Das Leben Schielt - Uwe Gardein - E-Book

Das Leben Schielt E-Book

Uwe Gardein

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Beschreibung

Das Leben Schielt Marianne fuhr mit der Bahn von einem Nordseeurlaub zurück nach München. Im Zug entdeckte sie ihn. Alexander war und blieb ihre große Liebe. In den über dreißig Jahren, in denen sie sich gekannt hatten, waren sie immer wieder zusammen, selbst während ihrer Ehe, dann wieder nicht. Ihre erste Trennung passierte an der Adria. Es sollte ein Lebewohl auf Zeit sein. Marianne hatte für sich entschieden, ihr Studium in München zu beenden. Sie wollte ihr ganzes Leben nicht so ziellos verbringen. Alexander wollte nie mehr zurück. Er hatte sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Fast wäre sie daran zerbrochen. Ihre Eltern planten, dass sie den Arzt Hanno heiratete, der einmal ihre Privatklinik als Arzt und Direktor führen sollte. Marianne hatte Hanno geehelicht, weil sie nicht Medizin studieren wollte. Unerwartet traf sie Alexander wieder und begleitete ihn. Auch in den späteren Jahren reiste sie mit ihm an die Riviera, auch in die Provence und schließlich an die Loire. Dann riss der Kontakt wieder ab. Allein diese Tatsache brachte sie noch nicht dazu, ihn im Zug anzusprechen. Aber ihre Erinne-rungen an ihre gemeinsame Zeit wurden während der Fahrt immer konkreter. In den späteren Jahren lernte sie seine Tochter Jula kennen, die ihr von seinem schweren Unfall erzählte. Das war der Grund, weshalb er sich nicht mehr meldete. Entweder sie fasste den Mut, Alexander anzusprechen oder es war endgültig vorbei. Am Bahnhof angekommen trat sie ihm gegenüber, denn sie musste ihm schließlich die Wahrheit sagen. Aus der Zeit an der Adria gab es ein Geheimnis, dass sie Alexander nie offenbart hatte.

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INHALT

MARIANNE

HOTEL CALIFORNIA

JAHRE SPÄTER

IN DER SCHWEBE UND DER ABEND MIT BEA

TRISTAN PASTICHE

UNTER DÄCHERN AUS TRÄUMEN

SPÄTER IM LEBEN

AN SPRECHENDEN TAGEN

JULA

MONSIEUR

PAS DE DEUX

MEINE FREUDE MIT DIR

Die Herzen, die für die Liebe geschaffen sind, binden sich nicht leicht.

~ Charles Montesquieu

1. MARIANNE

Der schmale Lederriemen ihrer Uhr war gerissen und Marianne legte sie in ihre Handtasche. Die Uhrzeit war ihr gleichgültig. Sie hockte in einem Strandkorb und beobachtete das Meer. Es war rastlos wie jeden Tag und auch der Himmel schien sich nicht verändern zu wollen. Ihr Exmann Hanno machte seit vielen Jahren Urlaub auf Sardinien und da sie seine sportliche Betätigung immer gelangweilt hatte, hatten sie die Ferien nie gemeinsam verbracht. Obwohl sie lange nicht mehr zusammen waren, schickte er ihr stets Bilder von seinem Segelboot. Als Publizistin führte sie auch nach der Hochzeit ihren Namen Marianne Brueckner weiter. Sie hatte sich in Strandnähe ein einsames Haus gemietet, weil sie die Urlauber nicht gut vertrug. Dorthin lief sie, stolperte durch den Sand, wusch sich im Bad die Füße und stellte den Bürostuhl an den Tisch. Marianne hatte sich Arbeit mitgebracht und erhob sich, um an ihren kleinen Arbeitstisch zurückzukehren. Marianne hatte ein klassisches Schreibset für die Reise in ihren alten Überseekoffer gelegt, der allein auf die Reise geschickt worden war, damit sie mit leichtem Gepäck im Zug sitzen konnte. Sie schrieb mit einer Feder, die sie in regelmäßigen Abständen in ein Tintenfässchen tauchen musste. Um keine Tropfenspuren zu hinterlassen, führte sie mit der linken Hand behutsam die Löschwiege über das Papier. Sie notierte sich auf dem weißen Blatt einige Sätze Blochs aus DAS PRINZIP HOFFNUNG über den Tod und legte sich danach auf seine Récamiere, die direkt unter einem zweiflügligen Fenster stand. Auf dem Weg am Vormittag zum Strand fand sie einen Zettel in der Handtasche. Der steckte in einer kleinen Seitentasche. Dort ruhte eine schöne Taschenuhr. Die hatte sie wegen der Schönheit kaufen müssen. Die alte Notiz aus dem Buch von Ernst Bloch hatte sie während der Zugfahrt angefertigt. Wenn sie an den Philosophen dachte, dann sah sie stets dieses Foto vor sich, auf dem ein alter Mann mit einer starken Brille und einer kurzen Pfeife zu sehen war. Bloch hatte ihr klargemacht, dass das Prinzip Jesus Europa nie erreicht hatte. Was von den Menschen mit diesem Namen versehen, worden war, das war etwas völlig anderes geworden.

Jesus ist genau gegen die Herrenmacht das Zeichen.

Sie schrieb diesen Satz von Bloch gedanklich unvollendet auf die Rückseite des alten Zettels. Über die Fortsetzung dieses Satzes wollte sie nicht nachdenken. Die Seitenzahl 1489 fügt sie hinzu. Marianne nahm einen stets bereit liegenden Schreibblock zur Hand und griff nach einem Bleistift.

Gegen die Herrenmacht leben, schrieb der Philosoph.

Frei sein bedeutete, nach seinem eigenen Willen zu leben. War das zu erreichen? Sie dachte an die Formulierung ‚Mein letzter Wille‘. Auch das war nicht erreichbar. Woher will der Schreiber eines Testamentes seinen wirklichen letzten Willen kennen? So blieb in allem Leben nur das Prinzip Hoffnung. Bloch war ein melancholischer Optimist, dachte Marianne. Sie wechselte wieder zu ihrem Federhalter und schrieb nur einen Satz. Ihr gesamtes Erbe ging an ihre Kulturstiftung. Mit Hanno hatte sie sich nach einigem Streit verständigt. Marianne ließ die Tinte trocknen und widmete sich wieder ihrem Essay über Ernst Bloch. Am kommenden Tag hatte sie Geburtstag und wie jedes Jahr blieb sie für sich. Besonders an diesem runden Geburtstag wollte sie niemanden sehen. Dann wurde es Zeit, ihren täglichen Spaziergang durch den Ort anzutreten. Marianne zog sich um, schlüpfte in ein Paar leichte Schuhe und lief hinaus, um einige Kleinigkeiten einzukaufen. In den letzten Tagen war sie häufig an der Buchhandlung vorbeigelaufen, war aber vor dem Schaufenster nicht stehen geblieben. Nun tat sie es. Über einem schmalen Gedichtband war ein Zettel, vom Autor signiert, angeklebt worden. Der Gedichtband trug den Titel ULYSSES IN IKARIA. Aber das war nur der Einstieg für ihr Interesse, denn der Name des Autors hielt sie fest. Diogenes Obscurus. Marianne war sofort davon überzeugt, dass sich hinter dem abweisenden Pseudonym der entschwundene Alexander verbarg. Er hatte bei seinen Publikationen stets besondere Künstlernamen benutzt. Sie kaufte das Buch und blieb erst in der Nähe des Leuchtturms stehen und betrachtete die heranrollenden Wellen. Wenn es Alexander war, dann musste sie an ein Chanson von Charles Trenet denken.

La mer, a bercé mon coeur pour la vie.

Alexander besaß ihr Herz für das ganze Leben, aber er war ein Mann, der nicht häufig neben ihr aufgewacht war. Mehr als dreißig Jahre wartete sie schon darauf und wenn sie ihn einmal mehr traf, verschwand er gleich wieder. Ihr Exmann Hanno kannte die Affäre nur zum Teil. Marianne diskutierte darüber nicht. Es gab das normale Leben und dann eben das Besondere. Marianne hatte das normale Leben verlassen und war wieder in das Zentrum von München gezogen. Hanno blieb in der Landvilla. Nun war sie an die Nordsee gereist, während eine Umzugsfirma ihre neue Wohnung einrichtete. Es gab keine gültige Trennung von Hanno, nur eine klare Distanzierung. Marianne blieb unterhalb des Leuchtturms stehen und beobachtete einen alten Mann, der schwankend dahinschritt, über den Weg schlurfte und sich dabei ein Schweißband über den Kopf auf die Stirn zog. Marianne lief hinüber zum Meer und setzte sich in den Sand. Die Brise kühlte ihr heißes Gesicht, während Welle um Welle den Strand erreichte. Marianne hatte morgen Geburtstag und betrachtete das Geschenk in ihren Händen. Der Gedichtband war schmal, aber von ihm und sie dachte, dass Alexander ihr das gewissermaßen als Präsent überreicht hatte. Davon fühlte sie sich ein wenig beklommen. Sie öffnete die Seite mit der Signatur und sah, dass die Unterschrift vor wenigen Tagen gefertigt worden war. Das Datum stimmte fast mit ihrer Ankunft auf der Insel überein. Alexander war am Vortag hier gewesen, an dem sie mit dem Zug in Bremen eingetroffen war. War das ein Zeichen? Immerhin hatte sie ihn seit Jahre nicht mehr gesehen. Nun schrieb sie die Zahl sechs vor ihr Alter und es begann die Zeit, in der das Leben endlich wurde. Statt sich elegant zu kleiden, um sich aus Anlass ihres Geburtstages ein schmackhaftes Menü zu gönnen, suchte Marianne die Buchhandlung auf und erfuhr, dass Alexander in Bremen Bücher signiert hatte. Sie rief dort an und erfuhr, dass er noch in der Stadt war. Sofort kontaktierte sie ihren Vermieter und buchte eine Überfahrt zum Festland. Den Überseekoffer ließ sie zurück. Um den wollte sich ihr Vermieter kümmern und sie schrieb ihm ihre neue Adresse auf. Als sie sich auf den Weg zum Schiff machte, war Marianne der Überzeugung, dass es ihr zu stand Alexander zu treffen, nachdem er sich Jahre nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Es hatte keinen Streit gegeben, er war gegangen und sie fuhr zurück. Am Bahnhof von Wilhelmshaven kaufte sie sich einige Lebensmittel und wartete am Bahnsteig auf den Zug. Sie wird erst in der Nacht zu Hause ankommen und schrieb dazu eine kurze Mitteilung an ihre Freundin Bea, die in der neuen Wohnung die Anlieferung der Spedition überwachte. Ihr nächstes Gespräch mit der Buchhandlung in Bremen blieb eine Enttäuschung, denn Alexander hatte die Stadt verlassen. Wohin seine Reise ging, war unbekannt. Es war möglich, dass Diogenes Obscurus gar nicht Alexander war. Den Verlag brauchte sie bestimmt nicht kontaktieren, denn der würde keine Auskunft geben. Eine Frau hatte in ihrem Leben nicht viele Optionen, sich auf den passenden Partner einzulassen. Einer, der gestern noch passte, ist übermorgen eine einzige Enttäuschung. Die Frage, ob es möglich ist, zwei Männer gleichzeitig zu lieben, hatte sich Marianne nie gestellt. Liebe war ein Begriff, Emotionen waren etwas anderes. Ihre Emotionen zu Hanno blieben stumm und unvergleichlich mit jenen zu Alexander. Ihn kannte sie seit über dreißig Jahren und er hatte ihr nie etwas versprochen. Hanno kam in ihr Leben und er blieb. Er war an der gleichen Universität wie sie und wusste von Alexander. Marianne suchte im Internet nach Diogenes Obscurus und entdeckte, dass er in vier Wochen eine Lesung in Wien hatte. Das würde sie sich nicht entgehen lassen, zumal sie beabsichtigte, für einen Radiosender einen Essay über Klimt zu schreiben. Sie würde in Wien ins Belvedere gehen und Marianne war sicher, dass sie Alexander dort antreffen würde. Nachdem sie ihren Platz im Intercity gefunden hatte, nahm sie eine Jeans, die dunkelblaue Bluse und zog sich in der Zugtoilette um. Dann aß sie am Platz eine Banane und hörte Boccherini. Ihre Sitznachbarn nahm sie nicht zur Kenntnis, weil sie keinen Kontakt suchte. Sie schloss die Augen und spürte, wie die Musik sie innerlich entspannte. Währenddessen wollte sie in dem Gedichtband lesen, tat es aber nicht, weil dafür der perfekte Moment noch nicht gekommen war. Marianne brauchte die Stille in ihrer Umgebung, die es im Zug nicht gab. Nachdem einige Fahrtzeit vergangen war, öffnete sie das Tablet, um ihre Notizen zu Ernst Bloch anzuschauen. Sie las, der Aberglaube, dass die Welt von sich gut wird. Genau das konnte man auch über die Menschen feststellen. Niemand wird ohne sein Zutun ein guter Mensch. Angesicht des Unheils, mit dem die Menschen die Erde ausgebeutet hatten, zweifelte sie grundsätzlich am Willen der Menschen, etwas zu ändern. Als der Zug in den Bahnhof von Bremen einfuhr, beobachtete sie die Reisenden auf dem Bahnsteig. Vermutlich würde sie Alexander nicht erkennen, denn die vergangenen Jahre mussten sein Aussehen verändert haben. Trotzdem blieb sie am Fenster. Marianne rechnete aus, wie alt er sein musste und hielt Ausschau nach Männern an die siebzig. Sie ging davon aus, dass er mit dem Zug reiste, denn das tat er grundsätzlich, wenn er unterwegs war. Daran wird sich nichts geändert haben. Als die Bahn ihre Fahrt fortsetzte, lehnte Marianne sich zurück und beschloss keine Ruhe zu geben, bis sie ihn gefunden hatte. Das Alter war unabänderlich und sie wollte eines Tages nicht von seinem Tod hören, ohne ihm noch einmal begegnet zu sein. Ihre Freundin Bea hielt sie für sonderbar, weil Marianne sich nie auf eine Distanz zu Alexander einlassen wollte. Er ist auch bloß ein Mann, sagte sie. Marianne würde ihn nie aufgeben, das war klar. In diesem Moment sah sie einen Mann vorbeigehen, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Er trug einen breitkrempigen Hut, eine große Brille mit dunklen Gläsern, dazu eine abgewetzte Umhängetasche aus Leder und eine Reisetasche. Seine grauen Haare bedeckten den Hemdkragen und als er sich entfernte, drehte Marianne ihren Kopf nach ihm um. Zu gerne hätte sie ihn sofort angesprochen, aber bei einem Irrtum wäre ihr das mehr als peinlich geworden. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn es Alexander war und sie ihn umarmen würde. Jemand, der sie nicht so gut kannte wie Bea, würde sie für verrückt halten, aber das wäre ihr egal. Das kannte sie auch von Hanno, der sich häufig so geäußert hatte. Er war erfolgreich und verstand nicht, wie sie einem erfolglosen Niemand hinterherlaufen konnte. Jetzt hatte sie sich endlich von ihm getrennt, weil ihr sein Zynismus auf die Nerven ging. Für ihn bestand das Leben aus Geld machen und er kaufte Kunst als Anlagegeschäfte. Marianne wollte wissen, wo sich der Mann mit Hut hingesetzt hatte und stand auf. Sie musste einen Wagon weiter anhalten, weil sie ihn dort sitzen sah. Sofort drehte sie um und nahm wieder ihren Platz ein. Wie oft hatte sie im Internet nach einem Foto von ihm gesucht, aber nie eins gefunden. Er ließ sich nicht fotografieren, das war immer so gewesen. Reisen gehörten zu seinem Leben. Alexander sagte, wer sich nicht mehr bewegt, der bekommt schwere Beine und einen Betonkopf. Jahrelang lebte er in einem Bus, mit dem ihn Reisen quer durch Europa führten, bis er die Bahn für sich entdeckte und sich kutschieren ließ, wie er das nannte. Nachdem ihr Hanno einen Heiratsantrag gemacht hatte, traf sie Alexander im Theater und reiste erstmals mit ihm spontan an die ligurische Küste. Damit hatte sich ihr Leben gründlich geändert und sie wartete, bis Alexander sich wieder bei ihr meldete. Niemand war ihr seitdem wichtiger als er. Es gab im Leben immer nur den einen und einzigen, davon war sie überzeugt. Bea sah das völlig anders. Für sie musste der Mann zu den momentanen Gegebenheiten passen. Marianne griff sich den Gedichtband.

Über dem Spiegel

beleuchtete ein Lichtstrahl der Sonne

ein Gesicht

es blinkt nicht, das Leben nagt an ihm

bevor sich die Sterne verspäten

türmt sich der Tag vor den Türen

vor dem Gelächter küsst der Geist

seine Lippen im Spiegel der Nacht

träge beißt kein Hund

Dieses Gedicht auf einem vergilbten Blatt Papier mit seiner Handschrift würde Marianne auch zwischen den Seiten eines alten Tagebuchs bei sich im Schreibtisch finden. Danach rumorten diese Zeilen so lange in ihrem Kopf, bis sie sich dazu entschied, ihn nun endlich aufzusuchen, um ihm nur diese eine Frage zu stellen: Weshalb hast du mich damals so schnöde verlassen und bist verschwunden? Ich will wissen, warum du mich tatsächlich allein zurückgelassen hast? Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie nur noch mit Bea über Alexander gesprochen. Bea konnte ihre Sucht nach ihm, wie sie das nannte, nicht verstehen. Du kokettierst mit deinem unglücklich sein und ich werde ihn nicht für dich suchen, hatte sie gesagt. Marianne beließ es dabei, weil sie Bea nicht alles von sich und Alexander erzählen wollte. Besonders auch nicht das, was ihr Vater über ihn mitgeteilt hatte. Mit den Worten, ich werde in die Stadt fahren, weil ich meine Freundin Bea wiedersehen will, hatte sie ihren Mann Hanno angelogen. Ich will in meiner Vergangenheit stöbern. Auch das waren ihre Worte, aber auch nicht die volle Wahrheit. Dann stand sie vor dem Wohnhaus und erfuhr, dass Alexander mit unbekanntem Ziel abgereist war.

Marianne lief durch den Zug, aber er saß nicht mehr an seinem Platz, nur der Hut lag noch da. Sofort verließ sie wieder der Mut und sie setzte sich wieder. Sie überlegt, Bea anzurufen, um ihm die Wahrheit zu sagen. Aber was sollte sie ihm sagen? Bea, ich muss mit dir reden. Jeder wusste von Alexander, aber sie hatte nie die ganze Wahrheit erzählt. Es ging um Alexander? Bea würde sie auslachen. War es nicht tatsächlich albern, dass sie diese alte Geschichte nach mehr als dreißig Jahren immer noch so tief berührt? Für sie ist das keineswegs so. Sie wird Bea nicht anrufen. Alexander ging nur sie etwas an. Er blieb der einzige Mann, für den sie sich jemals zutiefst interessiert hatte. Sie legte den Gedichtband neben sich. Sich an ihn und ihre gemeinsame Zeit zu erinnern, fiel ihr leicht.

Sie befand sich im alten Viertel, gleich in der Nähe der Universität. Langsam fuhr die U-Bahn in die Station Universität ein. Marianne betrat den Bahnsteig und bekam Herzklopfen. Sie begann zu schwitzen. Mit unsicheren Schritten suchte sie schnell eine Sitzgelegenheit. Marianne saß da und niemand beachtete sie. Du wirst in unserer Familie die erste Frau mit einem Doktortitel sein. Das hatte Großmutter Luise damals gesagt, und ihr immer einen Umschlag mit viel Geld zugesteckt, wenn sie in den Semesterferien bei ihr vorbeischaute. Sie wollte seinerzeit alles erreichen, fast um jeden Preis. Es war ihr gleichgültig gewesen, ob die Sonne schien oder der Regen gegen die Scheiben prasselte. Frühling, Sommer, Herbst, Winter, das blieb egal, ihr ging es um das Studium und das war ihr zu langsam verlaufen, weil sie nebenbei Geld verdienen musste. Ihr Ehrgeiz hatte sie fast blind werden lassen gegenüber dem, was die anderen Studenten richtig zu leben nannten. Das hatte sie weder akzeptieren können, noch konnte sie es verstehen.

Marianne sieht die Studentin Marianne von damals aus der U-Bahn steigen. Sie trug ihre Haare mit einem Band festgemacht, steckte in einem langen braunen Kleid und hielt die braune Aktentasche von Großvater fest unter dem Arm. Marianne auf dem Weg zu ihrer mündlichen Promotion. Konzentriert lief sie vom Bahnsteig auf die Rolltreppe zu. Die Nacht lang hatte sie gebüffelt und das sah man ihr an. Marianne folgt der Studentin Marianne durch den U-Bahnhof und findet die junge Marianne völlig unattraktiv. Auf den bewegten Stufen der Rolltreppe fuhr sie zum Licht hinauf. An das, was sie immer vor Prüfungen dachte, erinnerte sie wieder. Sie würde im entscheidenden Moment versagen und alles vergessen haben. Sie konnte nichts zu Papier bringen und nie im Leben als erste Frau in der Familie einen Doktortitel erreichen. Oben im Tageslicht angekommen zwinkerte sie und setzte die Sonnenbrille auf. Schelling Ecke Ludwigstraße. Es war heiß. Der Autoverkehr war laut und stinkend. Und da stand er, Alexander. Marianne sieht sein Lächeln wieder. Sie sieht sein Lächeln immer noch, nach all den Jahren. Nein, dachte die Studentin Marianne, du darfst nicht hier sein, du lenkst mich noch mehr ab. Doch er kam einfach auf sie zu und überreichte ihr einen winzig kleinen Bären aus Stoff. Der Bär war nicht größer als ihre Handfläche und ganz weich.

Bärchen wird die kleine Tampopo beschützen, damit ihr in der Prüfung nichts Böses geschieht.

Alexander! Oh Gott! Er hatte sie schmatzend auf den Mund geküsst und verschwand. Marianne war verdattert stehen geblieben und hatte in ihre Hand geschaut. Bärchen lächelte. Marianne öffnet ihre Hand. Nun war kein Bär mehr da. Doch sie hatte Alexander sehr nah gefühlt, seinen Atem gespürt, ganz wie damals. Wie konnte sie vergessen, dass er sie ‚seine Tampopo‘, japanisch für Pusteblume, genannt hatte. Marianne war verwirrt, wusste sich nicht zu sortieren. Sie blieb an der Straßenecke stehen. Wenn das so weiterging, werde ich verrückt, dachte sie. Während der Prüfung hielt die Studentin Marianne Bärchen fest in der Faust und bestand. Danach saß sie an einem Tisch, sah das Licht, die Sonne, hörte die Vögel, roch den Tag, und dachte an Alexander. So etwas war ihr noch nie passiert. Auch nicht dieser sanfte Schmerz in ihrer Brust, wenn sie seine langen Haare im Wind wehen sah und sein kleines Lächeln sie küsste. Sie saß da und drückte Bärchen fest in ihrer linken Faust. Es war jene Prüfung, nach der Professor Dr. Schmied-Lichtenberg sie gefragt hatte, ob sie sich eine Universitätslaufbahn vorstellen könnte. Marianne stand in ihren Erinnerungen noch immer an der Schellingstraße und betrachtet die Gebäude der Universität. Damals wanderte sie zum Brunnen hinüber und ahnte, dass sie gleich zu heulen anfangen würde. Es war alles ganz furchtbar albern, aber sie musste weinen. Wie kann man nur so kitschig sein, ich habe doch gar kein Faible für Rührseligkeiten, hatte sie gedacht. Sie wollte sich etwas kaufen. Ein Paar Schuhe. Die, die sie trug, schnürten ihr das Blut in den Füßen ab. Sie könnte auch zum Friseur gehen. Das half alles nichts, denn er war nicht da.

Die ehemalige Studentin Marianne lag Wochen später auf der Wiese im Ungererbad und döste vor sich hin. Sie las Thomas Mann. Der Professor wollte, dass sie über Rilke arbeitete. Sie konnte sich nicht entscheiden. Plötzlich war ihre Tasche verschwunden. Dabei lag doch so gut wie nichts Wertvolles darin. Zwei Seiten Notizen, eine Flasche Wasser, ein Handtuch. Bärchen auch. Mit der Tasche verschwand Bärchen auf nimmer wiedersehen. Vielleicht war das ein Signal? Wenn Bärchen weg war, wird auch Alexander verschwinden. Ihr liefen die Tränen über das Gesicht. Immer hatte sie Angst, er würde sich eine andere anlachen, eine von den Schönen, die ihm ganz offen lockende Augen machten. Und sie? Sie blieb im Schatten und traute sich nichts zu. Warum ich? Das war ihre ständige Frage an ihn. Da nutzte ihr auch der Dr. Phil. nichts. Es war das erste Mal, dass Alex verschwunden war. War ihre Erinnerung korrekt? Sie kann sich nur noch daran erinnern, dass sie Bärchen verloren hatte. Alles andere waren entsetzlich turbulente Gespenster in ihrem Kopf. Alexander! Marianne dachte nur an ihn. Marianne schaute nach draußen auf das vorbeifliegende Land. Dann drehte sie sich um und beobachtete, ob sie den Hut wieder auf seinem Kopf sah. Sie sah ihn nicht und vermutete, dass er im Speisewagen saß. Alexander. Sie stützte sich ab und wiederholt die Worte, er ist es nicht wirklich, er ist es nicht wirklich. Er ist nicht da. Er ist da. Er ist nicht da. Er ist da. Sie hätte diese Reise in ihre Vergangenheit nie antreten dürfen. Marianne stand auf und kauft sich im Zugbistro Mineralwasser. Sie sah die grauen Haare im Zugrestaurant. An ihrem Platz tupft sie Wasser auf zwei Fingerkuppen und wischte mit ihnen leicht über die Stirn. Die Hitze des Tages hindert sie kritisch zu denken. Mit skeptischen Augen betrachtete sie sich im Handspiegel. Schön war ich nie, dachte Marianne. Ihr Gesicht fand sie noch in Ordnung. Dann führte sie ihre Erinnerung wieder zurück in ihre kleine Wohnung.

Eines Tages fuhr sie mit der U-Bahn zu ihrem kleinen Apartment zurück. Marianne überquert die Straße und dachte, er stünde vor dem Haus. Marianne duschte und wollte sich danach auf dem Bett ausruhen, bevor sie sich mit Bea verabredete. Jemand klopfte an die Tür. Alexander.

Tampopo, ich habe noch etwas gutzumachen. Alexander hatte ihr ein Gedicht gereicht und als er gleich wieder gehen wollte, hielt sie ihn am Arm fest. Ich gebe zu bedenken, dass der Stoff reißen könnte, wenn du nicht aufhörst daran zu zerren, hatte Alexander gesagt. Als sie in der Nacht neben Alexander aufwachte, hatte er sie ausgefragt, denn sie hatte einen schrecklichen Traum geträumt, aus dem sie völlig verschwitzt zu sich gekommen war. Als Studentin bekam Marianne regelmäßig Albträume. Alexander nahm sie in seine Arme und lächelte. Du ohne Albträume? Erstaunlich unvorstellbar! Du bist ein furchtsames Wesen, Tampopo, mit einem erfreulich klugen Kopf. Freud hätte dich kostenlos behandelt. Alexander pflegte seinen leicht ironischen Spott. Ich bin so schrecklich konventionell, hatte sie herausgebracht.

Der Zug fuhr Richtung Hannover und Marianne behielt seine Stimme im Ohr. Sie lag nackt auf dem Bett und dachte an Alexanders Hände. Marianne legte ihr Nachthemd über ihre Nacktheit und sah ihren Mann. Sie hatte ihr Verhalten nie als Ehebruch gesehen. An ihren Exmann will sie nicht denken. Irgendwann musste sie endlich ihr Recht auf ein eigenes Leben durchsetzen, denn so hatte sie immer schon gedacht. Wenn sie nur wüsste, was das war, ihr eigenes Leben. Mit Alexander begann die Zeit, in der sie spürte, dass sie durch ihn bewusster lebte. So selbstverständlich wie er durch die Welt marschierte, so lässig würde sie nie sein können, aber sie war schon selbstbewusster, als es das kleine Provinzmädchen zum Studienbeginn war. Sie trug Jeans und eine seiner Lederjacken. Die Röcke und Kleider dienten nur noch der Tarnung zu Hause, bei den Eltern. Nur Großmutter Luise konnte sie nichts vormachen. (Sage ihm unbekannterweise, wenn er meiner Lieblingsenkelin weh tut, dann kann er etwas erleben.) Damals war sie noch keine dreißig. Bei Ernst Bloch hatte sie über die Notwendigkeit gelesen, sein individuelles Schicksal zu vollbringen. Aber um sein eigenes Schicksal zu öffnen, muss man seinen Weg kennen. In den vielen Jahren ihrer Ehe hatte Marianne immer wieder in Telefonverzeichnissen nach seinem Namen gesucht und ihn nie entdeckt. Bevor sie nach München umzog, rief sie Bea an. Bea suchte im Internet nach ihm und wurde mühelos fündig.

Marianne fuhr mit der S-Bahn und stand unschlüssig vor dem Haus. Sie wusste nicht einmal, ob er liiert war. Davon ging sie nicht aus. Diese bürgerliche Seite fehlte ihm. Doch sie fürchtete sich davor, dass er sich nicht an sie erinnerte. Oder er könnte sagen, wir hatten unsere Zeit, sie ist vorbei. Also war sie wieder in die S-Bahn gestiegen und zurück in die Stadt gefahren. Einige Male hatte Marianne gehofft, er würde ihre Artikel in der Zeitung lesen und sie kontaktieren wollen, aber das geschah nie. Marianne lag wieder einmal auf dem Bett und wollte sich die Wahrheit sagen. Ich bin in diese Stadt gezogen, weil ich Alexander sehen will. Statt ihn zu finden, machte sie Karriere. Nach ihrem ersten Buch musste Marianne eine Denkpause einlegen und sie war nach Florenz gereist. Auch dort träumte sie den Albtraum, der sie nackt durch die Straßen laufen ließ. Ihr immer wiederkehrender Traum. Die Psychiaterin sprach von einer psychischen Notlage und Marianne sprach über alles Mögliche, nur nie über Alexander. Am dritten Tag ihres Aufenthaltes lief sie zum Boboli-Garten und setzte sich auf eine Steinbank, um den Blick auf den Brunnen zu genießen. Nirgendwo hatte sie bisher einen Park mit so vielen Skulpturen gesehen. Marianne stieg weiter hinauf, setzte sich auf eine Stufe und schaute hinunter zum Palazzo-Pitti. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sich in Florenz leben lassen würde. Große Kunst zeigt das Homogene und Wohlgefällige, schrieb Ernst Bloch. Aber die Kunst blieb auch immer fragmentarisch. Man muss sie im eigenen Kopf formen. Marianne war schlendernd bis zur Grotta Buontalentis gekommen, wo sie sich in ihre Wange kneifen musste. Sie hatte nicht fantasiert.

Der Mann im alten Anzug lugte fragend über die Brillengläser. Warum starren sie mich so an? Geht es ihnen nicht gut?

Marianne zuckte zusammen und schaute zur Seite.

Es war an einem Morgen im Juli, die Luft trug Fantasien ins Zimmer, ich wollte durch das offene Fenster fliehen. Der kühlende Wind schlief in den Bäumen. Ein Falter verirrte sich, zwischen den Gräsern fehlte das Leben. Still stehe ich und lasse mich füsilieren von meinen Wünschen, die sich nie erfüllen werden. Marianne versuchte zu lächeln.

Der Herr schaut interessiert. Was ist das? Ein Gedicht?

Eines Tages fand ich einen Zettel mit diesen Zeilen auf meinem Tisch und jetzt, in diesem Moment, fielen sie mir wieder ein. Alexander hatte das Gedicht für mich geschrieben. Deshalb starre ich. Ich lernte es auswendig.

Alexander gab sich zu erkennen. Er stand am Eingang, drehte sich langsam zu ihr und nahm die Sonnenbrille ab. Er setzte eine Brille auf und umarmte sie. Marianne erkannte an den starken Gläsern, dass er schlecht sehen konnte. Sie wartete darauf, dass er sie Tampopo nennen würde, aber das tat er nicht. Vielleicht passte der Name auch nicht zu diesem Moment. Tampopo blühte weiter, auch wenn er niedergetreten wird. Das war sie nie. Löwenzahn oder Pusteblume? Wenige Minuten später war Alexander wieder verschwunden, aber sie hielt einen Zettel mit einer Adresse in der Hand, denn er hatte sie zum Abendessen eingeladen. Marianne stand überpünktlich vor dem Haus gleich beim Museum Galileo und auch der Name stimmte mit dem auf dem Zettel überein, auch wenn es nicht seiner war. Sie lief einige Male auf und ab, bis sie den Mut fand zu klingeln. Alexander trat auf die Straße. Er trug einen hellen Anzug und hielt einen Stock in der Hand, auf den er sich stütze. Die Wohnung gehörte einer wohlhabenden Familie, die ihn dort logieren ließ. Er sprach über Florenz. Von sich erzählte er nichts und nach ihrem Leben fragte er auch nicht. Alexander führte sie in ein kleines Restaurant, wo man ihn kannte. Er bestellte ein Menü für zwei Personen und Marianne wunderte sich, dass sie keinerlei Nervosität spürte. Es war, als wären sie seit ewigen Zeiten gemeinsam unterwegs und daher nickte sie, als er sie bat, mit ihr ans Meer zu reisen. Seine Zeit in Florenz war abgelaufen und ein Freund besaß bei Marina di Pisa eine kleine Pension. Marianne fragte nicht, ob er noch immer keine eigene Adresse besaß. Eine solche Frage wäre ihm gegenüber völlig unangemessen. Nach dem Essen konnte sie sagen, dass sie sich lange nicht mehr so wohlgefühlt hatte. Wie selbstverständlich nahm Alexander sie mit in die Wohnung und dort bestaunte Marianne die Einrichtung. Als sie sagte, sie hätte kein Nachthemd dabei lachte er laut.

Der Zug rüttelte sie durch. Marianne hatte sehr lange nicht an Florenz gedacht. Sie erhob sich etwas und blickte über ihre Schulter. Alexander saß ruhig dort und las in einem Buch. Der Zug wurde langsamer. Sie rechnete nach, wie alt sie in Florenz gewesen waren. Marianne bereute es, dass sie nicht mit ihm zur Pension ans Meer gefahren war. Im Leben ließ sich nichts reproduzieren. Alexander hatte gemeint, man muss aufpassen, dass sich an der nächsten Weggabelung kein falsches Abbiegen ergibt. Aber anders als er, dachte sie an ihre Verpflichtungen und auch daran, dass er wieder verschwinden wird. Als sie nach der ersten Nacht in Florenz aufwachte, war er auch nicht mehr anwesend gewesen. Nur sein Koffer stand noch da. Marianne hatte sich an einen Sekretär neben ein Fenster gesetzt und sich Notizen über die Medici gemacht. Sie erinnerte sich daran, wie sehr sie diese Momente genossen hatte. Völlig unabhängig zu arbeiten, das war nach Florenz ihr Ziel geworden. Allerdings hatte sie sich niemals vorstellen können, so wie er von einer Bleibe zur nächsten zu vagabundieren. Sie brauchte ihre eigenen Wände und um sich ihre Möbel.

Der Zug rollte langsam in den Bahnhof von Hannover ein und Marianne erhob sich. Alexander blieb, wo er saß und las. Sie erinnerte sich, dass sie ihn in der Wohnung in Florenz in der gleichen Haltung lesend gesehen hatte. Er hatte sich nicht daran gestört, dass sie sich die große Wohnung angeschaut hatte und später zugab, dass sie auf die Besitzer etwas neidisch gewesen war. Vor allem die große Bibliothek mit dem Louis Philippe Schreibtisch aus Nussbaum gefielen ihr. Florenz war nach drei Tagen mit Alexander beendet und als er verschwunden war, konnte sie auch nicht mehr in der Stadt bleiben. Sie wusste, wo er sich befand, aber sie konnte ihm nicht nachreisen, ohne sich aus ihrem alten Leben zu verabschieden. Gab sie ihm die Schuld an ihrem Leben? Nein, nicht so direkt, aber er hätte nicht ständig verschwinden dürfen. Sie konnte nur ahnen, wie Hanno all die Jahre ihrer Ehe damit gelebt hatte, dass er lediglich ihr Kompromisskandidat gewesen war, um auch ihre Eltern auf Distanz zu halten. Sie hatte sich geweigert Medizin zu studieren und Hanno Stifter passte als Arzt in das Konzept ihres Vaters, der die Familienklinik ausbauen wollte. Alexander hatte sich darüber amüsiert, dass sie ausgerechnet Hanno Stifter geheiratet hatte. In seiner Welt gab es keine solche Kompromisse. Für ihre Eltern gab es keinen Grund mehr, ihr böse zu sein, und sie akzeptierten sie und ihr falsches Studium. Kurz nachdem sie mit Alexander im Bett gewesen war, fuhr er mit seinem Motorrad auf die Insel Man. Von dort brachte Alexander eine von diesen harten englischen Lederjacken mit. Schwer und schwarz wie die Sünde. Die hing dann an ihrer Zimmertür und schaute sie an. Marianne traute sich zunächst nicht, sie anzuziehen. In der Uni sowieso nicht und in der Stadt auch nicht. Nur nachts, wenn sie mit Alexander um die Häuser zog, wagte sie es. Alexander schwieg dazu. Er sagte nie etwas über ihren Kleidungsstil. Zu der Zeit, gleich am Anfang ihres Studiums, wollte sie ihn für sich haben. Es dauerte nicht lange bis sie begriff, dass Menschen niemandes Eigentum sein können. Das traf besonders auf Alexander zu. Der Mensch bleibt ohne sein Zutun nur ein Fragment, hatte er gesagt. Schau mich nicht an, als wäre ich ein Kuriosum, das hatte er auch gesagt. In diesem Moment wagte es Marianne nicht, sich umzudrehen und ihn anzuschauen. Dann bremsten sie ihre Rückblicke aus und es gingen ihr Gedanken durch den Kopf, als müsste sie diesen Teil ihres Lebens neu entdecken. Als Alexander an einem Morgen nicht mehr da war, zog sich Marianne an, ging hinaus und lief ziellos die Straßen entlang. In ihrem späteren Leben gab es dann die Flucht vor ihren Erinnerungen. Was tue ich jetzt? Will ich auf ihn warten und sagen, Alexander, ich bin das? Was erwartet ich für eine Reaktion? Wie alt bist du Marianne, vierzehn? Gefühle für ihn, diesen untreuen Kerl, nach mehr als dreißig Jahren. Jetzt wäre sie gerne unter einer Dusche gestanden und hätte sich die Gedanken aus dem Gehirn gewaschen. Es war kein Genuss inmitten ihrer Erinnerungen und es ging ihr nicht gut damit. Als sie einmal, Jahre später, unter unerklärlichen Depressionen litt, waren ihr seine Worte aus jener Zeit eingefallen. Sie hatte sie aufgeschrieben. Es ist wahr, die Welt ist gemein zu der kleinen Tampopo, sodass sie sich keine eigene Welt schaffen kann. Natürlich stimmte das nicht. Sie hatte sich längst ihre Welt geschaffen. Ihr Mann, der große Arzt und Ignorant Dr. Stifter, bemerkte nach der Depression eines Tages nur so am Rande, sind deine Spinnereien endlich vorüber. Eines Tages wird sie im Strudel ihres eigenen Lebens einfach verschwinden und die strahlende Sonne lachte sie aus. Nein, das wird sie nicht. Gerade erst will sie ein neues Leben beginnen. Alexander. Und wenn er es doch nicht war, dieser Mann im Zug? Du spinnst doch, sagte sie sich. Einmal war sie nach einem langen Spaziergang beim alten Friedhof in München angekommen. Ein eleganter Herr im hellen Sommeranzug sprach sie an.

Sie schwanken. Alles in Ordnung mit ihnen?

Marianne zuckte zusammen und hatte geantwortet.

Es war an einem Morgen im Juli, die Luft trug Fantasien ins Zimmer, ich wollte durch das offene Fenster fliehen. Der kühlende Wind schlief in den Bäumen. Ein Falter verirrte sich, zwischen den Gräsern fehlte das Leben. Still stehe ich und lasse mich füsilieren von meinen Wünschen, die sich nie erfüllen werden. Marianne zitierte ein Gedicht und versuchte zu lächeln. Eines Tages fand ich einen Zettel mit diesen Zeilen und jetzt, in diesem Moment, war das wieder präsent. Sie sprach nicht weiter und der Mann winkte ab.

Poesie. Davon verstehe ich nichts. Als Jurist trug ich dunkle Anzüge und das ständig. Das war meine Welt. Nun bin ich alt und egozentrisch. Der Herr trug zu seinem weißen Leinenanzug weiße Schuhe und einen weißen Hut. Auch sein gepflegter Schnurrbart war weiß.

Also kann ich ihnen nicht helfen. Wie schade. Er lachte im Weitergehen. Ich bin achtzig. Da würde mich der Blick einer jungen Lady schmücken. Er stellte sich als Herr von Tretsch vor.

Als er sich entfernt hatte, schritt Marianne zu der Bank, auf der ein Mann lag und schlief. Es war nicht Alexander, aber sie hatte häufig befürchtet, ihn einmal so abgerissen liegen zu sehen. Marianne zog einen Geldschein aus der Tasche und schob ihn unter sein Knie. Ihre Augen flohen, weil sie es nicht mehr ertrug. Schnell zog sie ein Taschentuch aus der Handtasche und schnäuzte sich. Wenn Alexander wieder in ihr Leben kam, sollte sie neben ihm sitzen. Aber würde er sie erkennen? Schnell war sie vor ein Haus gekommen und schaute auf den alten Mann, der sie beobachtet hatte. Marianne schaute ihn an. Der weiße Mann war stehen geblieben.

Glauben Sie, Sie sind die Einzige, die ihrer schönsten Zeit im Leben nachweint? Wenn er die Zeilen für Sie schrieb, muss er Sie geliebt haben, Gnädigste. Warum konnte es geschehen, dass bei ihnen nur noch die Sehnsucht blieb? Das sagte der alte Mann und schlurft davon.

Weil die Welt schielt, rief Marianne ihm nach und sie fühlt sich wie im ersten Semester.

Damals wartete sie in der Universität vor der Anmeldung in einer Menschenschlange und ließ sich ständig weiter nach hinten abdrängen. Sie traute sich nicht, sich zu wehren. Alexander hatte sich neben sie gestellt. In der Universität stand er an diesem Tag neben ihr und trug sie quasi nach vorne. Dass er mit ihrem Professor befreundet war, hatte sie erst später erfahren. Tatsächlich war es so, dass sie sich an ihre Zeit mit Alexander so klar erinnern konnte, wie sonst an nichts in ihrem Leben. Mit der Zeit hatte sie sich neben ihm emanzipiert und konnte Alexander Contra geben. Das störte ihn nicht. Sie wollte immer, dass es eine gemeinsame Zukunft für sie beide gab, aber das war ihr nicht vergönnt. Der Professor hatte sie einmal nach einer Vorlesung zu sich gerufen und sie nach Alexander gefragt. Er gehörte auch zu jenen, die nichts von ihm hörten. Nach ihrer Episode mit Alexander bei der Anmeldung kam es erst Wochen später zu einer weiteren Begegnung. Sie wollte in einem Antiquariat ein bestelltes Buch abholen, als sie ihn hinter einem Regal entdeckte.

Wir kennen uns, hatte Marianne geflüstert.

Alexander erinnerte sich nicht und sie rückte immer weiter von ihm ab, bis es an einem Wandregal kein Entkommen mehr gab. Er war unrasiert, die langen Haare hingen kreuz und quer über den Hemdkragen, dazu trug er eine verschlissene Lederjacke und eine braune Lederhose mit beschlagenem Gürtel, und diese unmöglichen Lederstiefel. Das alles war für sie peinlich und zum Fürchten gewesen. In der Tanzschule zu Hause trugen die jungen Männer Anzüge und waren höflich.

Alexander reagierte lass uns ins Kino gehen.

In welchen Film, hatte sie gefragt, obwohl sie doch eigentlich nein sagen wollte, weil er sie nicht fragte, ob sie der Film überhaupt interessierte. Sie dachte nein und sagte ja. Marianne hatte beschlossen, dieses erste Rendezvous mit Alexander sausen zu lassen. Er wird dich versetzen, sagte sie zu sich. Vor dem Spiegel im Badezimmer hätte sie sich am liebsten angespuckt. Du bist hässlich, hässlich, hässlich. Alexander wartete vor dem Kino auf sie. So hatte es angefangen. Marianne hatte den Titel des Films von Ingmar Bergmann vergessen. Danach hatte er sie nie wieder gefragt, ob sie mit ihm einen Film ansehen wollte.

Sie waren in Kunstausstellungen gewesen und zu Treffen junger Künstler. Aus Geldmangel hatte es keine teuren Besuche der Theater oder von Konzerten gegeben.

Das machte ihr nichts aus. Marianne wollte nur nicht verlassen werden. Im Gegensatz zu Alexander wollte sie an ihre Zukunft denken und daher konzentrierte sie sich auf ihr Studium. Ihre Treffen wurden weniger und eines Tages hörten sie ganz auf. Marianne fragte ihre Freundin Bea nach ihm, weil Bea in der Szene unterwegs war. Ihre Freundin konnte nichts über Alexander erfahren. Es hieß, er wäre auf Tour. Eine Woche vor dem Beginn des Wintersemesters entdeckte sie ihn vor dem Schaufenster eines Buchladens. Marianne stellte sich ihm in den Weg, sagte aber nichts.

Alexander hatte sie angeschaut.

Ich erinnere mich. Du bist die Tochter des Leichenfledderers.

Mein Vater ist Chirurg, hatte sie geantwortet.

Lass uns ins Kino gehen. Alexander war losgelaufen und sie eilte neben ihm her. Rom, offene Stadt, so hieß der Film. Damit nicht genug. Er fuhr mit ihr in einem Taxi zum nächsten Kino, um den Beginn des Films nicht zu verpassen. Das war der Film die untreue Frau von Chabrol. Im Café hatte er ihr nach dem Gespräch über den Film gesagt, du hast ein Kameraauge, Tampopo. Die Nacht verbrachte er bei ihr und am Morgen war er wieder verschollen. Chabrol war schuld, dass sie ihn noch mehr begehrte. Er ging dauernd mit anderen Mädchen aus, auch mit Bea. Mit den Weibern läuft nichts, hatte Bea gesagt. Marianne half das nicht, sie war eifersüchtig. Aus Frust betrank sie sich. Bea legte eine Decke über sie, weil sie auf der Couch liegend zitterte und ging. Marianne fühlte sich elend und blöd, weil sie genau das nicht verstehen konnte, was sein Leben ausmachte. Alexander sollte sie begehren, so wie sie ihn begehrte. Ach, Alexander.

Marianne streckte sich und massierte ihre Waden, während der Zug dahin raste. Den Film zurückspulen und noch einmal von vorne beginnen. Die meisten Menschen wollen nach bestimmten Mustern leben, hatte Alexander gesagt. Das traf auf sie auch zu. Eine gewisse Ordnung gab ihr Sicherheit. Dem Satten ist nichts gleichgültiger als ein Stück Brot, hatte sie sich von Ernst Bloch notiert. Dem stimmte sie zu, konnte sich aber ein Leben, wie es Alexander führte, nicht vorstellen. Die Welt hat mehr anzubieten, als einen acht Stundentag. Das war sein Credo und danach wollte er leben. Ihre Vorstellung von einer Familie mit Kindern lehnte er rigoros ab. Das Leben schrieb seine eigenen Geschichten. Ihr Studium hielt sie fest und es gab Tage, an denen sie nicht an Alexander dachte. Mit Bea sprach sie auch nicht über ihn. Marianne drehte sich um und schaute. Er saß im Zug an seinem Platz und der Hut war ihm über die Stirn gerutscht. Sie sah eine Hand von ihm und zwischen den Fingern das Buch. Zu gerne wäre sie durch die Zugabteile gelaufen und hätte nachgeschaut, was er las, aber das wagte sie nicht. Seine Privatheit zu stören, wäre ein Sakrileg. Alexander wollte nie eines der vorgegebenen Muster nachahmen und den vorgegebenen Normen entsprechen. Deshalb hatte er auch nie eine Wohnung. Er war erst am Anfang, sich selbst zu erschaffen, sagte er stets, wenn man darauf zu sprechen kam. Die propagierten Normen schaffen nur eine vermeintliche Sicherheit, die es aber in keinem Leben gab. Marianne hatte das erlebt, es früher aber nicht wahrhaben wollen, sonst hätte es Hanno in ihrem Leben nicht gegeben.

Zurück in ihrer Geschichte fragte sie sich, wann war sie wo auf welcher Straße vor welchem Haus? Es geschah, als sie vor Hanno in ihre ehemalige Universitätsstadt geflohen war. Er kannte Alexander und so wurde das immer wieder ein Streitthema. Wenn du an ihn denkst, dann rutscht dir der Rock auf die Füße. Nach diesen Worten hatte sie ihre Reisetasche gepackt. Ich bin in diese Stadt gekommen, weil ich Alexander etwas fragen muss, das war ihr Gedanke gewesen. Sie wohnte in einem Hotel bei der Universität und sie kannte die Straßen noch. Endlich konnte sie sich von dem Blick auf das Haus lösen und lief die Augustenstraße entlang. Marianne lief bis zur Schellingstraße und suchte ihr altes Café. Sie lief und lief und fand es nicht mehr. Zurück im Hotel, sie hatte geduscht, lief ihr wieder der Schweiß über den Rücken. Nicht wegen der Hitze, sondern weil sie am falschen Ort gesucht hatte. Das gesuchte Café befand sich im Stadtteil Haidhausen am Johannisplatz. Aus einem Impuls heraus rief sie ihren ehemaligen Professor Schmied-Lichtenberg an und tatsächlich wusste er, dass Alexander bei einem Freund in der Steinstraße untergekommen war. Das war zum Johannisplatz keine Entfernung. Als sie dort ankam, blickte sie in das Schaufenster. Sie entdeckte Alexander nicht. Wenn er aß, dann am späten Nachmittag oder um Mitternacht. Das war also seine Zeit. Alexander saß dort außerhalb auf dem letzten Stuhl, trank Kaffee und aß ein Wurstbrot, während er in einem Reclamband las.

Kannst du mal eben zahlen. Alexander schaute sie an.

Na klar, sie war schließlich reiche Tochter von Beruf. Als sie nach ihrem Geld griff, lachte er.

Ich weiß nicht, wie es in deiner herrschaftlichen Villa ist, aber in dieser Stadt sind Stühle dazu da, um sich daraufzusetzen. Alexander hatte sich nicht geändert, auch wenn das auf sein alterndes Gesicht nicht zutraf.

Sie hätte ihm für diese Worte gerne kontra gegeben. Doch dann hockte sie brav neben ihm und er bestellte ihr einen Milchkaffee, weil sie kein Wort herausbrachte. Sie konnte es nicht fassen, dass er so tat, als hätten sie sich erst gestern getroffen. Eine Stunde später saß Alexander am Steuer seines Motorrades und trällerte ein Lied vor sich hin und Marianne saß hinter ihm auf dem Sozius. In einem Dorf bei Freising bog Alexander in einen Hof ein, stieg ab und ging in das Haus, Mariannes Hand fest umklammernd.

Da ist meine Oma. Oma, das ist Marianne.

Alexander stützte die alte Frau. Marianne sah eine graue alte Frau in einem bunten Kittel, mit Gummistiefeln an den Füßen. Oma hatte gar nicht weiter auf sie reagiert. Oma ging es nur um ihren Alexander. Dann ging es ab in den Garten, Früchte ernten, während Alexander den ganzen Tag an seinem Motorrad bastelte. Oma wollte das gehackte Holz für den Winter aufgestapelt sehen. Gemeinsam schichteten sie es an den Hausmauern hoch. Unerwartet richtete die Oma den Blick auf Marianne, denn sie erinnerte sich an die Studentin, die Alexander früher einmal mitgebracht hatte. Antworte, wenn ich mit dir rede, sagte die Oma. Alexander lächelte nur. Es ging um sein unvollständiges Leben. Die Oma war damit nicht einverstanden, deshalb schaute sie Marianne an. Die war froh, dass sie keinen Ehering trug. Damals hatten sie auch in der Küche gesessen, in der sich absolut nichts verändert hatte. Sie wollte sofort unsichtbar sein in ihrer Jeans, der schwarzen Lederjacke und den schwarzen Halbstiefeln, weil sie so aussehend keine Frau für Omas Alexander war. Gemeinsam hatten sie im Garten gesessen, Zitronentee getrunken und Kuchen gegessen. Alexander war neben ihr und sie glaubte, im Gesicht der alten Frau so etwas wie Zustimmung zu entdecken. Marianne hatte auf die verblühenden Blumen und Bäume geschaut, auf die breiten Beete hinter dem Haus und dabei zählte sie die Räume des Hauses durch. Anschließend sah sie ihre und Alexanders Kinder über die Wiese tollen.

Meine kleine Tampopo wurde von einer Sternschnuppe geboren, zur Erde gebracht und der Erzengel Gabriel erschien eines Tages an meiner Tür und sagte, Alexander, du wirst in Zukunft auf die kleine Tampopo aufpassen, denn die Welt ist böse und zu gemein für Tampopo, sagte Alexander zur Oma. Damals hatte sie sich veralbert gefühlt. Da saßen sie in der Küche beim Essen und sie war zornig, weil sie sich bloßgestellt fühlte. Sie begriff seine Liebeserklärung erst, als sie Bella davon erzählt hatte. Jahre später zweifelte sie daran und sie fragte sich, war es denn eine? Marianne hatte das auch zusammen mit der Großmutter nicht verstanden und fühlte sich in diesem Punkt eins mit ihr.

Ich habe meinen Mann mit so vielen Worten überschüttet, dass er eines Tages unter dieser Last in die Grube fiel, hatte die Oma gemeint.

Lachend hatte Alexander Oma auf die Stirn geküsst. Marianne wusste von da an, dass Alexander nur noch seine Großmutter hatte. Von seinen Eltern sprach er nie. Mehr Informationen gab es nicht und zu Fragen hatte sie sich nicht getraut. Dann saß in ihrem Studentenzimmer über den Büchern und dachte an die alte Frau.

Alexander sah sie an und reichte ihr eine Adresse, wohin er sie für den Abend einlud. Dann stand er auf und ging. Als Marianne zahlen wollte, war das bereits geregelt. Marianne lief weiter und sie ging und sah dabei ihr Spiegelbild in den Schaufenstern. Vor einem Antiquariat bleibt sie stehen. Warum hatte sie sich nur die Haare abgeschnitten? Sie schaute, wie immer, langweilig aus. Eine richtige Provinzkuh. In ein paar Wochen und wird sie endgültig alt sein. Geburtstage sind überflüssig. Im Fenster hängt ein reizvoller Druck eines italienischen Hafens. Sie betrat das Antiquariat und wurde von niemandem belästigt. An den Wänden stehen schöne Vitrinen voller alter Bücher. Ein solches Geschäft vermisste sie in ihrem Ort. Marianne erinnerte sich sofort, als sie eine Ausgabe "Grashalme" von Walt Whitman sah, weil Alexander Whitman gelesen hatte. Daran erinnerte sie sich deshalb so genau, weil sie Whitman nicht gekannt hatte. Sie, die alles las und sich mit jeder Literatur beschäftigte, kannte Walt Whitman nicht. Alexander hatte ihr den Reclamband nie geliehen, weil er grundsätzlich keine Bücher verlieh.

Ich lese nicht wirklich. Ich halte das Buch hoch, damit mir die Wörter ins Gehirn fallen. Es ist kein Lesen, es ist ein Empfinden. Das hatte Alexander gesagt und sie hatte versucht, ihn zu verstehen.

Sie entschloss sich, das Buch zu kaufen und wie aus dem Nichts kommend stand die Buchhändlerin lächelnd an der Kasse, weil Marianne das Buch in der Hand hielt. Ihr war, als stünde Alexander neben ihr. Zurück auf der Straße spürte sie in der Hitze, wie angenehm temperiert das Antiquariat gewesen war. Was war nur los mit ihr? Sie fand keine Antwort. Doch, dachte Marianne, er war die Antwort.

Es blieb die Frage, ob das, was sie erinnerte, wirklich so geschehen war. Oder war es wahrscheinlich, dass sie sich vieles nur wünschte? Die Szenen ihrer Begegnungen mit Alexander entsprachen ihren Gefühlen für ihn, aber ob sie wirklich stattfanden, konnte sie anzweifeln, aber das wollte sie nicht. Alexander könnte sie bestätigen oder auch nicht, wenn sie mit ihm reden könnte. Andererseits hatte sie in der Vergangenheit ihre gemeinsame Zeit so häufig Revue passieren lassen, dass sie sicher war, sich nicht in Fantasmen zu verirren. Da gab es einen Abend ganz am Anfang ihrer Beziehung, als Alexander mit einem Buch auf ihrem Bett lag und plötzlich aufsprang, sie einfach unterhakte und kurz vor Feierabend durch einen Supermarkt schleppte, sie danach auf einen Küchenhocker setzte und zu kochen begann. Das war ihr fremd, unbekannt, rätselhaft. Starr hatte sie ihm zugeschaut. Misstrauisch blickte sie auf das, was er tat und befürchtete, dass sie das, was er da kochte, nicht hinunterwürgen konnte. Nudeln, Tomaten, Gewürze, Olivenöl, kleine Speckwürfel, Knoblauch, verschwanden in der Pfanne. Und er öffnete eine Flasche Wein. Er kochte nur für sie, wirklich und wahrhaftig. Warum tat er das? Was wollte er dafür haben? Würde er einen Preis verlangen und sie berühren, wollte sie weglaufen. Diese bestimmte Sache würde auf keinen Fall geschehen. Jedenfalls nicht nach dem Essen. Morgen auch noch nicht. Alexander goss das Wasser mit den Spaghetti ab, füllte die Teller und stellte sie auf den Küchentisch.

Auch Tampopo muss manchmal etwas zu sich nehmen. Das hatte er gesagt.

Anschließend lief er auf die Straße und sie rannte neben ihm her wie ein kleiner Hund. Er betrat ein Haus und unerwartet saß sie mit ihm und einem jungen Priester an einem Tisch. Er redete und sie hörte ihm zu. Sie sprachen über die massiven Wohnungskündigungen im Viertel, die Verwandlung der alten Geschäfte in Antiquitäten- und Modeläden, auch über Religion und Philosophie. Marianne saß neben den Männern und schwieg. Alexander ließ sie in sein Leben und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.

Sie suchte nach einem ruhigen Ort und lief zur Zugtoilette. Marianne fühlte sich matt und ausgelaugt. Whitman hatte sie gelesen. Kannte sie Alexander eigentlich wirklich? Sein Lachen kam immer wie aus tiefster, verzweifelter Finsternis. Er war so wie seine schlaflosen Nächte. Sie konnte sich auf nichts, was durch ihn passierte, einen Reim machen. Da hatte sie geglaubt, ihn aus dem täglichen Leben zu kennen und war überzeugt, von Anfang an ein klares Bild von ihm gehabt zu haben, und es passierte dauernd unerwartetes. Kennst du denn Hanno Stifter, deinen Ehemann? Sei still, Marianne, an ihn willst du jetzt nicht denken. Kannte sie sich selbst? Es gab bei jedem Menschen eigene Interpretationen von sich selbst, die häufig nicht mit der Wahrnehmung anderer übereinstimmte. Immer wieder hatte sie sich nachts im Bett aufgesetzt und laut vor sich hingesagt, Alexander ist der Falsche, das mit ihm darfst du nicht. Aber da sprach sie mit der Stimme ihres Vaters. Der nicht, Marianne. Allein die Vorstellung, Alexander über die Wiese zur Terrasse des elterlichen Hauses zu führen, war für sie mit tiefsitzender Angst verbunden. Man rechnete damals fest mit einem Arzt an ihrer Seite. Marianne wusste, dass sie sich verliebt hatte und sie hatte schreckliche Gewissensbisse und viel Furcht. Sagen würde sie ihm das auf keinen Fall, das stand fest. Aber es gab keine Stunde mehr, ohne an ihn zu denken. Vor allem dann, wenn er nicht da war und er war zumeist nicht anwesend. Wahrscheinlich gab es Menschen, die ihre Zerrissenheit als Tragödie interpretieren würden. Aber das waren Menschen, deren Leben eine Farce aus Wunsch und Illusion waren. Marianne lief zurück, setzte sich und versuchte an nichts zu denken. Sie sah Bäume des Parks, in den sie gerne hineinging. Dort gab es einen herrlichen Ahornbaum. Der Ahorn war Alexanders Lieblingsbaum, weil er für Ruhe und Gelassenheit stehen würde und die Kelten ihn für die Ganzheit und Reinheit sahen. Und schon war sie in ihren Gedanken wieder bei ihm. Alexander lebte immer am Rande des Abgrunds, weil er sonst einschlafen würde. Neben der Tatsache, dass ihr Vater einen Arzt als Schwiegersohn wünschte, gab es für sie einen einfachen Grund für ihre Entscheidung. Hanno würde nie ein Konkurrent für Alexander werden. Was sollte auch geschehen, wenn es keinen anderen Mann in ihrem jungen Leben gegeben hatte? Bald fiel es ihren Kommilitonen auf, dass sie mit ihm unterwegs war. Gewiss war sie sicher, dass ihr an der Uni alle ihre Verliebtheit ansahen. Die Mädels fragten sie rundheraus, was Alexander an ihr fände. Sie bekam einen roten Kopf und war davongelaufen. Nur Bea blieb ihre Freundin. Alexander hatte sich mit Traumdeutung befasste und gesagt hatte, man muss Träume nicht nur deuten, man muss sie leben. Er sowieso und Siegmund Freud half ihm dabei. Manchmal muss man hinter der Wirklichkeit die Tür zuschlagen. Ich war ein vernünftiges Wesen, das studierte und sich nicht in Illusionen verlor. Es gab nichts im Leben, für das man nicht zahlen musste. Sie fragte sich, für was sie hatte zahlen müssen? Hatte