Ein Stern macht noch keinen Himmel - Eva Pantleon - E-Book + Hörbuch

Ein Stern macht noch keinen Himmel Hörbuch

Eva Pantleon

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Beschreibung

So ein Herz hält viel aus. Das ist zäh. Als Landärztin braust Janne mit ihrer alten «Butterdose» durch die schwäbische Provinz und hat für alle und alles ein offenes Ohr. Weit weniger gut ist sie darin, sich um sich selbst zu kümmern. Aber die Wunden der Vergangenheit sitzen tief. Und wer stellt sich schon gerne den eigenen Dämonen? Erst als Janne dem charmanten und etwas kauzigen Leon begegnet, bröckelt ihre gut gesicherte Mauer. Denn sie ist dem Mann mit dem Roger-Moore-Lächeln schon einmal begegnet. Bei einem Vorstellungsgespräch. Damals hat der Psychologe und Institutsleiter sie mit seinen Fragen aus der Fassung gebracht und ihr am Ende sogar eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert. Womit er letztlich ins Schwarze traf. Aber um das zu erkennen, müsste Janne sich den Schatten ihrer Kindheit stellen. Erinnerungen, die sie erfolgreich verdrängt hat. So wie jene Nacht, als die Mutter sie und den Bruder mit zum Sternegucken nehmen wollte … Ein Roman über den Mut, den es für neue Wege braucht, und die befreiende Kraft der Liebe.

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Zeit:12 Std. 42 min

Sprecher:Svenja Pages

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Eva Pantleon

Ein Stern macht noch keinen Himmel

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

So ein Herz hält viel aus. Das ist zäh.

 

Als Landärztin braust Janne mit ihrer alten «Butterdose» durch die schwäbische Provinz und hat für alle und alles ein offenes Ohr. Weit weniger gut ist sie darin, sich um sich selbst zu kümmern. Aber die Wunden der Vergangenheit sitzen tief. Und wer stellt sich schon gerne den eigenen Dämonen? Erst als Janne dem charmanten und etwas kauzigen Leon begegnet, bröckelt ihre gut gesicherte Mauer. Denn sie ist dem Mann mit dem Roger-Moore-Lächeln schon einmal begegnet. Bei einem Vorstellungsgespräch. Damals hat der Psychologe und Institutsleiter sie mit seinen Fragen aus der Fassung gebracht und ihr am Ende sogar eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert. Womit er letztlich ins Schwarze traf. Aber um das zu erkennen, müsste Janne sich den Schatten ihrer Kindheit stellen. Erinnerungen, die sie erfolgreich verdrängt hat. So wie jene Nacht, als die Mutter sie und den Bruder mit zum Sternegucken nehmen wollte …

Ein Roman über die heilende Kraft der Liebe und den Mut, den es für neue Wege braucht.

Vita

Eva Pantleon lebt und schreibt in Reinbek bei Hamburg. Nach einem Studium der Germanistik volontierte sie bei einem Hamburg-Magazin und arbeitete danach als Redakteurin. Heute ist sie als freie Journalistin tätig. Dies ist ihr zweiter Roman nach «Das Leben irgendwo dazwischen», der sehr schöne Stimmen bekommen hat:

 

«Ein wirklich toller Roman … Das Buch überrascht, ist witzig, auch wirklich schön geschrieben. Ein Plädoyer für mehr Leichtigkeit und mehr Mut in der Liebe, aber nicht kitschig.» Radio Dresden

 

«Mit Wortwitz und Charme über Liebe, Mut und Verzeihen.» Hamburger Abendblatt

 

«Ein sehr guter, sprachlich und erzähltechnisch ausgefeilter Roman.» Alliteratus

 

«Eine ungewöhnliche Geschichte um Liebe, Chancen und Entscheidungen … und damit um wesentliche Themen in unserem Leben.» Expuls

 

«Ein authentischer und spannender Liebesroman mit viel Humor.» Bergedorfer Zeitung

 

«Eine tiefgründige Geschichte, die in mehreren Ländern spielt, unterschiedliche Zeiten verknüpft und unterm Strich doch klarmacht, dass Liebe und Leben schon immer kompliziert waren und die Vergangenheit immer auch die Zukunft beeinflusst.» krachfink.de

Ich fürchte ja, du hast eine Meise, bist verrückt, nicht bei Sinnen. Aber ich verrate dir was: Das macht eben die Besten aus.

Lewis Carroll, Alice in Wonderland

 

Wenn du jemanden liebst,

gehen deine Wimpern hoch und runter,

und kleine Sterne kommen aus dir heraus.

Karen, 7 Jahre, «Herzkind.net»

 

Familie ist die einzige Art von Beziehung, die durch den Kapitalismus noch nicht transformiert wurde. Alles im Leben kann man sich aussuchen, aber nicht die Familie. (…) Dadurch nimmt sie in der Gesellschaft einen ganz besonderen Platz ein. (…) Familie bedeutet, sich nicht zu verlassen, Konflikte auszutragen. Ganz altmodisch.

Eva Illouz, Soziologin

1

Es war dieser Moment, in dem Janne Helmkamp erstmals Zweifel bekam. Zweifel, ob das Leben als Landärztin wirklich das Richtige für sie sei. Eigentlich hatte Sonnchen nur gesagt, der alte Pfleiderer sei draußen und – dabei hatte sie kurz ihren Kopf zur Seite geneigt – er sei nicht allein. Daran dachte Janne jetzt, als langsam die Tür aufging. Und daran, dass sie künftig den Kopfneigungen von Magda «Sonnchen» Sonnemann, der guten Fee und Allround-Managerin ihrer Praxis, mehr Beachtung schenken sollte.

Denn wer jetzt etwas schüchtern die Tür aufstupste und seinen Kopf hereinsteckte, war nicht Georg Pfleiderer. Es war ein Ziegenbock, dessen große runde Glupschaugen sie ebenso konsterniert anblickten wie sie wahrscheinlich ihn.

Janne seufzte. Es war Freitagmittag, bereits nach Ende der Sprechstunde. Sie hatte seit acht Uhr morgens zugehört, erklärt, beruhigt und verständnisvoll genickt. Sie hatte unter anderem in vier entzündete Hälse und ein nicht ganz sauberes Ohr geblickt, zwei Zecken entfernt, vier Bäuche und sechs Wirbelsäulen untersucht und selbst dann nicht den Kopf geschüttelt, als Heiner Hoisbauer ihr weismachen wollte, dass seine gelben Finger «doch nur von der Leberwurscht käme tät» – nicht aber von den Selbstgedrehten, von denen der alte Mann trotz seines Asthmas einfach nicht die Finger lassen konnte.

Nun aber, in diesem Moment, Auge in Auge mit einem offensichtlich schlecht gelaunten Ziegenbock, verließ sie etwas die Courage. Zwar war ihr Langmut mit Patienten legendär – Janne ist unser Deeskalations-Guru, hatte ihr Kollege Konrad immer gesagt. Damals, als sie noch zusammen Nachtdienste in der Notaufnahme der Tübinger Luisenklinik schoben und Janne dort allgemein als «Dr. Magic» galt: jemand, der selbst randalierende Patienten mit 2,5 Promille zu bändigen vermochte. Doch es gab Grenzen. Und die waren auch bei Janne erreicht, als der behornte Paarhufer jetzt stockend und unter lautem Meckern in ihr Sprechzimmer geschoben wurde.

Als sie sich dann alle gegenüberstanden – Janne, Georg Pfleiderer und der Ziegenbock –, war sie sehr froh, bereits acht Jahre in Baden-Württemberg und anderthalb davon in Pfaffingen verbracht zu haben. Sie hätte sonst kein Wort verstanden. Denn Georg Pfleiderer war sich der Delikatheit der Lage durchaus bewusst. Und das so sehr, dass er nicht nur fortwährend betreten seine Hände knetete, sondern auch einen Sturzbach an Lauten auf sie niederprasseln ließ, aus dem Janne zumindest «roi gedreda» – also reingetreten – und «Pepperl» heraushörte. Und da der Ziegenbock dabei jedes Mal mit dem Kopf wippte, nahm sie an, dass Letzteres der Name des Tiers war.

Zum Glück kam Sonnchen hinzu, übersetzte den Rest und klärte die Sache so schnell auf. Es wär halt so weit zum Tierarzt, und die «Frau Doktr» müsst doch bitte nur mal kurz schaun, der arme Kerl wär schon ganz wüscht vor Kummer, hätt wahrscheinlich was im Huf.

Janne seufzte, schaute erst in die treuen braunen Augen von Georg Pfleiderer, dann in die seines Ziegenbocks – und zog schließlich mit der etwas unwilligen Hilfe von Sonnchen dem noch unwilligeren Tier einen dicken Dorn aus dem Huf.

Nachdem Mann und Ziegenbock abgezogen waren, lüftete Janne gut durch, telefonierte noch mit drei Patienten wegen ihrer Laborwerte und merkte, während sie Sonnchen ins Wochenende verabschiedete, dass ihr fast die Lider zufielen. Es war spät gewesen letzte Nacht. Wie immer in letzter Zeit. War ja auch kein Wunder. Bei dem, was sie vorhatte. Janne rieb sich die Augen. Einen Moment nur. Einen kleinen Moment nur. Entspannen. Ach ja.

***

Das Erste, was sie wahrnahm, als sie erwachte, waren kleine rosa Kakadus, die auf neongelben Palmwedeln hockten. Das Zweite war eine Stimme, die freundlich fragte: «Magscht ein Kräuterteele?» Danach brauchte sie noch etwa zwei Sekunden, um die Lage zu überblicken. Vor ihr stand Bruno Häberle in einem seiner geliebten Hawaiihemden, daneben seine fünfundachtzigjährige Mutter. Während Bruno zaghaft an der Strickjacke zuppelte, die Janne als Decke diente, hielt ihr seine Mutter Klara – das Klärle – eine Tasse dampfenden Tees entgegen.

Klack, machte die große Praxisuhr an der Wand, es war 14:00 Uhr. Sie hatte fast eine Stunde geschlafen. Auf der Behandlungsliege, auf der sie sonst Pfaffinger Bäuche abtastete und Lebern ultraschallte. Jetzt aber hatte die Liege frei. Denn es war Freitagnachmittag und Zeit für Hausbesuche.

Bruno schien dafür bereits bestens gerüstet: Über dem Hawaiihemd trug er seine alte Sanitäterjoppe – ein Kleidungsfossil, an dem wahrscheinlich schon mehr Blut herabgeflossen war als an der Duschwand in Psycho. Dazu die verbeulte Schirmmütze, ohne die Bruno nirgendwohin ging, sowie jenes breite Lächeln im Gesicht, ohne das als Begleitung wiederum Janne nur ungern irgendwohin ging. Zumindest nicht auf jene Hausbesuchstour, die auf ihrer persönlichen Hitliste irgendwo zwischen Zahnarztbesuch und Kampfhundekraulen rangierte.

«Hascht schlafe?», erkundigte sich Bruno nun mit einer Kommunikationsbereitschaft, die Janne misstrauisch machte.

«Was ist? Hat jemand angerufen?»

«Jo, die Straubinger-Marie hat’s wieder hingeschlagen», verkündete Brunos Mutter im Tonfall einer antiken Schicksalsgöttin. «Ich hab der Tochter gesagt, sie soll ihr erst mal ein Obstwässerle gebe. Die Marie war schon immer ein bissle schwach auf der Brust.»

Janne stöhnte und setzte sich auf. Seit Monaten versuchte sie, es den Menschen in und um Pfaffingen klarzumachen: dass man, sollte sich der Berger-Max morgens um sechs oder zu einer anderen unwirtlichen Zeit beim Weinpressen den Zeh halb abreißen, entweder den ärztlichen Notdienst oder eben auf ihrem Handy anrufen sollte. Aber keinesfalls, nicht und niemals, einfach nur bei Bruno oder seiner Mutter. Aber Janne war ja noch immer die neue Frau Doktor.

Bruno dagegen war, ja, man konnte es eigentlich nur «eine Institution» nennen. Er war in Pfaffingen geboren, aufgewachsen, hatte im Kreis vierzig Jahre als Rettungssanitäter gewirkt und niemals eine Notwendigkeit gesehen, von dort wegzugehen, geschweige denn den Wunsch verspürt.

Dennoch hatte Bruno Häberle, als Janne die einzige Hausarztpraxis Pfaffingens übernahm, nur einen kurzen Blick auf sie werfen müssen – auf die neue Frau Doktor aus dem hohen Norden. Dann hatte er genickt und Janne Helmkamp in sein bärengroßes Herz geschlossen. Und das war für ihr Ansehen im Ort etwa so gut gewesen wie ein Ritterschlag oder dreitausend Likes auf der Facebookseite «Pfaffingen: Perle des Alb-Donau-Kreises».

Das Beste von allem aber war: Er begleitete Janne, wenn sie auf Hausbesuchstour ging.

«Was soll ich sonst machen? Zu Hause mit der Mutter Kochshows gucken? Außerdem kennt keiner die Straßen hier wie ich», hatte Frührentner Bruno sie freundlich abgekanzelt, als sie einwandte, dass das «doch nicht ginge», noch dazu «einfach so». Bruno Häberle hatte nur so breit wie gutmütig gelächelt und seine formidable Zahnlücke gezeigt, und damit war «der Käs gegesse».

Mittlerweile waren die beiden ein eingespieltes Team und wurden von den «Älblern» Dick & Doc genannt – die große dünne Janne mit dem Pixie Cut und der runde, ein Meter fünfundsechzig kleine Bruno mit seinem ganzen Stolz auf dem Kopf: einer Siebzigerjahre-Retro-Mähne, die in Würde ergraut, aber noch immer Wild At Heart um seine Wangen wogte.

Ebendiese Mähne strich er sich jetzt aus dem Gesicht und drehte sie zu einem Dutt, den er wie einen kleinen Knödel auf seinem Kopf befestigte. Das war das Aufbruchszeichen. Wenn Bruno sein Haar bändigte, wurde es ernst. Janne stand auf, gähnte und streckte sich, dann griff sie nach Jacke und Arztkoffer.

«Die Marie Straubinger also?»

Brunos Mutter nickte und reichte ihr ein kleines Paket, das in mehreren Schichten Alufolie steckte. Es sah aus wie eine silberne Riesenzigarre.

«Kannscht ihr das gebe?»

«Was ist das?»

Klara Häberles Gesicht, das mit seinen Furchen und Linien an ein abstraktes Gemälde erinnerte, verzog sich zu einem freundlichen Grinsen. «Ganz was Feines. Frisch geselchter Speck, dafür tut die Marie meilenweit gehen.»

Janne machte «Puh» und sah Bruno Hilfe suchend an. Schließlich hatte Marie Straubinger, soweit sie sich erinnerte, nicht nur starkes Übergewicht, sondern auch Leberprobleme und Bluthochdruck. Sehr salz– und fetthaltige Wurstwaren boten sich da nicht gerade als erste Wahl an. Doch Bruno zuckte nur die Schultern. Denn wenn er eines gelernt hatte in seinem Leben, dann war es das: Es war unnötiger Energieverschleiß, mit seiner Mutter diskutieren zu wollen.

«Du hast also der Straubinger-Tochter wirklich geraten, ihrer Mutter einen Schnaps zu geben?», fragte Janne jetzt auch nur noch in der vagen Hoffnung, sich vorher verhört zu haben. Doch Klara Häberle nickte nur und richtete mit einem zufriedenen Lächeln ihr schiefes Brillengestell.

«Ach, Klara», sagte Janne, «wie oft hab ich …» Sie unterbrach sich, schüttelte den Kopf. Es würde nichts nutzen. Klara Häberle begriff sich nun mal als zweite medizinische Instanz Pfaffingens und versorgte jeden, der anrief, großzügig mit dem Hausmittelfundus einer fünfundachtzigjährigen Albbewohnerin. Warmes Bier bei Erkältung inklusive.

Janne winkte ihr daher einfach noch mal zu und rannte zur Tür hinaus, wo bereits ein röhrendes Schrumm, Schrumm zu hören war. Und das konnte nur eines bedeuten: Bruno war vorgefahren – in seinem alten VW-Bus Edwin.

 

Es war zum Glück nicht weit. Denn als Janne auf der Fahrt in Marie Straubingers Krankenakte sah und noch mal die Symptome durchging, die Bruno ihr geschildert hatte – vor allem extreme Müdigkeit –, schwante ihr, was das Problem sein könnte: ein Fortschreiten der bereits chronischen Leberentzündung, schlimmstenfalls schon eine Zirrhose.

Schließlich, so jedenfalls hatte sie es neulich bei einem Infoabend für die Pfaffinger erklärt: «… ist die Leber ein stiller, selbstloser Arbeiter, ja quasi die Mutter Teresa unter den Organen. Tag für Tag schaufelt sie gutmütig Berge von Giften und Abfallprodukten aus unserem Körper und murrt erst, wenn es gar nicht anders mehr geht. Genau das aber ist das Problem – oft ist es dann schon zu spät und guter Rat teuer oder leider auch unmöglich.»

Die fünf anwesenden Damen, allesamt Freundinnen vom Klärle, hatten andächtig genickt. Janne hatte allerdings den Verdacht, dass das nur auf eines zurückzuführen war: dass sie Mutter Teresa erwähnt hatte. Denn die war ja mittlerweile immerhin heiliggesprochen, und heilig war noch immer und trotz allem viel wert in Pfaffingen.

Sie fuhren weiter durch den Ort. Die Straubingers wohnten am Hang auf der anderen Seite des Tals, in dem Pfaffingen wie in einem grünen Topf lag. Bruno steuerte den Bus problemlos durch die engen Gassen, wahrscheinlich, dachte Janne, würde er das auch mit geschlossenen Augen hinkriegen.

Für Freitagnachmittag um halb drei war nicht viel los. Beim Billigbäcker, der sich im alten Gemeindehaus eingenistet hatte, saßen zwei Gestalten und aßen aufgebackene Teiglinge. Und gleich gegenüber blinkte die Deko eines Nagelstudios in Pink-Blau-Silber, was nicht wirklich gut zu den alten Fachwerkbalken darüber passte. Und dann war da noch der Mann, der drüben am Brunnen mit einem bodenlangen Mantel und drei riesigen weißen Hunden saß und auf das verwies, was das Leben auf der Alb seit jeher geprägt hatte: das Schafehüten.

«Das ist der Sohn vom alten Höfl», sagte Bruno, während er an der einzigen Verkehrsampel Pfaffingens wartete, «aber lang wird der die Sache wohl auch nicht mehr machen.»

Dann erzählte er Janne, wie er als Junge einmal die Sommerferien hindurch mit dem Wanderschäfer über die Alb ziehen durfte.

«Ist echte Knochenarbeit. Von wegen idyllisch und die süßen Lämmle. Die Biester sind schneller als der Wind und in Nullkommanix weggerannt. Außerdem beißen die.»

«Was? Dich hat ein Lamm gebissen?»

«Nicht nur eins», sagte Bruno mit Grabesstimme, «Dutzende. Die haben so fiese kleine spitze Zähne. Ich denke bei jedem Lammkotelett daran.»

«Du bist herzlos.»

«Das ist mein Job. Ich bin der coolste aller Sanis.»

«Phh», machte Janne, «du, mein Lieber, bist vor allem eins. Wie sagt deine Mutter doch immer? E rechder Senfseggl.»

Bruno pfiff bewundernd. «Gar nicht mal schlecht. Wenn du so weitermachst, kannst du bald auch mit der alten Josefa schwätzen.»

«Im Leben nicht», erwiderte Janne und versuchte weiter, die Hieroglyphen zu entziffern, mit denen ihr Vorgänger Marie Straubingers Akte gefüllt hatte.

Es war eine sehr spontane Entscheidung gewesen, die Praxis des alten Pfaffinger Doktors zu übernehmen. Und manchmal fragte sie sich, welcher Teufel sie geritten hatte: ihre gut bezahlte Oberarztstelle in der Klinik in den Wind zu schießen zugunsten eines Arbeitsalltages mit eingewachsenen Fußnägeln, randalierenden Verdauungstrakten und jeder Menge Urviechern. So nannte sie jenen Typus Mann, der in Pfaffingen überaus zahlreich anzutreffen war: Männer, die in ihrem Leben noch keinen Kochtopf angefasst hatten und lieber fünf Minuten stumm auf ihren Behandlungstisch starrten, als das Wort Prostata auszusprechen.

Doch Janne konnte mit ihnen. Mit den Urviechern und mit den dazugehörigen Frauen, die ebenfalls oft ziemliche «Grantler» waren. Jannes Freunde hatten ihr zum Einzug eine Schürze geschenkt mit der Aufschrift: «Vorsicht vor dr Hausfrau, dr Hond isch harmlos.» Sie fand mittlerweile, dass der Spruch stark aus dem Leben gegriffen war. Besonders die nicht mehr ganz jungen Pfaffingerinnen ließen erahnen, dass es auch jenseits von Afrika noch matriarchale Lebensformen gab. Oder wie Klara Häberle immer sagte: «Weischt, Jannele, wenn die Zähne mal ausgefallen sind, hat die Zunge freien Lauf.»

Bruno brummte jetzt Born In The USA, während sein Fast-Vornamenspartner Bruce Springsteen selbiges Lied aus dem Kassettenrekorder röhrte. Janne pfiff mit und lehnte sich nach vorn, um besser zu sehen. Sie waren inzwischen aus dem Topf hinaus und fuhren steil bergan. Der alte VW-Bus ächzte und schnaufte. Er hörte sich an wie einer der Wasserbüffel, die man oben auf der Alb züchtete. Die Büffel sahen immer etwas verloren aus, wie sie da auf heiteren Bergwiesen standen – graue Kolosse mit Hinterteilen, so breit wie Flatscreen-Fernseher, und Hörnern wie aus einem Fantasy-Epos. Doch ihr Züchter, die Medien hatten ihn «Buffalo Bill von der Alb» getauft, hatte alle bösen Stimmen Lügen gestraft. Die Büffel entwickelten sich prächtig, zeugten neue kleine Kolosse und ergaben formidable Braten.

Wahrscheinlich bin ich wie die Büffel, dachte Janne jetzt und nickte dem ersten Koloss zu, den sie passierten. Na ja, nur dünner. Aber mich kann man ebenfalls überallhin verpflanzen. Sie blickte über die Albwiesen, wo noch immer Äpfel an den knorrigen alten Bäumen hingen, bis hinunter ins Tal. Von hier oben wirkte Pfaffingen mit seinen roten Dächern und der dicken runden Zwiebelkuppel der alten Kirche wie ein verwunschener Ort aus dem Märchen. Sie kurbelte das Fenster herunter – der Bus stammte aus einer Ära, in der solches noch möglich war – und hörte ein Käuzchen rufen.

«Das ist jetzt nicht wahr, oder?»

«Was denn, Frau Doktor?», erkundigte Bruno sich höflich.

Janne wedelte mit der Hand Richtung Fenster. «Na, das da draußen. Diese Bilderbuchidylle … Albwiesen, Apfelbäume, tagaktive Käuzchen. Fehlen nur noch Bambi und ein paar rotbackige Kinder im Trachtenanzug.»

Sie lächelte etwas spöttisch. Wie immer, dachte Bruno, wenn ihr etwas zu naheging. Er schnaubte.

«Hascht nicht gut geschlafen? Oder etwa …», er brummte missmutig, «… wieder Post von den Deppen bekommen?»

Janne zog die Schultern hoch und dachte an den Brief, der seit einer Woche auf ihrem Schreibtisch lauerte wie ein böses Insekt. Ein Bescheid über eine Regresszahlung an die KV, die Kassenärztliche Vereinigung, das leidige Problem vieler Landärzte. Denn der Prüfstelle war es egal, ob man in Berlin-Mitte oder an einem Ort praktizierte, dessen Infrastruktur, nun ja, komplex war. So sehr, dass viele ältere Patienten den Weg in die Praxis einfach nicht schafften und die Ärztin daher zu ihnen kommen musste. Irgendein Sachbearbeiter aber registrierte dann nur, dass Dr. X weit mehr Hausbesuche abgerechnet hatte als der Durchschnittsarzt, und das bedeutete eben zu viel. So einfach war das. Zumindest nach den Regeln der KV. Für die Landärzte aber bedeutete es Regresszahlungen. Oft in jedem Quartal. Schlimmstenfalls fünfstellig.

Janne seufzte. Bruno aber schob eine neue Kassette in den Rekorder und ließ Elvis Presley durch das offene Fenster Are You Lonesome Tonight? über die schwäbische Alb hinwegröhren. Die Büffel hoben nicht mal den Kopf.

***

Es war fast 15:00 Uhr, bis sie bei den Straubingers ankamen. Die saßen in drei Generationen – Mutter und Tochter sowie Großvater Josef – am Esstisch beim «Veschpern». Für Janne war das Konzept dieser Mahlzeit lange Zeit undurchschaubar geblieben. Bis sie begriff, dass es gar kein Konzept gab. Gevespert wurde grundlegend immer, überall und in jeder Altersgruppe. Manch schwäbischer Gasthof offerierte daher mittlerweile Vesperangebote, die sich wie ein Windows-Update lasen. Angepriesen wurden unter anderem «Quinoa-Saitenwürstle-Bowl» oder «Crossover-Brezel mit Beef-Sashimi».

Bei den Straubingers gab es kein Sashimi. Janne bezweifelte auch, dass der alte Straubinger jemals etwas angerührt hatte, das weniger als eine Stunde gegart worden war. Sauerbraten mit Spätzle galten hier quasi als Grundnahrungsmittel.

«Tut euch setzen», begrüßte sie Helga Straubinger. «’s sind noch Saitenwürschtle da, hat der Alfons aus dem Schwarzwald mitbracht.»

Doch mit Hinweis auf die Patientin, die Janne blass und still im hinteren Teil des Zimmers auf der Couch liegen sah, lehnten sie dankend ab und gingen hinüber. Marie Straubinger, die Frau des alten Josef, war nicht nur sehr bleich, sie schien auch tief und fest zu schlafen.

«So tut sie daliegen, schon seit heute Morgen. Wie tot», rief der alte Straubinger vom Esstisch.

Janne nahm eine von Maries Händen in ihre. Es waren große, raue Altfrauenhände, die nach hundert Jahren Feldarbeit aussahen, aber die Spätzle wahrscheinlich noch immer schneller vom Brett schaben konnten als jeder Fernsehkoch.

Sie fühlte Maries Puls. Ganz regelmäßig, kein Grund zur Besorgnis. Danach checkte sie weitere Vitalfunktionen, horchte Herz und Lunge ab, tastete nach Lymphknoten am Hals und bewegte schließlich den Kopf der alten Frau vorsichtig in verschiedene Richtungen. Alles in Ordnung. Nur die Atmung schien ihr sehr langsam zu sein. Janne runzelte die Stirn.

«Die hat nix, oder?», rief Josef. «Des hab ich gleich gesagt. Meine Frau hat a Kuddl wia an Ochs.»

Janne blickte Bruno an. Seine Lippen zuckten kurz nach oben, dann murmelte er: «Eine Kondition wie ein Ochse.»

Bemüht, ein ernstes Gesicht zu wahren, wandte Janne sich jetzt an Helga Straubinger. «Könnte ich bitte mal alle Medikamente Ihrer Schwiegermutter sehen? Wirklich alles, auch Naturheilmittel oder Nahrungsergänzungen.»

«Klar, Frau Doktor, oi Momentle, ja?», sagte Helga und verschwand.

Janne untersuchte noch die Augen der Patientin und nickte.

«Was?», flüsterte Bruno.

«Guck dir mal die Pupille an.» Sie schob vorsichtig das Lid des zweiten Auges nach oben.

«Heiligs Blechle.»

Janne nickte, auch in diesem Auge war die Pupille nur stecknadelgroß. Zumindest schien jetzt aber etwas Leben in die alte Frau zurückzukehren. Die Lider flatterten, sie öffnete sie auch ganz, hatte aber merklich Mühe zu fokussieren.

«Hallo, Frau Straubinger, wie geht es Ihnen?», sagte Janne. «Ich bin Janne Helmkamp, die neue Ärztin.»

Die alte Marie starrte sie an, schien aber nicht viel zu begreifen.

Unterdes kehrte Helga Straubinger mit einem Körbchen zurück, in dem eine Handvoll kleiner Schachteln lag. Die betrachtete Janne aufmerksam und fragte dann: «Was davon hat sie denn zuletzt eingenommen?»

«Alle z’samme», warf der alte Josef schmatzend ein. Er schob sich in gleichbleibendem Rhythmus Wurstbrotschnitze zwischen sein Gebiss, das nicht wirklich gut fixiert schien.

«Stimmt das?» Janne wandte sich noch einmal an die Schwiegertochter, ihre Stimme war jetzt einen Hauch energischer. Denn unter den Medikamenten fand sich das, was sie vermutet hatte: ein Opioid, wenn auch schwach dosiert. Ein morphinhaltiges Schmerzmittel, das noch ihr Vorgänger verschrieben hatte.

Helga Straubinger stotterte: «I weiß net.»

In diesem Moment ging die Haustür auf. Ein leichter Geruch nach Kuhmist wehte herein und mit ihm ein vierschrötiger Mann unbestimmbaren Alters, aber definitiv wenig guter Laune. «Dreckswetter, elendes, der ganze Oktober gehört abgeschafft.»

Janne zog ein ratloses Gesicht, schließlich strahlte draußen herrlichste Sonne.

«Die Trauben», erklärte Bruno, «zu viel Sonne ist auch nicht gut.»

Janne wippte mit dem Kinn, wandte sich wieder ihrer Patientin zu, die jetzt ein wenig wacher wirkte. «Frau Straubinger, erinnern Sie sich vielleicht, ob Sie dieses Medikament heute genommen haben?» Janne zeigte ihr die Schachtel mit dem Schmerzmittel.

Marie nickte. «Das Rheuma war wieder so arg. Aber i hen nicht mehr genomme als sonst. Ganz im Gegenteil: nur oi halbe.» Ein kleines Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. «Dann tun die auch länger reiche, die Tablette, gell?», fügte sie hinzu.

Janne schaute sie einen Moment entgeistert an, holte dann eine kleine weiße Plastikbox aus dem Körbchen mit den Medikamenten und hielt sie hoch. «Ist das etwa ein Tablettenteiler?»

Bruno brummte: «Heidenei!»

«Ja, wieso?», schaltete sich plötzlich der schlecht gelaunte Weinbauer ein, der bisher nur muffiges Starren beigetragen hatte. Er trug die dreckigsten Gummistiefel, die Janne je gesehen hatte, und dazu einen Ausdruck im Gesicht, der einer Kriegserklärung gleichkam.

«Weischt, Alfons», klinkte Bruno sich ein, der natürlich verstand, worauf Janne hinauswollte, «nicht alle Tabletten darf man teilen.»

Seine Stimmlage, ein tiefes freundliches Gebrumme, tat prompt seine Wirkung. Alfons Straubinger senkte die innere Mistgabel wieder herunter und zog eine Miene wie ein Nussknacker, der tapfer zu lächeln versucht. «Wieso ned?»

In den folgenden fünfzehn Minuten erklärte Janne den Straubingers das Prinzip einer Retard-Tablette und warum es keine gute Idee war, diese zu teilen. Denn je nach Verarbeitung konnte es passieren, dass dann die komplette Opioiddosis auf einmal verabreicht wurde – statt über vierundzwanzig Stunden verteilt. Und so hatte die Straubinger-Marie offenbar an diesem Morgen den ersten Drogenrausch ihres achtzigjährigen, grundsoliden Hausfrauendaseins durchlebt, der offenbar noch nicht ganz abgeklungen war. Als Janne hinzufügte, dass das auch böse hätte enden können, schlimmstenfalls mit Atemstillstand, nickte die alte Dame nur und lächelte schläfrig.

Janne seufzte. Sie sah zu Bruno hinüber, der sich aber um sein Handy kümmern musste, das schon seit geraumer Zeit erstickte Laute von sich gab.

«Mama isch calling», flüsterte er in jenem Pumuckl-Idiom, das manchmal durchblitzte und eine Folge seiner früheren Berufstätigkeit war. Als junger Sanitäter hatte er für die damals auf der Alb stationierte U. S. Army gearbeitet.

Janne gab Marie Straubinger das Päckchen von Brunos Mutter, das wie eine ganze Räucherhütte duftete.

Marie schnupperte daran und lächelte sonnig. «Geselchter Speck», erklärte sie und fügte mit einem Blick auf Janne erläuternd hinzu: «Erscht gepökelt, dann schwarz geräuchert.»

«So was hatte ich befürchtet», murmelte Janne, während Bruno den Straubingers bereits sein «Adele» zurief. Sie wollte gerade erneut den Mund aufklappen, als Bruno sie am Arm packte und sanft, aber bestimmt in Richtung des hellblauen Busmobils schob.

 

«Weißt du, Meckerle», sagte Bruno, während Edwin schnaufend vom Berg hinunterzockelte, «mit Regeln kommen wir hier nicht weiter. Die Leute essen seit achtzig Jahren so. Meinst du, die werden das jetzt noch ändern?»

Janne schwieg, schob die Unterlippe vor, doch dann drehte sie sich zu Bruno um. «Aber wenn sie so weiterisst, Bruno, bei den Leberwerten und vor allem dem Bluthochdruck …» Sie schüttelte den Kopf. «Ich hatte heute schon Sorge, sie hätte vielleicht einen Schlaganfall. Und hast du gesehen, was da auf dem Tisch stand? Brezeln, Salami und irgendein Blauschimmelkäse. Da kannst du dir auch gleich den Salzstreuer in den Hals schütten.»

Bruno nickte. «Aber Essen ist halt nicht nur Essen. Das weischt auch, oder?»

Als sie ein leises «Ja, schon» murmelte, patschte Bruno kurz mit seiner Hand auf ihre. «Ich weiß, du meinst es gut. Und außerdem», er spulte an der Kassette herum, bis Frank Zappa durch den Bus nölte, «was ist schon so ’n bisschen Hartwurst. Erinnerst du dich noch an die Maurers in Gundelfingen, die mit der Marzipantorte?»

Janne hielt sich die Augen zu, lachte. «Sag’s nicht, sonst krieg ich wieder Albträume. Ich habe noch nie so viel Buttercreme essen müssen, nur um jemanden gegen Keuchhusten impfen zu dürfen.»

Bruno lachte auch und ging vom Gas, um rechts in den Ort einzubiegen. Sie hatten noch sechs Patienten vor sich, die alle in und um Pfaffingen wohnten.

Janne jedoch rief: «Stopp, wart mal, Bruno. Was ist denn mit Herrn Bützner drüben in Koselbach?»

Bruno sah sie fragend an. «Aber da waren wir doch schon letzte Woche. Wenn wir jetzt wieder hinfahren, kriegscht bestimmt noch mehr böse Briefe von den Deppen, Meckerle.»

Jannes Miene nahm jenen rebellischen Ausdruck an, dessentwegen Bruno ihr diesen Spitznamen gegeben hatte.

«Ist mir wurscht. Wenn die meinen, für die Betreuung eines schwer krebskranken Patienten reicht es, alle drei Wochen mal vorbeizuschauen und freundlich zu sagen: ‹Hier ist noch ein Schmerzmittel für Sie, Herr Bützner, aber leider das, von dem Ihnen so schwindlig wird, das andere zahlt die Kasse nicht. Ansonsten schicke ich Ihnen gerne den Palliativdienst, wenn’s recht ist. Denn meine Besuchspauschale habe ich für dieses Quartal schon überschritten, tut mir wirklich leid.› Das kann’s doch echt nicht sein, oder?»

Bruno grinste, ließ den Motor an und fuhr geradeaus in den Nachbarort. In den nächsten zwei Stunden sah Janne nach Manfred Bützner und seinen durch die Chemo angegriffenen Schleimhäuten, begutachtete in und um Pfaffingen schief gewickelte Verbände, weitere Zeckenbisse und entzündete Hälse, prüfte die rheumatischen Gelenke der alten Josefa, beruhigte eine junge Mutter mit einem verschnupften Baby und war dann gerade dabei, die letzte Karteikarte in ihre Tasche zu stopfen, als Bruno ein komisches Gesicht machte.

«Wassen los, Brunole? Ist doch Feierabend, oder? Zeit für ein Bierle. Oder auch zwei.»

Bruno bremste so abrupt, dass Edwin einen Satz machte und die Kassette verschluckte. Cat Stevens verstummte jäh, und auch Bruno schien es die Sprache verschlagen zu haben. Er stellte den Motor ab, starrte wortlos vor sich hin.

Janne hob beide Hände an die Schläfen und wedelte damit herum. «Uaaah, Bruno, ich bin’s, der Geist des Wochenendes. Gekommen, um dich heimzubringen zu Klara und dem Sauerbraten.»

Bruno grinste. «Ein bisschen verrückt bist du schon, oder?»

«Psssst.» Janne hielt sich den Zeigefinger vor den Mund, flüsterte: «Aber sag’s keinem weiter, ja?» Dann grinste sie ebenfalls und hob die Stimme wieder, um freundlich nachzubohren: «Also, was gibt’s? Wenn du so ein Gesicht ziehst, hast du noch irgendwas Seltsames auf Lager. Ich hätte nur eine Bitte: Wenn’s geht, einen Patienten mit nicht mehr als zwei Beinen. Einen Ziegenbock hatte ich heute schon.»

Bruno nickte. «Alles gut, sie hat zwei Beine. Aber eben auch einen Vater. Der ist das Hauptproblem.»

«Eines, das sich gemeinhin schwer vermeiden lässt, es sei denn, man ist ein Wurm.» Jannes Miene wurde ernster. «Aber es geht schon um einen Menschen, oder?»

Mittlerweile war es dunkel draußen, und sie konnte Brunos Gesicht nur erahnen. Doch sein besorgter Tonfall verriet ihr genug.

«Es ist die Gerlinde Herner. Deswegen hat meine Mutter vorhin angerufen. Du kennst die Gerlinde, oder?»

Janne nickte. Erst vorletzte Woche war das Mädchen wieder in ihrer Sprechstunde gewesen. Ein blasser Teenager mit unergründlichen Bauchschmerzen und noch nicht verheilten, feinen Schnitten an den Armen. Als Janne sie vorsichtig darauf ansprach, war sie knallrot geworden.

«Was ist mit ihr?»

«Ihre Mutter hat gesagt, die Gerlinde kommt nicht mehr aus ihrem Zimmer, schon seit zwei Tagen nicht. Und der Herner-Jakob, also ihr Vater, will nicht, dass jemand nach ihr sieht. Du schon gar nicht, sagt er, warum auch immer.» Bruno schnaubte nicht ohne Empörung. «Aber freitags am späten Nachmittag geht er immer ins Gasthaus zur Erna. Und da könnten wir halt … Also, wenn du vielleicht … Na ja, ich dacht halt …»

«Hm», machte Janne und schwieg einen Moment. Sie hatte das Fenster geöffnet und atmete die kühle feuchte Herbstluft ein, die nach Wald, Moosen und Pilzen roch. «Ich weiß nicht, Bruno. Ich bin keine Psychologin, und Jakob Herner und ich sind, na ja, nicht gerade die besten Freunde.»

«Ach, vergiss doch den bleeden Seggl. Mit dem steht jeder auf Kriegsfuß. Andere Füße hat der doch gar nicht. Aber versuchen könntest du’s doch vielleicht, oder?»

Janne drehte an ihrem schmalen Silberring herum. Den, den sie nie abnahm. Dann zuckte sie die Schultern. «Klar, kann ich.»

***

Das Haus der Familie Herner in Pfaffingens Neubaugebiet hatte alles, was es brauchte für ein präsentables Eigenheim: bodentiefe Fenster, grün glasierte Dachziegel und im Vorgarten eine beleuchtete Gips-Gartenelfe. Und dahinter ein Leben so einbruchsicher wie die Metallhaustür mit dem Dreifachschloss. Janne kannte sich da aus, schließlich war sie in so einem Haus aufgewachsen. Es roch leicht nach Feuer. Dänischer Kaminofen, aus Gusseisen, tippte sie. Dann schüttelte sie sich, als wollte sie etwas vertreiben, und griff nach ihrer Arzttasche.

«Also, los geht’s.»

«Die wirst du doch nicht brauchen …» Bruno zeigte auf die Arzttasche.

«Keine Ahnung. Ich bin aber ganz gern gerüstet, wenn ich den nativen Lebensraum cholerischer Patriarchen betrete.»

«Wie?», prustete Bruno los. «Hast du dich echt mit dem Herner angelegt? Mit dem Rindviech?»

Janne kicherte. «Bin ich wahnsinnig? Nein, eigentlich habe ich gar nichts gemacht, außer der Gerlinde vor ein paar Monaten die Pille zu verschreiben. Da war sie sechzehn und berechtigt, das allein zu entscheiden. Aber einen Tag später ist ihr Vater in der Praxis aufgetaucht. Ich kann dir sagen, schön war das nicht.» Sie machte eine dramatische Pause.

«Gab es Tote?», fragte Bruno teilnahmsvoll.

«Fast. Ich glaube, Sonnchen hatte schon den Feuerlöscher von der Wand genommen, weil er nicht zu brüllen aufhörte. Wenn ich mich recht erinnere, war dabei von Anstiftung zur Unzucht die Rede. Und das vor voll besetztem Wartezimmer.» Janne verdrehte die Augen. «Nahezu filmreif. Aber eine Wiederholung brauche ich trotzdem nicht.»

Bruno stöhnte, hielt sich die Hände vors Gesicht. «Dem ist doch echt nicht zu helfen.» Er sah zum Haus der Herners hinüber. «Wollen wir’s lieber lassen?»

«Ach was. Sollte er aufkreuzen, hören diesmal wenigstens keine zwanzig Patienten mit.»

Sie betraten den Vorgarten mit dem geharkten Kies und den generalstabsmäßig verteilten Grünpflanzen in den Beeten. Unkraut konnte Janne nicht ausmachen. Sie vermutete, dass es sich schlicht nicht zu gedeihen traute.

Statt einer Klingel gab es einen goldenen Löwenkopf als Türklopfer. Schon nach dem ersten Tacktack ging die Tür auf. Eine etwas verhuscht wirkende Mittvierzigerin strahlte sie an.

«Die Frau Doktor, wie nett, und der Herr Häberle, guten Tag, kommen Sie rein. Ich bin so froh, dass Sie da sind, denn wir wissen einfach nicht mehr … nicht mehr …» Ihre Stimme hickste, brach ab.

«Ist schon gut, Frau Herner. Das ist doch selbstverständlich. Ist denn was passiert, dass es Ihrer Tochter so schlecht geht?»

Henriette Herner riss die rehbraunen Augen auf. «Sie redet nicht, aber ich glaub, mit dem Khalid – also dem jungen Mann, mit dem sie … na ja –», sie errötete, «na ja … ist wohl nichts mehr.» Sie seufzte tief. «Wollen Sie vielleicht einfach mal nach ihr schauen, Frau Doktor?»

Janne und Bruno folgten ihr in den ersten Stock, und Janne dachte, dass sie noch nie ein so sauberes Haus gesehen hatte. Und auch keines, in dem so wenig auf das Vorhandensein lebender Existenzen hingewiesen hätte.

Soweit Janne wusste, gab es noch einen zehnjährigen Sohn, und sie fragte sich, was sie wohl mit dem machten. Ihn an seiner Playstation festschweißen, damit er keine dreckigen Fußballschuhe ins Haus trug?

Gerlindes Tür war schon von ferne sichtbar und ein Fanal der Rebellion in dieser Stätte gediegener Wohnkultur: Die komplette Fläche war zugeklebt mit Postern. Janne erkannte Justin Bieber, einen leicht verlotterten Gitarristen, der wie Kurt Cobain aussah, außerdem Lady Gaga und etliche weitere singende Jugendidole.

«Cool», sagte Bruno und sang leise ein paar Takte.

«Bruno», zischte Janne mit einem Grinsen. Dann hob sie die Hand und klopfte an die Tür. «Gerlinde? Hier ist Janne Helmkamp. Deine Mutter hat mir gesagt, dass es dir nicht so gut geht. Und ich dachte, ich schau mal nach dir. Du sahst neulich schon etwas bedrückt aus, als du in meiner Sprechstunde warst. Vielleicht magst du mir erzählen, was los ist? Sind die Bauchschmerzen denn besser?»

Janne verstummte, wartete einige Momente, klopfte noch einmal. «Gerlinde? Alles klar, dann möchtest du heute wohl nicht reden. Ich gehe jetzt wieder. Aber du kannst jederzeit in meine Sprechstunde kommen. Auch nur zum Reden, okay?»

Janne wartete erneut, dann drehte sie sich um und sagte leise: «Es war ein Versuch, Frau Herner. Sollte sie am Montag nicht in die Schule wollen, rufen Sie mich gern an. Dann schauen wir weiter.»

Hinter ihr klickte es, Janne fuhr herum. Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen strähnigen Haaren, traurigen Augen und einem kleinen Metallring im Nasenflügel, an dem man noch getrocknetes Blut sah.

«Gerlinde? Bischt wahnsinnig? Lass das net den Papa sehen», zischte Henriette Herner.

Gerlindes Unterlippe schob sich vor. Sie ignorierte ihre Mutter, sah Janne fragend an.

«Soll ich reinkommen?»

Gerlinde nickte und gab den Weg in ihr Zimmer frei, in dem es sehr dunkel war und leise Musik lief.

Bruno redete derweil auf Frau Herner ein, um sie abzulenken. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Denn in diesem Moment gab es hinter ihnen auf der Treppe massives Getöse. Es klang, als rumpelte ein Trupp Skinheads mit ihren Stiefeln die Treppe herauf. Und das war gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt – zumindest was die aktuelle Reflexionsfähigkeit des Mannes anging, der nun auf sie zurauschte. Es war kein anderer als Jakob – Jackl – Herner in all seiner kracherten Lederhosenpracht, der Vater der blassen Gerlinde.

«Was wellet Sie denn hier?»

Das Sie hörte sich an, als wolle er es Janne vor die Füße spucken. Sie trat vorsichtshalber etwas zur Seite.

«Herr Herner», schaltete sich Bruno dazwischen mit all dem Schmelz, den fünfzig Jahre Elvis-Hören in seine Stimme gelegt hatten. Ältere Damen bekamen da immer dieses Leuchten in den Augen. Nicht so Jakob Herner, der ihn schlichtweg ignorierte. Er baute sich vor Janne auf, strich sich etwas Fett aus seinem borstigen Schnauzbart, der an eine alte Nagelbürste erinnerte, und raunzte: «Ich frage nur noch ein Mal. WAS wollen Sie hier?»

Janne sah zu Bruno, der schüttelte fast unmerklich den Kopf, doch Janne wich nicht gern vor einer Herausforderung zurück, schon gar nicht, wenn sie einen Trachtenanzug trug. Also richtete sie sich zu ihren ganzen ein Meter achtzig auf und sagte mit fester Stimme: «Herr Herner, Ihrer Tochter geht es nicht gut, soweit ich weiß. Ich würde gern mal mit ihr sprechen.»

«Meiner Tochter geht’s blendend, und außerdem tut Sie das sowieso ja mal gar nichts angehen, dass wir uns verstehen, ja?»

«Jackl», war nun die verzagte Stimme seiner Frau zu hören. Sie klingt, als wolle sie sich permanent entschuldigen, dachte Janne und lächelte ihr aufmunternd zu.

«Was willscht?», schnauzte Jakob Herner.

«Vielleicht kann ja –»

«Schluss. Aus. Nix da. Raus mit euch.»

Janne überlegte kurz, was er wohl machen würde, wenn sie nicht gingen, entschied dann aber, dass sie es nicht ausprobieren wollte. Bruno sah das offenbar ähnlich. Beide folgten sie Jakob Herner die Treppe hinunter.

Erst als die Tür hinter ihnen zuknallte, entfuhr es Bruno: «Jesses, der hat sie doch net alle.»

Es schien von Herzen zu kommen.

***

Sie brauchten den gesamten Nachhauseweg, um zu entscheiden, ob Jakob Herner ein großer, ein ganz großer oder ein außergewöhnlich blöder Vollidiot war, bis es schließlich mit Bruno durchging und er vor sich hin bruddelte: «So a krommbohrds Arschloch gibt’s scho ned nomal. Den kann von mir aus der Teifl hole.»

Janne nickte. «Aber Spaß werden sie mit dem da unten in der Hölle auch nicht haben. Wahrscheinlich schickt ihn der Teufel gleich wieder fort.» Sie schnaubte. «In die Abteilung für verpeilte Paranoiker.» Sie überlegten dann noch, ob Brunos Großneffe Jossi, der dieselbe Schule wie Gerlinde besuchte, mal nach ihr schauen könnte und ob das auf dem Plakat wirklich Kurt Cobain gewesen war, da bremste Bruno bereits vor dem alten Fachwerkhaus, in dem sich Jannes Praxis und Wohnung befanden.

Janne stieg aus und rief: «Dank dir, Bruno. Tschüssle.»

Und Bruno erwiderte: «Adele.»

Dann grienten sie einander an mit der Verbundenheit alter Schlachtgesellen, bis Bruno Gas gab und Edwin, der Bus, offenbar etwas müde von seiner Bergtour, stotternd anfuhr, um Bruno zu seinem Sauerbraten zu bringen.

Janne aber stieg die Treppen zu ihrer über der Praxis gelegenen Wohnung hinauf, schloss auf und ließ sich in voller Montur auf ihr Sofa fallen. Sie streckte die müden Glieder von sich und schloss kurz die Augen, um zu entspannen, doch sie sah nur wieder Jakob Herner vor sich. Was für eine Wut der Mann in sich hatte. Was sie aber auch gesehen hatte, war, wie Gerlinde hinter dem Rücken ihres Vaters ein klein wenig gegrinst hatte. Und das allein war den ganzen Auftritt wert gewesen, fand Janne.

Und somit ging auch diese Arbeitswoche zu Ende wie so viele andere in diesem knappen Jahr, das sie nun bereits als die «Frau Doktr» von Pfaffingen und den siebzehn umgebenden Dörfern und Weilern praktizierte: mit dem Gefühl, zum Niederknien müde zu sein, aber so zufrieden, als habe sie eine sandelholzumdampfte Relaxwoche in einem Ayurveda-Center hinter sich.

Zufrieden mit ihrer Entscheidung, trotz aller Unkenrufe der Kollegen («Bischt ned ganz gebacken? Du? Auf die Alb?») ihre Oberarztstelle in der Klinik in Tübingen aufgegeben zu haben. Zufrieden, nun statt in einer Zweizimmerwohnung mit Fußbodenheizung in einem hutzeligen Fachwerkhaus zu leben, in dem der Wind durch alle Ritzen pfiff. Und zufrieden, dort unter schwarzen alten Balken zu schlafen, die immer noch leicht nach Schinken dufteten. Schließlich sei früher hier unterm Dach die Wurschtkammer gewesen, hatte der Vermieter ihr erklärt, sofern sie ihn richtig verstanden hatte.

Denn Janne Helmkamp war nicht nur eine waschechte Stadtpflanze, sie war zudem rund achthundert Kilometer weiter nördlich geboren – da, wo Grüßgottle Moin, Moin hieß und die Vokale so breit waren wie die Elbe lang. Mittlerweile aber verstand sie das meiste, wusste, dass «Ha noi» nichts mit Vietnam zu tun hatte und «Adele» nichts mit der Queen of Pop aus England. Und auch sonst hatte sie sich bestens eingelebt. Sie vermisste weder Kinos noch Kneipen oder die Möglichkeit, sich Gerichte aus zweiundzwanzig verschiedenen Nationen an die Haustür liefern zu lassen. Sie fand es entspannend, beim Bäcker nur noch zwischen drei Sorten Brötchen entscheiden zu müssen und einen Schuster zu haben, der ihre Schuhgröße auswendig konnte.

«Jannilein, in dir schlummerte tatsächlich eine Landpomeranze. Wer hätte das gedacht? Dr. Cool goes Pampa – und findet’s auch noch toll», hatte ihr Kollege und guter Freund Konrad gesagt, den Kopf geschüttelt und bis über alle Sommersprossen gegrinst.

Seitdem fuhren er und seine Frau Ella so klaglos wie regelmäßig raus oder vielmehr hoch, um Janne zu besuchen. Dorthin, wo Pfaffingen lag, etwa vierzig Kilometer von Tübingen entfernt. Ein Ort, verschlafener als bei den Zwergen hinter den sieben Bergen, mit Menschen, so knorrig wie alte Baumwurzeln, und Gastwirtschaften, die so urig und betagt wirkten, als habe Schiller höchstpersönlich hier seine ersten Verse verfasst.

Und in exakt solch eine Lokalität begab sich Janne auch an diesem Abend, nachdem sie die Patientenakten vom Nachmittag zu Ende ausgefüllt, sich umgezogen und zusammen mit der Nachbarskatze drei Minuten Yoga gemacht hatte – auch wenn die Katze beim herabschauenden Hund leider weit mehr brillierte als Janne.

***

Nun saßen sie also wieder einmal alle drei zusammen: Janne, Konrad und seine Frau Ella, die auch heute aus Tübingen herübergekommen waren. Oder eigentlich saßen nur Konrad und Janne, weil Ella gerade draußen vor dem Fenster telefonierte und dabei äußerst emphatische Redebeiträge von sich zu geben schien. Jedenfalls bewegte sie ihren Mund schneller als weiland Dieter Thomas Heck. Die Redebeiträge drinnen bei Janne und Konrad waren etwas verhaltener. Genauer gesagt verständigten sich die beiden mittels kleiner grunzender Bemerkungen, wie sie vor allem zweierlei hervorbringt: eine betagte Ehe oder eine großartige Arbeitsbeziehung. Janne wusste, wie es war, einen Zwölf-Stunden-Herr-Doktor-was-soll-ich-mit-der-Leber-auf-Station-sieben-machen?-Kliniktag hinter sich zu haben. Und Konrad konnte sich bestens vorstellen, was es hieß, ganz auf sich allein gestellt die Verantwortung für einen riesigen, sehr betagten Patientenstamm zu haben.

«Haschd wohl ’nen schweren Tag gehabt?», fragte jetzt auch Karl-Heinz, der Wirt, mitfühlend und tätschelte Janne mit seiner Möbelpackerpranke erstaunlich zart die Schulter. Die nickte, seufzte tief und schicksalsergeben und stocherte in den Tofu-Maultaschen herum, die Heinz’ Frau Auguste – die Guschte – eigens für sie kreiert hatte.

«Und du isschd echt nie Floisch?», hatte die Guschte extra noch mal gefragt, und als Janne den Kopf schüttelte, hoffnungsvoll hinterhergeschoben: «Aber vielleicht ein Würschtle?» Als Janne abermals verneinte, hatte sie missmutig auf ihre Küchentheke gestiert, wo ein Stück Tofu blass und eingeschweißt des Hackmessers einer schwäbischen Köchin harrte, die Vegetarier offenbar für Angehörige einer exotischen Sekte hielt.

Konrad stopfte sich derweil mit Zwiebelrostbraten voll und spülte mit der Leberknödelsuppe nach, die Ella übrig gelassen hatte. Die beiden waren ein seltsames Paar. Er war der Typ Homo maximus entspanntus, der in seinen nahezu antiken Turnschuhen in aller Ruhe durchs Leben schluffte, selten etwas krummnahm und nur unter Androhung etwas wirklich ernst. Die Patienten liebten ihn. Konrad konnte selbst das Wort Analfistel wie etwas Nettes klingen lassen.

Ella dagegen war eine dieser gestylten Superfrauen, bei deren Anblick jede andere Frau im Raum sich spontan wie ein Sack Hafergrütze fühlte. Janne hatte sie noch nie ohne eine zum Pullover passende Handtasche gesehen, und ihre langen dunklen Wimpern sahen aus wie gephotoshopt. Unter all dem optischen Budenzauber aber war sie eine handfeste Nordhessin, die gern seltsame Witze erzählte, einen schwarzen Gürtel in Taekwondo besaß und schneller eine Venenkanüle gelegt hatte, als Janne gucken konnte.

Zusammen waren die drei in Tübingen als eine Art Trio medicale durch viele Stationen der Arztwerdung geschlittert. Erst bei der Fachspezialisierung hatte sich gezeigt, wie unterschiedlich sie im Grunde waren: Konrad wurde Urologe, Ella Hautärztin und Janne – die Pragmatikerin – erst Internistin, dann noch Ärztin für Allgemeinmedizin. Im Moment aber war sie vor allem eins: müde.

«Sorry, Konrad, aber ich geh schon mal», murmelte sie, legte einen Zehneuroschein auf den Tisch und stand auf.

«Janni, du kannst jetzt nicht gehen. Wir müssen noch was besprechen», flötete es von rechts, und Ella, die gerade von draußen reinkam, schob ihre langen Beine unter den Tisch. Sie klimperte kurz mit den XL-Wimpern, dann legte sie los: «Wir gehen auf eine Party. Nicht irgendeine Party. DIE Party. Und zwar gleich morgen.»

Ihre Stimme erreichte Quietschwerte. Konrad zersäbelte derweil den letzten Leberknödel, während Janne verstohlen gähnte, sich aber wieder setzte.

Ella nahm Konrad die Gabel aus der Hand, schob sich einen Bissen Knödel in den Mund und nuschelte kauend: «Denn wisst ihr, mit wem ich gerade gesprochen habe?» Sie lächelte erwartungsvoll in die Runde. Doch da es den Anwesenden für eine Replik entweder an Energie oder schlicht am nötigen Enthusiasmus mangelte, platzte sie heraus: «Mit Eberhard, meinem Cousin. Er hat uns eingeladen.»

Konrad gab jetzt immerhin ein «Aha» von sich, Janne guckte einfach müde. Um sich Nachdruck zu verleihen, stand Ella wieder auf und wedelte mit den Armen. Dabei erinnerte sie dank ihres Dior-Pullis, der Arme wie ein Partyzelt hatte, an eine große Fledermaus. Janne biss sich auf die zuckenden Lippen, Konrad hustete auffällig, aber Ella war nicht zu bremsen.

«Also, meine Lieben. Ihr wisst doch. DER Eberhard, der Hochwohlgeborene, seines Zeichens der sechsundzwanzigste. Kurz gesagt: Wir gehen auf die Burg. Zur Halloweenparty. Mit allem Drum und Dran.»

Konrad erbleichte etwas, ahnte er doch, dass dies mehr Gebot als Einladung war. In Adelsdingen kannte Ella keinen Spaß. Als Tochter eines – wenn auch seit Jahrhunderten verarmten – nordhessischen Freiherrn konnte sie den deutschen Adelskalender rauf und runter beten.

Ella wiederum wusste, womit sie ihren Mann am besten ködern konnte. Also beugte sie sich vor und sagte im sanften Überzeugungston einer Verkaufsshow-Moderatorin: «Oh ja, und nicht zu vergessen, es wird bestimmt wieder den 1967er Margaux geben, den Großonkel Ferdinand zu Feiern immer aus seinem Weinkeller holen lässt. Der schmilzt förmlich auf der Zunge.»

Konrads Augen weiteten sich merklich. Und hatte es noch so etwas wie Widerstand in ihm gegeben, so schmolz dieser nun ebenfalls dahin, denn Konrad hatte ein nahezu pathologisches Verhältnis zu Rotwein. Nicht dass er viel davon trinken würde, er redete nur gern darüber. Er konnte über Rotwein reden wie andere Männer über die Bundesliga oder den Trockenbau am Kaninchenstall: lang, laut und detailreich. Jetzt allerdings blieb er stumm und wiederholte nur mit fast ehrfürchtiger Stimme: «Ein 67er?»

Ella nickte. Mit einem Lächeln, das Kleopatra auch nicht besser hinbekommen hätte, nachdem sie Cäsar den Triumphzug durch Rom abgeschwatzt hatte.

Es war also beschlossene Sache: Konrad und Ella würden auf die gräfliche Halloweenparty gehen. Und Janne?

«Du kommst natürlich mit, Dr. Magic», bestimmte Ella und richtete ihren langen, dünnen Zeigefinger wie einen Spieß auf die Freundin.

«Erbarmen.» Janne grinste und hielt die Hände vors Gesicht. «Ist Mission Ella wieder gestartet? Mit wem willst du mich dieses Mal verkuppeln? Wieder mit einem dieser landadeligen Weltverschwörungsexperten?»

«Ja, sorry, aber ich konnte doch nicht wissen, dass der Theo so gaga ist … Der schien eigentlich immer ganz vernünftig.»

Janne prustete in ihren Trollinger. «Ha! Weißt du, was der mir nach dem ersten Viertele anvertraut hat? Dass hinter unseren Aufrufen zur Borreliose-Impfung ein Komplott von Bill Gates und Hillary Clinton steckt.»

«Was?» Konrad verschluckte sich fast am allerletzten Leberknödelrest. «Ist nicht wahr.»

Janne nickte mit getragener Miene. «Und in das World Trade Center wäre damals kein Flugzeug geflogen, alles Fake News. Nein, die wurden gesprengt, und zwar von Außerirdischen, die mit einer Gruppe Illuminaten im Bunde stehen.»

Ella kicherte. «Echt? Na ja, da hattest du ja wenigstens einen unterhaltsamen Abend.»

Janne zirbelte ihre Brauen zusammen. «Nie wieder, hörst du? Sonst klaue ich dir deinen Chanel-Nagellack.»

Ella wieherte fröhlich, und Konrad grunzte «Bloß nicht», während Janne nun endgültig aufstand und ihre Jacke anzog.

«Also, meine Lieben.»

Weiter kam sie nicht, da es schräg gegenüber am Fenster erst wummste, dann krachte und schließlich das helle Sirren splitternden Glases durch den Raum schallte, gefolgt von ächzendem Stöhnen. Alle drei Ärzte am Tisch sprangen auf.

Janne war als Erste dort. Ein älterer Herr hatte beim Aufstehen offenbar das Gleichgewicht verloren und war umgefallen. Leider derart unglücklich, dass er seitlich mit dem Arm in die alte Glasfensterscheibe des Gasthofes gedonnert war und diese zertrümmert hatte. Alles war voll Blut. Der Mann hing noch immer halb im Fensterrahmen und klammerte sich mit der anderen Hand an der Fensterbank fest.

«Konni, komm, wir müssen ihn hochkriegen», rief Janne, beugte sich zu dem alten Mann hinunter und sprach ruhig auf ihn ein.

Konrad fasste ihn von hinten unter die Arme, Janne bewegte vorsichtig seine verletzte Hand, und so verhalfen sie ihm gemeinsam in die Senkrechte und setzten ihn auf einen Stuhl.

«Er steht noch unter Schock», sagte Janne, Konrad nickte, während Ella zum Auto rannte, um den Erste-Hilfe-Koffer zu holen.

Janne setzte sich neben den Verletzten, ignorierte dessen Frau, die in zyklischen Rhythmen ganze Redesalven schwäbischer Laute von sich gab, und sprach weiter beruhigend auf ihn ein. Irgendwann schien er zu verstehen, wippte leicht mit dem Kopf und ließ zu, dass sie langsam seinen linken Arm anhob, um sich die verletzte Hand anzusehen.

Und was dann geschah, war so unwahrscheinlich, dass Konrad, der die ganze Zeit neben Janne stand, eher an den Weihnachtswichtel geglaubt hätte als an das, was er vor sich sah: Die Frau, mit der gemeinsam er ganze Armeen von Patienten punktiert, katheterisiert und reanimiert hatte, dieselbe Frau wimmerte nun angesichts der blutigen Hand vor ihr plötzlich leise und wurde weiß wie die gekalkte Wand.

In Janne selbst aber wurde es dunkel. Als hätte ihr jemand eine Gangster-Sonnenbrille aufgesetzt und das Licht gedimmt. Sie sah nur noch Schemen und hörte erneut das Klirren der Fensterscheibe. Nur dass es jetzt zu einem Geräusch-Tsunami anschwoll und wie in einem irre gewordenen Tonstudio von allen Seiten als Echo zurückschallte. Als seien es Hunderte von Glasscheiben, die nacheinander zerbarsten. Janne schaffte es gerade noch, «Konrad, schau du» zu rufen. Dann riss sie die Hände an ihre Ohren, stand auf und taumelte zur Seite. Eine Finsternis umgab sie, in der das einzig Sichtbare eine Reihe aufflackernder Blitzlichter waren: Glasscherben, eine blutige Hand und das Gesicht eines kleinen Jungen – Bildschnipsel, die in Endlosschleife vor ihren Augen abliefen.

«Janne, was ist denn?»

Ella war mit dem Erste-Hilfe-Koffer zurückgekehrt. Mit einem Blick erfasste sie die Lage, drückte Konrad den Koffer in die Hand und legte Janne vorsichtig einen Arm um die Schultern.

Doch die antwortete nicht, schien auch sonst nichts mitzubekommen. Den Kopf gesenkt, lehnte sie an einer Wand, die Arme um ihren Oberkörper verschränkt, und wippte sachte vor und zurück.

Derweil versorgte Konrad notdürftig den Patienten, bis der vom Wirt eilig herbeigerufene Krankenwagen kam. Während zwei Sanitäter den alten Mann vorsichtig auf einen Tragestuhl hoben und mitnahmen, versuchten die Freunde weiter, Janne anzusprechen, doch es kam keine Reaktion. Ihre Augen waren halb geschlossen und wie blicklos, als sähen sie nach innen. So jedenfalls beschrieb Konrad es Janne später, als sie wieder an ihrem Tisch saßen. Ein bisschen blass war sie noch, ihr fein ziseliertes Gesicht trug puppenhaft starre Züge. Aber zumindest nippte sie an dem Glas Wasser, das ihr Ella besorgt hatte, und murmelte: «K… Keine Ahnung, was los war … Bin wohl etwas überarbeitet … Dieses Klirren … Das viele Glas … Das ging ja ewig lang.»

Konrad und Ella tauschten einen schnellen Blick. Das Geräusch hatte bestenfalls wenige Sekunden gedauert, Janne aber war mindestens fünf Minuten lang wie weggetreten gewesen. Doch nun presste Janne ihren Mund zu einer sturen Linie zusammen, die deutlich verkündete, dass das Thema für sie abgeschlossen war. Dass es offenbar nicht zur Debatte stand, diesen Komplettaussetzer von Dr. Janne Helmkamp zu diskutieren, einem Menschen, der nach allem, was ihre Freunde wussten, belastbarer war als ein dreifach verzinkter Stahlträger.

Janne fragte noch nach dem alten Herrn, war beruhigt, als sie hörte, dass er längst auf dem Weg ins Krankenhaus war. Dann stand sie so hastig auf, dass ihr Stuhl quietschend über den alten Steinboden schrammte.

Und vielleicht war es das, diese ungelenke Bewegung ihrer Freundin, die ihren langen schmalen Körper normalerweise eleganter bewegte als jeder Flamingo, was Ella nun veranlasste, ihr vorsichtig die Hand auf den Arm zu legen.

«Janni, wir sind’s, deine Freunde.»

Die aber zuckte zurück, als habe sie sich verbrannt.

«Ist alles in Ordnung?», fing nun auch noch Konrad an.

Doch Janne mied seinen Blick, winkte nur einmal kurz zum Abschied. «Mir geht’s bestens. Wir sehen uns dann morgen. Tschüs, ihr zwei!»

***

Janne lief nach Hause, plumpste auf ihr Sofa und starrte, da sie sonst zu nichts zu gebrauchen war, zum Teufel hinauf. Der hockte oben auf dem Schrank und starrte zurück. Mit maliziösem Lächeln. Irgendein Schrankbauer musste sich hier einst – das Holzungetüm hatte mindestens ein Jahrhundert auf dem Buckel – zu Höherem berufen gefühlt haben. Denn Mr Teufel und seine Freunde, allesamt schräge Vögel und böse Fratzen, fanden sich in solcher Vielzahl in den Schnitzereien des Möbels wieder, als hätte ihr Schöpfer eine Geisterbahn geplündert oder Designnachhilfe bei Hieronymus Bosch bekommen.

Janne seufzte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Holzkopfgeister als Ergänzung zu denen, die sowieso durch ihren Kopf spukten. Sie drehte ihr Smartphone in den Händen und überlegte, ob sie ihn anrufen sollte. Ihren Bruder Benny. Vielleicht hätte er eine Idee? Was um alles in der Welt da vorhin in der Gaststube passiert war? Denn immerhin war es sein Gesicht gewesen, das sie da auf einmal vor sich gesehen hatte. Das Gesicht des kleinen Ben. Mit weit aufgerissenen Augen. Und dazu dieses Klirren, immerzu dieses Klirren.

Doch Janne Maria Helmkamp war ein durch und durch rationaler Mensch. Sie glaubte nur, was sie messen, verstehen und in eine Excelliste eintragen konnte. Sie glaubte auch an große Ideen, an Demokratie, die Lehren von Hippokrates und den Sinn von Kartoffelwickeln bei Halsschmerzen. Aber sie glaubte nicht an Geister. Auch nicht an die der Vergangenheit.

Und deshalb ging sie jetzt einfach ins Bett. Putzte sich die Zähne mit ihrer veganen Bambuszahnbürste, beäugte das blasse schmale Gesicht im Spiegel, streckte sich die Zunge raus und murmelte: «Keep smiling, Miss Plemplem.» Dann kletterte sie die halsbrecherische Stiege hinauf, die zur früheren Wurstkammer führte. Dorthin, wo gut verborgen vor neugierigen Besucheraugen das peinlichste Möbelstück der ganzen Wohnung residierte: ein verschnörkeltes Eisenhimmelbett mit blauen Samtvorhängen.

Niemand wohl hätte der resoluten Frau Dr. Helmkamp, deren zweiter Vorname Vernunft war, ein solches Bett zugetraut. Aber sie hatte es einfach haben müssen, nicht zuletzt wegen seines Namens. Das Bett hieß «Bette Davis» und sah auch so aus. Alles daran war einen Tick zu großspurig: die eisernen Löwenfüße, die wirren Schnörkel am Baldachin, dessen hemmungslos leuchtendes Königsblau, das sich auch bestens zu Krönungszeremonien gemacht hätte.

Sobald Janne zwischen die Laken gekrochen war, zog sie die vorderen Vorhänge vor, löschte das Licht und blickte nach oben. Dorthin, wo der geheime Zauber von Bette Davis, dem Hollywoodbett, lag: Auf den Stoff des Baldachins waren Leuchtsterne appliziert. Aber nicht irgendwelche Plastikdinger. Nein, es waren Hightech-Sterne, die mit sanfter Wehmut auf Janne herabglitzerten, als würden sie hauptberuflich in der Milchstraße arbeiten. Sie verfehlten auch heute ihre Wirkung nicht. Das Gedankenknäuel in Jannes Kopf entwirrte sich langsam, Ängste und Fragen ließen sich in eine Ecke scheuchen, aus der sie ihr zwar morgen früh wieder entgegenspringen würden, aber für heute war nun Ruhe. Sie zog sich die Decke bis ans Kinn, schloss die Augen und atmete endlich richtig aus.

2

Aufräumen wäre eine Option, dachte Frau Doktor Helmkamp und ließ den Blick über die Bücherberge auf dem Boden schweifen, die Skizzen und Thesenblätter an den Wänden, das ganze Chaos, in dem sie seit Wochen lebte. Genauer gesagt, seit sie beschlossen hatte, ihren Opa vor Gericht zu bringen.

Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht denken. Eine zutiefst überbewertete Tätigkeit. Sie schloss kurz die Augen, dann wandte sie sich um und sah nach draußen.

Dorthin, wo schon wieder der Abend heraufzog und sich gierig über die Reste des Tageslichts hermachte. Seltsame Zickzacklinien waren es, die die Dämmerung heute an den Himmel malte. Linien, die sie an irgendetwas erinnerten. Ihr Handy klingelte. Sie schaute nicht nach. Sie wusste sowieso, dass es ihre Mutter war. Es war immer ihre Mutter.

Plötzlich wurde ihr klar, woran die Zickzacklinien sie erinnerten: an ein EEG, die elektronische Messung der Gehirnströme, eine der Standarduntersuchungen in der Psychiatrie. Das Bild, das dabei entstand, sah genauso aus. Zick, Zack. Zick, Zack. Wie oft hatte sie es bei ihrer Mutter gesehen.

Wieder ging das Telefon. «Do kennsch grad brülla» – Flüche waren Jannes wichtigstes Souvenir aus sechs Jahren Dienst in schwäbischen Notaufnahmen. Sie fummelte ihr Handy aus der Jacke.

«Ja, Mama?»

«Ja, doch!»

«Was ist denn?»

Sie sprang auf, lief im Zimmer auf und ab, während ihre Mutter am anderen Ende des Telefons so laut redete, dass sie das Handy vom Ohr weghalten musste.

«Mama!? Mama, bitte setz dich mal und hör mir zu!»

Jannes Stimme klang energisch. Nur wer sehr genau hinhörte, hätte das leichte, unterschwellige Zittern wahrnehmen können. Ihre Mutter aber hörte nicht genau hin, das tat sie nie. Sie redete und redete, bis Janne das Gespräch einfach wegdrückte und das Telefon aufs Sofa schmiss.

«Ich kann das jetzt nicht», sagte sie zu dem kleinen fetten Marzipan-Buddha, den Ella ihr mal aus Lübeck mitgebracht hatte. Er war über fünf Jahre alt und mittlerweile sicher ungenießbar. Dafür lächelte er noch immer breit vor sich hin und war auch sonst ein wunderbarer Lebenspartner, fand Janne. Weder schaute er Sportsendungen und brüllte dabei wie ein Hirsch, noch verteilte er seine schmutzige Unterwäsche in den Ecken ihrer Wohnung.

Nein, Mr Marzipan saß einfach nur da, lächelte und war somit exakt das, was Janne jetzt brauchte: einen Mann, der sie freundlich ansah. Denn leider herrschte in ihrem Leben deutlich Mangelware an dieser Spezies, während sich der Typus «Mann, laut, nervtötend» nur allzu häufig tummelte – nicht zuletzt in ihrer eigenen Familie.

Das Telefon, dessen Klingelton sie ausgestellt hatte, gab nun aggressive Schnarrlaute von sich. Janne ignorierte sie, ging in die Küche und kochte sich Tee. Viel Tee. Den würde es brauchen, um all das herunterzuspülen. Das, was seit dem vorigen Abend gebetsmühlenartig durch ihren Kopf spukte: Wie konnte sie nur einen solchen Aussetzer haben? Mitten in einer Notsituation? Sie war sich nicht sicher, wie viel Konrad und Ella bemerkt hatten. Sie hatte es vertuschen wollen – so wie sie es auch vor sich selbst zu vertuschen versuchte. Doch die Fragen lauerten noch immer dicht unter der Oberfläche ihres Bewusstseins wie Fische unter einer Eisdecke: Was, wenn es auch bei ihr losging? Wenn sie dieselben Symptome bekam wie ihre Mutter?

Janne presste ihre Hände an beide Schläfen, blickte hinüber zu dem Foto an der Wand: Mama in ihrer Lieblingsrolle als Salome in Richard Strauss’ gleichnamiger Oper. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Es war aber auch zu komisch. Denn natürlich hatte ihre Mutter, die Opernsängerin Marina Helmkamp, die Rolle der Salome in Perfektion verkörpert: eine Wahnsinnsrolle für eine Wahnsinnige.

Janne seufzte und öffnete den Kühlschrank. Ganz vorne stand ein selbst gemachter Algen-Pudding, der allmählich eine grau-schleimige Oberfläche aufwies. Diagnose: Experiment gescheitert, dachte sie.

Aber es gab auch Hoffnung: eine Packung Schokotrüffel, reserviert für ganz besondere Momente. Und wer sagt denn, dass so ein Moment nicht auch ein ganz besonders nervtötender sein kann? Sie grinste, schob den Schleimpudding zur Seite und sich einen der Schokotrüffel in den Mund und ging dann halbwegs versöhnt mit dem Tag zu ihrem Schreibtisch. Der Plan war, die Arztbriefe abzuarbeiten, die gestern gekommen waren.

Doch genauso gut hätte sie versuchen können, den Algen-Pudding an die Wand zu nageln. Die Geister der Vergangenheit hatten schlicht keine Lust, Feierabend zu machen. Ganz im Gegenteil. Sie fingen gerade erst an.

«Sehr geehrte Frau Kollegin, besten Dank für die Überweisung des Patienten Alfons Kehrer –»

Gestern Abend, da in der Kneipe, da warst du völlig weggetreten. Ist das bei ihr auch so losgegangen? Denk nach.

«Die neurologische Untersuchung ergab –»

Du hast Bilder gesehen. Dein Arm schmerzte. Es war so real … so verdammt real …

«… konnte eine distal betonte Polyneuropathie nachgewiesen werden, die –»

Immer wieder dieses Klirren der Fensterscheibe.

Was war das?

Je massiver Janne versuchte, ihre Gedanken zurückzupfeifen, desto lauter wurden sie, kreisten sie ein wie ein Rudel Hyänen, jagten und hetzten sie durch dreißig Jahre gelebten Lebens zurück in ihre Kindheit. Ihre Kindheit, die vor allem eines gewesen war: abwechslungsreich. Und das in einem solchen Ausmaß, dass Jannes Traum vom Glück bis heute eigentlich nur in einem bestand: Gleichförmigkeit. Ein Lebensentwurf wie eine Konservenbüchse, sagte sie immer – außen formfest, innen vorgekocht nach der immer gleichen Rezeptur, bloß keine Überraschungen. Und das war durchaus nicht komisch gemeint. Schließlich hatte ihre Familie die unschöne Angewohnheit, ebendiesen Lebensplan permanent zu bombardieren.

So zumindest fühlte es sich auch jetzt wieder an, als erneut ihr Handy dingelte, dieses Mal mit einer WhatsApp, dann kam noch eine und eine weitere. Und das konnte ihrer Erfahrung nach nur eines bedeuten: Ihr Bruder Benny tackerte wieder einmal seine Mitteilungen im Telegrammstil durch die Welt.

Ich will das jetzt nicht, dachte sie, stand auf und holte