Das Leben irgendwo dazwischen - Eva Pantleon - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Leben irgendwo dazwischen E-Book

Eva Pantleon

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Geschichte von Liebe, Schuld und Verzeihen, erzählt mit erstaunlicher Leichtigkeit, Witz und Wortgewandtheit. Eine echte Entdeckung. «Für diese Sache mit der Liebe brauchen wir Mut. Alles, was wir an Mut zusammenkratzen können.» Das Leben gleicht oft einer Großbaustelle, findet Dido. Seit Lukas ihr vor Jahren das Herz gebrochen hat, fühlt sie sich wie ein Komparse im eigenen Leben. Erst als ihr Chef, der alte Buchhändler Hans, sie um Hilfe bittet, erwacht Dido aus ihrer Lethargie. Denn auch Hans wurde einst von seiner großen Liebe verraten - und konnte sie doch nie loslassen. Dido ahnt, dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt, man muss es selbst tun. Und sie will Hans dabei helfen. Bei der Suche nach jener Frau taucht plötzlich Lukas an ihrer Seite auf. Und so muss auch Dido sich den eigenen Gefühlen und Verletzungen stellen. Es wird eine abenteuerliche Reise, bei der nichts ist, wie es scheint. Und für die es großen Mut braucht, denn im Leben gibt es kein Schwarz oder Weiß. Das Leben ist irgendwo dazwischen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 496

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eva Pantleon

Das Leben irgendwo dazwischen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Für diese Sache mit der Liebe brauchen wir Mut. Alles, was wir an Mut zusammenkratzen können.»

 

Das Leben gleicht oft einer Großbaustelle, findet Dido. Seit Lukas ihr vor Jahren das Herz gebrochen hat, fühlt sie sich wie ein Komparse im eigenen Leben. Erst als ihr Chef, der alte Buchhändler Hans, sie um Hilfe bittet, erwacht Dido aus ihrer Lethargie. Denn auch Hans wurde einst von seiner großen Liebe verraten – und konnte sie doch nie loslassen. Dido ahnt, dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt, man muss es selbst tun. Und sie will Hans dabei helfen. Bei der Suche nach jener Frau taucht plötzlich Lukas an ihrer Seite auf. Und so muss auch Dido sich den eigenen Gefühlen und Verletzungen stellen.

Es wird eine abenteuerliche Reise, bei der nichts ist, wie es scheint. Und für die es großen Mut braucht, denn im Leben gibt es kein Schwarz oder Weiß. Das Leben ist irgendwo dazwischen …

 

Eine Geschichte von Liebe, Schuld und Verzeihen, erzählt mit erstaunlicher Leichtigkeit, Witz und Wortgewandtheit. Eine echte Entdeckung.

Vita

Eva Pantleon lebt und schreibt in Reinbek bei Hamburg. Nach einem Studium der Germanistik volontierte sie bei einem Hamburg-Magazin und arbeitete danach als Redakteurin. Heute ist sie als freie Journalistin tätig. Dies ist ihr Debütroman.

Für die beiden W.’s

Liebe: Auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat.

Jean Anouilh

 

‹You must remember›, remarked the King,

‹or I’ll have you executed.›

Lewis Carroll, Alice in Wonderland

 

Heimat sind Leute, zu denen man zu Fuß gehen kann

und bei denen man dann einfach nur rumsitzt

und nicht geistreich sein muss.

Fanny Müller

1

Es war ein Dienstag – und einer dieser spülwassergrauen Novembertage, an denen die Wolken wie eine Herde dicker Seekühe über Hamburg herumtrudeln. Es roch nach Schnee, und der Nordwestwind fegte zischend durch jede Häuserspalte. Entsprechend frostiger Stimmung radelte ich gegen neun durch die Stadt Richtung Hafen und versuchte, meinem noch schlaftrunkenen Hirn ein paar praktische Informationen zu entlocken wie etwa: Was mache ich heute eigentlich?

Erst mal gehst du arbeiten bei Hans. Und heute Nachmittag musst du dann zu Herrn Hübchen, dem größten aller Chefredakteure, informierte mich mein Hirn und ließ damit meinen Stimmungspegel abrupt ins Minus sinken. Du sollst ihm Themenvorschläge machen. Für die Weihnachtsausgabe von «Goldene Tage», der Illustrierten für die besten Jahre. Und denk dran, näselte mein Hirn und grinste hämisch: Herzzerreißend soll es sein. Du weißt schon – Schicksale, die bewegen. Ich zog eine Grimasse. Der journalistische Weitblick Wilfried Hübchens entsprach etwa dem meines Föhns.

Wut brauste in mir auf. Auf das Leben und seine Zumutungen. Und auf das miesepetrige Wetter dieser ewig klammen Hafenstadt, in die ich nicht geboren war. Ich trat fester in die Pedale, duckte mich unter dem Nordwestwind, der in mein Gesicht stach wie mit feinen Eisnadeln. Daher hätte ich ihn beinahe nicht gesehen. Den Schatten.

Auf einer Plakatwand in St. Pauli ragte er meterhoch hinauf und tanzte. Oder so was Ähnliches. Eigentlich war es eine riesige dünne Schattenfrau. Sie hatte ihre Arme erhoben wie für einen unsichtbaren Tanzpartner und trug einen langen Rock, der melancholisch um ihre Beine schwang. Fast meinte man, von irgendwo die Klänge eines Dreivierteltaktes herüberwehen zu hören, zu dessen Tumtata Tumtata die Schattendame ihren einsamen Walzer tanzte. Zum Leben erweckt wurde sie von einem dicken roten Sonnenball, der hinter ihr melodramatisch am Firmament versank. Nosferatu meets Bacardi-Werbung, dachte ich noch im Vorbeiradeln und dass mir das Ganze vage bekannt vorkam.

Die Schatten, Dido, du musst die Schatten sehen – sie sind das Wesentliche.

Schnell, schnell weiter. Schon kamen die ersten Hafenkräne in Sicht, bunte Schemen, die aus einer dichten Nebelsuppe ragten. Der Herbst lag wie ein großes, graues Laken über der Elbe und verschluckte alles mit seinem diesigen Atem – die Werften, den Michel, die Landungsbrücken, an denen sich die Barkassen drängelten. Das einzig Erfreuliche an dieser Tag gewordenen Depression war die Luft: Es roch nach Salzwasser, Fisch, Schiffsdiesel, geröstetem Kaffee. Hafenduft – das beste Parfüm, das ich kenne.

Ich radelte hinunter bis zum Fischmarkt, blieb stehen und starrte ein paar Momente lang gedankenblind in den grauen Morgen – bis eine Möwe auf einem Tampen neben mir mit lautem Gekreische ihren Hering verteidigte. Da endlich machte es klick in meinem Kopf, und mir wurde klar, was ich da gerade gesehen hatte. Wessen Schatten auf dem Plakat an der Häuserwand seinen einsamen Walzer getanzt hatte. Ich spürte, wie es in mir ganz leer wurde – als täte sich ein riesiger Raum auf, angefüllt mit: nichts. Auch mein Gehirn schien jede normale Tätigkeit eingestellt zu haben, blinkte nur noch rot für «Störung».

Wie in Zeitlupe drehte ich mich um und fuhr zurück. Langsam, im Schritt-Tempo, so als müsste ich einen ganzen Pferdewagen hinter mir herziehen. Und im Grunde war es auch so. Es war mein halbes Leben, das ich hinter mir herzog – oder zumindest ein wesentlicher Teil davon.

Ein kurzer Blick auf die Schriftzüge des Plakats genügte, um zu bestätigen, was ich im Grunde bereits gewusst hatte: Ich selbst war es, die da tanzte. Ein Schatten meiner selbst – aufgenommen vor vielen Jahren, in einem anderen Leben, einer anderen Zeit. Ich spürte Tränen, die mir die Luft abdrückten, und versuchte zu schlucken. Doch der Hals war zu eng, alles schien plötzlich zu eng. Ich setzte mich wieder aufs Fahrrad und sauste los, als seien Höllenhunde hinter mir her.

 

Als ich in die kleine Straße oberhalb des Hamburger Hafens einbog, bekam ich zumindest wieder Luft. Auch die in Sturmstärke durch meinen Kopf wirbelnden Bilder beruhigten sich so weit, dass ich beim Bäcker an der Ecke in ganzen Sätzen Franzbrötchen und ein Käse-Baguette ordern konnte. Und dann war es zum Glück auch nicht mehr weit, bis ich den kleinen Laden im Erdgeschoss eines gelben Jugendstilhauses erreichte, das hinter zwei Platanen fast verdeckt war: Hans Petersens «Antiquariat für Bücher aller Art» – wo ich zwei Tage in der Woche jobbte.

Das mit dem «aller Art» ist so ein Spleen von Hans. Eigentlich verkauft er hauptsächlich Krimis, Heftromane und Kochbücher aus einer Ära, als die deutsche Hausfrau Broccoli noch für einen Zwergstaat im Südpazifik hielt. Doch nachdem ihm im Jahr zuvor ein pensionierter Studienrat eine Kiste mit einer zerfledderten Schiller-Gesamtausgabe, einer Mengenlehre-Fibel sowie einer DDR-Version des «Struwwelpeters» überlassen hatte, sah Hans das geistige Spektrum seines Sortiments jäh erweitert. Also war er auf eine Leiter gestiegen und hatte mit grünem Acryllack «Bücher aller Art» auf das Ladenschild gepinselt.

Unter diesem Schild nun saß Lord Nelson und begehrte Einlass. Lord Nelson war ein Kater. Zumindest dem Anschein nach. In Wirklichkeit war er ein Tyrann. Ein Kater gewordener Charakterfehler, dessen jäh wechselnde Launen selbst hartnäckig miez-miez rufende Katzenfreunde eines Besseren belehrten. Sobald ich die Tür aufgeschlossen hatte, quetschte er sich an mir vorbei in Richtung Sofa – einem Möbel, das ausschließlich von ihm bewohnt wurde. Wir anderen mussten mit Holzstühlen vorliebnehmen – wir waren ja auch nur Menschen.

Ich kochte Kaffee und begann, eine neue Bücherlieferung zu sortieren, bis Hans kam und irgendwie komisch war. Und wenn Hans komisch ist, ist das schon ziemlich komisch. Denn Hans Petersen ist der netteste Mensch, den ich kenne. Trotz seiner beachtlichen Größe fühlt man sich bei ihm niemals klein. Wenn er einen mit seinen blauen Hans-Albers-Augen ansieht und sein langes Gesicht, das mehr Furchen hat als ein Kartoffelacker, zu einem Grinsen verzieht, ist die Welt einfach in Ordnung. An diesem Morgen aber druckste er komisch rum.

«Hans, was ist los?»

Er setzte sich. Brummte ein wenig.

«Nu ja», fing er an und nestelte an seinem senffarbenen Pullover herum – Hans ist schrecklich farbenblind. «Du hast ja nie viel über ihn gesagt …»

Jetzt wurde er tatsächlich etwas rot im Gesicht.

«Aber ein-, zweimal hast du seinen Namen erwähnt und … ach, Deern, so was fällt ja selbst einem ollen Döskopp wie mir auf», sagte er in seinem typischen Hamburger Singsang – mit Vokalen so lang wie der Mississippi.

«Hans?»

«Na ja, am besten liest du es einfach selbst.»

Er reichte mir das Hamburger Abendblatt.

Es war gleich auf der Titelseite: ein Foto, das fast die halbe Seite einnahm. Darauf ein knorriger alter Baum in einer kargen Landschaft. Sein Schatten malte ein seltsames Muster auf den Boden, als wäre der Baum in einem Spinnennetz gefangen. Meine Hände zitterten, als ich die Zeitung aufschlug. Seite drei. Da war die Ankündigung zum Titelbild:

Schattenwege

Die erste Ausstellung von Lukas Lenzendorf seit acht Jahren.

Ab Mittwoch in der Galerie «Kunstpark West»

Ich hatte es natürlich gewusst. Von dem Moment an, als das Plakat mit der Schattenfrau in mein Bewusstsein gesickert war. Und ich hatte es all die Jahre gefürchtet. Unter dem Artikel war ein Foto. Seine Augen waren noch dieselben. Wach. Nett. Ein wenig spöttisch. Mehr Falten drum herum.

Er trägt eine Krawatte. Mein Gott, wie kann er eine Krawatte tragen? Er hasst Krawatten. Ich lauf doch nicht als Pinguin herum, hatte er immer gesagt. Die haben aber keine Krawatten, hatte ich erwidert, die haben einen Frack. Ach, du weißt schon, was ich meine. Und dann hatte er gegrinst, bis kleine Lichter in den eisblauen Augen tanzten.

Er hatte also eine Ausstellung. Seine erste große Ausstellung seit Jahren. Na schön. Was scherte es mich? Sollte er doch. Ich reichte Hans die Zeitung zurück.

«Danke.»

Er legte den Kopf schief. «Och Deern, nimm dir das doch nicht so zu Herzen. Muss ein ganz dummer Bengel sein, dass er so eine wie dich …», er wedelte mit der Hand durch die Luft, «na, was immer euch zwei passiert ist.»

«Danke, Hans. Ist schon okay. Ich räum jetzt noch die Kiste hier aus, dann gibt’s Frühstück, ja?»

«Hm.»

«Hans?»

«Hm?»

«Es ist wirklich okay. Lange her. Nur noch eine Erinnerung, sonst nichts.»

«Na, denn is ja gut, Lütte.»

Hans sah mich noch immer forschend an, doch zum Glück öffnete sich in diesem Moment die Ladentür, und eine gedrungene Gestalt schob sich in den Laden.

«Spooky-Ears», seufzte ich und stupste Hans an die Schulter: «Du bist dran.»

Keiner von uns beiden wusste, wie die alte Dame wirklich hieß. Sie kaufte seit Jahren ihre Arzt-Romane bei Hans. Was an sich eine Sache von fünf Minuten wäre. Doch Spooky-Ears, so genannt wegen ihrer großen, spitz zulaufenden Mr.-Spock-Ohren, machte daraus stets ein Spektakel in zwei Akten.

Zunächst rollte sie ihre großen Eulenaugen hinter der Hornbrille und zischte durch gelbe Vorderzähne finstere Schmähungen auf den Wetter-Verantwortlichen – «Petrus, diese Flitzpiepe». Danach kam sie direkt zum zweiten zentralen Thema ihres Daseins: die Abenteuer von Dr. med. Hubertus Wiedemann und seiner hinreißend rothaarigen Assistentin.

Während sie nun Hans das letzte Abenteuer des schönen Hubertus kolportierte, verzog ich mich in den hinteren Teil des Ladens, um weiter Kochbücher auszupacken. Nach den Kochbüchern kamen die Lexika. Schließlich noch ein paar zerlesene Krimis. Und die ganze Zeit über sagte ich mir, dass die Welt vollkommen in Ordnung sei. Absolut vollkommen in Ordnung.

Dann aber, als ich mich nachmittags auf den Weg zu Herrn Hübchen machen wollte, sah ich diese Frau. Sie saß an einer Ecke, war in eine Decke gehüllt und murmelte vor sich hin. Vor ihr stand ein alter Emaille-Topf und ein Schild, auf das jemand «Danke» gekrakelt hatte. Der Topf war leer. Ich holte Geld aus meiner Hosentasche. Als meine Münze in den Topf klimperte, hob die Frau den Kopf. Sie war nicht so alt, wie ich erwartet hatte. Sie war überhaupt nicht alt. Das Einzige an ihr, was alt war, waren ihre Augen. Mit diesen zu alten Augen sah sie mich einen Moment lang prüfend an. Dann holte sie etwas unter ihrer Decke hervor. Es war eine dieser Spielzeugfiguren aus den Überraschungseiern, ein kleines Plastikkrokodil. Sie reichte es mir. Ich nahm es und sah sie ungläubig an. Doch sie beachtete mich nicht mehr, versank wieder unter ihrer Decke und in einen leisen Singsang.

Ich aber starrte auf das Tier in meiner Hand, drückte leicht auf seinen Bauch, woraufhin es langsam und etwas hakelig seine orange-rosa Plastikzunge herausschob. Ungläubig schüttelte ich den Kopf, fühlte, wie sich kalter Schweiß in meinem Nacken bildete. Denn es war unleugbar: Wie es seine spitzen Plastikzähne bleckte und mich albern angrinste, glich es aufs Haar einem anderen Spielzeugkrokodil – jenem, das zu Hause in meiner Schreibtischschublade lagerte. Und das mir kein anderer als Lukas Lenzendorf vor neun Jahren auf einem Amsterdamer Flohmarkt gekauft hatte.

In meinem Kopf begann es zu surren, als wäre ein Schwarm Bienen darin gefangen. Wie ferngesteuert setzte ich mich aufs Fahrrad, radelte los. Eigentlich sollte ich Richtung Altona fahren, doch mein Termin, Herr Hübchen, ein neuer Auftrag – all das war nicht mehr wichtig. Entscheidend schien nur eins: wegzukommen. Schnell. Egal wohin.

Irgendeine masochistische Ader in mir hatte das Steuer übernommen und lenkte mich ins Karolinenviertel. Direkt in die Marktstraße, wo das Café Oriental als zentraler Sammelplatz für Langschläfer und Tagträumer diente – und in dem Lukas und ich über Jahre samstags gefrühstückt hatten. Ich fuhr weiter, trat schneller in die Pedale, streifte mit den Augen die Kitty-Bar und andere Orte, an denen Erinnerungen auf mich schossen wie kleine spitze Pfeile. Ich beschleunigte noch weiter, sauste im Affentempo durch die Stadt. Immer weiter und weiter ohne Sinn und Verstand – so wie eine Kassettenspule sich einfach weiterdreht, auch wenn das Band darin längst gerissen ist.

Irgendwann, als der Verkehr weniger wurde, der Lärm der Stadt erträglicher und die Luft klarer, merkte ich, dass ich doch ein Ziel gehabt hatte. Dass ich einer Rettungsinsel gleich den Ort einer bestimmten Erinnerung aufgesucht hatte, die nur mir, mir allein gehörte: Es war ein sandfarbener Stein, von Jahrmillionen im Meer glatt geschliffen wie Papier. M stand darauf. M wie Max – wie mein Sohn. Mein Sohn, der nie auf dieser Welt gelebt hatte. Von dem nur ein paar Ultraschallbilder geblieben waren und dieser Stein – unter einer Kastanie auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf.

Ich blieb lange dort. Blieb stehen, bis ich meine Zehen vor Kälte nicht mehr spürte und auch meine Gedanken endlich eingefroren waren.

 

Das Heulen kam erst abends. Zu Hause. Dann aber heulte ich wie ein Kind, laut und wütend, voller Groll auf ihn, auf mich, auf alles. Ich machte eine Flasche Rotwein auf. Es half nicht. Bis zehn war ich bei Whiskey angelangt und brüllte: «Zum Teufel mit dir!» Dann nahm ich das Plastikkrokodil, das die Frau mir geschenkt hatte, und schmiss es an die Wand. Es machte plopp und fiel auf den Boden. Das war auch ungefähr das Geräusch gewesen, das mein Herz gemacht hatte – acht Jahre zuvor. Und man sollte meinen, dass das Zeit genug ist. Zeit genug, um beim Anblick eines Plastiktiers nicht mehr in Tränen auszubrechen. Das sagte ich mir jedenfalls, als ich ins Bett ging. Es war ein Uhr morgens. Vorher hob ich noch das Krokodil vom Boden auf und stellte es auf die Fensterbank. Neben die schon etwas schlappen roten Tulpen.

2

Mich weckte ein wiederkehrendes Humpf-humpf-humpf, untermalt von durchdringendem Surren. Es klang, als fänden nebenan Drohnen-Testflüge statt. Doch es war nur Kiki. Kiki und ihr Heimtrainer.

Kiki ist meine Mitbewohnerin. Außerdem ist sie Psychologin, Frühaufsteherin und ein Fitnessfreak. Das alles zusammen kann zuweilen eine Plage sein. Ich sah auf die Uhr. Es war acht.

«Da, Post für dich», sagte die Plage, als ich etwas später in die Küche schlurfte, um den Tag mit einem Alka Seltzer zu beginnen. «Steckte neben der Zeitung im Briefkasten.»

Ich nahm den Umschlag, das sprudelnde Alka Seltzer und entschied, dass mein Organismus noch nicht bereit für den Aufrechtgang war.

«Danke», murmelte ich und ging zurück ins Bett.

Der Umschlag war länglich und aus teurem weißem Büttenpapier. Die Adresse hatte jemand mit winzigen und so akkuraten Buchstaben aufs Papier gezwungen, dass diese wie kleine Soldaten aussahen. Ich hatte die Handschrift noch nie gesehen. Dafür kannte ich die Hand auf dem Foto, das auf der Karte im Inneren des Umschlags prangte – es war meine eigene. Sie lag auf einem weißen Kissen und sah aus wie immer: groß, knochig, kurz geschnittene Nägel. Von links fiel ein Schatten auf die Hand. Ich wusste, dass es die Zweige des Ahornbaumes waren, der in Lukas’ und meiner früheren Wohnung vor dem Schlafzimmerfenster gestanden hatte. Auf dem Foto aber sah es aus, als sei meine Hand gefangen. In einem Netz aus Schatten.

«Na, toll», murmelte ich, «was kommt als Nächstes? Das Foto aus Kreta, wie ich schlafend vor einem Zelt liege, eine leere Ouzoflasche im Arm?»

Auf der Innenseite der Karte stand lediglich:

Schattenwege

Fotografien von Lukas Lenzendorf

Vernissage: Mittwoch, 15. November 2006, 19 Uhr

Das war heute. Mein Kopf hämmerte. Draußen krähte ein Hahn. Ich kannte den Hahn. Er lebte in den Schrebergärten, die an unseren Wohnblock grenzten. Er war alt, schon etwas zuselig in den Federn und nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Und er krähte, wann immer es ihm passte, ein heiseres, leierndes Krähen, das sich anhörte wie ein Wecker, dem die Batterien schwach geworden sind.

Kiki kam ins Zimmer und setzte sich auf mein Bett. Sie war frisch geduscht und bester Laune und schnappte sich sogleich die Einladungskarte.

«Soll ich mitkommen?», fragte sie.

«Wohin?»

«Na, dahin.» Sie wedelte mit der Einladung. Dann zog sie ihre sorgsam gezupften Augenbrauen zusammen. «Du gehst doch hin, oder?»

Ich zuckte mit den Schultern und rollte mich unter der Bettdecke zusammen.

«Dido, du kannst nicht immer nur davonlaufen», sagte sie und setzte ihr strenges Therapeutinnengesicht auf.

«Ich kann machen, was ich will», nuschelte ich in mein Kopfkissen.

Sie seufzte. Laut und vernehmlich. Dann verschwand sie und kehrte mit einem Buch in der Hand zurück.

«Da, du Schlumpf», sagte sie und legte das Buch neben mein Kopfkissen, «lies das mal.»

Ich blinzelte.

«Was ist das? Wieder eines dieser ‹Hilf-dir-selbst-sonst-hilft-dir-keiner›-Ratgeberbücher?»

Sie grinste nur und ging in die Küche, wo sie sich lautstark «Dancing Queen» singend des Abwasches annahm. Kiki ist ein herzensguter Mensch, aber ihre Energie, ihre Zielstrebigkeit und vor allem ihr ungebrochenes Verhältnis zu Pop-Schnulzen der 70er sind zuweilen sehr anstrengend.

Ich fingerte nach dem Buch. Der Titel lautete «Frauen-Power für Powerfrauen», und das Foto auf dem Einband erinnerte an das alte Filmplakat von «Kohlhiesels Töchter» mit Lilo Pulver. Links war eine Frau zu sehen, die als Heidi-Klum-Klon durchgehen konnte, rechts daneben dieselbe Frau. Nur sah sie jetzt dank eines grottenhässlichen Make-ups und einer Frisur, die ein Außerirdischer gestaltet haben musste, aus wie Tiffy aus der Sesamstraße. Ich blätterte lustlos darin herum, dann quälte ich mich aus dem Bett und ins Bad. Dort klatschte ich mir eine Handvoll Creme ins Gesicht, wedelte mit einer Puderquaste darüber und türmte zum Abschluss meine störrischen Locken auf dem Kopf zusammen. Das Ergebnis war niederschmetternd und erinnerte an einen toupierten Königspudel. Jede Powerfrau wäre umgefallen vor Neid.

 

Dreißig Minuten später saß ich auf meinem Fahrrad und strampelte an der Elbe entlang. Der Tag war so grau wie sein Vorgänger. Dicke Nebelfrauen tanzten auf dem Fluss, dessen Hochwasser träge an die Kaimauern schwappte. Der Wind heulte schniefend von Nordwest, zwei Möwen zankten sich mit lauten Gekreische.

Deprimierender kann ein Tag nicht werden, dachte ich.

Doch er konnte. Schließlich radelte ich dem ärgerlichsten Termin der Woche entgegen: dem Treffen mit Chefredakteur Wilfried Hübchen, das am Tag zuvor dem heulenden Elend zum Opfer gefallen war.

Kurz vor Altona tauchte auf der rechten Seite jener Betonklotz auf, der mir zwischen den grauen Fischhallen ringsherum immer wie ein verirrter Zirkusclown vorkam. Sein Erbauer musste entweder farbenblind oder ein spätes Blumenkind gewesen sein. Riesige prielblumenartige Gebilde leuchteten hier orange und rosa von der Fassade und scherten sich einen Schnurz um die vornehme hanseatische Zurückhaltung. Daher schien es mir immer überaus passend, dass hier der Mann residierte, für den konstante Selbstüberschätzung quasi zum guten Ton gehörte: Wilfried Hübchen war nicht nur der Chefredakteur von «Goldene Tage», einer windigen Seniorenpostille, sondern litt auch an galoppierendem Größenwahn. Beides zusammen machte mir den Mann etwa so sympathisch wie einen Haufen Klapperschlangen.

Zu meinem ewigen Verdruss aber hatte er mir trotzdem und unleugbar ein Talent voraus: Er wusste, wie man Geld macht. Viel Geld. Mit ihm als Chefredakteur und König des Anzeigenverkaufs in Personalunion lief das Blatt so prächtig, dass er nicht nur anständige, sondern unverschämt gute Honorare zahlen konnte. Ich nannte sie «Bestechungsgeld». Denn die Texte, die er dafür verlangte, waren so windelweich und glatt, dass man beim Tippen eigentlich vom Stuhl hätte rutschen müssen.

Ebenso deprimierend aber war, dass im Jahr zuvor ein akuter finanzieller Engpass mir nur zwei Optionen gelassen hatte: in einem Bussi-Bär-Kostüm über den Rathausmarkt zu trotten und Flyer zu verteilen oder einen gut bezahlten, aber grässlichen Schreibauftrag anzunehmen – bei «Goldene Tage», der Zeitschrift für die besten Jahre, geleitet von Wilfried Hübchen.

Und so saß ich auch jetzt – eine gute halbe Stunde später – wieder einmal vor seinem albern großen Schreibtisch und nippte Cappuccino, während Herr Hübchen die Chance ergriff, mir einen besonders nervigen Auftrag aufzuschwatzen.

«Meine Liebe», setzte er an, «Sie sind doch eine gebildete Frau.»

Meine Nackenhärchen stellten sich auf. Wenn er sich auf schmierige Komplimente verlegte, folgten in der Regel die schlimmsten Aufträge. Er nestelte an den Knöpfen der Lederweste herum, die er über seinem rot-weiß gestreiften Hemd trug. Eine Kluft, die er sich aus irgendeinem US-Film abgeguckt hatte. So einem, in dem die Journalisten immerzu in Cocktailbars herumstehen und irrsinnig witzige Dinge sagen, statt den ganzen Tag müde auf einen Bildschirm zu starren und in vertrocknete Wurstbrötchen zu beißen wie normale Journalisten.

«Wissen Sie, ich hätte da so einen Auftrag …», fuhr er fort.

Ich ahnte Schlimmes: eine Reportage über den Bingo-Verein der Senioren in Groß-Borstel. Eine schmissige Abhandlung zum Thema «Erste Hilfe bei Hämorrhoiden». Oder ein Porträt über Freddy Quinn. Ja, das musste es sein. Das große Freddy-Quinn-Porträt.

«Also …» Er räusperte sich. «Sie haben sicher schon einmal von ihr gehört. Elisabeth Matthissen.»

Ich zuckte die Schultern. «Da muss ich passen, Herr Hübchen.»

«Na, macht nichts», sagte er großzügig, «man kann nicht alles wissen.»

Nein, du Kretin. Und wenn du nicht gleich mit der Sprache rausrückst, mach ich Kleinholz aus dir.

«Sie ist eine unserer großen Heimatdichterinnen.»

Oh Gott. Ich wusste es. Eine Heimatdichterin. Ruckelnde Reime zum Ruhme der norddeutschen Tiefebene. Oden an Eichenwald und Erbsensuppe. Vorgetragen beim geselligen Nachmittag der Trachtengruppe. Und ich mittendrin, neugierig betuschelt: «Guck mal, Hanni, das ist das Fräulein von der Presse.»

Ich schüttelte mich.

«Hören Sie, Herr Hübchen. Ich weiß nicht, ob ich die Richtige dafür bin.»

Er winkte ab. «Nicht immer so bescheiden, meine Liebe. Sie haben das doch studiert, ich meine, Sie kennen sich doch aus mit Literatur, nicht wahr?»

«Ja, schon, aber …»

«Na, sehen Sie, ich hab doch gleich gewusst, dass Sie die Richtige sind.»

Er legte seine Karpfenlippen an die Tasse und schlürfte Cappuccino-Brühe ein. Dann schob er einen Keks hinterher und redete kauend weiter.

«Was wir brauchen, ist ein großes Porträt mit allen Schikanen – Hintergrund, Werdegang und Fotos natürlich, aber nicht zu intellektuell, eher so ’n bisschen was …»

«Mit Herz», ergänzte ich.

Seine Schweinsäuglein funkelten. «Sehen Sie, ich wusste, dass wir uns verstehen.»

«Bis wann brauchen Sie es?», fragte ich resigniert. Denn ein kurzes Überschlagen meines Kontostandes hatte ergeben, dass dies weder Zeit noch Ort war, um meine Vision Realität werden zu lassen: eines Tages Wilfried Hübchen zu sagen, was ich von seinem Käseblättchen hielt, dann dieses Büro zu verlassen und niemals, niemals wiederzukehren.

«Oh, das hat Zeit.» Er schlürfte noch mehr Kaffee. «In zwei Wochen?»

«Na gut», sagte ich, «dann also die Heimatdichterin. Gibt es irgendwelche Unterlagen? Frühere Interviews, Artikel?»

Er rutschte etwas nervös auf seinem Stuhl herum. «Äh. Nein.»

«Gar nichts? Ich dachte, die Dame ist berühmt?»

«Jaja, das schon. Aber sie scheint den Medien etwas … nun, abwartend gegenüberzustehen.»

«Wie meinen Sie das?»

Er beäugte mich wie ein großer tumber Truthahn. «Na ja, soweit ich weiß, hat sie noch nie ein Interview gegeben.»

«Vielleicht wollte ja nie jemand eines machen?»

«Wo denken Sie hin? Das Hamburger Abendblatt soll schon x-mal angefragt haben, und die Kollegen vom Stern haben es auch schon versucht.»

Ich musste grinsen – wie immer, wenn Hübchen von den «Kollegen vom Stern» sprach. Gäbe es eine Medaille für konsequente Selbstüberschätzung, der Mann hätte die Brust voll damit.

«Soso, die große Heimatdichterin mag also keine Journalisten. Und wie soll ich das dann machen? Mich als Avon-Beraterin tarnen?»

Er strahlte. «Na, sehen Sie. Sie haben doch immer gute Ideen.»

Ich verließ fluchtartig sein Büro.

 

Zehn Minuten später radelte ich zurück Richtung Hafenstraße und führte Selbstgespräche: Heimatdichtung … mein Gott … bist du nicht ganz bei Trost? Heimat. Heimat. Was für ein altmodischer Begriff. Ist doch alles global heute, die Welt ist ein Dorf und …

Heimat ist dort, wo das Herz spricht.

Wer hatte das gesagt? Eichendorff? Tucholsky? Oder war es Heine? Heine, der Vertriebene? Der in seiner «Matratzengruft» in Paris jämmerlich gestorben war, die Sehnsucht nach Hamburg im Herzen?

Heimat ist dort, wo das Herz spricht.

Ein Bild schob sich in mein Bewusstsein. Es war eine Küche, in der eine rundliche Frau mit Schürze stand und bleiche Wurstscheiben auf einem Stück Graubrot verteilte. Später hatte sie mich ins Bett gebracht. Die Frau mit den Apfelbäckchen, die nach fremdländischen Gewürzen duftete und mich gern an ihren gewaltigen Busen drückte. Sie war immer da gewesen. Als mein erster Milchzahn rausfiel. Als mein Hamster starb. Und als Bettina Dippmann mir auf dem Nachhauseweg ein Bein gestellt und mich in die Pfütze geschubst hatte. Für fünf Mark die Stunde machte Consuelo Gonzales unsere Wohnung sauber und war mir die Mutter, die ich dringend brauchte. Meist war die Tür zum Kinderzimmer erst spätabends noch einmal aufgegangen, eine schmale Gestalt war ins Zimmer gehuscht und hatte mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn gedrückt. Ich hatte dann immer so getan, als wenn ich schon schliefe.

Ich schob das Bild beiseite, notierte aber im Geiste: Mutter anrufen. Mutter. Die schmale Frau mit der Brille, die nur selten von ihren Büchern aufsah.

Das Tuten der Queen Mary 2 riss mich aus meinen Gedanken. Ich stoppte einen Moment und beobachtete, wie sich der als Schiff getarnte Hotelberg langsam aus dem Hafen Richtung Nordsee schob – wahrscheinlich mit mindestens zweitausend Exemplaren von «Goldene Tage» an Bord. Ich lächelte verkniffen und winkte meinen Lesern, die auf dem Oberdeck so emphatisch die Arme schwenkten, als gäbe es einen Preis dafür.

Am Fischmarkt angekommen, entschied ich, dass Zeit genug für einen Kurzbesuch bei Hans war, und fuhr zum Pinnasberg hoch. Schließlich wartete zu Hause nur eine weitere Langzeit-Baustelle meines Lebens auf mich: meine Doktorarbeit. Es gibt Grenzen dessen, was man an einem Morgen ertragen kann.

Als ich das Antiquariat betrat, stand Hans am Fenster und beäugte dort seine kleine Wetterstation.

«Moin, Deern», murmelte er geistesabwesend, «wat mokst du denn hier? Is schon Freitag?»

Ich zuckte mit den Schultern. «Ich war gerade bei Hübchen und dachte, ich muss jetzt mal mit ’nem normalen Menschen reden.»

Er nickte verständnisvoll.

«Kaffee s-teht in der Küche.»

Ich holte mir eine Tasse, zog zwei meiner drei Lagen Pullis aus und setzte mich neben ihn ans Fenster.

«Na, Hans, was sagt die Wetterfee?»

Er rieb sich das Kinn und fixierte jetzt den Himmel, an dem sich in der grauen Watte dunkle Wolkengebirge aufbauschten.

«Er wird wohl bald kommen», murmelte er.

«Wer?», fragte ich, obwohl ich das Spiel schon aus anderen Jahren kannte.

«Na, der Blanke Hans, Deern, er dreht den Wind auf Nordwest und bringt den S-turm in den Hafen», brummte Hans.

Ich nickte und bemühte mich um eine mitfühlende Miene. «Aber sicher, und den Klabautermann bringt er gleich mit, was?»

Hans guckte beleidigt und zog sein Ich-bin-ein-alter-Seebär-Gesicht. «Brauchst gar nicht so zu grienen, Deern, den Blanken Hans gibt’s wirklich. Jetzt im Spätherbst treibt er die Nordsee die Elbe hoch. Wirst schon sehen, dann ist wieder Land unter am Fischmarkt.»

«Hu, hu», machte ich und wandte mich einem etwas unmittelbareren Problem zu, das dicht neben mir asthmatisch miaute. Lord Nelson war mit einer für seine Gewichtsklasse erstaunlichen Leichtigkeit auf die Fensterbank gesprungen, litt in der Folge aber unter akuter Atemnot.

«Hans, dein Kater ist zu fett.»

«Hm.» Hans tätschelte Lord Nelson den Rücken. «Das mag wohl sein. Aber was meinst du, wie gnatterig der wird, wenn ich ihn auf Diät setze?»

Ich nickte. «Grauenhafte Vorstellung.»

Dann machte ich mich, da ich ja nun schon mal da war, daran, eine neu eingetroffene Kiste mit alten Schulbüchern zu inspizieren. Als ich in einem der Deutschbücher Storms «Die Stadt» entdeckte, fiel es mir wieder ein: Heimatdichtung.

«Du, Hans», fragte ich, «kennst du eigentlich eine Elisabeth Matthissen?»

Hans, der inzwischen an seinem Schreibtisch saß und sich über der Buchführung die Haare raufte, antwortete nicht. Ich blickte von der Kiste hoch. Hans sah mich an, sein Gesicht war völlig reglos.

«W… wen?» Sein rollender Bassbariton hörte sich seltsam fipsig an.

«Elisabeth Matthissen. Muss so ’ne alte Dame sein, die Heimatdichtung schreibt. Hübchen will, dass ich ein Porträt über sie mache.»

Hans sagte nichts weiter, stand auf und verschwand im Lager. Ich starrte ihm hinterher – zu verblüfft, um anderes zu tun. Lord Nelson aber sprang auf Hans’ Schreibtisch und entschied, dass das Kassenbuch die beste Wahl war, um seine Krallen daran zu schärfen. Ratsch machte es, und Papierschnipsel flogen durch die Luft.

«Na, wenigstens du bist ganz der Alte», sagte ich und ging hinüber, um das Buch zu retten.

Unterdes kam Hans zurück, mit zwei schmalen zerlesenen Büchern in der Hand. Dem Einband nach zu urteilen mussten sie einige Jahrzehnte alt sein.

«Hans, dieser Kater macht, was er will. Und das ist meistens Blödsinn.»

«Ach, lass ihn doch.»

Lord Nelson blinzelte mich boshaft an.

«Hier», sagte Hans und drückte mir die beiden Bücher in die Hand, «eins habe ich noch zu Hause. Kann ich dir aber morgen mitbringen, wenn du willst.»

Die Bücher waren von Elisabeth Matthissen.

«Ich wusste gar nicht, dass du auf Heimatdichtung stehst.»

Er wurde etwas rot, mied meinen Blick und setzte sich wieder an den Schreibtisch.

Ich blätterte in einem der Bände und begann zu lesen. Und was immer ich erwartet hatte, nicht das: eine karge, fast harsche Prosa, die mich an Böll oder Borchert erinnerte. Es waren Kurzgeschichten, die in den ersten Nachkriegsjahren spielten. Alle Titel hatten mit Hamburg zu tun. «Elbe 17», «Landungsbrücken», «Teufelsbrück». Deswegen also hatte Hübchen von Heimatdichtung gesprochen. Ich war mir sicher, dass er nie eine Zeile von Elisabeth Matthissen gelesen hatte. Denn das hier war alles Mögliche, aber bestimmt keine Heimatdichtung.

Mit wenigen Worten wurde ein Alltag, ein Leben beschworen, das im Zeitalter von Internet und Fertigpizza so weit weg schien wie der Dreißigjährige Krieg. Es ging um Männer, die ein Bein, ein Auge oder gleich den Verstand verloren hatten. Es ging um Hunger, Überleben und um Fragen, für die es keine Antworten gab. Als Widmung vorne hatte die Autorin ein Zitat von Mascha Kaléko gewählt: «O Röslein auf der Heide», stand da, «dich brach die Kraftdurchfreude.»

Ich schaute nach den Veröffentlichungsdaten. Erstauflage 1952, drei Jahre später der nächste Band. Warum hatte ich nie von ihr gehört?

Vergessen, murmelte ich, wie so viele. Untergegangen. Erst in der bleiernen Stille der Nachkriegsjahre, dann im Wir-sind-wieder-wer der 50er und 60er, wo für solche wie sie kein Platz mehr war: eine Heimatdichterin ohne Heimat.

Ich legte das Buch zur Seite und sah zu Hans hinüber. Er war über seine Unterlagen gebeugt, kritzelte irgendetwas in ein Notizbuch. Aber ich wusste genau, dass er mich beobachtet hatte.

«Hans?»

«Mh?»

«Wer ist Elisabeth Matthissen?»

Er sah hoch, wurde wieder rot. Dann steckte er sich seine Pfeife in den Mund, ohne sie anzuzünden, und kaute darauf herum. Ich wartete.

«Ich kannte sie mal», sagte er schließlich.

«Aha.»

«Ist lang her.»

«Ja?»

«Sehr lang.» Er nickte vor sich hin, zündete die Pfeife schließlich doch noch an.

«Und?»

«Wir haben uns aus den Augen verloren», er paffte zwei Rauchkringel in die Luft, «wie das eben so ist. Nach und nach findet man nichts mehr wieder. Kugelschreiber. Regenschirme. Erinnerungen.»

«Ist das so?», fragte ich.

Seine Augen waren auf mich gerichtet, sahen aber durch mich hindurch, starrten blicklos in eine Vergangenheit, in der, da war ich plötzlich ganz sicher, Elisabeth Matthissen eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hatte.

«Aber das solltest du doch wissen», konterte er einen Moment später und hielt den Artikel aus dem Hamburger Abendblatt hoch, der noch immer auf seinem Schreibtisch lag. Den Artikel über Lukas Lenzendorfs Ausstellung. «Nur noch eine Erinnerung, sonst nichts. Das waren doch deine Worte, nicht?»

«Touché», sagte ich und schluckte.

 

Als ich eine halbe Stunde später meine Jacke anzog, um endlich nach Hause zu radeln, drückte Hans mir ein weiteres Buch in die Hand. Es war ein nachtblauer Leinenband. Mit Gedichten von Heinrich Heine, gebunden in einem kleinen altmodischen Format mit Goldschnitt an den Seiten. Das Buch sah ziemlich mitgenommen aus. Hans räusperte sich, starrte auf einen Punkt neben mir an der Wand.

«Kannst du ihr das geben, wenn du sie siehst?»

«Mit sie meinst du … Elisabeth Matthissen?»

Hans nickte, und wieder ging sein Blick durch mich hindurch. Mit zögerlichen, unsicher wirkenden Schritten stakste er zu seinem Schreibtisch zurück. Dann drehte er sich noch einmal um und sah mir endlich richtig in die Augen.

«Dido?»

«Ja?»

«Mach nicht denselben Fehler.»

«Hm?»

Er deutete auf das Buch in meiner Hand. «Ich habe zu lange gewartet.»

 

Was mich auf dem Nachhauseweg am meisten beschäftigte, war nicht die Tatsache, dass es da irgendeine Frau in Hans’ Vergangenheit gab, die wunderbare Prosa schrieb. Es war die Tatsache, dass Hans lupenreines Hochdeutsch gesprochen hatte. Etwas, was ich in den fünf Jahren, seit ich ihn kannte, nicht ein Mal erlebt hatte.

3

Zu Hause klebte die Einladung zu Lukas’ Ausstellung am Badezimmerspiegel. Kiki hatte sie mit zwei Tesastreifen dort befestigt und einen roten Post-it-Zettel danebengehängt, auf dem stand: «Was nützt ein hoher IQ, wenn man ein emotionaler Trottel ist?»

Ich schmierte mir zwei Nutellabrötchen und setzte mich an den Schreibtisch. Es war halb sechs. Die Vernissage war um sieben. Draußen krähte wieder der heisere Hahn.

Armer Kerl, dachte ich, komplett verrückt geworden. Aber das passiert schon mal. Dass man durchdreht.

Ich schmiss den Computer an, klickte herum, bis die Textstelle meiner Doktorarbeit erschien, an der ich schon vor drei Tagen verzweifelt war. Sie lautete: «Ottos Mops trifft zute Tute – trieb Dada die Lyrik an die Grenzen des Sagbaren?»

Auch ich schien mit meiner Arbeit, an der ich seit Jahren herumschrieb, an die Grenzen des Sagbaren gekommen zu sein. Ich starrte auf den Bildschirm, versuchte, etwas Konstruktives zu denken. Doch alles, was mir einfiel, war: Katzenfutter. Ich hatte vergessen, es für Hans zu besorgen. Genervt patschte ich auf die Tastatur, fabrizierte ein «hfjhsöghljsthömpf» und nickte. Endlich ein Wort, das meiner Stimmung wirklich Ausdruck verlieh.

Nein. Ich überlegte nicht ernsthaft hinzugehen. Nein. Ich würde da nicht hingehen. Womöglich wäre auch Katja da. Katja mit dem silbrigen Gelächel. Und Katja, die … Nein, ich würde da nicht hingehen.

Ich schluckte, öffnete den Browser und gab die Webadresse der Galerie ein, in der die Ausstellung stattfand.

Als nächstes sah ich mich einem Schwarz-Weiß-Foto gegenüber, das mein zehn Jahre jüngeres Ich von hinten zeigte. Mein Ich trug eine schwarze Lederjacke, schluffige Jeans und schwarze Doc Martens. In dieser Montur stand es breitbeinig vor einem jener romantischen Blicke auf das Elbsandsteingebirge, die Caspar David Friedrich einst zu seinem «Wanderer über dem Nebelmeer» inspiriert hatten.

«Rock the romantics» hatte Lukas das Foto untertitelt. «Krawallschachtel über dem Nebelmeer» wäre vielleicht passender gewesen, dachte ich und musste wider Willen grinsen. Nur zu gut erinnerte ich mich noch an den Nachmittag, an dem das Bild entstanden war: Lukas und ich hatten uns gestritten wegen Ich-weiß-nicht-mehr-was, und am Ende hatte ich mich bockig auf den Aussichtspunkt gestellt und beschlossen, nie mehr mit ihm zu reden.

Mein Grinsen gefror allerdings, als ich das nächste Foto betrachtete. Es zeigte die Prager Karlsbrücke – menschenleer und mitten in der Nacht. Ihre Laternen warfen lange Schatten auf die Moldau, während die Brückenheiligen sich wie Scherenschnitte gegen einen nachtblauen Himmel abzeichneten. Ein Motiv, das so romantisch ist, dass es schon fast albern wirkt – aber mir trotzdem immer unvergesslich geblieben war.

Alle Schatten erzählen von der Sonne, Dido, sie sind die Erinnerung des Lichts.

Ich presste die Lippen zusammen und murmelte: «Mistkerl. Verdammter Mistkerl.» Doch es war schon zu spät. Erinnerungen schwappten in mir hoch wie eine Flutwelle. Als hätten sie nur auf ihren Einsatz gewartet, stürzten sich meine Gedanken jetzt durch jene Tür, die ich so viele Jahre in mir verbarrikadiert hatte. Katapultierten mich zurück durch Monate und Jahre zu jenem Tag, der irgendwo in mir fest verschnürt in einer Kiste lagerte mit der Aufschrift: «Dangerous. Don’t touch.» Der Tag, an dem alles angefangen hatte.

4

Elf Jahre vorher

Ich war zwanzig und gerade von Kelkheim im Taunus nach Hamburg gezogen, um im Herbst mit dem Literaturstudium zu beginnen. Meine Haare trug ich zu dieser Zeit in einer Art karottenrotem Bürstenmob. In meinem Bücherregal wimmelte es von Existenzialisten und radikaler Frauenliteratur, und als Berufsziel gab ich wahlweise Greenpeace-Aktivistin oder Feministin an. Alles in allem war ich vermutlich eine ziemliche Nervensäge.

An jenem Morgen vor elf Jahren nun saß ich im Büro von Berthold B. Lenzendorf, genannt Berti, und fragte mich zum hundertsten Mal, was ich da eigentlich wollte. Berti war der Artdirector von Baumann, Heuß & Roschwitz, einer Hamburger Werbeagentur, und demonstrierte seine Wichtigkeit gern dadurch, dass er den Praktikanten – in diesem Falle mir – Vorträge über Kreativität hielt. Berti war gerade mit rudernden Armen beim Höhepunkt seiner Ausführungen angelangt, da ging ohne Anklopfen die Tür auf. Ein hochgewachsener Mann in einer roten, triefend nassen Regenjacke stapfte ins Zimmer. Er trug ein großes flaches Paket und fluchte vor sich hin. Dann ließ er sich auf Bertis Kalbsleder-Besucher-Sesselchen fallen und knurrte: «Dieses Wetter gehört verboten.»

Berti klappte unterdes seinen Mund auf und zu und starrte den Regenmann an wie eine Geistererscheinung.

«Was machst du hier?», brachte er schließlich heraus. «Ich dachte, du bist in New York?»

Mr. Unwirsch wedelte mit der Hand: «Abgeblasen.»

Dann zeigte er auf das Paket, das er mitten auf Bertis heiligen Arne-Jacobsen-Schreibtisch gelegt hatte.

«Da. Dein Bild. In 1,20 mal 1,60. Wie gewünscht. Und ich hätte dann gern meinen Scheck, Brüderchen.»

Diesmal klappte mir der Mund lautlos auf und zu. Wenn das Bertis Bruder war, war ich der Osterhase. Schließlich hatte der Gute mit seinem Dackelblick und den über die Glatze geföhnten Resthaaren etwa so viel Sex-Appeal wie eine Flasche Eierlikör. Dieser Bursche hier aber sah aus wie der Marlboro-Mann in verwahrlost: eisblaue Augen in einem etwas grob gehauenen Nussknacker-Gesicht, raspelkurze Haare, die aussahen wie selbst geschnitten, und dazu eine Nase, die sicher einmal recht ansehnlich gewesen war – bevor sie ihm jemand kaputt gehauen hatte.

«Und wer sind Sie?», fragte der Boxernasen-Mann und taxierte mich ungeniert von meinen Doc-Martens-Stiefeln über die ausgefranste Cordhose bis zu dem roten Gestoppel auf meinem Kopf.

«Ich bin die Praktikantin.»

«Aha», sagte er und: «Hallo, Praktikantin.»

Dann zog er die Augenbrauen hoch und sah sich demonstrativ in Bertis Büro um. Direkt gegenüber an der Wand prangte ein Foto von einem riesigen Frauenmund, dessen Besitzerin sich gerade ein Snickers zwischen die knallrot geschminkten Lippen schob.

«Und was wollen Sie hier lernen? Wie man aus einem Schokoriegel einen Lebensinhalt macht?»

Na warte, dachte ich, stand auf und schnappte mir einen Coca-Cola-Wimpel von Bertis Schreibtisch.

«Ich will hier lernen», begann ich, drehte mich herum und lächelte boshaft, «mit welchen Mitteln kapitalistische Unternehmensmultis aus Marken und Logos mythisch aufgeladene Kultobjekte machen.»

Ich holte kurz Luft und fuchtelte mit dem Cola-Wimpel.

«Genauer gesagt, welche Mechanismen die Werbung anwendet, um Menschen zu manipulieren und zu willenlosen Konsumjüngern zu verblöden, damit man ihnen das Geld aus der Tasche ziehen kann.»

Danach war es einen Moment sehr still. Berti starrte mich an wie einen besonders ekligen Mistkäfer. Sein Bruder aber grinste nur und fragte: «Rekrutierst du deine Praktikanten neuerdings im Jugendclub der KPD, Berti?»

Dann stand er auf und wickelte aus dem Paket, das er mitgebracht hatte, ein gerahmtes Foto. Technisch gesehen war es phantastisch. Licht und Schatten gaben ihm eine Leuchtkraft und Tiefe, die fast greifbar schienen. Das Motiv aber ließ mich schlucken. Das Foto zeigte einen nackten, rundlichen und sehr weißen Frauenkörper, der sich auf blauem Samt rekelte. Das Gesicht der Frau war abgewandt und blieb im Schatten. Auf ihrer Hüfte aber lag eine Männerhand, eine breite Männerhand, die den Körper der Frau zu streicheln oder niederzudrücken schien – je nach Perspektive.

Sexistisch. Grässlich. Indiskutabel. Ratterte mein Hirn. Zugleich war da irgendetwas in dem Bild, das mich nur schwer die Augen abwenden ließ.

«Und?», hörte ich wieder die spöttische Stimme. «Wie finden Sie’s?»

Und das war der Moment, in dem ich wirklich dankbar war für die Existenz von Berthold B. Lenzendorf.

«Großartig, Lukas, da hast du dich selbst übertroffen», sabbelte Berti jetzt nämlich los und lief wie ein aufgeregtes Hühnchen in seinem Büro herum. «Das wird der Knaller auf unserer After-Work-Party morgen. Wirst sehen.»

«Halt doch mal die Klappe, Berti, ich will wissen, was unsere Rosa Luxemburg zu dem Foto sagt …» Er sah mich herausfordernd an.

«Ph…», machte ich und maß ihn ebenso anzüglich von oben bis unten, wie er das zuvor mit mir getan hatte. Dann sagte ich und betonte jedes Wort: «Ich glaube, das wollen Sie nicht wirklich wissen.»

Und damit ließ ich die beiden stehen und stolzierte mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer.

«Blöder Arsch», murmelte ich, während ich auf den Empfangstresen zulief, um mit Katja zu plauschen. Katja war die Empfangsdame der Agentur. Außerdem war sie meine beste Freundin und ein freundliches, sanftes Wesen, das silbrig lächelte, während ich die meiste Zeit herumlief wie ein boshafter Rauhaardackel und die Leute anbellte. In der Schule hatten sie uns immer Jekyll und Hyde genannt. Jetzt allerdings schien irgendetwas Katja aus ihrem gewohnten Gleichmut gebracht zu haben.

«Hast du ihn gesehen?», fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.

«Wen?» Ich sah mich um.

«Na, ihn», sagte sie und nickte zu Bertis Büro hinüber. Auf ihren Wangen erschienen zwei hektische rote Flecken.

«Ach, den Typen mit dem Foto, meinst du? Jaja, der platzte bei Berti ins Büro rein und redete allen möglichen Müll.»

Katja sah mich an, als ob ich schwachsinnig geworden wäre. «Du hast keine Ahnung, wer das ist, oder?»

«Na, Bertis Bruder offensichtlich. Erstaunlich eigentlich, dass eine Frau gleich zweimal hintereinander Schwachköpfe produziert. Hoffe, es gibt nicht noch mehr von der Sorte.»

«Dido …» Katja wimmerte jetzt regelrecht. «Denk doch mal nach. Lukas Lenzendorf. Klingelt da nicht was bei dir?»

Ich starrte sie an. «Der Lukas Lenzendorf?»

Katja nickte.

Und dann klingelte es tatsächlich – oder vielmehr schrillte es in meinem Kopf mit der Sanftmut eines Presslufthammers. Ich fühlte mich, wie sich wohl eine Dreizehnjährige fühlen würde, sollte sie zufällig ihr Popidol beim Einkaufen treffen und feststellen, dass Mr. Superstar nach Schweiß riecht oder Hühneraugen hat – wie andere, ganz normale Menschen auch. Natürlich würde kein Popstar jemals zu Edeka gehen. Aber was ich meine, ist eben dieser böse kleine Moment, dieses leichte Rieseln, wenn die Heldenanbetung in sich zusammenkrumpelt und schneller verpufft ist als Popcorn in der Mikrowelle.

Denn Lukas Lenzendorf war mein Held gewesen. Der Mann, der jahrelang wie ein lebendiger Krisenmelder durch Kriegsgebiete gerobbt, gekrochen und gewandert war, um preisgekrönte Fotos zu schießen. Fotos, die der Welt einen Spiegel vorhielten, aber nie mit dem Elend hausieren gingen.

Eines davon war mir besonders in Erinnerung geblieben: das Bild eines Kindersoldaten aus dem Kongo. Der Junge trug Tarnkleidung, ein Maschinengewehr, das fast seinen ganzen Körper verdeckte, und viel zu große Gummistiefel. Das Eindrücklichste aber war sein Gesicht gewesen: die noch etwas rundlichen Kinderwangen, die seltsam verloren aussahen zwischen der Kalaschnikow in seinen Händen und den wie eingefroren wirkenden, starren Augen. Augen, in denen man, wenn man genau hinguckte, den Fotografen widergespiegelt sah – jenen Fotografen, der jetzt offenbar lieber nackte Frauen auf Samt ablichtete.

Es gibt nichts Schlimmeres als gefallene Götter.

«Na, und wenn schon», sagte ich zu Katja und zuckte mit den Schultern, «es gibt Tausende, die gekonnt auf einen Auslöser drücken können.» Dann griff ich in die große Box auf dem Tresen, die mit der Aufschrift Spaß-Lollis, steckte mir einen davon in den Mund und trabte hinüber in die Besenkammer. So nannte ich das kleine Kabuff am Ende des Flurs, in dem die Praktikanten deponiert wurden – und dessen muffiges Depri-Flair, wie ich fand, meiner Tagesaufgabe durchaus angemessen war: Texte für einen Duschkopf-Katalog zu schreiben.

Ich wühlte gerade ganz unten im Regal hinter dem Schreibtisch nach einem Duschkopf namens Spritz-Fitz, als jemand in den Raum kam.

«Na, wieder erholt von der Heldenanbetung?», nuschelte ich von unten, sicher, dass es Katja war.

Ein Räuspern erklang. Es hörte sich an wie eine hustende Bulldogge und konnte unmöglich Katjas hellem Sopran entstammen.

Ich beugte mich vorsichtig vor, blinzelte unter dem Schreibtisch durch – und starrte auf ein nicht identifizierbares Paar grober Stiefel.

«Oh. Hallo», murmelte ich von unten, «bin gleich wieder da.»

Die Stiefel bewegten sich, und einen Moment später sah ich in die Augen von Lukas Lenzendorf, der seine gut hundertneunzig Zentimeter zusammengefaltet hatte und nun vor dem Tisch auf dem Boden hockte.

«Hallo noch mal», sagte er, und das leichte Kringeln seiner Mundwinkel ließ mich vermuten, dass ich von der Suche nach Spritz-Fitz noch etliche Spinnweben im Haar und wahrscheinlich auch einen grünen Spaß-Lolli-Rand um den Mund hatte.

«Ich dachte mir schon, dass Sie ungewöhnliche Kreativ-Methoden haben. Aber wie nennt man das hier? Action-Writing? Und sagen Sie, wie macht Berti das mit den älteren Textern? Müssen die auch auf dem Boden herumkrabbeln, um Geistesblitze zu produzieren?»

«Richtig. Ohne Gymnastik geht hier gar nichts, Berti legt Wert darauf, dass seine Mitarbeiter fit bleiben», antwortete ich und erhob mich so würdevoll, wie es eben geht, wenn man bangt und betet, dass die durchgeschabte Stelle an der eigenen Cordhose nicht gerade jetzt platzen möge.

Doch die Enge hinter dem Schreibtisch und die drei Stück Käsekuchen vom Wochenende forderten unbarmherzig ihren Tribut. Es machte «Ratsch!» – und das kühle Gefühl im Bereich meiner linken Pobacke verriet mir, dass dort, wo vorher blauer Cord war, nun ein Riss etwa von der Breite des Suezkanals klaffte.

Ich versuchte, mein zerschlissenes Hinterteil unauffällig an das Regal hinter mir zu drücken und dabei ruhig und gelassen auszusehen. Wie man sich eben so fühlt, wenn ein Mann mit der Aura eines Sergio-Leone-Westernhelden vor einem steht, während einem hinten eine verwaschene Unterhose mit ausgeleiertem Gummi aus der Hose guckt.

Er schien aber nichts gemerkt zu haben. Oder er überlegte gerade, ob er mich in seine neue Fotoserie mit dem Titel «Skurrile Praktikanten» einbauen sollte. Jedenfalls lungerte er maulfaul vor dem Schreibtisch rum und grinste vor sich hin (was zwei entzückend uncoole Grübchen in den Westernheldenwangen zum Vorschein brachte, aber das tut jetzt nichts zur Sache).

«Was ist denn so komisch?», krächzte ich. Denn ich mag Stille nicht. Sie ist mir zu gefährlich. Also fülle ich sie mit Gerede, das meist zielsicher in größtmögliche Peinlichkeiten ausartet. Doch bevor Dido, Fachfrau für Fettnäpfchen-aller-Art, ihr reiches Können unter Beweis stellen konnte, kam zum Glück Bewegung in den Mann. Er fummelte ein zerknittertes Stück Papier aus seiner Jackentasche und reichte es mir über den Tresen.

«Da, das haben Sie vorhin in Bertis Büro vergessen», die Grübchen wurden breiter, «das Duschkopf-Briefing. Die Basis für einen weiteren flammenden Beitrag gegen den Konsumterror.»

«Es kann eben nicht jeder Frischfleisch auf Samt ablichten.»

Er stutzte einen Moment, die Grübchen verschwanden, und ein Schatten huschte über sein Gesicht.

«Nein, das kann nicht jeder.» Er griff nach dem Buch, das auf meinem Schreibtisch lag. Es war Sartres «Das Sein und das Nichts». Er starrte einen Moment auf das Titelbild, dann lächelte er etwas schief. «Und man kann auch nicht sein Leben lang alles in Frage stellen.»

«Wie meinen Sie das?»

«Wollen Sie das wirklich wissen?»

Ich nickte, wenn auch zögerlich.

Er legte eine schlichte weiße Visitenkarte vor mir auf den Tisch. «Dann kommen Sie mich doch morgen in meinem Atelier besuchen. Vielleicht 18 Uhr?»

Ich nickte, noch zögerlicher.

Im Rausgehen drehte er sich noch einmal um. «Und was ich noch sagen wollte … ich bin nicht immer ein blöder Arsch.»

Ich errötete.

«Aber Sie haben ja recht. Mein Bruder bringt nicht gerade die besten Seiten in mir hervor.»

 

Am nächsten Nachmittag stand ich gegen 18 Uhr vor einem Werkhof in Altona. Es war ein riesiges Gelände, auf dem Lastwagen hin und her fuhren, Kreissägen quietschten und Typen im Blaumann sich Dinge wie «Schraubmuffen! 83er!» und «Schmeiß mal den Gewindeknochen rüber» zubrüllten. Hinter einem Gabelstapler entdeckte ich ein weißes Schild mit der Aufschrift «Fotostudio» und dahinter einen schmalen Weg, der zu einem flachen Gebäude führte.

Die Tür zum Atelier war angelehnt. Da weit und breit nichts Klingelartiges zu entdecken war, ging ich hinein und tapste einen dunklen Flur entlang, bis ich zu einer Eisentür kam. Ich schob sie mühsam auf – nur um plötzlich von etlichen Augenpaaren so entgeistert angestarrt zu werden, als sei ich die kleine Schwester von E.T.

«Äh», stotterte ich und verstummte. Vor mir in einem loftartigen Raum saßen fünf Hunde auf hohen Podesten und sahen aus, als würden sie ihren Lieblingsknochen dafür geben, hier und sofort im Erdboden versinken zu können. Dann nämlich würde es ihnen erspart bleiben, mit einem Diamantenkollier um den Hals auf einem Samtkissen Männchen zu machen. Ebendies aber schien das Ziel der Übung zu sein – dem Wurstzipfel nach zu urteilen, den eine Frau gerade dem kleinsten der Gruppe vor die Nase hielt.

«Komm, Hermann, schön Wurst fassen!», zirpte sie.

Doch Hermann, ein meerschweinchengroßes Wesen mit Fledermausohren, dachte gar nicht daran, Wurst zu fassen. Er hatte mich entdeckt und damit seine Chance, dem Diamanten-Hokuspokus zu entgehen. Kurzerhand sprang er vom Podest, raste auf mich zu und begann zu bellen. Es klang wie ein heiserer Frosch. Während Hermann mich umkreiste, begannen auch seine Leidensgenossen zu kläffen und wären wohl ebenfalls von ihren Kissen gehopst, wären nicht weitere zirpende Betreuerinnen aus den Ecken gehuscht, um die Meute zu bändigen.

Inzwischen war Lukas Lenzendorf zu mir herübergekommen und dirigierte mich zu einem Stuhl.

«Tut mir leid, dauert noch einen Moment», sagte er, und nach einem Blick auf das Hundefiasko fügte er hinzu: «Vielleicht auch zwei.»

Dann ging er wieder an die Arbeit.

Der arme Hermann sollte jetzt doch noch Männchen machen, tat er aber nicht. Dafür schien einer der Gruppe ein Blasenproblem oder schlicht die Schnauze voll zu haben. Jedenfalls begann es, recht süßlich nach Urin zu riechen. Und dann sah ich, wie es unter dem Rottweiler, der derweil ungerührt in die Kamera blickte, gelblich vom Kissen tropfte.

«Iiiiihh, Benno hat genässt!», kreischte eine der Hundetanten.

Und zu meiner großen Erleichterung sah ich den Master-of-Dog-Photography in diesem Moment demonstrativ auf seine Armbanduhr starren.

Zehn Minuten später waren die Damen samt dem nässenden Benno und seinen Leidensgenossen verschwunden. Zurück blieb einzig die gelbliche Lache am Boden, ein zerkrümelter Hundekeks und der intensive Geruch von Hermann, dem 16-Karat-Pinscher.

Und erst jetzt begann ich, den Raum überhaupt richtig wahrzunehmen: Er war riesig, fast eine Halle, lichtdurchflutet und weiß. Alles war hier arktisch weiß. Die Wände, der Boden, selbst die wenigen Möbel, ein Regal, ein Tisch und zwei Stühle.

«Sieht hier aus wie in einem Zoogehege für Pinguine», sagte ich.

Lukas Lenzendorf lachte und stellte eine Schale dampfenden Tee vor mir auf den Tisch. «Da, das trinken die Pinguine besonders gern.»

Ich schnupperte. Ein leichtes Raucharoma stieg aus der Schale.

«Was ist das?»

«Matchatee. Wie man ihn für die japanische Teezeremonie verwendet.»

«Aha. Dann leben hier also japanische Pinguine?»

«Richtig. Aber sie verstecken sich im Moment.»

«Schade eigentlich, ich liebe Pinguine», sagte ich leicht abwesend, denn meine Aufmerksamkeit war von etwas anderem gefesselt: Auf dem Regal neben dem Tisch hatte ich einen Stapel Fotos entdeckt.

«Darf ich?», fragte ich.

Er nickte.

Obenauf war ein Foto, das einen alten Mann und eine alte Frau zeigte. Sie lagen an einem Flussufer und schliefen – innig oder auch nur gewohnheitsmäßig ineinander verschlungen. Beide trugen knallrote Plastikbadelatschen an ihren nackten alten Füßen.

«Das ist schön», sagte ich. «Warum machen Sie daneben diesen Lifestyle-Mist für Berti?»

Er blickte mich einen Moment schweigend an. Dann zog er einen Bildband aus dem Regal. Es war eines der Jahrbücher der World Press Photo Organisation. Er öffnete es an einer Stelle, die mit einem gelben Schildchen markiert war. «Hier», sagte er, «haben Sie sich mal überlegt, wie so ein Bild zustande kommt?»

Er hielt mir das Buch hin. Das Foto zeigte einen kleinen Jungen mit toten Augen. «Das ist das Kind, das nach einem Angriff auf Sarajewo so schlimm unter einem Pfeiler eingeklemmt war, dass man es nicht rechtzeitig befreien konnte. Es starb vor den Augen der Öffentlichkeit – und vor der Linse des Fotografen.» Er schwieg einen Moment. Dann setzte er hinzu: «Und der bekam dafür einen Preis.»

Ich spähte verstohlen nach der Bild-Legende. Das Foto war, ich hatte es nicht anders erwartet, von Lukas Lenzendorf.

«Und hier», er blätterte weiter, «alles preisgekrönt: Milizen, die Gefangene massakrieren, brennende Kinder im Libanon. Wer heute einen Preis bekommen will, der muss mit seiner Kamera dorthin gehen, wo die schlimmsten Gräuel herrschen. Es gibt nichts, was die Menschen so fasziniert wie der Tod. Dafür gibt’s dann sogar den Pulitzer.»

«Hm», machte ich, «und weil das alles so ist, fotografieren Sie jetzt also lieber diesen Erotik-Quatsch?»

«Nein», grinste er, «das hat einfach Spaß gemacht. ’nen tollen Hintern hatte die.»

«Chauvi.»

«Angenehm.»

Dann zeigte er mir seine Schnappschüsse. Hunde. Überall Hunde. Schlafende Hunde in Indien. Kettenhunde in Sibirien. Eine mopsig blickende Bulldogge vor einem Schaufenster in Wien. Ein Dalmatiner mit Schal in einem Cabriolet. Ein struppiger Straßenhund in Rumänien.

«Haben Sie da irgendwie einen Tick?», fragte ich vorsichtig.

Er zuckte die Schultern. «Ich mag sie halt.»

Dann nestelte er an seinen Fotokartons herum und murmelte: «Ich mag auch kleine struppige Leute sehr gern.»

«Ach ja?», murmelte ich und bemühte mich um einen ironischen Tonfall.

Lukas brummte noch einmal zustimmend, dann hob er den Kopf und sah mich an. Und dabei wurde der Mann, der auf der ganzen Welt preisgekrönte Fotos geschossen hatte, tatsächlich etwas rot im Gesicht.

Und da dachte ich, dass Oma doch recht gehabt hatte. Dass es das tatsächlich gab – was sie mir immer mit vor Rührung fast aussetzender Stimme aus ihren Groschenromanen vorgelesen hatte: «… dass die Welt um sie versank.»

Meine Welt versank vielleicht nicht, aber sie kam mächtig ins Trudeln – und je länger ich in diese viel zu blauen Augen blickte, desto mehr fühlte ich mich, wie sich ein Goldgräber fühlen muss. An dem Tag, an dem er einen besonders dicken schweren Lehmklumpen in der Hand hält und ihn vorsichtig in seine Hütte trägt. Und als ich sah, wie der etwas zynische Zug um Lukas Lenzendorfs Mund verschwand und stattdessen wieder ein Grübchen in seiner Wange erschien, begann ich zu ahnen, dass ich nicht nur einen Nugget, sondern eine ganze Goldmine gefunden hatte.

 

So hat es angefangen. Worüber wir sonst noch sprachen in dieser Nacht oder während wir frühmorgens zum Kiosk liefen, um uns rosa Schaumwaffeln zum Frühstück zu holen, ist schwer zu erklären. Auch später hatten Freunde oft Probleme zu verstehen, was wir zueinander sagten. Es war ein Dialekt der Vernarrtheit, den wir sprachen – ein emotionaler Geheimcode, der aus Albernheiten, Anagrammen und Monty-Python-Zitaten bestand.

Einen Monat später zog ich in seine Wohnung. Und ich bin mir nicht sicher, was ich über die Zeit sagen sollte, die folgte. Vielleicht dass ich von ihm lernte, wie man Schnecken isst? Dass ich für ihn kochte, obwohl ich gar nicht kochen konnte? Dass er mir mit verstellter Stimme Donald-Duck-Comics vorlas, wenn ich nicht schlafen konnte? Oder dass ich für ihn den Himmel angemalt hätte, wenn er mich darum gebeten hätte? Vielleicht auch, nein, ganz bestimmt sollte ich erzählen, dass wir eine ganze Nacht lang zusammen durch das alte Krakau wanderten und frühmorgens vor der Marienkirche Tschaikowskys Streicherserenade hörten. Gefiedelt von drei alten Herrn mit Pan-Tau-Hüten. Und natürlich dass ich glücklich war.

«Alles ist anders», schrieb ich in mein Tagebuch, «ich habe mich verliebt.» Zwar fühlte ich mich, als ich die Worte las, etwas als Verräterin an der feministischen Revolution. Doch das war nicht wichtig. Wirklich wichtig schien nur noch eins: dieses Gefühl, mit dem anderen bis ans Ende der Welt gehen zu können. Drei Jahre, vier Monate und fünf Tage lang – in denen das Leben wie eine Kinder-Geburtstagsparty war. Eine, die nie endete.

Nur dass sie es dann doch tat. Weil so etwas wohl enden muss. Auch Disneyland gibt es nicht rund um die Uhr. Irgendwann ist es Abend, die Lichter gehen aus, und Peter Pan und Wendy fahren ein letztes Mal auf ihrer Gondel in den Magic Mountain hinein. Dann schließen die Tore des Wunderlandes. Und du stehst draußen vor dem Zaun und kehrst zurück in dein kleines Leben. Was ja nicht unbedingt schlecht ist. Es geschehen dort nur eben Dinge, die nicht in einen Walt-Disney-Film passen.

Und so kann es sein, dass du eines Abends in deinem Badezimmer stehst und verwundert auf das Plastikstäbchen in deiner Hand blickst. Eines, das dir anhand zweier roter Linien erklärt, warum dir seit einigen Tagen morgens so seltsam ist. Nach einem kurzen Schreckmoment stellst du fest, dass du zwar erst dreiundzwanzig bist und dir dein Leben irgendwie anders gedacht hattest – aber dass das eigentlich egal ist. Denn da ist zugleich ein Glück dir. Eines, das sich noch etwas schüchtern in einer Ecke versteckt, aber Potenzial hat zu etwas Großem. Es zaubert dir ein Lächeln ins Gesicht. Und so denkst du dir He!-Wir-werden-das-Kind-schon-schaukeln und andere dämliche Sachen, die man so sagt – und läufst zu Fuß quer durch die Stadt, weil dir keine U-Bahn schnell genug scheint, um dich zu ihm zu bringen.

Dann aber passiert das Unfassbare. Es dauert nur eine Sekunde. Doch du siehst es ganz genau. Als du keuchend vom Laufen und halb verrückt vom Gedankenwirbeln in deinem Kopf vor ihm stehst: Du siehst, wie bei der Nachricht etwas in ihm verlischt. Einfach ausgeht. Als habe jemand den Stecker gezogen. Lass uns später darüber reden, sagt seine fremd gewordene Stimme. Bei diesem «Später» fallen dann Worte wie «geschockt», «ich weiß nicht» – und am Ende auch «Eingriff».

Man denkt, man kennt einen Menschen. Wie man irren kann. Wie unglaublich man irren kann.

Daher kapierte ich anfangs nicht wirklich, was vor sich ging. Dachte, er würde sich schon daran gewöhnen. Dachte, wir würden das schon schaffen.

Ich hatte nicht verstanden, dass es kein Wir mehr gab.

 

Das tat ich erst zwei Monate später. An dem Abend, als ich an einer Straßenecke in Hamburg-Altona stand und begriff, was Hilflosigkeit wirklich bedeutet. Dass es Momente gibt, in denen man so verloren ist, dass einem nicht mal mehr Worte dafür einfallen – ja, eigentlich nicht mal mehr Gefühle, um es zu beschreiben. Im Grunde war es wie nicht aufwachen können. Wie feststecken in einem Albtraum, bei dem das Sandmännchen den Ausschalter vergessen hat.

Error error, stammelte mein Gehirn. Doch meine Augen wiederholten hartnäckig ihre Botschaft: Vor mir in einer dunklen Häuserecke, beschienen nur vom Mond, der seine fahlen Finger herunterstreckte, stand der Mann, den ich liebte. Er war nicht allein. Eine Frau war bei ihm. Eine Frau, die er gerade sehr konzentriert und innig küsste und dabei seine Hände in ihre langen blonden Walle-Haare wühlte.

Ich kannte diese Haare gut. Es war erst ein paar Jahre her, da hatte ich versucht, sie mit Hilfe eines Liters Zuckerwasser in eine Punkfrisur zu verwandeln. Und noch ein paar Jahre früher waren sie wie auch meine zu Zöpfen geflochten gewesen mit Mickey-Maus-Spangen an den Enden.

Es waren die Haare von Katja, der Frau, die ich seit fünfzehn Jahren für meine beste Freundin hielt. Katja, mit der zusammen ich nach Hamburg gezogen war. Katja, der ich alles erzählte, was in meinem Leben wichtig war.

Ich wollte wegrennen. Doch meine Füße versagten mir den Dienst. Blieben einfach stehen und ließen mich weiter starren. So lange, bis sie mich entdeckten.

Es gibt diese Momente im Leben, die brennen sich auf der Netzhaut ein wie auf den Bildplatten alter Fotokameras. Für ewig eingefroren. Ihre Blicke werde ich nie vergessen.