Das Leben in unseren Händen - Eva Neiss - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Leben in unseren Händen E-Book

Eva Neiss

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Manchmal macht Liebe uns blind, und manchmal lehrt sie uns sehen. 1939: Mit einem der letzten Schiffe gelingt Hannah und Ada Rosenbaum die Ausreise aus Deutschland nach New York. Während Hannah davon träumt, Ärztin zu werden, ist ihre Schwester Ada schwanger, verheimlicht jedoch den Kindsvater. Kaum sind sie in New York angekommen, kommt Adas Tochter zur Welt – viel zu früh. Hannah kann ihre Nichte nur vor dem sicheren Tod bewahren, weil sie diese in die Obhut des berühmten Martin A. Couney übergibt, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Frühgeborene zu versorgen – ein umstrittenes Unterfangen. Während Hannah wochenlang um das Leben ihrer Nichte bangt, kann sie nicht umhin, die Arbeit von Mr. Couney zu bewundern. Als er ihr anbietet, in seinem Krankenhaus zu arbeiten, ergreift sie die Chance – und kommt ihrem Traum Stück für Stück näher.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 469

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eva Neiss

Das Leben in unseren Händen

Historischer Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Teil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Teil 2Kapitel 1 Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Epilog Sommer, fünf Jahre späterNachwort und Dank

Teil 1

Eine neue Welt

Kapitel 1

Ellis Island, New York, Mai 1939

Hätte jemand Hannah vor ihrer Abreise gefragt, wie sie sich ihre neue Heimat vorstellte, wäre ihr keine Antwort eingefallen. Die Bilder in ihrem Kopf waren zu verschwommen, um sie in Worte zu fassen. Doch eines hätte sie, ohne zu zögern, ausgeschlossen: dass ihr neues Leben seinen Anfang hinter Gittern nehmen würde. Aber genau das war geschehen. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie auf die Flaggen mit den Sternen und Streifen über ihr, während eine höhnische Stimme in ihrem Kopf raunte: Willkommen im Niemandsland.

Sie saß fest. Die letzten sechs Wochen hatte sie in einem Gemäuer auf einer winzigen Insel verbracht. Auf den ersten Blick erinnerte es an einen französischen Palast, den man durch drei imposante Torbögen betrat. Sein roter Backstein wurde von den üppigen Verzierungen aus Kalk und Granit nahezu komplett verdeckt.

Im Innern des prächtigen Baus sah es weit weniger vielversprechend aus. Abend für Abend wurden sie ab halb acht zusammen mit einem Dutzend fremder Frauen und Kinder in die Schlafsäle verbannt. Dann wurden die Türen verschlossen und erst am nächsten Morgen um halb sieben mit dem Weckruf »Zeit aufzustehen!« wieder geöffnet. Und die Tage verbrachten sie eingepfercht mit Hunderten von weiteren Menschen im Aufenthaltssaal.

Hannah hätte all die glorreichen Erzählungen über Amerika längst als Märchen abgetan, hätte man ihr nicht schon die Wolkenkratzer unter die Nase gerieben, wie man dem Hund einen Knochen vorhält. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ada hatte sie auf dem Deck des Schiffes gestanden und die Silhouette Manhattans mit den Augen verschlungen. Dort entließ man die Reisenden der ersten und der zweiten Klasse in die Freiheit. Auch die Passagiere der dritten Klasse und des Zwischendecks verließen das Schiff, nur dass auf sie eine Fähre wartete, um sie schnellstmöglich abzutransportieren.

»Wir fahren nach Ellis Island«, hatte einer der Beamten angekündigt –, und ein Mitreisender erwiderte leise: »Die Insel der Tränen«. Niemand hatte die Schwestern vorgewarnt. Sie hatten auf das versprochene goldene Tor gehofft, das ihnen eine neue Welt eröffnen würde. Seither bezahlte Hannah den winzigen Moment der Trunkenheit, den sie angesichts der Stadt empfunden hatte, mit einem anhaltenden Kater. Die trostlose Anlage im Hudson River war kaum größer als ein Stadtpark. Jedes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer realen Welt jenseits des Wassers löste sich im Laufe der verlorenen Stunden im Wartesaal auf. Es gab nichts zu tun, außer abzuwarten, ob man sie für wert oder unwert erachtete, Amerikaner zu werden.

Nachdenklich betrachtete Hannah ihre Schwester. Sie folgte Adas Blick entlang der endlosen Tischreihen und überfüllten Bänke, empor zu den Fenstern, wo sie den Rumpf der Freiheitsstatue erkannte.

»Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, …« Ada seufzte. »Von wegen. So müde, wie ich bin, hätte sie mich begeistert in ihre Arme schließen müssen.« Ein Mitarbeiter der Hebrew Immigrant Aid Society hatte bei seiner Begrüßung die Inschrift auf dem Sockel des Wahrzeichens zitiert. Die HIAS half jüdischen Einwanderern, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden, und entsandte ihre Leute sogar bis nach Ellis Island. Genützt hatte es Hannah und Ada bislang nicht. Sie waren auf sich allein gestellt, seit sie sich in Frankfurt von ihren Eltern verabschiedet hatten. Selten war Hannah sich so verlassen vorgekommen wie angesichts der unzähligen Stufen voller Menschen vor ihnen. Die Treppe führte zum Registrierraum. Auf dem Weg hatte sich Ada immer wieder am Geländer abgestützt. »Wie weit müssen wir denn noch gehen?«

»Sicher sind wir gleich da«, hatte Hannah mit fester Stimme behauptet, als hätte sie eine genaue Vorstellung von dem »da«. Dabei wurde ihre Sicht auf den Anfang der Schlange von den vielen Schultern und Hüten versperrt.

Vor ihnen drehte sich eine ältere Frau um. Sie war von dem gleichen Schiff wie die Schwestern ausgespuckt worden und sprach deutsch mit ihnen. »Man bekommt kaum Luft, oder?«

Hannah nickte.

Der Blick der Frau senkte sich auf Adas Bauch. »Seid froh, dass es die medizinischen Untersuchungen nicht mehr gibt. Sonst hätte sie jetzt ein P auf der Schulter, und man würde sie hierbehalten.«

»Ein P?«, fragte Hannah nach, da Ada keine Anstalten machte, etwas zu erwidern.

Im müden Antlitz ihr gegenüber hoben sich die Mundwinkel wie unter großer Anstrengung. »Pregnant. Schwanger.«

Ada verzog das Gesicht und drehte sich weg, aber Hannah erwiderte das Lächeln. Sie erfuhr, dass die Frau vor einigen Jahren schon einmal an der gleichen Stelle gestanden hatte. Damals, als man die Menschen mit Kreide markiert hatte, sobald sie seelische oder körperliche Auffälligkeiten zeigten. »Auf den Mantel unseres jüngsten Sohnes malten sie ›Ct‹. Zuerst dachte ich nur, hoffentlich geht die Farbe wieder raus. Er hatte doch bloß den einen Mantel.« Dann erfuhr sie, dass die Buchstaben für ein Trachom standen, was zu der Zeit als eines der übelsten Gebrechen galt und eine sofortige Ausweisung nach sich zog.

»Augenerkrankung, unheilbar«, murmelte Hannah. So viel war ihr klar, selbst wenn sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester nur auf dem Papier beendet hatte.

»Ja. Und wäre er ein Jahr älter gewesen, hätten sie ihn ganz alleine nach Hause geschickt. Einen elfjährigen Jungen, stellen Sie sich das vor. Als hätte ich ihn jemals alleine gehen lassen. Er war doch mein Kleiner.«

Mit wehmütiger Miene versuchte die Frau, Adas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als erwarte sie von einer werdenden Mutter mehr Verständnis. Außenstehenden gelang es nur selten, in Adas schönem Gesicht zu lesen. Wie leicht war das winzige Zucken ihrer Lider zu übersehen. Mit Glück bemerkte die Fremde gar nicht die ungnädige Gereiztheit, die ihr entgegenschlug. Wieder sprang Hannah für ihre Schwester ein.

»Und nun wagen Sie einen zweiten Versuch?«

Die Frau nickte. »Heute wird man nur noch weggeschickt, wenn etwas mit den Papieren nicht stimmt, hat man mir gesagt.«

Dann haben wir es geschafft! Was die Dokumente anging, hatte ihr Vater ganze Arbeit geleistet. Hannah umklammerte die Ledermappe unter ihrem Arm.

»Und Ihr Junge?«

Sie waren oben angelangt und standen nun in einem Raum mit mahagonifarbenen Tischen, an denen Dokumente begutachtet und gestempelt wurden.

»Ist fast blind vor ein Auto gelaufen. Er ist gestorben.«

»Oh nein, das tut mir schrecklich leid.«

Die Frau nickte mit trauriger Miene. »Meine anderen Kinder sind mittlerweile alle erwachsen. Und mein Mann hat mir schon eine ganze Weile nicht mehr geschrieben. Ich hoffe, ich finde sie.«

»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Hannah.

Ihre Gesprächspartnerin wurde aufgerufen, an einen der Tische heranzutreten, hinter denen auf erhöhten Stühlen die Inspektoren saßen. Sie drehte sich ein letztes Mal zu Hannah um. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

»Danke, das wünschen wir Ihnen auch.«

»Sprichst du jetzt für mich mit?«, fragte Ada, sobald die Frau außer Hörweite war.

»Sie hat mir leid getan.«

»Dann hast du heute noch viel zu tun. Ich denke, die meisten sind nicht hier, weil sie in Deutschland so ein schönes Leben geführt haben.«

»Und deshalb soll ich sie ignorieren?«, fragte Hannah sanft. Sie schob den Anflug von Gehässigkeit auf Adas Erschöpfung.

»Ich dachte, man sieht es mir noch nicht an«, sagte diese mit ihrer samtenen Stimme. Sie war schmerzlich schön, trotz oder wegen der dunklen Schatten, über denen das Grün ihrer Iris zu leuchten schien. Ada kam nach ihrer Mutter. Hannah hingegen hatte die hellblauen Augen ihres Vaters geerbt. Sie versuchte, ihre Schwester mit dem Blick einer Fremden zu mustern. Für sie selbst war die kleine Wölbung des Bauches unübersehbar, für weniger aufmerksame Betrachter bliebe sie vermutlich unter dem weiten Kleid verborgen.

»Sie stand direkt vor uns. Sonst hätte sie sicher nichts bemerkt.«

»Gut.« Ada stieß ihre Schwester sanft in die Seite. »Wir sind an der Reihe. Sprich du mit Ihnen, Streberin, dein Englisch ist besser.«

Hannah verdrehte gutmütig die Augen. Im Verlauf der vergangenen Monate hatte Ada keine Gelegenheit versäumt, ihre jüngere Schwester wegen ihres Eifers aufzuziehen. Trotz der langen Schichten in Frankfurts jüdischem Krankenhaus hatte Hannah in jeder freien Minute Vokabeln gelernt. Ihre Eltern hatten die Schwestern außerdem zu einem Lehrer geschickt, der angehenden Auswanderern kostenlose Englischstunden gab, doch Ada hatte sich regelmäßig vor dem Unterricht gedrückt, ohne dass die Eltern es erfahren hätten. Dass sie so wenig Interesse für die Sprache aufbrachte, war Hannah unbegreiflich. Seine Umgebung nicht zu verstehen, sich nicht verständigen zu können – hieße das nicht, sich wehrlos auszuliefern?

Doch auch wenn sie sich so ausgiebig auf diesen Moment vorbereitet hatte, pochte Hannahs Herz auf dem Weg zum Pult des Beamten nun immer schneller. Mit Mühe brachte sie die formvollendete Begrüßung über die Lippen, die sie zuvor in Gedanken unzählige Male geübt hatte. Der Inspektor sah nicht einmal von den Papieren hoch, sondern bedeutete dem Mann an seiner Seite mit einem Nicken, das Gespräch zu beginnen. Der stellte sich ihnen auf Deutsch als Übersetzer vor. Gemeinsam mit dem Inspektor glich er die Passagierliste mit den Reisepässen ab. Mechanisch fragten sie nach Namen, Herkunft und Religion, obwohl doch alles in ihren Pässen stand, samt rotem Stempel, der sie als Juden kennzeichnete. Die gleichgültige Miene des Kontrolleurs verriet nichts, bis er am Ende die Stirn runzelte und dem Dolmetscher etwas zuraunte, der daraufhin nickte. Mit bedauerndem Blick wandte er sich wieder den Schwestern zu. Er brauchte nichts zu sagen, seine Miene war nicht schwer zu deuten.

»Wir dürfen nicht einreisen?« Hannahs Hände krallten sich an der Tischkante fest.

»Nur nicht, bis alles geregelt ist«, erwiderte der Übersetzer rasch.

Ohne hochzusehen, rief der andere: »Die Nächsten bitte.«

»Aber …«, Hannah rang um Worte, die in der Aufregung zu nervös durch ihren Kopf sprangen, um eines davon zu erhaschen.

Eine unwirsche Handbewegung befahl den Schwestern, sich vom Tisch zu entfernen. Hannah begriff, dass niemand ihnen erklären würde, warum man ausgerechnet sie aus dem Strom herausgerissen hatte, der durch die Tür mit der Aufschrift »Push to New York« trieb.

Die Schwestern schlichen zurück in die Empfangshalle, wo sie teilnahmslos das Aufnahme-Prozedere über sich ergehen ließen.

»Hast du verstanden, was gerade geschehen ist?«, fragte Ada später, auf dem Weg zu einer Kammer, in der ihr Gepäck verwahrt werden sollte.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Hannah beklommen.

»Kommen Sie mit«, forderte eine Fremde in befehlsgewohntem Ton. »Ich zeige Ihnen jetzt Ihren Schlafsaal.«

»Hier schlafen wohl viele Leute?«, fragte Hannah auf Englisch.

»Wir haben sechshundert Betten, die meisten sind belegt.«

»Für mich ist nur wichtig, wie lange wir sie belegen müssen«, wisperte Ada auf Deutsch. »Ich will hier so schnell wie möglich wieder weg.«

In ihrem Schlafsaal reihten sich zehn Betten aneinander, angeschlossen war ein müffelndes Badezimmer, in dem Wäsche auf der Leine hing. Ada stöhnte auf. Ungerührt erklärte ihnen die Frau, dass den »Gästen« tagsüber unter anderem eine Bäckerei sowie eine kleine Bibliothek zur Verfügung stünden. »Die meiste Zeit werden Sie aber wohl im Aufenthaltsraum verbringen. Haben Sie Hunger? In der Cafeteria können Sie sich ein Sandwich kaufen.«

»Wir können nur in Mark bezahlen«, erklärte Hannah.

»Fragen Sie bitte unten nach den Wechselstuben, ich muss jetzt weiter.«

Verdattert blieben die Schwestern stehen.

»Und jetzt?«, fragte Ada.

»Ich weiß es doch auch nicht«, flüsterte Hannah.

Welchen Fehler hatten sie begangen? Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Man hatte sie gefragt, ob jemand sie abholen komme, und sie hatten erklärt, dass ihr Onkel und ihre Tante auf sie warteten. Zu ihren Plänen befragt, hatten sie angegeben, alsbald eine Anstellung zu suchen, damit niemand befürchtete, sie wollten dem amerikanischen Volk auf der Tasche liegen. Sie konnten sogar das verlangte Führungszeugnis der deutschen Polizei vorlegen. Ihrem Vater war es obendrein gelungen – seine Töchter wussten nicht, wie –, die Reichsfluchtsteuer zu begleichen, die man den jüdischen Ausreisenden auferlegte. Doch trotz all seiner Mühen wurden Ada und Hannah auf Ellis Island festgehalten. Was, wenn man sie gar nicht ins Land ließ? Es gab keinen Ort mehr, an den sie zurückkehren konnten. Aus Travemünde hatte man sie schon vor anderthalb Jahren vertrieben. Das kleine Juweliergeschäft, das Hannahs Großvater aufgebaut hatte, war in die Hände eines ehemaligen Angestellten gefallen. Dass sie genötigt worden waren, es ihm weit unter Wert zu überlassen, schmerzte umso mehr, da ihr Vater den Mann wenige Monate zuvor wegen Diebstahls entlassen hatte. Außerdem hatte man sie gedrängt, die gemütliche Wohnung über dem Geschäft zu verlassen. Hannah hätte dem neuen, deutschblütigen Besitzer am liebsten die Scheiben eingeworfen. Ihr Vater hatte ihrem zornflackernden Blick standgehalten und gelassen gesagt: »Das sind ihre Methoden, nicht unsere. Wir finden eine andere Lösung.«

Die »andere Lösung« glich eher einer Flucht als einem Umzug. Eine Cousine ihrer Mutter aus Frankfurt, Tante Edith, bot ihrer Familie die beiden Zimmer an, die seit dem Auszug der beiden ältesten Kinder leer standen. Nach ihrer Ankunft vermisste Hannah das Meer, die Möwen und die Schiffe mit jeder Faser ihres Herzens und erkannte doch die Vorteile der Anonymität in einer großen Stadt. Zudem gab es ein jüdisches Krankenhaus, das weiterhin Schwestern ausbilden durfte. Nachdem Hannah einen Platz ergattert hatte, stand sie kurz davor, dem Schicksal zu verzeihen. Die Medizin war ihr Steckenpferd, seit sie einmal ein altes Anatomiebuch in die Finger bekommen hatte. Hatte sie zuvor stets verschwiegen, dass sie auf dem Papier Juden waren, sprach sie im Krankenhaus wiederum nie darüber, wie fremd ihr diese Religion war. Sie waren getauft worden und zündeten ihre Kerzen an Weihnachten statt an Chanukka an. Deshalb widmete sich Hannah den unbekannten Regeln und Gepflogenheiten mit der gleichen Neugierde wie ihrem medizinischen Lernstoff. In Tante Ediths Haus liefen die Rosenbaums wie auf Zehenspitzen umher, damit sie die Gewohnheiten ihrer Gastgeber nicht störten. Das größte der fünf Zimmer teilten sich Edith und ihr Mann Alfred, ein weiteres bewohnte die jüngste Tochter Marie, die noch zu Hause lebte. Hannah und Ada schliefen im ehemaligen Zimmer ihres Cousins Thomas und ihr jüngerer Bruder Rudi hatte mitsamt den Eltern den Raum von Cousin Ludwig bezogen.

Das Wohnzimmer war recht geräumig, aber doch zu klein, als dass sich dort acht Menschen ohne Unbehagen miteinander aufhalten konnten. Vor allem dem kleinen Rudi fiel es schwer, sich in die neuen Abläufe einzufügen. Die Rosenbaums achteten auf gute Manieren, gewährten ihren Kindern aber auch viele Freiräume, etwa das Recht auf eigene Ansichten. Ihre entfernten Verwandten hingegen legten großen Wert auf Gehorsam und meinten damit, dass man die Kinder bestenfalls weder sehen noch hören sollte. Für den damals achtjährigen Wirbelwind Rudi war das eine kaum zu bewältigende Herausforderung.

Wenigstens blieben ihm seine gleichaltrigen Freunde in der Schule. Da die meisten von ihnen arischer Herkunft waren, luden sie ihn zwar nicht zu sich nach Hause ein, doch sie piesackten ihn auch nicht. Vielleicht waren Rudi bislang allerhand schlimme Erfahrungen erspart geblieben, weil er so verschmitzt und freundlich war. Möglicherweise hatte es ihm auch geholfen, dass er mit seinen hellblauen Augen und dem Stupsnäschen so gar nicht dem Bild entsprach, das übelmeinende Karikaturisten von jüdischen Menschen entwarfen. Gut ein Jahr arrangierten sich die Rosenbaums mit der Situation, doch dann kam der November 1938, und Rudi wurde wie alle anderen jüdischen Kinder vom Unterricht ausgeschlossen. Für ihn brach eine Welt zusammen.

Ungefähr einen Monat später weihte ihr Vater sie in seine Pläne ein. »So kann es auf Dauer nicht weitergehen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir Deutschland ganz hinter uns lassen.«

»Was meinst du?«, fragte Hannah.

»Amerika«, sagte er. »Wir brauchen einen Ort, an dem wir uns wieder frei bewegen können.«

»Was sollen wir in Amerika?« Ada schien der Gedanke zu entsetzen.

»Ihr wisst, dass meine Schwester Judith in New York wohnt«, erklärte er. »Bei ihr können wir sicher für die erste Zeit unterkommen.«

»Was ist mit meiner Ausbildung?«, wandte Hannah ein.

»Ich halte es nicht mehr aus!«

Der ungewohnt scharfe Tonfall ihrer Mutter ließ Hannah sofort verstummen.

»Wie sollen wir hier weiterleben? Sie zünden jüdische Geschäfte an. Falls ihr Kinder bekommt, dürften die nicht zur Schule gehen. Und hat euer Vater euch erzählt, was sie seinem alten Bekannten Baruch angetan haben? In einen winzigen Handkarren gezwängt und quer durch Lübeck geschleift haben sie ihn. Die ganze Zeit über musste er ›Heil Hitler‹ rufen.«

Nie zuvor hatte die Stimme ihrer Mutter schrill geklungen.

Hannah schlug sich die Hände vor den Mund. »Oh nein, Mama«, wisperte sie dann.

Danach war es ausgemachte Sache, dass ihr Vater sich um Schiffspassagen nach New York bemühen würde. Es vergingen ein paar weitere Monate, bis sie einsahen, dass sie keine fünf zusammenhängenden Tickets ergattern würden. Und so waren zuerst die Schwestern gemeinsam in Richtung Bremen aufgebrochen, und vier Wochen später fuhren die Eltern mit Rudi nach Hamburg, wo ihre jeweiligen Schiffe ablegen sollten. Schon die gemeinsame Zeit in einer Viererkabine hatte sich als Herausforderung für die Schwestern entpuppt. Im Haus der Verwandten hatten sie sich zuvor zwar ebenfalls ein Zimmer geteilt, doch es war etwas anderes, wenn zwei fremde Frauen ihnen bei allem, was sie taten, zusahen. Außerdem waren sie sich in Frankfurt kaum in die Quere gekommen. Ada hatte ihre Zeit vor allem mit ihrer gleichaltrigen Cousine Marie verbracht, während Hannahs Lebensrhythmus von ihren Schichten vorgegeben wurde. Die Unmöglichkeit, auch nur einer Regung der anderen Schwester zu entgehen, stimmte vor allem Ada gereizt. Manchmal fragte sich Hannah, ob allein die geteilte Liebe zu den Eltern und dem kleinen Rudi der Kitt zwischen ihnen war, der in deren Abwesenheit allzu schnell zu bröckeln begann.

Da es auf Ellis Island jedoch kaum Ablenkungen gab, traten die Unterschiede zwischen den jungen Frauen nun schärfer hervor, zumindest bei Tageslicht. Erst wenn es dunkel wurde, konnten sie sich der Außenwelt entziehen, indem sie sich schlafend stellten. Nur so ließ es sich ertragen, nicht bloß miteinander, sondern mit sechs weiteren Frauen und zwei Kindern hinter verriegelter Tür auszuharren. Die Tage waren schwerer auszuhalten. Adas spitze Kommentare ließen sich verkraften, ihre zeitweilige Unnahbarkeit hingegen setzte Hannah zu. Eines Nachts hatte sie inmitten all der leisen Schluchzer im Saal die kleinen Gurgellaute ihrer Schwester ausgemacht. Sie war zu Adas Bett geschlichen, hatte sich an den Rand der Matratze gesetzt und die bebende Schulter berührt. »Ada?«

Sofort erstarrte der Körper unter ihrer Hand und rührte sich nicht mehr, bis Hannah aufgab. Am folgenden Morgen zeigte sich Ada ihr gegenüber kühler denn je – und Hannah begriff, dass dies die Strafe für die unerwünschte Annäherung war. Wenn doch nur ihre Mutter bald käme! Bislang schien es der HIAS nicht gelungen zu sein, eine Nachricht an ihre amerikanische Verwandtschaft zu übermitteln, so dass es am Ende vermutlich an ihren Eltern wäre, die Schwestern aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Lange konnte es zum Glück nicht mehr dauern. Sie sollten mittlerweile längst Havanna erreicht haben. Sehnsüchtig schaute Hannah aus dem Fenster, als erwarte sie, dort ihre Familie zu erblicken. Wenigstens befanden sie sich endlich auf dem gleichen Kontinent.

Adas Kopf sank auf die Tischplatte.

Zaghaft streckte Hannah die Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück. »Geht es dir nicht gut?«

Ohne den Kopf zu heben, drehte Ada ihr das Gesicht zu, die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hochgezogen. »Wie soll es mir in diesem Gefängnis schon gehen?«

»Immerhin ein Gefängnis mit Bücherei.«

Ada verzog einen Mundwinkel. »Und einer Wechselstube.«

»Nicht zu vergessen das Telefon.«

»Wen möchtest du denn anrufen?«

Hannah sah zum Ende des Raumes, wo die Einzeltische standen, an denen die nobleren Neuankömmlinge mit ernst dreinschauenden Männern in Nadelstreifen diskutierten. »Unseren Anwalt!«.

Ada richtete sich grinsend auf: »Ach ja, unseren Anwalt!«

Ermutigt von der Reaktion ihrer Schwester, hielt sich Hannah einen imaginären Telefonhörer ans Ohr. »Mr. Burnett!«

Der Name der Verfasserin von »A Little Princess« war der erste, der ihr in den Sinn kam. Ihr früherer Englischlehrer hatte ihr das Buch ausgeliehen. »Wir wären Ihnen äußerst verbunden, wenn Sie sich alsbald imstande sähen, uns aus der Schmach unserer misslichen Lage zu befreien. Keinesfalls werden wir es akzeptieren, auch nur eine weitere Sekunde hier zu verbringen.«

Ada starrte ihre Schwester an und prustete dann so laut los, dass ihre Banknachbarn zusammenzuckten.

Nachdem Hannah ihre Überraschung über diese Reaktion überwunden hatte, fiel sie in das Gelächter mit ein. Sie lachten und lachten, bis ihnen die Tränen hinunterliefen und das Räuspern um sie herum durchdringender wurde.

»Verzeihung«, rief Hannah.

»Ich glaube, mir wird schlecht«, sagte Ada.

»Sollen wir ins Bad gehen?«

Ihre Schwester machte eine abwehrende Handbewegung. »Es geht gleich wieder.« Ada sah blass aus. Kein Wunder, dass ihr übel wurde. Der Geruch von Schweiß und Essensausdünstungen hing permanent in der Luft. Manch ein längerfristiger Bewohner hatte es aufgegeben, den Anschein eines zivilisierten Lebens aufrechtzuerhalten. Nicht dass Hannah diese Menschen nicht verstanden hätte. Es gab ausreichend Zeit, auf sich zu achten, doch eigentümlicherweise wurde es mühsamer, diese sinnvoll auszufüllen, je weiter sie sich im Verlauf des endlosen Wartens zu dehnen schien. Sie höhlte einen aus, bis zur vollkommenen Gleichgültigkeit.

Aber noch gehörten die Schwestern zu denen, die sich bemühten, Haltung zu bewahren. Sie reinigten jeden Morgen sorgfältig ihren Körper, wuschen regelmäßig ihre wenigen Wäschestücke aus und hängten sie über Nacht zum Trocknen auf.

Sie bemühten sich, nicht in Trübsal zu verfallen, indem sie jede Möglichkeit ergriffen, sich zu beschäftigen. Viele Gelegenheiten wurden ihnen allerdings nicht geboten. Sie hatten an einem katholischen Gottesdienst genauso teilgenommen wie an den jüdischen Feierlichkeiten zum Schawuot, dem Erntedankfest. Ada aus Langeweile, Hannah aus Neugierde. Brav hatten sie Honig und milchige Speisen verzehrt und verschwiegen, wie gierig sie tags zuvor in Butter gebratenes Fleisch vertilgt hatten, statt sich ihr Essen in der koscheren Küche zu holen. Als der Rabbi seine Stimme erhob, verstanden sie kein Wort. Erst hinterher fand Ada heraus, dass er wohl die neunzig auf Aramäisch verfassten Verse des Akdamuts – eines liturgischen Gedichts – rezitiert hatte. Die Worte nicht zu verstehen hatte Hannahs Erleben nicht beeinträchtigt. Der dunkle Singsang des Rabbi hatte nicht nur den Raum um sie herum vollkommen ausgefüllt, sondern war bis zu einem verborgenen Ort in ihrem Inneren vorgedrungen und hatte sie aufgewühlt zurückgelassen.

 

Nach ihrem schon fast hysterischen Heiterkeitsausbruch verfielen die Schwestern in ihr übliches Schweigen. Das bedeutete nicht, dass Ruhe herrschte. Kaum ein Gut war hier so rar wie die Stille. Sicher zählte dies zu den Gründen, aus denen Hannah und Ada so wenig miteinander sprachen. Es war wahrlich unnötig, dem nie verstummenden babylonischen Sprachgewirr weitere Stimmen hinzuzufügen.

»Hallo.« Vor ihnen stand ein Mädchen in Rudis Alter mit braunen Locken und einer weißen Schleife im Haar.

Hannah lächelte. »Guten Morgen, Lydia. Bist du gekommen, um dir deine Milch abzuholen?«

»Ja, bitte.«

Hannah reichte ihr das Glas. Es hatte sich zu einem Ritual entwickelt, seit sie einmal beobachtet hatte, wie die Kleine die Milch, die nur die Frauen und Kinder jeden Tag erhielten, mit wenigen gierigen Zügen austrank.

»Nicht so hastig, Lydia«, hatte ihre Mutter sie ermahnt, woraufhin sich die Kleine entschuldigte und sehnsüchtig in ihr leeres Glas schaute.

Einem Impuls folgend hatte Hannah dem Mädchen ihres weitergereicht. »Damit du groß und stark wirkst.«

»Wie soll sie denn so lernen, Maß zu halten?« Die Mutter hatte geseufzt, ohne ernstlich verärgert zu wirken.

»Sie haben ja sonst nicht viel Freude hier. Und sie tut mir einen Gefallen.« Hannahs Stimme hatte sich zu einem verschwörerischen Flüstern gesenkt. »Ich mag meine Milch gar nicht trinken.«

»Na dann.« Die Mutter hatte gelacht. »Danke, das ist sehr nett von Ihnen.«

»Danke«, hatte die Kleine brav wiederholt, während sie den weißen Bart über der Lippe ableckte.

Seither wechselten die Frauen jeden Tag ein paar Worte. An diesem Tag winkten sie sich freundlich von einem Tisch zum anderen zu. Lydias Mutter erhob sich, um sich zu ihrer Tochter und Hannah zu gesellen, als schlagartig jedes Geschnatter verebbte.

Hannah hielt nach dem Grund für das Schweigen Ausschau und bemerkte, dass sich am Ende ihres Tisches ein argentinischer Seemann erhoben hatte, um einen Tango anzustimmen.

Die Frau ließ sich wieder auf die Bank sinken und winkte stattdessen Lydia zu sich heran. Hannah beobachtete, wie sie ihr Kind mit versonnenem Blick an sich zog und sein Haar küsste. Ihr Mann legte seinen Arm um beide. Diese Geste in Verbindung mit der anmutigen Traurigkeit der Musik schnürte Hannah die Kehle zu. Sie wurde überwältigt von Sehnsucht und einem Gefühl der Verlorenheit.

Sie sprang auf. »Stört es dich, wenn ich in die Bibliothek gehe?«

Überrascht sah Ada zu ihr hoch. Auf sie hatte Musik nie eine sonderliche Wirkung gezeigt. »Warum sollte es? Ich bin ohnehin mit Dina und den anderen zu einem Spaziergang im Innenhof verabredet. Du kannst mitkommen, wenn du willst.« Sie spielte mit der Stola herum, die sie seit einer Weile trotz der Wärme um den Oberkörper schwang, um ihren Bauch zu kaschieren.

Hannah schüttelte den Kopf. Sie ging den neuen Freundinnen ihrer Schwester lieber aus dem Weg, da diese vor allem die jungen Männer beäugen oder über die anderen Mädchen lästern wollten. Es war nicht so, dass Ada ihre Gesellschaft gesucht hätte, doch wurde sie von Dina und ihrer Clique seit ihrer Ankunft umschwärmt. Sie besaß die Gabe, andere Menschen anzuziehen. In manchen Momenten beneidete Hannah sie darum. Ihre eigenen Freundschaften wuchsen nur langsam, nach einer zähen Phase zögerlichen Herantastens. In der Gegenwart anderer war sich Hannah ihrer selbst und ihrer Unzulänglichkeiten zu gewahr, um unbefangen zu plaudern.

 

Die Bibliothek verdiente ihren Namen kaum. Vor ein paar lückenhaft gefüllten Regalen standen drei Tische sowie sechs Stühle, die nicht zueinanderpassten.

»Ha!«

Der Triumphschrei schreckte Hannah auf, und sie ließ ihr Buch fallen. Die abgeriebenen Einbände und Widmungen verrieten, dass die Werke der Bibliothek bereits durch viele Hände gewandert waren, bevor sie die Insel erreichten. Dennoch behandelte Hannah jedes von ihnen für gewöhnlich respektvoll. Rasch hob sie das Buch wieder auf und überprüfte den Umschlag auf frische Schäden, bevor sie den jungen Mann ärgerlich anschaute. »Aaron, hast du mich erschreckt!«

Lydias älterer Bruder ließ sich ungerührt auf den Stuhl neben ihr sinken und zupfte an seinem Kragen. Stoff und Schnitt seiner Kleidung verrieten, dass seine Einreise nicht an Geldmangel gescheitert war. Hannah wusste mittlerweile, dass er genau wie Ada einundzwanzig und damit zwei Jahre älter als sie selbst war.

»Ich musste für eine Weile entkommen. Meine Familie schmiedet zu große Pläne für mich.«

»Wenigstens ist sie bei dir«, erwiderte Hannah. Wenn sie sah, wie Lydia um ihn herumtollte, überkam sie regelmäßig Neid. Die Jüngere begegnete Aaron mit der gleichen Mischung aus Respektlosigkeit und Bewunderung, die Rudi seinen Schwestern gegenüber an den Tag legte. Der große Altersabstand zwischen ihnen war einer schmerzhaften Reihe von Fehlgeburten geschuldet, die ihre Mutter erlitten hatte, bis sie doch noch einmal einen kerngesunden Jungen auf die Welt brachte. Umso mehr neigten sie alle dazu, Rudi zu verwöhnen. Womöglich war es bei Lydia und ihrer Familie ähnlich.

Aaron setzte eine reumütige Miene auf. »Entschuldigung. Das war unpassend. Lydia lässt dich lieb grüßen. Ich habe gehört, dass du ihr heute schon wieder deine Milch überlassen hast.« Er verzog angewidert das Gesicht. »Ich würde ihr liebend gerne meine geben, aber ungerechterweise wird sie ja nur Frauen und Kindern zugestanden.«

Hannah schmunzelte. Es war unmöglich, Aarons unbekümmerter Selbstsicherheit zu widerstehen.

»Seltsam, dass sie einem Kindskopf wie dir keine einschenken.« Sofort verdunkelte sich ihre Miene wieder.

Aaron schien zu erraten, was in ihr vorging. »Sicher kommt eure Familie bald. Schwierig ist es doch nur, erst einmal auf ein Schiff zu gelangen. Danach muss man bloß noch aussteigen.«

Hannah hob die linke Braue. Sie hatte lange geübt, bis das einseitige Brauenheben bei ihr beinahe so lässig wirkte wie bei Ada.

Aaron verzog einen Mundwinkel. »Na gut. Und manchmal sitzt man am Ende auf einer seltsamen Insel fest und weiß gar nicht, was eigentlich schiefgelaufen ist.«

»Halten Sie euch immer noch für Spione?«

Er zuckte die Achseln. »Wer weiß? Was würde ich dafür geben, dass meine Eltern tatsächlich so aufregend wären.«

Aaron war mit seiner Familie einen Tag nach ihnen angekommen. Da sich das Gerücht verbreitet hatte, ein deutscher Spion befinde sich an Bord des Schiffes, hielt man an jenem Tag sogar die Passagiere der ersten Klasse fest, zu denen die Lehmanns gehört hatten.

»Dein Vater macht einen sehr seriösen Eindruck«, sagte Hannah.

»Und wie. Er möchte, dass ich auch einmal in einer Bank arbeite. Ist das nicht schrecklich?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Hannah ehrlich. »Wenn man eine solche Chance hat, kommt es mir wie ein großer Luxus vor, sich abfällig darüber zu äußern.«

»Du bist so kurz davor, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.« Mit Daumen und Zeigefinger zeigte er einen winzigen Abstand.

»Was würdest du denn gerne tun? Herumstolzieren und dich von deinen Anhängerinnen bewundern lassen?« Niemals würde sie zugeben, wie sehr sie Aarons Gegenwart insgeheim genoss. Zu ihrer eigenen Überraschung fiel ihr der Umgang mit ihm leicht, auch wenn sie sich sonst mit Fremden schwertat, erst recht, wenn es sich dabei um Männer handelte. Seine zugewandte, offene Art ließ jegliche Befangenheit in seiner Nähe schwinden. Ein weiterer Pluspunkt war in ihren Augen, dass er nicht in ihre Schwester verliebt war.

Aaron hatte ihr schon vor Tagen ungefragt mit klappernden Zähnen versichert, dass er Frostbeulen bekäme, sobald er Ada anschaue. Hannah hatte ungläubig gelacht, war sie es doch gewohnt, dass Männer den Kontakt zu ihr suchten, um an Ada heranzukommen.

»Herumstolzieren? Das wäre ja noch langweiliger. Nein danke! Ich habe vor, Ingenieur zu werden. Ich will Brücken bauen.« Aaron fuhr sich mit der Hand durch die gewellten braunen Haare.

»Brücken?«, fragte Hannah überrascht.

»Sie führen für gewöhnlich von einem Ufer zum anderen, meistens über Wasser.«

Hannah deutete mit der Hand einen Klaps gegen seine Schulter an, berührte ihn aber nicht. »Es ist dir wohl unmöglich, länger als eine Minute ernst zu bleiben.«

»Ohne Humor wäre nichts zu ertragen«, erklärte er, jetzt ernsthaft. »Und Amerika ist ein gutes Land für Brückenbauer. Allein in New York soll es Hunderte davon geben. Vor einem Monat erst wurde eine über 1000 Meter lange Brücke über den East River fertiggestellt. Ich bin sehr gespannt darauf, sie mit meinen eigenen Augen zu sehen. Wobei mein erster Ausflug sicher zur Brooklyn Bridge führen wird.«

Aarons unverhohlene Begeisterung nahm Hannah weiter für ihn ein. Seine graublauen Augen erinnerten sie an das Meer an stürmischen Tagen. Jetzt leuchteten sie.

»Warum ausgerechnet Brücken?«

»Ist es denn nicht phänomenal, wie wir über sie an Orte gelangen, die sonst kaum erreichbar wären? Eine große Distanz zu überbrücken ist eine ganz besondere Herausforderung.«

In seinem Gesichtsausdruck lag eine Provokation, die Hannah nicht verstand und deshalb zu ignorieren beschloss. »Macht es dir nichts aus, dass man dabei immer etwas hinter sich lassen muss?«

»Reden wir jetzt gerade über Deutschland?«

Hannah nickte. »Es war schrecklich zuletzt, das streite ich nicht ab. Aber die Sprache, das Essen, die Gebräuche, die Gerüche … es war trotzdem meine Heimat.«

»Ich verstehe schon, was du meinst. Aber ich weigere mich, an einem Land zu hängen, das mich verabscheut. Ich denke nicht daran zurückzuschauen, verstehst du? Man sollte seinen Blick nur nach vorne richten.«

Hannah runzelte die Stirn. Sie begriff, dass seine Einstellung ihn vor Kummer bewahrte, dennoch war sie nicht bereit zu vergessen. Gab es ein Wort dafür, glücklich und traurig zugleich zu sein? So empfand sie, sobald ihre Gedanken in die alte Heimat zurückkehrten. Sie vermisste sogar die Grautöne der Frühlings- und Herbsttage. Wenn man sie genauer betrachtete, erschienen sie kaum weniger vielfältig als die bunte Sommerpalette. Sie sehnte sich nach Sommern mit den Füßen im Sand und dem gleißenden Sonnenlicht im Gesicht. Nach dem Strand, an dem ihre Familie Muscheln gesammelt, geredet und gelacht hatte. Das Meer hatte nie über sie geurteilt, Hannah hatte sich dort vollkommen frei gefühlt. Ließe sie diese Bilder hinter sich, ginge ein Teil von ihr verloren.

»Und du, was willst du mit deinem Leben anfangen, wenn wir einmal dort sind?«, fragte Aaron und deutete vage auf die andere Seite des Flusses.

Ich wäre gerne Ärztin. Sie drängte den Gedanken beiseite, bevor er ihr über die Lippen kam. Hannah verbot sich, unrealistischen Zukunftsträumen nachzuhängen, so wie Aaron die Erinnerung an die Vergangenheit mied. »Ich werde versuchen, als Krankenschwester zu arbeiten. Das habe ich in Deutschland getan.«

»Du hast schon eine Ausbildung beendet? Du bist doch höchstens siebzehn Jahre alt.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Ich bin neunzehn. Und ich hatte Glück.«

Kaum hatte sie ihr Abitur abgelegt, wurde jüdischen Schülern der Zugang zu ihrem Gymnasium verwehrt. Und später in Frankfurt hatte sich einer der Oberärzte dafür eingesetzt, dass sie trotz des vorzeitigen Abbruchs ihrer Ausbildung ein Zeugnis erhielt.

»Sie sind talentierter als die meisten. Sie sollten nicht mit leeren Händen gehen müssen. Ich denke, Sie sind bestens vorbereitet«, hatte Dr. Stein ihr lächelnd versichert.

»Das ist gut«, sagte Aaron. »Ich wurde natürlich nicht zum Studium zugelassen. Ein Grund mehr, mich auf Amerika zu freuen. Mein Leben sollte endlich beginnen.«

»Meine Mutter wollte mich nicht einmal das Abitur machen lassen«, erwiderte Hannah. »Sie hielt es für sinnlos. Aber mein Vater meinte, dass jeder Sinn erst dann verloren sei, wenn man nicht mehr an bessere Zeiten glauben könne.«

»Dein Vater scheint ein wirklich guter Mann zu sein«, stellte Aaron lächelnd fest.

»Ja, das ist er. Aber auch meine Mutter meinte es gut. Ich denke, sie wollte mich vor falschen Hoffnungen bewahren, während mein Vater offenbar meint, enttäuschte Hoffnung sei besser als gar keine.«

»Und was denkst du?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du guckst schon wieder so ernst.« Aaron tippte sachte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. »So wirst du eines Tages Falten bekommen.«

Hannah zuckte vor seiner Berührung zurück. »Ich denke nach, das ist alles.«

»Wie schon gesagt: Vergiss die Vergangenheit. Na los, nenn mir drei gute Dinge, denen du seit deiner Ankunft in Amerika begegnet bist.«

Er lachte. »Nun schau mich nicht an, als hätte ich dich gebeten, durch einen brennenden Reifen zu springen.«

»Hast du nicht?«, murmelte Hannah. Sie hatte durchaus den Eindruck gewonnen, dass er in ihr eine Herausforderung mit einem gewissen Unterhaltungswert sah.

»Na komm schon.«

Sie seufzte. Er würde keine Ruhe geben, bevor er nicht seine Antwort erhalten hatte. »Also gut. Cornflakes, Ivory-Seife und dieses weiche weiße Brot, das es zu jedem Essen gibt.«

Er lachte. »Du isst und badest also gerne, na bitte. Mach so weiter, und ich halte dich am Ende für genusssüchtig. Aber es stimmt schon. So eine Cafeteria ist eine geniale Erfindung. Diese Tabletts mit den Vertiefungen, in die man alles füllen kann, was einem beliebt. Herrlich!«

Hannah betrachtete das Buch in ihren Händen. »Eigentlich bin ich ja hier, um zu lesen, und nicht, um mich von dir auf den Arm nehmen zu lassen.«

»Schon gut, ich bin hier eh nur zufällig vorbeigekommen, auf der Suche nach einer benutzbaren Toilette! Werfen sie bei euch auch alles Mögliche hinein, bis es verstopft ist? Ich stehe ständig im Wasser. Sicher gibt es bei den meisten zu Hause noch Plumpsklos.«

»Ich weiß nicht, ob ich mit dir über unsere Toiletten reden möchte, und du klingst schon wieder wie ein Snob. Vielleicht solltest du doch in einer Bank arbeiten.«

Er sah nur für einen Moment betroffen aus. »Wenn hier einer ein Snob ist, dann doch wohl du.«

»Ich?« Sie blinzelte.

»Du liest die ganze Zeit. Was willst du mit dem ganzen Wissen anfangen, wenn nicht schlauer daherkommen als wir?«

»Mein Vater hatte keine Bank. Ich muss mir eben etwas anderes einfallen lassen.«

»Mein Vater hat auch schon lange keine Bank mehr. Er denkt nur, er könne in Amerika an alte Erfolge anknüpfen. Was macht denn dein Vater?« Sein Interesse schien echt.

Verlegen senkte sie den Blick. »Er war Juwelier.«

»Ach so, na dann kommst du ja wirklich aus ganz einfachen Verhältnissen.«

»Es war nur ein ganz kleiner Laden«, fügte sie hastig hinzu.

Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich sag schon nichts mehr.«

»Als ob dir das jemals gelingen würde. Hast du denn schon einmal arbeiten müssen?«

»Sicher. Nachdem sie meinen Vater rausgeworfen hatten, mussten wir alle mit anpacken. Ich habe eine ganze Weile in einer Fabrik für Herrenmode gearbeitet. Doch dann wurde dort ein Feuer gelegt, das alle Nähmaschinen und Bandsägen zerstört hat. Danach habe ich in einem Lebensmittelladen ausgeholfen, bis ein netter kleiner Naziaufmarsch Mehl und Zucker mit Benzin und Petroleum übergossen hat. Wenn sie das Zeug wenigstens geklaut und gegessen hätten!« Er klang wütend. Es war das erste Mal, dass Hannah erlebte, wie Aaron sein munterer Elan abhandenkam.

»Das tut mir sehr leid.« Sie rieb sich verlegen über die Nasenspitze. »Ein Freund meines Vaters hat in seinem Laden das Gleiche erlebt.«

»Genug davon. Ist dein Buch spannend?« Er nahm es ihr aus der Hand und entzifferte die verblichene Schrift auf dem Leineneinband. »›Little Lord Fountleroy‹. Ist das nicht ein Kinderbuch?«

Hannah nickte. »Und wenn schon.« Es stammte ebenfalls von Burnett, deshalb hatte sie im Regal danach gegriffen.

»Ich glaube nicht, dass dir ein Roman über Aristokraten in New York gute Dienste leisten wird. Denk an den Alltag. Stell dir vor, ich sei der Bäcker und du kaufst bei mir dein Challah-Brot. Was würdest du sagen?«

Bevor sie antworten konnte, schüttelte Aaron bereits bedauernd den Kopf. »Wie willst du denn überleben, wenn du Geschichten kennst, dir aber nichts zu essen kaufen kannst?«

Sie riss ihm das Buch aus der Hand. »Wir werden klarkommen. Könntest du jetzt bitte aufhören, mich zu erziehen? Ich soll nicht an die Vergangenheit denken, drei Dinge an Amerika mögen, ich soll …«

»Du bist heute aber empfindlich. Ich wette, du verstehst kein Wort von dem, was du liest.«

Das war eine kindische Provokation, trotzdem las sie zu ihrem Ärger reflexartig die erste Zeile, die ihr ins Auge sprang. »Did you ever know many marquises, Mr. Hobbs?«

Er lachte laut auf. »Vielleicht klappt es doch. Wenn du das sagst, werfen sie von ganz allein mit dem Brot nach dir.«

»Das macht nichts. Wir legen nicht so viel Wert auf Challah-Brot«, murmelte sie.

»Das kann ich mir denken. Ich habe gesehen, dass du in den katholischen und den protestantischen Gottesdienst gegangen bist.«

»Meine Schwester und ich sind getauft.«

»Aber dann …«

»Auf dem Papier sind unsere Großeltern Juden, damit sind wir es auch.«

»Das ist ungerecht.«

Lange hatte sie ebenso empfunden, doch heute widersprach sie. »Nein, denn das würde ja bedeuten, es sei akzeptabler, dass sie deine Familienmitglieder schlecht behandeln, weil sie gläubige Juden sind.«

Er legte den Kopf zur Seite. »Anscheinend führt all dein Grübeln doch zu ganz vernünftigen Gedanken.«

Ihr wurde warm unter seinem Blick. »Die Toilette ist übrigens gleich nebenan«, erklärte sie unwirsch. Sie hatte gerade genug Erfahrung mit Komplimenten, um ihnen nicht zu trauen.

Aaron sah sie verwirrt an.

»Vorhin hast du gesagt, du seist auf der Suche nach einer passablen Toilette.«

Er grinste. »Stimmt, hatte ich glatt vergessen. Kommst du nachher auch?«

Ihr war klar, dass er von dem groß angekündigten Musikabend sprach.

»Sicher. Ich wette, dass alle kommen.«

Niemand würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, etwas zu erleben und ausnahmsweise bis 23 Uhr aufzubleiben.

»Dann auf Wiedersehen, Madame.« Nach einer neckischen Verbeugung überließ Aaron sie ihrem Buch. Hannah vertiefte sich in die Zeilen, ohne dass sie später hätte sagen können, was sie gelesen hatte.

 

Bei ihrer nächsten Begegnung an diesem Tag trug Aaron einen kleinen schwarzen Koffer bei sich.

»Wirst du auch auftreten?«, fragte sie überrascht.

»Wart’s ab!«

Der Aufenthaltsraum war zum Bersten gefüllt. Viele der Anwesenden waren deutsche Juden, die schon seit einer geraumen Weile niemand in einem Konzert- oder Kinosaal willkommen geheißen hatte. Selbst die kleinen Kinder ließ man aufbleiben, um diese Möglichkeit zu feiern. Sie schauten genauso erwartungsvoll wie ihre Eltern zu dem Mann im Frack, der auf dem Podium neben dem Klavier stand. Solange Hannah hier war, hatte der schwarze Kasten kaum einen angenehmen Ton von sich gegeben. Sonst malträtierten ihn meist junge Mädchen – mit einem stockenden Flohwalzer oder einer Dauerschleife der ersten Takte von »Für Elise«.

Die Füße mancher Gäste wippten vor Vorfreude in einem Rhythmus, den vorerst nur sie selbst vernahmen. Dann kündigte der Mann auf der Bühne eine Sängerin namens Louise Kohn an. Hannah erkannte die junge Frau sofort. Sie war erst vor wenigen Tagen angekommen. Ohne je ein Wort mit ihr gewechselt zu haben, hatte Hannah sich aus der Ferne zu ihrem lauten Lachen hingezogen gefühlt, das allen Widrigkeiten zu trotzen schien. Ein Mann im Frack gesellte sich zu Fräulein Kohn auf die Bühne, um sie auf dem Klavier zu begleiten. Bei einigen Tönen traf die Sängerin daneben, ohne dass es störte. Ihr Schwung und ihr Selbstvertrauen rissen alle von den Sitzen, abgesehen von den Alten. Und als sie »Bei Mir Bistu Shein« anstimmte, wirbelten große Geschwister die kleineren vor der Bühne herum, Freundinnen fassten sich an den Händen und warfen ihre Beine in die Luft, und die Männer forderten ihre Frauen auf. Hannah wippte mit dem Fuß, blieb aber neben ihrer Schwester sitzen. Unter den Tanzenden sah sie Aaron, der Lydia drehte und wild Arme und Beine vor dem Körper auf und ab schüttelte. Seine Eltern beäugten ihn vom Rand der Tanzfläche aus und schienen sich nicht zwischen Missbilligung und Freude entscheiden zu können. Dann nahm Aarons Mutter ihren Mann an die Hand und zog ihn näher zu den Kindern heran, wo sie ebenfalls tanzten, allerdings dezenter.

Zwei Mädchen deuteten kichernd auf Aaron und schienen nur darauf zu warten, dass er eine von ihnen aufforderte. Ihre Blicke erinnerten Hannah an eine Tatsache, die sie stets zu ignorieren versuchte. Er sieht gut aus. Und dass in ihm Leben für zwei zu stecken schien, steigerte seine Anziehungskraft noch. Verdammich! Er hatte sie ertappt, wie sie ihn anstarrte, und streckte grinsend die Hände in ihre Richtung. Forderte er sie etwa auf, über die Stuhlreihen zu klettern, um mit ihm zu tanzen? Sie schüttelte lächelnd den Kopf, woraufhin er mit jeder Hand eines der beiden Mädchen an sich zog.

Nach Louise Kohn betraten drei Brüder mittleren Alters die Bühne. Es stellte sich heraus, dass sie einer Berliner Kabarettgruppe angehörten, deren Shows vor geraumer Zeit verboten worden waren. Anfangs wirkten sie nahezu zögerlich, sich im Scheinwerferlicht zu präsentieren, doch es dauerte nicht lange, bis die unterdrückte Lust am großen Auftritt sich ihren Weg bahnte. Sie parodierten beliebte Nazilieder, marschierten mit erhobenem rechten Arm auf der Bühne herum, hielten sich Zeigefinger wie Schnauzbärte über die Oberlippe und verunglimpften das Panzerlied der Wehrmacht mit einem frechen Text. Zuerst lachten nur wenige. Die deutschen Gäste erstarrten, bis ihnen aufging, dass nirgends eine Horde mit Schlagstöcken im Dunklen lauerte. Sie hielten hier den ersten Zipfel der Freiheit in der Hand! Bald gab es kein Halten mehr. Sie johlten und lachten so laut, dass sich kleinere Kinder erschrocken hinter ihren Müttern versteckten.

Zuletzt, nachdem die verausgabten Zuhörer wieder auf ihre Sitze gesunken waren, betrat Aaron die Bühne. Er hielt eine Oboe in der Hand und flüsterte dem Pianisten etwas ins Ohr. Der nickte und legte sanft die Finger auf die Tasten. Das allgemeine Geplapper verstummte bei den ersten Tönen. Hannah lauschte so gebannt die wie anderen. Der Klang seines Instruments erinnerte an eine menschliche Stimme. Ein Klagelied voller Hoffnung, dachte Hannah. Konnte es so etwas denn geben? Sie spürte einen Kloß im Hals.

Für einen Moment wünschte sie sich, die Ohren ließen sich so diskret schließen wie die Augen. Doch die Klänge drangen ungehindert in ihren Gehörgang und berührten sie tief im Innern auf eine Art, die ihr zu intim schien, um sie mit den Fremden ringsherum zu teilen. Ihre Hände zitterten, und Tränen liefen über ihre Wangen. Ihr war, als spräche Aarons innere Stimme zu ihr, mit einer Ernsthaftigkeit, die sie bislang nicht an ihm wahrgenommen hatte. Gleich darauf schalt sie sich für diesen albernen Gedanken. Ein anderer hatte die Noten verfasst, die er spielte. Verstohlen sah sie sich nach ihrer Schwester um, deren Augenwinkel ebenfalls feucht schimmerten. Langsam ließ Hannah ihre Hand auf Adas gleiten, ermutigt durch die Musik. Sie wappnete sich für eine Zurückweisung, doch Ada verschränkte ihre Finger mit Hannahs. So verharrten sie, bis das Stück verklungen war. Nach der Aufführung blieben die Menschen schweigend sitzen. In ihren Gesichtern hatte ein wehmütiges Lächeln die leeren Blicke verscheucht.

 

Beim Verlassen des Saals tauchte Aaron neben Hannah auf.

»Was war das, das du gespielt hast?« Sie vermied es, ihm in die Augen zu schauen. Die Befangenheit, die sich bislang in seiner Nähe nicht eingestellt hatte, ergriff jetzt umso stärker Besitz von ihr. Sie kam sich durchlässig vor, infolge der Musik und der wechselnden Empfindungen.

»Schumann. Die drei Romanzen für Oboe und Klavier. Ich dachte mir, es würde den Leuten gefallen. Eigentlich spiele ich lieber moderne Stücke. Das ist das Erste, was ich in New York tun werde – einen Jazzclub besuchen. Ein ganzer Abend voll entarteter Musik. Herrlich.«

Hannah lachte erleichtert auf. Vor ihr stand der Aaron, den sie kannte. In Wahrheit war es nämlich Schumann, der ihr Inneres berührt hatte.

»Was wirst du als Erstes unternehmen, wenn wir da sind?«, fragte Aaron.

Hannah hätte ihn gerne mit einem außergewöhnlichen Einfall beeindruckt, entschied sich aber für die Wahrheit. »Ich werde ans Meer gehen.«

»Hast du denn immer noch nicht genug vom Wasser?«

»Es ist nicht das Wasser, das uns hier festhält«, sagte sie.

»So gesehen … Was hältst du von einem Pakt? Du begleitest mich einmal in einen Jazzclub, und ich fahre mit dir ans Meer.«

»Falls wir diese Insel jemals verlassen«, erwiderte sie.

»Natürlich werden wir diese Insel verlassen. Bald. Schlägst du ein?«

Er fixierte sie mit den Augen, bis ihre Wangen brannten. Freundlich, aber entschieden, das hatte ihr Schwester Becky für den Umgang mit flirtfreudigen Patienten eingeschärft.

»Also gut, Aaron.« Mit einem unverbindlichen Lächeln ergriff sie seine Hand. Obgleich sie spürte, wie die Röte ihr bis ins Dekolleté kroch, hielt Hannah seinem Blick stand. Die Menge um sie herum nahm sie erst wieder wahr, als ein lauter Ruf die Verbliebenen ermahnte, schleunigst die Schlafsäle aufzusuchen. Schnell machte sie sich von Aaron los.

 

Es war nicht ungewöhnlich, in einer Nacht auf Ellis Island keinen Schlaf zu finden. Die lähmende Leere am Ende eines wilden Ritts auf dem Karussell ihrer Sorgen ließ Hannah häufig in hellwacher Erschöpfung an die Decke starren. In dieser Nacht war etwas anders. In ihren Ohren sauste es, ihre Fingerspitzen kribbelten, als jagte jemand sanfte Stromstöße durch ihren Körper. Diese unheimliche Energie drängte sie, sich wieder zu erheben. Was für ein Glück es war, dass sie das Bett direkt am kleinen Fenster erhalten hatte. Die Blicke der anderen wurden von weißem Backstein oder dem Nachbarbett begrenzt, nur Hannah war es möglich, das Schauspiel am gegenüberliegenden Ufer zu betrachten. Verlässlich flackerten Abend für Abend die Lichter auf, doch malten sie jedes Mal ein anderes Muster. Davon hätte sie Aaron erzählen sollen, anstatt von Weißbrot oder Cornflakes. In dieser Nacht ließen sich nicht einmal die Konturen der Häuser ausmachen. Durch den dichten Nebel schimmerte ein diffuses Glimmen wie reflektierende Augen unzähliger Wildtiere. So still war es in diesem Zimmer nie zuvor gewesen. Nicht einmal Hannahs Bettnachbarin gab einen Laut von sich, die sonst in jeder Nacht ihre zwei kleinen Kinder umklammerte und leise wimmerte, weil sie ihren Mann vermisste. Hannah hatte erfahren, dass er – kein Jude – Eliza angefleht hatte, nicht ohne ihn zu gehen. Sie selbst hatte auf einer Scheidung und räumlicher Trennung beharrt, aus Furcht, die Nazis würden ihm sonst alles nehmen. Deshalb rangen sie sich durch, auf weit entfernten Kontinenten das Ende des Spuks abzuwarten. Andere alleinreisende Juden waren von ihrem arischen Partner verstoßen worden. Trotz ihres Schmerzes schienen jene oft besser gerüstet für die Neue Welt, da ihnen nichts anderes blieb, als nach vorne zu schauen, wohingegen Eliza wie erstarrt war. Doch in dieser Nacht ging selbst ihr Atem gleichmäßig. Hannah kam es vor, als hätte Aarons Oboe jedem unaussprechlichen Kummer und aller Sehnsucht eine Stimme verliehen, um ihnen allen einen Augenblick der Erlösung zu bescheren.

Kapitel 2

Ein Mann in Uniform näherte sich ihrem Tisch. »Würden Sie mir bitte folgen?«

Hannah und Ada sahen einander beunruhigt an.

Der Mann lächelte. »Keine Sorge. Ich habe eine gute Nachricht. Es wartet jemand auf Sie.«

»Sie haben es geschafft, endlich.« Hannah knuffte ihre Schwester andeutungsweise in die Seite.

Ada ächzte.

»Habe ich dir weh getan?«, fragte Hannah erschrocken.

»Nein, es ist mein Bauch. Er krampft schon die ganze Nacht.«

»Soll ich dich ins Hospital bringen?«

Ada schüttelte den Kopf. »Bloß nicht. Nicht jetzt. Dann kommen wir hier nie weg. Lass uns einfach nur so schnell wie möglich diese Insel verlassen.«

»Wenn du es so lange aushältst. Ach, Ada, ich freue mich so auf Mama und Papa und Rudi.«

»Da wären wir«, sagte der Mann. Er hielt ihnen die Tür zu einem kleinen Büro auf.

Darin saß ein fremdes Paar.

Ein Missverständnis. Hannah wurde übel.

»Ada, Hannah?« Die dürre Frau im grauen Kostüm erhob sich.

»Tante Judith?«, fragte Ada matt.

Die Frau nickte. »Die HIAS hat sich an uns gewandt. Ihr habt ihnen wohl unsere Adresse gegeben? Sie haben gesagt, wir hätten ein Telegramm erhalten müssen – aber bei uns ist nie eines angekommen. Sonst wären wir natürlich sofort gekommen, um für euch zu bürgen. Wo sind eure Eltern?«

Hannah schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Dann habt ihr nichts von ihnen gehört? Wir dachten, sie würden uns abholen. Wir mussten getrennt reisen.«

Judith runzelte die Stirn. »Na so etwas! Dies ist übrigens euer Onkel Simon Mindel. Und du musst Hannah sein. Du hast die Augen meines Bruders. Und sein Kinn. Und der hat das Kinn unseres Vaters. Seltsam, es bei einem Mädchen zu sehen.«

Hannah fuhr sich unwillkürlich über die eckigen Konturen, von denen sie wusste, dass sie ihren Zügen etwas Markantes verliehen. Allerdings war bislang niemand so unhöflich gewesen, es zu erwähnen. Falls man sie überhaupt auf ihr Äußeres ansprach – die meisten schienen es nicht besonders bemerkenswert zu finden –, dann wurden das helle Blau ihrer Augen, das auch Rudi geerbt hatte, oder die blonden Locken hervorgehoben.

Jetzt wandte sich ihre Tante an Ada. »Und du sahst schon als Kind eurer Mutter ähnlich. Aber sicher erinnerst du dich nicht an mich. Als ich gegangen bin, warst du vielleicht zwei Jahre alt.« Judith schnappte nach Luft. Offenbar war sie nicht daran gewöhnt, längere Ansprachen zu halten. Ihrem Tonfall war nicht zu entnehmen, ob sie sich freute, ihre Nichten zu sehen, oder es sie störte, Verantwortung für zwei fremde junge Frauen zu übernehmen.

»Willkommen«, sagte Simon. »Wir würden uns freuen, wenn ihr erst mal zu uns zieht. Wir haben nicht viel Platz, aber es wird schon reichen.«

Hannah sah in die dunklen Knopfaugen eines Teddybären. Seine dunkelbraune Iris hob sich kaum von der Pupille ab. Alles, was ihr an Judith scharf und kühl vorkam – ihr Profil, ihre hagere Figur, ihr Gemüt –, schien bei Simon weich und warm zu sein. Sogar der leichte Akzent, mit dem er Deutsch sprach. Man hörte ihm seine polnische Herkunft an, und offenbar hatte er neben dem Englischen auch die Sprache seiner Frau gelernt.

Als niemand etwas erwiderte, fuhr er ein wenig verlegen fort: »Das hier muss eine ziemliche Überraschung für euch sein. Sicher wollt ihr jetzt in Ruhe packen, ich werde euch dann helfen, die Koffer zu tragen.«

»Da gibt es nicht viel zu packen«, sagte Ada knapp. »Die Koffer sind im Gepäckraum.«

»Ich hole die restlichen Sachen«, bot Hannah an. Sie hatten im Waschraum noch Wäsche auf der Leine hängen. Außerdem hoffte sie, auf diese Weise die Gelegenheit zu erhalten, sich von Aaron und seiner netten Familie zu verabschieden. Allerdings traf sie nur seine Eltern und Lydia an. Sie schienen sich aufrichtig für Hannah und ihre Schwester zu freuen, dass diese nun die Insel verlassen durften. Hannah versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, hielt aber die ganze Zeit aus den Augenwinkeln nach Aaron Ausschau.

Als sie sich schon sicher war, ihn vor der Abfahrt nicht mehr zu sehen, lief sie ihm auf dem Weg zu den Schlafräumen in die Arme.

»Hannah, du bist gar nicht in der Bibliothek? Wirst du etwa nachlässig?«, fragte er grinsend.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, gehe gerade nur ein paar von unseren Sachen holen, bevor wir Ellis Island verlassen.«

Sein wechselhaftes Mienenspiel verriet ihr nicht, was er über ihre Abreise dachte. Am Ende lächelte er wieder. »Dann sind eure Eltern gekommen? Ich freue mich für dich.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Meine Tante und mein Onkel holen uns ab. Meine Eltern haben es offenbar noch nicht geschafft.«

»Das werden sie noch! Mach dir keine Sorgen.«

Sie sah betreten auf den Boden, weil es im Grunde nichts mehr zu sagen gab, es ihr aber trotzdem schwerfiel, sich loszureißen.

»Na dann«, murmelte sie.

»Na dann?«, erwiderte er.

»Dann gehe ich mal.« Sie wandte sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Hannah!«, rief er, als sie sich schon einige Meter entfernt hatte.

Sie wirbelte herum. »Ja?«

»Ich wünsche dir viel Glück.« Selbst auf die Distanz wirkte sein Blick eindringlich. »Man sieht sich.«

»Sicher«, erwiderte sie so lässig wie möglich, ohne daran zu glauben.

Im Schlafsaal angelangt faltete sie sorgfältig die Unterwäsche, die sie von der Leine genommen hatte, und fragte sich, warum ihr zum Weinen zumute war. Hatte sie die Insel nicht unbedingt verlassen wollen? Danach ging sie zum Gepäckraum, um sich die beiden Koffer herausgeben zu lassen und in ihnen die restlichen Habseligkeiten zu verstauen. Vor der Tür erwartete sie bereits Simon, der ihr lächelnd das Gepäck aus der Hand nahm.

Als sie zu den anderen beiden zurückkehrten, standen Judith und Ada steif und stumm nebeneinander. Hannah wusste nicht viel über ihre Tante, außer dass sie vor vielen Jahren in Travemünde von einer amerikanischen Familie mit deutschen Wurzeln, die zu Besuch in der alten Heimat gewesen war, als Kindermädchen engagiert worden war. Laut Hannahs Vater hatte sie keine Sekunde gezögert, diese Chance zu ergreifen. So war sie vor beinahe zwanzig Jahren nach New York gelangt.

Seltsam, dachte Hannah jetzt, diese Frau wirkte so gar nicht wie jemand, der impulsive Entschlüsse fasste. Sie hatte sich Judith immer ganz anders vorgestellt.

»Erwartet nicht zu viel«, erklärte diese gerade. »Ihr werdet euch ein kleines Zimmer teilen müssen.«

»Das klingt wunderbar«, entfuhr es Hannah. »Ein Zimmer nur für uns zwei.«

Ada sagte nichts. Erst auf der Fähre gab sie einen Laut von sich. »Oh Gott.« Stöhnend sackte sie nach vorne und hielt sich den Bauch.

»Ist sie seekrank?«, fragte Simon besorgt.

Es war nicht an Hannah, das Geheimnis ihrer Schwester preiszugeben, deshalb schüttelte sie nur beunruhigt den Kopf.

»Ist etwas mit dem Baby?«, flüsterte sie Ada zu.

»Du bist doch die Krankenschwester. Diese Krämpfe, fühlen sich so Wehen an?«

»Dafür ist es doch viel zu früh.«

»Vielleicht verliere ich es ja.«

Klang Adas Stimme hoffnungsvoll? Hannah schaute ihre Schwester erschrocken an. Gleich darauf drangen Klagelaute aus Adas Kehle, die an ein verletztes Tier erinnerten. Im Krankenhaus hatte Hannah sich zwar um Frauen, Säuglinge und Kinder gekümmert, hatte aber nie eine Geburt begleitet.

»Was ist mit ihr?«, fragte Judith.

Hannah ging über Adas Kopfschütteln hinweg, da sie keine Möglichkeit sah, den Zustand ihrer Schwester länger zu verheimlichen. »Sie erwartet ein Kind. Aber es ist viel zu früh für das Baby. Wir brauchen einen Arzt.«

»Schwanger?« Judith suchte den Blick ihres Mannes. »Eure Mutter hat geschrieben, ihr wärt beide unverheiratet.«

Hannah war keine versierte Lügnerin, hätte aber weit Schlimmeres unternommen, um ihrer Tante die unverhohlene Missbilligung aus dem Gesicht zu wischen. »Ihr Verlobter ist tot.«

Judiths Miene wurde etwas weicher. »Oh?«

»Ihr habt doch sicher gehört, was im letzten November geschehen ist. Die Brände? Die Überfälle? Da haben sie ihn erwischt, am Vorabend der Hochzeit.«

Die Geschichte entsprach nahezu der Wahrheit, nur dass sie Becky, einer Kollegin von Hannah, zugestoßen war.

Simon setzte sich neben Ada. Vorsichtig legte er seinen mächtigen Arm um ihre Schulter. »Schrecklich. Diese Menschen müssen schlimmer als Tiere sein.«

Beschämt von Simons Betroffenheit und seiner zärtlichen Geste schaute Hannah zu Boden. Sobald ihre Eltern ankämen, würde die Lüge auffliegen. Die beiden ahnten nichts von der Schwangerschaft ihrer Tochter, würden aber ohne jede Mühe erraten, wer der Vater war.

Hannah jedenfalls hatte sofort gewusst, dass es sich bei dem Erzeuger nur um den schönen Emil handeln konnte. Ihr Cousin Thomas hatte ihn bei einem seiner Besuche mitgebracht. Danach begleitete Emil seinen Freund häufiger. Es war nicht zu übersehen, wie sehr ihm Ada gefiel. Und zum ersten Mal erwiderte diese die begierigen Blicke eines Mannes mit dem gleichen Hunger. Hannah verstand nicht, was ihre Schwester an Emil fand. Sein selbstbewusster Charme erschien ihr ölig, und die gemeißelten Gesichtszüge waren für ihren Geschmack viel zu glatt.