Lotte Lenya und das Lied des Lebens - Eva Neiss - E-Book
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Lotte Lenya und das Lied des Lebens E-Book

Eva Neiss

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Beschreibung

Lotte Lenya ist die wohl bekannteste Sängerin der Dreigroschenoper. Dieser Roman erzählt die Geschichte der einzigartigen Schauspielerin und Sängerin Lotte Lenya - die Frau, die Kurt Weill und Bertolt Brecht ihre Stimme schenkte. Inmitten der 1920er Jahre lernt die noch unbekannte Schauspielerin Lotte Lenya ihren zukünftigen Ehemann Kurt Weill kennen – sie rudert ihn über einen See und beide verlieben sich unsterblich ineinander. An Weills Seite gelingt ihr einige Jahre später der Durchbruch, sie lernt Bertolt Brecht kennen und spielt die Seeräuber Jenny in der Dreigroschenoper. Doch die Liebe des Künstlerpaars ist Höhen und Tiefen ausgesetzt … Kenntnisreich und emotional erzählt Eva Neiss die Geschichte von Lotte Lenya, die mit ihrer besonderen Stimme, ihrer charmanten Eigenwilligkeit und ihrem Drang nach Leben ihre Zeitgenossen in den Bann zog.

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Eva Neiss

Lotte Lenya und das Lied des Lebens

Die Frau, die Kurt Weill und Bertolt Brecht ihre Stimme schenkte

FISCHER E-Books

Inhalt

Prolog1. Akt1. Szene2. Szene3. Szene4. Szene5. Szene6. Szene7. Szene8. Szene9. Szene10. Szene11. Szene12. Szene13. Szene2. Akt1. Szene2. Szene3. Szene4. Szene5. Szene6. Szene7. Szene8. Szene9. Szene10. Szene11. Szene12. Szene13. Szene14. Szene3. Akt1. Szene2. Szene3. Szene4. Szene5. Szene6. Szene7. SzeneEpilogNachwort und Dank

Prolog

Berlin, April 1955

Lotte tanzte auf dem Grab der Stadt. Zumindest fühlte es sich so an, in unrhythmischen Schrittfolgen den Pfützen auszuweichen, während einem der kühl-feuchte Duft eines Mausoleums in die Nase stieg.

Ein nieselgrauer Apriltag neigte sich seinem Ende entgegen, und Lotte erinnerte sich an keinen Frühlingstag, an dem weniger Verheißung in der Luft gelegen hätte. Fröstelnd schlug sie ihren Mantelkragen dicht vors Gesicht. Die feuchte Wolle kratzte an ihrem Kinn. Wie schrecklich deprimierend dieses neue Berlin doch war! Da hieß man gerne die Nacht willkommen, deren Schwärze die Trümmerberge verhüllte.

An das Berlin, das ihr Zuhause gewesen war, erinnerten höchstens noch ein paar Leuchtreklamen. Anstelle von einigen Gebäuden, die damals hell illuminiert gewesen waren, klafften immer noch Baulücken. Zerstört war der Ballsaal des Femina mit seinen Tausenden Glühbirnchen. Früher war das Gedränge darin so groß gewesen, dass man mit den Freunden wenige Meter weiter am besten per Tischtelefon sprach. Auf den Einbruch der Nacht hatte Lotte allerdings auch früher schon sehnsüchtig gewartet. Darauf, dass die Dunkelheit alles Fadenscheinige verschluckte. Dennoch war es etwas ganz anderes, daraufhin in einen 1000-Watt-Rausch einzutauchen, als in diese Trübnis.

Sie kam nicht umhin, sich zu fragen, wie ihr Gastgeber es aushielt, wieder hier zu leben, nach allem, was gewesen war. Lotte selbst würde an der Wehmut ersticken. Sein Haus im Hinterhof der Chausseestraße war nicht mehr weit entfernt. Gleich würde sie also vielleicht erfahren, warum er zurückgekehrt war. Im Grunde war es ihr aber egal, solange er ihr nur gestattete, dieses eine Lied auf ihrer neuen Schallplatte zu singen. Im Gedanken an ihre Mission trieb sie sich trotz ihrer Müdigkeit selbst an, ihre Schritte auf dem einsamen Pflaster zu beschleunigen.

Früher hatten sie sich alle mühelos, wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, vorwärtsbewegt. Das noch junge Wunder der Elektrizität hatte in der Luft gelegen und die Stadt samt ihren Bewohnern unter Strom gesetzt.

Der Führer hat sein Versprechen vortrefflich gehalten, uns innerhalb von zehn Jahren ein Berlin zu schenken, das wir nicht wiedererkennen würden, dachte Lotte bitter.

Oder hatte nur sie sich verändert? Waren es nur die Ferne und die Zeit, die sie dieser Stadt entfremdet hatten? Schon damals hatte es versehrte Soldaten und verlumpte Kinder gegeben, die sich ihr weniges Geld erbetteln mussten. Aber in Lottes Erinnerung glühten noch die tristesten Gestalten in der fiebrigen Erwartung eines Neuen, das nach dem ersten großen Krieg nur etwas Besseres sein konnte. Doch dann kam ein zweiter Krieg, der eine Zerstörung ohne Versprechen und eine gespaltene Stadt hinterlassen hatte.

Die weite Welt, die ihnen offenzustehen schien, wurde nun von einem eisernen Vorhang verdeckt. Doch die Ameisen des jungen Arbeiterstaates errichteten ihre Stadt unermüdlich neu. Dass manche von ihnen dabei so abgestumpft aussahen, musste an ihrem neuen Wissen liegen. Nun war erwiesen, dass einem schlimmen Krieg sehr wohl noch schlimmere Schlachten folgen konnten. Das glorreiche Danach des ersten hatte sich als ein trügerisches Dazwischen entpuppt. Wer sollte also diesmal garantieren, dass sich an der Spree nicht schon der nächste stümperhafte Kunstmaler seinen Allmachtsphantasien hingab? Dass er rasch Gefolgschaft finden würde, stand außer Frage. Auch wenn schon der letzte Krieg keine Chance gehabt haben dürfte, wenn man die Menschen hier danach fragte. Schließlich war ja keiner von ihnen ein Nazi gewesen, das hatte man Lotte erst gestern wieder versichert. Wirklich, nicht ein Einziger! Sie alle waren als erschütterte Opfer aus einem bösen Traum erwacht, an dessen Ende man die Schurken in Nürnberg aufgeknüpft hatte. Besser man ließ die anderen nun in Ruhe ihre Wunden lecken. Natürlich musste man den Roten dankbar sein, dass sie geholfen hatten, den Braunen den Garaus zu machen. Trotzdem hatte es sich alles andere als erhebend angefühlt, an diesem Morgen über die Stalinallee zu spazieren, die erste sozialistische Straße Deutschlands. Früher hätte sie behauptet, dass ihre Gesinnung so rot sei wie nur irgendetwas. Das hielt sie nicht davon ab, das Berlin zu betrauern, das noch viel mehr Farben gekannt hatte als diese beiden. Sie hatte in ihm stets eine Seelenverwandte gesehen: vielleicht ein wenig gebrochen im Innern, aber doch jederzeit bereit, das Scheinwerferlicht durch diese Lücken scheinen zu lassen und dem Publikum eine augenzwinkernde Todesverachtung zu zeigen.

War das alles nicht gerade erst gestern gewesen? Der Gedanke, dass dies alles für Kurt schon so vorbei war, wie etwas nur vorbei sein konnte, schien ihr immer noch unerträglich. Aber sie hatte es sich zu ihrer Aufgabe gemacht, mit all ihrer Kraft zu verhindern, dass er in den Augen der Welt an Bedeutung verlieren sollte, bloß weil er selbst sie nicht mehr sehen konnte.

Die neue Aufnahme, die sie gerade plante, wäre ein bedeutender Beitrag, die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Deshalb betrat sie den schummerig beleuchteten Hinterhof mit festen Schritten, auch wenn ihr schauderte: Dieser Brecht lebte tatsächlich inmitten eines Friedhofs. Er thronte über den bleichen Gebeinen des Dorotheenstädtischen Friedhofs mit dem alten Hugenottenfriedhof gleich nebenan. Gewöhnliche Menschen würden hier jeden Windhauch als eisigen Atem in ihrem Nacken spüren. Niemals könnte Lotte sich länger an einem Ort wie diesem aufhalten. Man musste natürlich berücksichtigen, dass normale Maßstäbe für Brecht nicht galten. Und als er die Tür öffnete, verflog auch bei ihr jede Beklemmung. Sie streifte sie an seiner Garderobe mitsamt ihrem Mantel ab und kehrte noch einmal in seine Welt zurück.

»Sei alles, nur nicht sentimental!« Sie hörte das Raunen seiner jüngeren Stimme in ihrem Kopf. Von ihm hatte sie ihre besten Schauspielkniffe gelernt, egal, welche Unstimmigkeiten es später gegeben hatte. Als sie auch noch das Kopftuch abnahm, lachte sie laut auf. »Wie eine alte Babuschka. Ich schwöre, ich habe so etwas noch nie getragen. Aber ich dachte, hier trägt man es womöglich so. Nun sag doch mal, Brecht, wie fühlt es sich denn an, mitten auf einem Friedhof zu leben?«

Ihr Blick schweifte über die Mütze und seine Lederjacke. Er war bekleidet, als wolle er gleich noch einmal auf die Straße gehen. Entweder konnte er nicht einmal hier drinnen mit sich allein aufhören, der Brecht zu sein, oder ihm fehlte das Geld für das Holz im Ofen. Sehr warm war es nicht bei ihm.

Während er ihr höflich einen guten Abend wünschte, blickte er sie mit seinen schwarzen, tief liegenden Augen an. Keine Regung war in ihnen zu erkennen, doch Lotte hatte nicht vergessen, wie trügerisch diese Stille war. Ruhe würde in diesen Sümpfen erst herrschen, wenn Brecht unter einem der Grabsteine dort draußen läge. Sie wusste, dass er sie einer heimlichen Prüfung unterzog, die jede Falte, jede Regung und ihre Haltung deutete. Lotte ließ sich bereitwillig mustern, ohne einmal die Augen zu senken. In ihrem Leben hatte sie nur selten unter einem Blick den Rückzug angetreten. Stattdessen reckte sie auch dieser Herausforderung ihr Kinn entgegen, das über die Jahre noch ein wenig markanter geworden war. Sie glaubte, sich an eine Zeit zu erinnern, in der sie zurückhaltender gewesen war, aber die lag viel weiter zurück als die Jahre, in denen sie Brecht kennenlernte. Die Männer waren früh zu ihr gekommen, und im Kampf um ihr Brot hatte sie noch viel früher, als kleines Kind schon, auf jede unsinnige Scheu verzichtet, die ihr Leben hätte erschweren können. Sie hatte lachend jeden Krumen aufgesammelt, den Soldaten den Kindern aus ihren Kasernenfenstern zuwarfen. »Ich war jung, Gott, erst sechzehn Jahre …«

In ihrem Kopf summte sie die Zeilen unwillkürlich mit ihrer alten, höheren Stimme. Sie selbst war erst dreizehn Jahre alt gewesen, als einer sie mit auf ein schäbiges Zimmer genommen hatte.

Und so stupste sie den ach so bedeutenden Dichter ohne Befangenheit gegen den Arm und bedeutete ihm auf diese Weise voranzugehen. Nachdem sie das Arbeitszimmer betreten hatten, beantwortete er plötzlich ihre Frage.

»Aber wie sollte es sich denn anfühlen, Lotte? Denkst du etwa, ich fürchte mich, die eigene Zukunft vor Augen zu haben?« Er kicherte.

»Schön gesagt, Brechtchen. Aufmunternd wie eh und je.« Lotte verzog einen Mundwinkel.

Sobald er sich auf den Stuhl hinter seinen Schreibtisch niedergelassen hatte, nahm er einen halb gerauchten Stummel aus dem überquellenden Aschenbecher neben seiner Schreibmaschine. Was war denn aus seinen Zigarren geworden? Beim Öffnen des Mundes gab er den Blick auf schwarze Stummel frei. Nach einer schnellen Streichbewegung erglomm das Streichholz und wurde nach dem ersten Zug mit einem kurzen Schütteln der Hand wieder gelöscht. Die Jahre hatten die seltsame Asymmetrie seiner Züge verstärkt. Mittlerweile stand seine rechte Augenbraue so hoch über der linken, dass er wohl gar nicht mehr anders konnte, als spöttisch dreinzublicken. »Was hast du denn da in deiner großen Tasche, Lotte?«

»Ein Sandwich. Ich war mir nicht sicher, ob es in diesem neuen Land etwas Anständiges zu essen gibt. Und falls man mich nicht wieder auf die andere Seite lässt, will ich vorbereitet sein.«

Jetzt lachte Brecht genauso, wie er es ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft getan hatte, bevor er allzu linientreu wurde. Es war ein Lachen, das seinen ganzen Körper erschütterte. Tränen kullerten seine Wange herunter. Lotte schloss die Augen und wartete auf die Worte, die solchen Ausbrüchen damals gefolgt waren.

»Ja, das Leben.« Er hatte es gesagt. Lotte lächelte, während Brecht sich mit den Fingerknöcheln die Augen rieb. »Ach, Lotte. Du hast dich kaum verändert. Immer für eine Überraschung gut und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Wusstest du, dass Hegel dort begraben liegt? Das sollte uns Aufmunterung genug sein.«

Lotte verstand nicht, wieso sie die Anwesenheit eines toten Philosophen tröstlich finden sollte. Letztendlich handelte es sich doch nur um eine Abwesenheit, die sich in nichts von der eines toten Hausierers unterschied. Aber natürlich liebte Brecht seinen Hegel und hatte früher seiner Begeisterung in weitschweifigen Ausführungen reichlich Ausdruck verliehen. Weil Lotte immer schon neugierig gewesen war, hörte sie ihm bisweilen gerne zu. Doch dieses Wissen aus zweiter Hand genügte ihr vollauf. Ein gelehrter Mann mochte üppige Wälzer für seine Artgenossen schreiben. Aber während diese in Regalen Staub ansetzten, hatten andere Menschen genügend damit zu tun, eine Handvoll hungriger Mäuler zu stopfen oder einfach das Leben zu leben. Und vom Leben außerhalb ihrer Köpfe schienen diese Männer nur wenig zu verstehen. Brechts Ausspruch ging ihr durch den Kopf. »Das Fressen kommt vor der Moral.« Doch es war leicht, anderen ein Verhalten vorzuwerfen, das in der menschlichen Natur liegt, wenn man selbst satt in seinem Cabriolet saß.

»Es muss sehr schön sein, wenn Hegel einem ein warmes Plätzchen freihält«, sagte sie trocken.

Brecht grinste. »Glaub mir, es war großer Einsatz nötig, mir dort ein Grab zu sichern. Und nun will ich noch einen Stein, an den ein Hund gerne pinkeln würde.«

Man konnte ihm einfach nichts krummnehmen. Lotte lachte laut auf und spürte, wie ihre Bitterkeit verflog. Die hatte ja ohnehin nur der Art gegolten, wie Brecht ihren Kurt behandelte. Lotte hingegen hatte sich von ihm immer anständig behandelt gefühlt. Und dieser boshafte Funke in ihm hatte sie oft genug herrlich amüsiert. Wie alt waren sie damals eigentlich gewesen? Auf jeden Fall noch keine dreißig Jahre, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Noch einmal so viele Jahre waren seither vergangen. Es kam ihr länger vor, als würden mindestens zwei Leben dazwischen stecken. Alles in allem schien Brecht aber noch der Alte zu sein.

Hätte Lotte in diesem Moment erfahren, dass schon bald das Herz dieses Mannes versagen würde, hätte sie es nicht geglaubt. Dieses Organ hatten Kurt und sie immer für seine kleinste Schwachstelle gehalten. Und doch würde sie in beinahe genau einem Jahr die Zeitung aufschlagen und darin zwei Schlagzeilen entdecken. »Lotte Lenya ist in Hamburg angekommen« und auf der gleichen Seite »Bertolt Brecht ist in Ost-Berlin gestorben«. Es würde ihr danach noch lange wie ein hinterfotziger Streich des Schicksals vorkommen, das sie auf diese Weise ein letztes Mal zusammenbrachte. Aber noch stand er lebend vor ihr und machte Scherze.

»Wenn du es sagst, Brecht. Mit Steinen kenne ich mich wirklich nicht aus. Mit Hunden übrigens auch nicht«, sagte sie. »Aber ich bin sicher, du wirst schon einen Stein finden, den jeder Hund beglückt anpinkelt.«

Bei dem ganzen sehr ernsthaft politischen und epischen Getöse um ihn herum hatte Lotte ganz vergessen, welch ein hinreißender Lump in diesem Herrn steckte. Einmal hatte Kurt bei ihm Das Kapital aus dem Regal gezogen, mit der Bemerkung: »Nanu, dabei muss es sich wohl um eine gekürzte Ausgabe handeln. Früher war das Werk dicker.« Dann fiel der Schutzumschlag hinunter, der zu groß für den Band darunter war. Brecht hatte einen Krimi von Edgar Wallace darin versteckt.

Lotte ließ sich eine Zigarette und Feuer reichen, dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das schwere Bücherregal, während Brecht sich wieder in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken ließ. Lotte nahm einen tiefen Zug und betrachtete das Chaos auf seiner Arbeitsplatte – die unvermeidlichen, vollgekritzelten Kladden neben zwei dicken, aufgeschlagenen Wälzern.

»Ich hab gehört, du bist auf dem Weg in den Kreml?«, fragte sie, um nicht gleich mit ihrem Anliegen herauszuplatzen. Er sollte nicht herausfinden, wie wichtig ihr die Sache war. Es würde ihn nur dazu verleiten, die Katze zu geben, die mit einer Maus spielte. Als sie ihren Besuch am Telefon angekündigt hatte, schwadronierte er nur wieder über seine eigenen Pläne und Gedanken. Nach Lottes Leben und ihrem Befinden hatte er kein Mal gefragt. Stattdessen schien er immer noch so verbissen überzeugt von all dem epischen Dies und Das und der Verfremdung. Es war gut zu sehen, dass doch noch ein wenig von dem jungen Mann in ihm steckte, das vielleicht ihre lebendige Anwesenheit hervorgelockt hatte. Nach dem Kreml hatte sie ihn in der Absicht gefragt, ihm zu schmeicheln, doch nun blickte er leer an ihr vorbei. Es war schwer, aus ihm schlau zu werden. Nachdem die Bolschewiken seine Mutter Courage derart verunglimpft hatten, müsste es ihm doch ein Trost sein, mit einem Mal im Kreml den Stalinpreis verliehen zu bekommen.

»Sag mal, Brecht, kann es sein, dass es zwischen dir und den Befreiern doch nicht die ganz große Liebe geworden ist?«

Er verzog sein Gesicht. »Wann habe ich denn jemals an so etwas geglaubt?«

Genau wie Kurt hatte auch Brecht es nach der Flucht in Amerika probiert. Dort wurde er dann allerdings ebenso als Kommunist verteufelt wie im Hitler-Deutschland, auch wenn man ihn deswegen zum Glück nicht gleich in ein Lager steckte. So konnte er mit der roten Fahne in der Hand nach Deutschland zurückkehren, wo nun manch einer sein Werk als pompös abtat. Es schien, als müsste sein Platz immer an der eigenen Front bleiben – zwischen allen anderen.

Durch ihre gemeinsamen Erfolge konnte es nach außen so scheinen, als seien sie alle aneinander gebunden, dabei hatten sie von Anfang an nach ganz unterschiedlichen Dingen gestrebt: Brecht hatte es nach einer Revolution gedürstet. Kurt wollte die Oper erneuern, um sie für die Zukunft zu retten. Lotte selbst hatte sich nach den Holzdielen einer Bühne unter ihren Füßen gesehnt, nach dem Geruch staubiger Vorhänge und dem Licht der Scheinwerfer. Es hatte für sie nie etwas Schöneres gegeben, als sich ganz in dem zu verlieren, was mit ihr geschah, sobald der Vorhang sich öffnete.

»Lottchen, du schaust plötzlich so ernst, so kenne ich dich gar nicht«, sagte Brecht.

Für einen alten Grobian klang er beinahe zärtlich. Waren der Kegel seiner Schreibtischlampe und sein lauernder Blick schon die ganze Zeit auf sie gerichtet gewesen?

»Ach, es ist gar nichts. Die Stadt hat sich sehr verändert.«

»Vielleicht ist sie ja nun besser? Willst du denn wirklich mit mir über Politik reden?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich denke, da bist du dir selbst der beste Gesprächspartner. Was meinst du – soll ich in die Küche gehen, um uns eine warme Milch zuzubereiten? Ich glaube, etwas Warmes würde uns beiden guttun.«

Es schien Brecht kaum zu überraschen, dass eine Besucherin ihren Gastgeber bewirten wollte. Er war es gewohnt, dass sich jemand um ihn kümmerte. Schon vor vielen Jahren hatte dies die Weigel übernommen, mit der er immer noch zusammen war, auch wenn sie derzeit nicht die gleichen Räume bewohnten. Lotte hatte ein Foto von Helene in der Zeitung gesehen. Sie hatte schon in jungen Jahren alt ausgesehen und sich deshalb kaum verändert. Unter dem straff zurückgekämmten Haar sah sie den Betrachter ernst und misstrauisch an. Sie war jetzt die Intendantin des neuen Berliner Ensembles und inszenierte die Aufführungen ganz im Sinne ihres Mannes, auch wenn er gerade eine junge Frau namens Isot mehr liebte als seine eigene.

Auch hierin hatte er sich nicht geändert, ebenso wenig in seiner Abneigung gegen jede Art von Zeitverschwendung. Die Zeit, die sie in der Küche verbrachte, nutzte er, um sich wieder tief über eines der dicken Bücher vor ihm zu beugen. Als sie zurückkehrte, pochte der Stift in seiner Hand rhythmisch auf den Tisch, als versetzten ihn die Worte, die er las, in äußerste Unruhe. Lotte musste zweimal laut hüsteln, bis Brecht sie bemerkte und endlich das Buch zur Seite schob, um ein wenig Platz für die Milch zu schaffen. Lotte kehrte zu ihrem Platz am Bücherregal zurück und deutete lächelnd mit dem Kinn auf das Buch. »Machst du das etwa immer noch? Die Werke der anderen verbessern?«

Ertappt klappte er das Buch zu. »Glaub mir, sie profitieren davon.«

»Vielleicht sollte ich mir einmal deine vorknöpfen.«

Er kniff die Augen zusammen, entspannte sie aber gleich wieder. »Die sind so, wie sie sein sollen.«

Gewiss doch! Kurt und sie hatten oft über seine Manie gelacht, gedruckten Werken Ergänzungen und Anmerkungen hinzuzufügen. Er strich ganze Sätze und korrigierte die Grammatik. Alles wusste er besser, der arrogante Mistkerl. Selbst Hegel war nicht ungeschoren davongekommen. Lotte nahm einen Schluck von der warmen Milch und ließ sie ihre Wirkung tun. Sie war sogar besser als Alkohol, der einen erst ausgelassen und dann melancholisch stimmte. Diese cremige Flüssigkeit schmeckte süß, nach einer Vergangenheit ohne Bitterkeit. Sie gab sich keine Sekunde der Illusion hin, dass es eine solche jemals gegeben haben könnte – und dennoch, in diesen Tagen schien die vergangene Zeit schon deshalb vollkommen, weil sie damals jung und beisammen gewesen waren.

Sie spitzte ihre Lippen und pfiff die Melodie von Mackie Messer. »Erinnerst du dich noch daran, als dieses Stück in allen Straßen Berlins gepfiffen wurde?«

Brecht lehnte sich zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Natürlich. Dabei fanden wir es anfangs nicht einmal wirklich gut, sondern brauchten nur ein Stück, damit Paulsen, dieser Idiot, sich wichtig fühlen konnte.«

»Dieses Halstuch, das er immer trug.«

Sie lachten. Dann wurde seine Miene wieder ernst. »Ich weiß aber auch noch, wie sehr du sie alle gerührt hast. Man bekam das Gefühl, sie hätten noch nie zuvor etwas Wahrhaftiges erlebt.«

Lotte nahm seine Worte als Kompliment, auch wenn sie vielleicht einen Vorwurf beinhalteten. Passte es in seine Vorstellung vom Theater, die Menschen zu rühren? Nach der Dreigroschenoper schien ihnen die Welt offenzustehen. Dass zumindest der Teil der Welt, in dem sie sich zu Hause fühlten, sie ablehnen würde, damit hätten sie zu dem Zeitpunkt nicht gerechnet. Und doch vergingen danach nur noch zwei Jahre, bis sie sich die erste Prügelei mit den Braunhemden lieferten. Hätte sie von Anfang an wissen müssen, wie die Dinge weitergehen würden? Im Nachhinein liegt immer alles offen da, doch sie hatte in diesen widerlichen Gestalten zunächst nur ein paar Rüpel gesehen, die von Juden nur etwas weniger hielten, als es ihre Mitbürger taten. Vielleicht hätte sie als Frau eines Juden hellhöriger sein müssen. Dabei hatte sie Kurt geheiratet und nicht den Angehörigen irgendeiner Religion.

Sie fragte sich immer noch, wie Brecht zu all dem stand. Dass er die Nazis gehasst hatte, stand außer Frage. Sie trugen den Klassenkampf nicht auf die Art aus, die er sich wünschte. Aber darüber hinaus? Bei allem Getue um die Geschundenen hatte er die Beißer vorgezogen. Bisweilen war es Lotte sogar vorgekommen, als würde er Opfer verachten, selbst diejenigen, die unschuldig ins Elend geraten waren.

»Du schreibst deinen Nachnamen jetzt mit einem Ypsilon, Lenya. Das sieht ja sehr modern aus.«

»Der Name war ja ohnehin nie echt, da kann man ihn auch ein wenig der Zeit anpassen.«

Sie hatten genügend um den heißen Brei herumgeredet, fand Lotte. »Ich möchte dich um etwas bitten.«

»Mich um etwas bitten? Da bin ich gespannt.«

»Wir wollen eine neue Schallplatte aufnehmen, mit Weills Liedern.«

Brechts Augen verschlossen sich wie die Blende einer Kamera. Sogleich ärgert sich Lotte über ihre ungeschickte Wortwahl. Sie hätte nicht vom »Weills Liedern« anfangen sollen, wo Brecht die Stücke vor allem als seine Werke ansah. Dies war schließlich der Grund, warum sie an diesem Abend die Bittstellerin gab. »Ich will auf meiner neuen Schallplatte das Lied vom Surabaya-Johnny singen«, fuhr sie dennoch mit fester Stimme fort. »Es wäre schön, wenn du einwilligst.«

Im Halbdunkeln blieben Brechts Gesichtszüge unlesbar. Nur seine Körperspannung verriet, dass seine Aufmerksamkeit jetzt ganz Lotte und ihrer Sache galt.

Du bist nicht der Einzige, der eine Sache hat.

»Das Lied? Das habe ich ja schon fast vergessen«, rief er überrascht. Für einen Moment schwieg er. »Sing es mir vor. Bitte!«, forderte er dann mit rauer Stimme.

Lotte zuckte zusammen, weil es ihm wieder einmal gelungen war, sie kalt zu erwischen. Es war unvorstellbar, hier vor ihm in diese Stille hineinzusingen. Es gab keine instrumentelle Begleitung, die sie schützte. Nichts würde davon ablenken, wie dunkel und brüchig ihre Stimme geworden war.

»Vielleicht ist es dir ja nicht episch genug, Brecht – vielleicht gefällt es dir gar nicht«, wandte sie ein.

Als er endlich antwortete, klang seine Stimme sanft. »Lenya, mein Liebling, alles was du tust, ist mir episch genug.«

Da schloss sie die Augen und öffnete ihre Lippen. Während der ersten Takte hörte sie ihre gealterte Stimme durch seine Ohren, wie zum ersten Mal. Je länger sie sang, desto mehr verflog jede Bangigkeit. Sie sang, bis die Umgebung vor ihren Augen zu schwimmen begann und sie in die Bilder in ihrem Innern eintauchte.

Es war, wie man es vom Sterben behauptet – die Zeit schien sich auszudehnen, und Lottes ganzes Leben zog an ihr vorbei.

1. Akt

Ick kieke, staune, wundre mir,

uff eemal jeht se uff die Tür

(Das Klopslied)

1. Szene

Das Ruderboot – Grünheide,

Sommer 1924.

Mit dem Handrücken wischt Lotte sich die Schweißperlen von der Stirn. Das Salz brennt auf dem frischen Mückenstich an ihrem Handgelenk. Gleich ein ganzer Schwarm dieser Biester hat sie umzingelt, während sie das Boot über das Wasser steuerte. Sie hat das Ruder nicht ein einziges Mal abgelegt, um nach ihnen zu schlagen, so sehr ist sie in Eile gewesen. Es gilt, einen wichtigen Auftrag zu erfüllen. Vermutlich wartet der Herr Komponist am Bahnhof schon ungeduldig darauf, von ihr abgeholt zu werden. Er soll die Musik zum neuen Libretto ihres Gastgebers verfassen. Seit Monaten lebt sie in dem prächtigen Haus der Familie Kaiser, ohne einen Pfennig zahlen zu müssen. Sie schuldet ihnen viel und willigte sofort ein, als der Herrscher des Kaiserreichs sie bat, einen Herrn Weill vom Bahnhof abzuholen. »Nimm einfach eines der Boote, dann musst du nicht den langen Fußmarsch durch den Wald antreten«, riet er ihr.

Sie hat es zunächst für einen Riesenspaß gehalten, hier im Ruderboot vorzufahren. Doch nachdem sie hastig den ganzen See überquert hat, brennen die Muskeln in ihren Oberarmen. Nicht so schlimm. Der Kaiser hat seinen Gast als vollkommenen Kavalier beschrieben. Sicher wird er gleich die Ruder in die Hand nehmen. Sorgfältig bindet sie das Boot am Steg fest und klettert auf die Planken. Die Stelle an ihrem Handgelenk juckt immer noch so furchtbar, dass sie den Zeigefinger zwischen die Lippen steckt, um etwas Spucke auf dem Stich zu verteilen. Als ihr einfällt, dass sie diese Hand gleich dem Gast reichen muss, trocknet sie die Stelle schnell an ihrem weißen Sommerkleid.

Andererseits hätte es ihm vielleicht nichts ausgemacht. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem Ankömmling um einen Speichellecker handelt. Lotte hat so ihre Erfahrungen mit aufstrebenden Musikern gemacht, die sich dem Herrn Kaiser andienen wollen. Ihr kann es egal sein, die Abwechslung kommt ihr gelegen.

Munter blickt sie der Sonne entgegen, mit der Hand an der Stirn, um die Augen vor dem gleißenden Licht zu schützen. Nie hat sie weniger Sorgen gehabt als in diesen Tagen. Im Hause der Kaisers inmitten von all dem Grün und Wasser kommt es ihr vor, als könne nichts Schlimmeres geschehen, als dass eine dunkle Wolke sie vom Baden abhält. Viel zu tun hat sie nicht, außer dem Nachwuchs eine Art große Schwester zu sein. Da sie mit mehreren Geschwistern aufgewachsen ist, fiel es ihr leicht, in die gewünschte Rolle zu schlüpfen. Sie genießt es, in dieser Familie das große Kind sein zu dürfen, das sie zuvor nie gewesen ist. Gut, dass sie nicht geahnt hatte, wie blond, sonnig und behütet man aufwachsen kann, sonst wäre sie jetzt vielleicht ganz gelb vor Neid. Manchmal geht sie auch im Haushalt ein wenig zur Hand, wobei alle anspruchsvolleren Arbeiten der Hauslehrer, der Gärtner oder die Köchin erledigen.

Das Einzige, was sie vermisst, ist die Bühne. Aber bislang ist sie darauf nicht so weit gekommen, wie sie es sich erhofft hat. Und bis sie endlich ein neues Engagement ergattert, ist sie hier viel besser aufgehoben – ohne finanzielle Sorgen, fordernde Liebhaber und all die Verlockungen, Geld aus dem Fenster zu werfen. Nein, viel klüger ist es da doch wohl, sich vom beliebtesten Dramatiker des Landes Unterschlupf gewähren zu lassen. Schon allein das Essen ist hier so viel besser als in ihrer letzten Butze, wo sie sich immer einreden musste, Fischfrikadellen zu essen, wenn die Wirtin wieder einmal Speisen in unnatürlichen Farben auftischte. Zur Beruhigung hatte die gute Frau wenig mehr zu sagen als: »’ne Katze is et nich.« Vermutlich hätte es sich gelohnt, einmal die Ratten im Haus vor und nach der Mahlzeit zu zählen, aber krummnehmen konnte Lotte der Kriegswitwe ihre Ruppigkeit nie. So war das eben, wenn man drei Kinder am Leben halten musste, von denen eines Tuberkulose hatte. Die Miete hat sie jeden Tag kassiert, schließlich war nicht vorherzusehen, wer sich sein Zimmer am folgenden Sonnenaufgang noch leisten konnte, so schnell wie das Geld wertlos wurde. Lotte gefielen das ständige Kommen und Gehen, die Wirtin und ihre Nachbarn – bis ausgerechnet der schöne, russische Klavierstudent aus dem Zimmer nebenan sich umbrachte. Vielleicht hatte er es über, zu kommen und zu gehen. Vielleicht konnte er es sich auch schlicht nicht mehr leisten, irgendwo hinzugehen. Aber auch danach erschien Lotte ihre Wohnung immer noch besser als ihre erste Bleibe in Berlin, wo kaum jemand sein Geld auf ehrliche Weise verdiente und sich dennoch fünf Menschen eine Matratze teilen mussten.

Sie hat den Kaisers von dem Leben in solchen Pensionen erzählt, als handele es sich dabei um einen herrlichen Spaß. Die Gastgeber lachten voll faszinierter Ungläubigkeit, und um ihnen die Freude nicht zu verderben, verschwieg sie den Studenten.

Auf dem Weg zu den Gleisen fragt sie sich, wie sie den Herrn Weill überhaupt erkennen soll. Sie hat Kaiser gebeten, ihn zu beschreiben, woraufhin er lachend erwiderte: »Na, wie soll er schon aussehen? Wie alle anderen Musiker auch.«

Der Zug fährt gerade ein, verpasst hat sie ihn also nicht. Während sich die Türen öffnen, hofft sie, dass es nicht allzu viele Passagiere in diesen entlegenen Winkel am Rande Berlins verschlägt. Doch ihre Sorge, ihn zu übersehen, stellt sich als unnötig heraus. Als Herr Weill mitsamt seinem Koffer auf dem Bahnsteig steht, erkennt sie ihn sofort. Sie kann schon deshalb nicht daran zweifeln, den Richtigen ausfindig gemacht zu haben, weil niemand sonst den Zug verlassen hat. Da steht einzig und allein dieses drollige Kerlchen, das kaum größer als sie selbst zu sein scheint. Sie geht auf ihn zu und mustert währenddessen den dunkelblauen Anzug, den kleinen Schlips und den schwarzen Borsalino auf seinem Kopf. Jeder Musiker, der etwas auf sich hält, trägt gerade einen solchen Hut. Somit hat Kaiser mit seiner Beschreibung recht behalten. Über seine Kopfbedeckung hinaus hat dieser Mann aber nichts an sich, das sein Metier verraten könnte. Im Gegenteil. Je näher Lotte ihm kommt – er selbst bequemt sich ja nicht loszumarschieren –, erinnert er sie immer mehr an einen Mathematikprofessor. Auf jeden Fall aber an jemanden sehr Gelehrtes, der sich mit lauter unglaublich wichtigem Zeug befasst, das außer ihm kein Mensch versteht. Wenn er eine so dicke Brille benötigt, muss der Arme blind wie ein Katzenjunges sein. Vielleicht hat er sich deshalb nicht fortbewegt. Jemand wie er muss wohl bei Verabredungen in der Hoffnung verharren, gefunden zu werden.

Doch als sie direkt vor ihm steht, vertreibt der Schalk in seinem schiefen Lächeln den Gelehrten. Aus der Nähe betrachtet, scheint er sogar noch jünger als sie selbst mit ihren sechsundzwanzig Jahren zu sein. »Sind Sie vielleicht der Herr Weill?«

»Das bin ich.«

Seine Stimme gefällt ihr. Sie ist sanft wie ein Windhauch und damit das willkommenste Geschenk an einem warmen Tag wie diesem.

»Fein. Ich komme, um Sie abzuholen, und soll Sie zu den Kaisers bringen. Ich bin die Lotte Lenja«, sagt sie und reicht ihm die Hand, die er mit unerwartet festem Druck ergreift. »Guten Tag, Fräulein Lenja.«

Je häufiger sie diesen Namen ausgesprochen hört, desto weniger befremdlich klingt er in ihren Ohren. So weit, dass sie ihn ganz selbstverständlich über die Lippen bringen würde, ist es allerdings noch nicht. Dafür ist sie zu lange eine Karoline Blaumauer gewesen. Ihr Gegenüber wirkt ein wenig angespannt, was daran liegen mag, dass er einen Oberarm ganz eng an den Körper presst. Darunter hält er eine Mappe eingeklemmt.

»Bewachen Sie ein wertvolles Gut?«, fragt Lotte lächelnd.

»Mein Wertvollstes«, erklärt er. »Das ist meine Notenmappe.«

»Und das da?« Sie tippt auf eines der knitterigen Papiere, die aus seiner Jackentasche hervorlugen. »Wenn diese Bündel das Trinkfeld für Ihren Chauffeur sein sollen, sollten Sie es aber vorher noch bügeln, damit er es überhaupt annimmt.«

Sein Blick folgt ihrem mit einem verlegenen Lächeln. »Das sind nur ein paar Notizen. Ich kann nicht anders. Sobald mir ein Klang durch den Kopf geht, muss ich ihn auf Papier festhalten.«

Später wird Lotte denken, dass sie diese Äußerung als Warnung hätte nehmen sollen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt sie jedoch weder, dass wirklich jede Faser dieses Mannes von Tönen durchdrungen ist, noch, dass auch nur eine einzige Eigenheit dieses Fremden jemals eine Bedeutung für sie haben könnte.

»Na, dann folgen Sie mir mal«, sagt sie.

Am Steg angekommen, betrachtet er zweifelnd den See. »Sehr idyllisch. Aber ich sehe gar kein Haus.«

Lachend klettert sie in das Boot. »Würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, ebenfalls in dieses Vehikel zu steigen? Der Kahn ist nämlich unser Transportmittel.«

Als sie seinen erschrockenen Blick sieht, lässt sie das Boot absichtlich ein wenig wackeln, um ihn zu ärgern.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragt er.

Amüsiert nimmt Lotte das beunruhigte Zucken seiner Oberlippe zur Kenntnis. Neben seiner Stimme ist dieser Mund das Schönste an ihm. Ein markantes Kinn rettet die vollen Lippen davor, zu feminin zu wirken.

Sie nickt. »Es sei denn, Sie möchten lieber versuchen, sich Ihren Weg durch den Wald zu bahnen?«

»Ich weiß nicht recht«, murmelt er. Vorsichtig setzt er einen Fuß in das Boot. Mit seinen unentschlossenen Bewegungen bringt er den ganzen Kahn zum Schaukeln.

»Angst?«, fragt Lotte. Sie lässt ihre Wimpern flattern, die ganz schwer von schwarzer Wimperntusche sind.

Ohne ihre Frage einer Antwort zu würdigen, reicht er ihr die Notenmappe, um beim Einsteigen die Balance halten zu können. Schließlich gelingt es ihm, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Sein erwartungsvoller Blick verrät Lotte, dass dieser brave Kavalier gar nicht daran denkt, das Ruder zu übernehmen.Glaubt er denn, sie sei der Laufbursche? Bislang konnten weder ihr kräftiges Kinn noch die kurzen Haare Männer davon abhalten, die Frau in ihr zu sehen. Sie hat sich nie der Illusion hingegeben, schön zu sein. Aber bereits ihre Mutter hatte in ihr ein Licht erkannt, das Männer in Motten verwandeln konnte. »Sie werden dich immer lieben«, hatte sie geraunt. Lotte gefällt dieser Gedanke. Aus dem wenigen, das man hat, sollte man ordentlich Kapital schlagen.

Ihre Arme fühlen sich bleiern an, als sie nach den Rudern greift, doch sie denkt gar nicht daran, sich auch nur die geringste Anstrengung anmerken zu lassen. Nur wer sie gut kennt, würde bemerken, dass sie weniger als sonst redet, um ihre Puste zu sparen. Doch wenn sie schon ackert, könnte er wenigstens etwas zur Unterhaltung beitragen. Es ärgert Lotte, wie zufrieden er die Stille erträgt, während sie selbst immer nervöser wird. Die einzigen Laute kommen von den Rudern im Wasser und den Enten, die sich mit lautem Quaken und viel Geflatter darüber beschweren, dass sie Lottes Hölzern ausweichen müssen. Es dauert nicht lange, bis Lotte das Schweigen zu viel wird und sie ein wenig atemlos daherplappert. Sie berichtet dem Gast, wie freundlich die Kaisers seien, wie zauberhaft ihre drei Kinder und wie schön das Zuhause.

Weill nickt höflich und zündet sich eine Pfeife an. Die wertvolle Notenmappe ruht mittlerweile auf seinen Knien. Vielleicht würde es ihn aus der Reserve locken, wenn sie etwas sänge, wo er doch Musiker ist. Doch bevor sie ihren Mund öffnen kann, dringt ein Pfeifen durch seine gespitzten Lippen. Lotte erkennt den Donauwalzer sofort. Macht er sich über ihren Wiener Akzent lustig? Zum Glück ist sie keine Mimose. Sie kann einen Scherz auf ihre Kosten vertragen. Laut lacht sie auf. »Da haben Sie ja wirklich direkt ins Blaue getroffen. Ich stamme tatsächlich aus Wien, genau wie der Walzerkönig. Ich habe ihn aber nie getroffen, falls Sie sich das fragen. Zumindest nicht, soweit ich mich erinnern kann. Ich war gerade ein Jahr alt, als er starb. Außerdem hat er sich wohl nicht viel in den Gassen der Vorstadt rumgetrieben. Da bin ich nämlich aufgewachsen.«

Er neigt seinen Kopf leicht zur Seite und schaut sie aus seinen dunklen Teddybären-Augen an. »Tatsächlich? Ich kenne mich nicht gut aus in Wien. Das Lied ist mir aus einem ganz anderen Grund eingefallen. Sie erinnern sich wohl nicht daran, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«

Lotte schüttelt den Kopf. Nichts an ihm kommt ihr vertraut vor. Dabei hat er gar nicht den Eindruck eines Schönschwätzers gemacht, der einen Flirt mit der unsinnigen Frage beginnt, ob man sich schon einmal begegnet sei. Sie lässt den perfekt gezupften Bogen ihrer rechten Augenbraue nach oben schnellen. »Ach ja? Dann ist Ihr Gedächtnis dem meinen aber weit überlegen.«

Sosehr sie die Röte rührt, die sein Gesicht überzieht, so wenig kann sie verhindern, dass der Kobold in ihr sich von seiner Verunsicherung anstacheln lässt, ihn noch ein wenig mehr zu provozieren. »Lassen Sie mich raten – ich bin Ihnen sicher in Ihren Träumen begegnet.« Sie hält sich ihre Hand vor den Mund, um dahinter demonstrativ zu gähnen.

Fasziniert betrachtet sie sein Gesicht, das mittlerweile die Farbe eines gekochten Hummers angenommen hat. Ebenso der Hals. Gerne würde Lotte erfahren, wie tief unterhalb des Hemdkragens seine Verlegenheit noch gekrochen sein mag.

Sanft berührt sie sein Knie mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand. »Na, machen Sie sich nichts draus. Sie wären nicht der Erste, dem es so geht. Herr Weill.« Das ist ihre verruchte Stimme. Ach, ihr letzter Auftritt ist einfach schon zu lange her.

Wieder überrascht er sie, indem er weder vor ihrer Berührung zurückzuckt, noch den Eindruck vermittelt, ihre kleine Aufdringlichkeit zu genießen. »Nein, Fräulein Lenja, da muss ich Sie enttäuschen. Wir sind uns tatsächlich schon einmal begegnet«, versichert er ruhig, ohne den Blick noch einmal zu senken. »Und zwar nicht in irgendwelchen elysischen Gefilden, sondern auf dieser profanen Erde, auf der wir uns gerade befinden.«

Ein Poet also. Sie hat ihn wohl falsch eingeschätzt. Angesichts seiner ruhigen Beharrlichkeit könnte sie sich beinahe für ihre Albernheit schämen. Was für ein seltsamer Mensch! Sie zieht zwar ihre Hand zurück, ist aber noch nicht bereit, das Theaterspiel gleich wieder aufzugeben.

»Es ist ganz schön warm heute, oder?«, sagt sie mit ihrer unschuldigen Stimme, die eher nach blonden Zöpfen als nach dunklem Bubikopf klingt.

»Nicht viel wärmer als gestern, meine ich«, entgegnet er.

Sie wirft das Handtuch. Gegen so viel Sachlichkeit kann niemand etwas ausrichten.

»Also schön. Wo soll das denn gewesen sein?«, fragt sie. »Dass wir uns begegnet sind, meine ich.«

Er lächelt. »Wenn ich so darüber nachdenke, war es vielleicht doch nicht ganz in dieser Welt. Sie standen auf der Bühne, und ich hockte unter Ihnen im Orchestergraben in einer Zaubernacht. Sie konnten mich vermutlich gar nicht sehen.«

Verschwommene Bruchstücke fügen sich zu einem Bild zusammen. Die Zaubernacht. Die Pantomime für Kinder.

»Das war Ihr Stück, richtig?«, entfährt es ihr. »Sie waren der Komponist am Klavier, als ich zum Vortanzen ins Theater gekommen bin.«

Er nickt. »Ich habe mich gewundert, dass Sie danach nicht wieder aufgetaucht sind. Ich habe befürchtet, dass etwas passiert ist. Oder wollten Sie die Rolle gar nicht?«

Dass er sich derart den Kopf über sie zerbrochen hat, nimmt sie sogleich für ihn ein. Es ist schön, wenn jemand sich um einen sorgt. Sie hätte die Rolle in Wahrheit sehr gerne gespielt. Sie abzulehnen war eine Dummheit. Und würde sie lange genug in sich hineinhorchen, würde sie dort sicher mehr als einen Funken Reue aufspüren. Aber wozu wäre es gut, ihn zu entfachen, solange die Zeit stets vorwärtseilt? Man kann ihr nun einmal nicht in die andere Richtung folgen, um dort ein Rädchen neu zu justieren.

»War es denn ein großer Verlust?«, fragt sie leichthin.

»Für uns schon. Ich glaube nicht, dass ich vor Ihnen schon vielen Frauen begegnet bin, die nichts dabei finden, einen Clown abzugeben. Aber Sie haben Ihre Schuhe einfach in die Ecke geworfen und sich nicht darum geschert, ob wir das seltsam finden. Ihre Konkurrenz war dagegen viel zu sehr damit beschäftigt, brav zu gefallen. Nirgends gab es Ecken oder Kanten. Alles war so weich und wabbelig.«

»So lassen sie sich besser formen«, sagt Lotte lachend. Wenn er nur wüsste! Bei seinem Kompliment hat sie sich wie eine Hochstaplerin gefühlt, denn insgeheim will sie so sehr gefallen wie die anderen, vielleicht sogar noch mehr. Bestenfalls hat sie den süßlichen, umhegten Mädchen die aufregende Entdeckung voraus, dass sie in diesem Streben umso mehr Erfolg hat, je schamloser Lotte sie selbst ist. Das gilt natürlich nur, solange sie den ausgelassenen Übermut zeigt, den alle an ihr schätzen. Und der ist ja keine Lüge, sondern nur eine sorgfältig ausgesuchte Wahrheit. Sie weiß mittlerweile, aus welchen Ritzen die Schwermut zu kriechen pflegt, und ist auf der Hut, ihr keinen Durchlass zu gewähren.

»Ich fand Ihre Form großartig«, sagt Weill.

»Nun erinnere ich mich wirklich an Sie.« Sie lacht gegen das Beunruhigende in seiner schlichten Ernsthaftigkeit an. »Besser gesagt, fällt mir die nette Stimme aus dem Graben wieder ein. Sie haben mich sehr ermutigt. Wie lange ist das nun her? Drei Jahre?«

»Es sind nur zwei gewesen«, korrigiert er sie.

»Dann war es ja beinahe gestern. Wie konnte ich das nur vergessen?« Sie zwinkert ihm zu.

»Und? Warum sind Sie nicht mehr gekommen?«, will er wissen.

»So genau kann ich Ihnen das gar nicht erklären, fürchte ich. Es muss eine Laune gewesen sein.«

Sie will ihm nicht erklären, dass sie wegen Richard Révy absagen musste. Er ist schon in Zürich ihr treuer Mentor gewesen und wollte so gerne der Regisseur der Zaubernacht werden. Nachdem sie ihn abgelehnt hatten, wäre es Lotte wie ein Verrat vorgekommen, das Angebot anzunehmen. Kaum jemand hat sich jemals so freundlich um sie gekümmert wie Révy. Er war es, der sie mit den Kaisers verkuppelt hatte, als sie kaum noch ihre Miete zahlen konnte. Und er hat auch erst die Anzeige entdeckt, in der nach jungen Tänzern für Die Zaubernacht gesucht wurde. Ein Liebhaber sollte auf Lottes Treue besser nicht allzu viel geben, aber