und dann der ganze Körper von Rinde überzogen waren. Knospen drängten hervor und entrollten sich zu Blättern, die Wurzeln gruben sich mit aller Kraft tiefer in den Untergrund und das eben noch klar zu erkennende Mädchengesicht und die Umrisse der Mutter, die weinend zu ihren Füßen kniete, verschwanden. Der Baum, der seit dem Tage in der Mitte des im Launland gelegenen Dorfes stand und Jahr um Jahr an Größe gewann, nannten sie den „Mutter-Kind-Baum“, der aufgrund seiner Verwurzelung und dem Muster in der Rinde, tatsächlich an eine zu ihrem Kind kniende Mutter erinnerte.

---ENDE DER LESEPROBE---