Das letzte Werk - Stefan Läer - E-Book

Das letzte Werk E-Book

Stefan Läer

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Beschreibung

Herchen 1890: Mitten in die Idylle des schönen Dorfes im Siegtal bei Bonn platzt der Mord an August Reben, einem Künstler des Düsseldorfer Malkastens. Der Fall schlägt hohe Wellen, die schon bald über Herchen und Düsseldorf hinausgehen. War es eine politisch oder religös motivierte Tat? Ein in Herchen gefundenes Schriftstück lässt beide Schlüsse zu. Dorfsergeant Albert Fuchs fühlt sich verantwortlich, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine Reise, die eigentlich Licht ins Dunkel bringen soll, kostet ihn unerwartet das Leben. Seine Tochter Clarissa schwört sich im Namen der Gerechtigkeit, den Mörder zu finden und übernimmt kurzerhand die Ermittlungen ihres Vaters. Doch was kann eine Frau in diesen Zeiten schon bewirken, denkt sich nicht nur Rudolf Muering, der feine Kriminalkommissar, der plötzlich aus Düsseldorf auftaucht ...

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Seitenzahl: 383

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Stefan Läer

Das letzte Werk

Ein historischer Kriminalroman

Stefan Läer

Das letzte Werk

Ein historischer Krminalroman

Covergestaltung: Bernadette Floer

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

© 2022

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

[email protected] (bevorzugt)

Tel.:(0 22 46) 94 92 61

Fax:(0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

ISBN 978-3-945953-29-7

E-Book 978-3-945953-30-3

published by

Rheinlandia ist ein Imprint von ratio-books

Inhalt

Vorwort

Personen

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Epilog

Nachwort

Blick auf Herchen

Danksagung

Empfehlungen

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

haben Sie Lust auf eine historische Reise in die „Belle Époque“ Ende des 19. Jahrhunderts?

So schön, wie es der Name der Epoche vermuten lässt, war die Zeit in dieser zur preußischen Rheinprovinz gehörenden Region an der Sieg sicherlich nur für einige wenige Menschen, während sie für andere einen sehr harten Alltag bedeutete. Mag auch die damalige Zeit nicht mit den Vorzügen einer freien und demokratischen Gesellschaft gesegnet gewesen sein, so bietet die Vergangenheit doch immer wieder Inspiration für illustre Geschichten, die uns das Leben der Menschen von früher näherbringen können.

Eine dieser Geschichten halten Sie vor sich in den Händen. Von wo auch immer Sie diese Reise hier beginnen, ein wenig „gedankliche Wegzehrung“ möchte ich Ihnen vorab mitgeben, um Sie vor falschen Vorstellungen zu bewahren:

Die Geschichte sowie alle tragenden und damit näher ausformulierten Charaktere sind in ihrer Gesamtheit frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit heute lebenden Personen ist rein zufällig.

Dieser Roman stellt also keine historisch-wissenschaftliche Abhandlung dar, sondern kümmert sich vielmehr darum, fiktive Geschehnisse so abzubilden, wie sie hätten stattfinden können.

Ich habe mich darum bemüht, historische Rahmenbedingungen möglichst korrekt einzuhalten, erhebe jedoch nicht den (vermessenen) Anspruch darauf, dass dies in allen Details gelungen ist.

Die Schauplätze sind größtenteils historisch stimmig, mit wenigen Ausnahmen: Den Lindenhof und das Café in Herchen habe ich aus künstlerischen Gründen erfunden. (Cafés wie die „Löwenburg“ oder das „Roseneck“ wurden etwas später erbaut.)

Auch das in dem Roman geschilderte Verbrechen ist (zum Glück) Fiktion.

Wahr ist jedoch, dass es das Hotel Glasmacher gegenüber der katholischen Kirche gab, in dem wohlhabende Städter wie die Künstler des Düsseldorfer Malkastens Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerne residierten. Um diese Zeit pries der Baedecker-Reiseführer Herchen als schönsten Luftkurort des Siegkreises.

Auch die „Villa Lequis“ gab und gibt es in Herchen. Hier soll die Bürgermeistertochter Johanna Alberty den berühmten Komponisten Engelbert Humperdinck (Märchenoper „Hänsel und Gretel“) empfangen haben. Humperdinck selbst widmete ihr eine Polka.

Historisch belegt sind ebenso die Sedan-Spiele, die Ende des 19. Jahrhunderts in Herchen stattfanden und von dem Dramatiker Edmund Henoumont sowie dem Maler Albert Lüdecke aus Düsseldorf organisiert wurden.

Im Nachwort erfahren Sie mehr zu meiner Recherche.

Nun haben Sie sich aber hoffentlich erst einmal ein gemütliches Plätzchen im Schein Ihrer Petroleumlampe gesucht und sind neugierig auf Ihre Reise in eine vergangene Zeit …

Stefan Läer

Die Rheinprovinz zur Zeit Clarissas:

Zur Zeit Clarissas gehörte die Rheinprovinz zu Preußen. Hauptspielorte des Romans sind Herchen und Düsseldorf. Weitere erwähnte Städte und Orte sind eingezeichnet. (eigene Erstellung)

Personen

August Reben: Düsseldorfer Künstler

Albert Fuchs: Herchener Polizeisergeant

Julia Müller: Bedienung im Café Herchen und im Lindenhof, Freundin von Clarissa Fuchs

Dr. Ludwig Werner: Dorfarzt aus Eitorf

Carl Friedrich Hohnquad: Herchener Bürgermeister

Ernst Mohrenkamm: Herchener Bestatter

Johanna Fuchs: Frau von Albert Fuchs, Mutter von Clarissa Fuchs

Clarissa Fuchs: Tochter von Albert und Johanna Fuchs

Gustav Adler: Düsseldorfer Künstler

Carl Turmhardt: Düsseldorfer Künstler

Johann Doebelin: Düsseldorfer Künstler

Eva Buchner: Bedienung im Hotel Glasmacher

Hauptmann Edmund Henoumont, Albert Lüdecke: Organisatoren des Herchener Sedan-Spiels

Greta von Salvy: Adelige aus Königswinter

Herr Culmus: Oberbürgermeister von Düsseldorf

Gernot Schulte: Posthalter in Herchen

Alois Domscheit: evangelischer Pfarrer in Herchen

Jean-Claude Bastian: Vorsitzender der Vinzenz-Konferenz St. Antonius in Düsseldorf

Herr Winkler: Polizeidezernent in Düsseldorf

Rudolf Muering: Kriminalkommissar, Sonderermittler aus Düsseldorf

Mitglieder des Düsseldorfer Denkvereins

Bertha: Schwester von Johanna Fuchs, Tante von Clarissa Fuchs mit ihren beiden Töchtern Jacobine und Christine

Elsa Brückmann: junge Dame aus Werfen

Herr von Nelles: Nachbar von Greta von Salvy in Königswinter

Herr Monheim: Polizeibeamter in Königswinter

Professor Egon Wolf: Düsseldorfer Künstler

Albrecht Schneider: Kommissar der Düsseldorfer Polizei

Wächter im Schwurgericht Bonn

Vorsitzender Richter des Schwurgerichts Bonn

Für Herchen,das schöne Dorf im Siegtal

Prolog

Der Gedanke an den Tod durchbrach die Idylle seines Seins. Die Symbolik, der er sich in diesen Momenten ausgesetzt fühlte, erschien einfach zu übermächtig, als dass er diesem Gedanken hätte widerstehen können: Alles Irdische war endlich. Das Tageslicht begann bereits so sehr zu schwinden, dass sich die Umrisse seiner Staffelei in nicht mehr als eine schwarze Silhouette vor dem dunkelnden Himmel verwandelten und die Leinwand leichenblass hervortrat. Aus den schwarzen Büschen ertönte nicht ein Vogellaut und auch Gesang und Harfenspiel, wie man sie auf den Höhen rund um Herchen je nach Laune des Windes an manchen Abenden hören konnte, drangen nicht bis an diesen abgelegenen Ort der Stille. Es lag schon eine Kühle in der Luft, die vom nahen Ende des Sommers kündete. Die schönen Tage in Herchen waren gezählt. Einige seiner Kollegen waren bereits abgereist und auch sein Aufenthalt in der Sommerfrische des Siegtals würde morgen endgültig der Vergangenheit angehören, wenn er heimkehren musste in seine Heimatstadt.

Für den letzten Abend hatte er sich etwas ganz Besonderes vorgenommen. Schon große Künstler vor ihm hatten einen Mondaufgang gemalt, aber gewiss noch niemand an diesem ganz und gar einzigartigen Ort. Schon vor Tagen hatte er sich diesen Felsvorsprung über der Sieg ausgeguckt, von dem aus sich der herrlichste Blick über das Tal bis hin zu den gegenüberliegenden Bergkämmen bot, den er sich vorstellen konnte. Wenn der über die Kämme erhobene Blutmond sich im silbernen Wasser des Flusses spiegelte, war ihm sein Meisterwerk sicher. Ein Mondaufgang am Meer konnte nicht anmutsvoller sein. Sogar gegenüber dem großen Vater Rhein hatte der Siegfluss den Vorteil seiner engeren, wilderen Natur, die die Berge näher zusammenrücken ließ und dem Tal ein Gefühl beinah paradiesischer Geborgenheit verlieh. Nein, an diesem Abend wollte er nicht unten mit den anderen sein, sondern still für sich, umkränzt von dem edelsten aller Gedanken, dem sich ein irdisches Wesen wie der Mensch imstande war hinzugeben: der Freude über die Einheit der Natur.

Doch dieser schöne Gedanke hatte nicht lange gewährt. Mit dem Gefühl der Sehnsucht allein hatte er rechnen müssen, damit konnte er leben. Aber nachdem sich auch Schwermut und Traurigkeit eingeschlichen hatten, überfiel ihn nun ein Gedanke, den er am liebsten mit einigen Gläsern Wein in der Geselligkeit der Gaststube hinweggespült hätte. Waren Geschöpfe nicht wie Marionetten, die dem Spiel der Natur machtlos ausgeliefert waren? Der Tod bedrohte den Menschen überall, auch auf dem besten aller Erdflecken. Der Tod hatte ohne Zweifel etwas Einschneidendes, Unbarmherziges, das den Menschen von dieser Welt und den irdischen Verbindungen zu seinen Liebsten abschnitt. Aber musste das Leben nicht endlich sein, um den Menschen zu erlösen, nachdem sein Sommer, nachdem sein Tag vorüber war? Musste es nicht einen Schäfer geben, der schlussendlich seine Schäfchen nach Hause rief? Vor dem Tod selbst musste einem Menschenwesen nicht bange sein, einzig vor dem Weg dorthin. Er dachte an Menschen, die ihr Leben lang in Kerkern eingebuchtet waren, an verschiedenste Folter- und Hinrichtungsmethoden, mit denen der Mensch die Möglichkeit hatte, sein Dasein als eine grausame Qual zu spüren. In solchen Fällen kam es einem Segen gleich, wenn der Henker seine Arbeit vollzogen und die Pein ihr Ende gefunden hatte. Nein, diese Menschen konnten unmöglich Augen haben für die Schönheit dieser Schöpfung. Doch er, er wollte nicht sterben, solange er die Schönheit dieser Welt genießen konnte. Das konnte er, solange er ein freier Mann war. Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen.

Er hoffte auf ein Zeichen, einen Hoffnungsschimmer am Horizont, der den Mondaufgang ankündigen würde. Sobald die ersten Strahlen des Mondes über den Horizont schienen, würde er die Laterne entzünden, um sich ein wenig Licht für sein Meisterwerk zu verschaffen. Das Licht würde seine gewiss unbegründeten trüben Gedanken vertreiben und ihm seine Fassung zurückbringen.

Doch es war zunächst ein Geräusch, das ihn seinen Gedanken entriss. Hinter ihm hatte etwas in den Büschen geraschelt. Erschreckt fuhr er herum, konnte jedoch im Zwielicht nichts erkennen. ‚Ich bin die Geräusche des Waldes als Stadtmensch noch immer nicht gewohnt‘, schalt er sich. Eigentlich hatte die ungewöhnliche Stille zuvor etwas Beunruhigendes gehabt. Schließlich war es doch sogar sehr wahrscheinlich, dass irgendwo ein Vogel oder eine Maus durch das Geäst huschte. Dennoch konnte er sich nicht helfen, dass ihn alles beunruhigte, was er nicht sehen konnte. Was, wenn doch keine Maus, sondern ein wildes Tier hinter ihm stand? Es hieß zwar, dass Wölfe und Bären vor Jahren schon vertrieben worden waren, doch selbst ein Wildschwein konnte einem Menschen gefährlich werden. Was, wenn sich eine Natter langsam zu ihm schlängelte? Hinzu kam, dass niemand wusste, wo genau er sich befand, und er verfluchte sich, diesen abgelegenen Ort ausgewählt zu haben. Es raschelte wieder. Nervös huschten seine Augen zwischen dem weiten Blick über das Tal und dem nahen Gebüsch hinter seinem Rücken hin und her. Ich muss die Laterne endlich entzünden, schoss es ihm durch den Kopf, das Licht vertreibt das Tier mit Gewissheit. Doch dazu kam es nicht mehr. Aus dem Augenwinkel erkannte er eine Person hinter sich, die ihm im nächsten Moment an die Kehle griff.

I

Julia Müller lächelte, als sie Albert Fuchs erkannte. Der Sergeant des Dorfes hatte auch an diesem morgendlichen Sonnabend seinen Platz auf der Außenterrasse des Cafés eingenommen, wie immer mit wohl gestutztem Schnäuzer, gepflegtem schwarzem Haar und in dunkelblauer Polizeiuniform. Nur seine Mütze hatte er vor sich auf den Tisch gelegt.

„Guten Morgen Herr Sergeant, darf ich Ihnen wieder einen Kaffee bringen?“, begrüßte sie ihn. „Guten Morgen Fräulein Müller, sehr gerne. Bei so einem schönen Morgen brauche ich ihn eigentlich gar nicht, um wach zu werden, aber er schmeckt bei Ihnen einfach vorzüglich.“

Julia lächelte verlegen. „Das freut mich. Sie haben recht, der Morgen ist wirklich ganz wunderschön und nicht zu kalt für September.“

Tatsächlich füllte sich die Außenterrasse des direkt an der Siegpromenade gelegenen Cafés zunehmend, was zum einen an dem spätsommerlichen Wetter und zum anderem am Sonnabend lag. Nicht nur Beamte wie Albert Fuchs, sondern auch wohlhabende Leute aus den Städten am Rhein zählten in diesen Tagen zu den Gästen. Der Sergeant war der Vater von Julias bester Freundin Clarissa, ein anständiger und umgänglicher Mann, der trotz seiner vorherigen Dienstzeit als Unteroffizier Mensch geblieben war.

Seit zwei Monaten arbeitete Julia neben ihrem Dienst im Lindenhof auch im Café Herchen, was sie glücklich machte. Als einheimische Bewohnerin des kleinen Dorfes Herchen an der Sieg hatte sie sich zunächst einige Jahre mit bäuerlichen Hilfstätigkeiten auf dem elterlichen Hof verdingt. Während des stetigen Aufstiegs Herchens als Sommerfrische für die wohlhabende Stadtbevölkerung, insbesondere für Künstler des Düsseldorfer Malkastens, hatte sie jedoch immer mit einem Auge auf die gastronomischen Entwicklungen des Ortes geschielt und sich schließlich für die Tätigkeiten im Dienst der Familie Wehrmeyer empfohlen, die neben dem Café auch den Lindenhof besaßen, der nur wenige Schritte entfernt lag. Während der Lindenhof mit seiner gutbürgerlichen Schlichtheit zu überzeugen wusste, war das Café ganz im Stile des Historismus mit Rundtischen, zahlreichen Spiegelflächen und barocken Verzierungen ausgestaltet. Mit ihrer Einstellung im Alter von 18 Jahren hatte sie sich einen Traum erfüllt. Sie liebte ihre Tätigkeit. Nicht nur die besseren Arbeitszeiten und der Lohn im Vergleich zu dem einfachen bäuerlichen Leben boten ihr Vorteile – durch ihren täglichen Umgang mit Einheimischen und Reisenden wurde sie immer zuverlässig mit den Neuigkeiten aus dem Dorf, aus dem Reich und sogar aus dem Ausland versorgt, die ihren Alltag abwechslungsreich und spannend hielten. Die Reisenden brüsteten sich immer damit, die besten Geschichten über die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft und Technik preiszugeben, sodass Julia auf eine nicht unerhebliche Bildung für ein 18-jähriges Mädchen kam. Um einen möglichst adretten Eindruck zu hinterlassen, achtete sie stets auf eine strahlend weiße hochgeschlossene Bluse, die ihr als Arbeitsuniform diente, und einen ordentlichen Dutt, der ihr dunkelblondes Haar zähmte.

Mittlerweile kannte sie die Gewohnheiten ihrer Stammgäste. Zusätzlich zum Kaffee brachte sie Fuchs noch die morgendliche Ausgabe der Kölnischen Zeitung, die zu den meistgelesenen und bestinformierten Zeitungen des Reiches zählte. „Ein frisch dampfender Kaffee mit Zucker und den neuesten Nachrichten. Bitte sehr!“

„Vielen Dank, Fräulein Müller.“ Fuchs nickte zufrieden. Der Kaffee vollendete sein morgendliches Glück.

„Herr Sergeant?“ Fuchs schreckte auf. Während er in das Schwarz seiner Kaffeetasse geschaut hatte, war ihm entgangen, dass Julia noch immer (oder schon wieder?) an seinem Tisch stand und nervös mit ihren Händen spielte. „Entschuldigen Sie bitte, aber im Haus gibt es ein wenig Ärger. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zur Seite zu stehen?“

Fuchs schaute überrascht. „Ärger am frühen Morgen? Wer macht denn sowas?“

„Ein paar Auswärtige. Sie sind angeblich im Hotel Prinz Carl in Eitorf untergebracht und haben sich wohl im Hotel Glasmacher die Nacht um die Ohren geschlagen. Heute Morgen um sieben kamen sie hier im Café an.“

„Da soll mal einer sagen, hier wäre nichts los. Aber sicher stehe ich Ihnen zur Seite, Fräulein Müller.“

Mit einem Ruck erhob sich Fuchs und folgte der Kellnerin über die Terrasse in den Innenbereich des Cafés, beobachtet von den neugierigen Blicken der feinen Gesellschaft. Er brauchte nicht lange zu suchen, um den berüchtigten Tisch zu finden, an dem drei Männer sehr hitzig diskutierten. Einen besonders heruntergekommenen Eindruck machten sie ihm nicht, trugen sie doch alle Hemden mit Schleifen und Sakkos darüber. „… wirst jetzt der armen Dame die Zeche zahlen, Willy!“, rief einer der drei, der von hagerer Gestalt war.

„Du weiß‘ ssselbst, dass ich dann kein Geld mehr hab‘, um na‘h Eitorf su fahr‘n!“, erwiderte der Angesprochene, ein überaus dicker Mann mit wenigen weißen Haaren auf dem Kopf.

„Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst zu Fuß geh‘n!“

„Su Fuß kann ich nimmer“, jammerte der Dicke. „Du has‘ mir versprochen, die Seche su sahlen.“

„Und du hast mich einen Sozialisten genannt, nur weil ich gesagt habe, dass es mir schnuppe ist, ob das Sozialistengesetz ausläuft oder nicht.“

„Leute, haltet den Mund!“, erschallte plötzlich die Stimme des dritten. „Seht mal, wer da steht!“ Schlagartig wurde es still am Tisch, als die Männer die Anwesenheit des Sergeanten bemerkten. Alle Augen richteten sich auf Fuchs.

„Meine Herren, das sind wirklich interessante Gespräche. Hätten Sie Interesse, dieses Gespräch bei mir auf der Wache in Eitorf fortzuführen?“, fragte Fuchs, ohne auch nur einen Bruchteil seiner Gelassenheit zu verlieren, die er sich im Laufe seiner Herchener Jahre erworben hatte. Die kleine Gemeinde im Siegtal war wirklich kein Ort der Verbrecher. Bankerutt, Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Landstreicherei waren die häufigsten Delikte, zu denen ein Sergeant gerufen wurde. Selbst Schlägereien, Körperverletzungen oder Verbrechen wider die Sittlichkeit wie Ehebrüche kamen hier recht selten vor. Die einzige Großfahndung, an der Fuchs beteiligt gewesen war, beschäftigte sich mit einem Einbruch in die kaiserliche Postagentur in der Nachbargemeinde Dattenfeld, bei der die Wechselkasse, Socken, ein Stück schwarzer Sammet und Geld aus dem Arbeitsspind im Wert von 102 Mark und 22 Pfennigen geraubt worden waren. Vor zwei Jahren war das gewesen.

Obwohl er seine Tätigkeit als Polizeisergeant sicherlich nicht als aufregend bezeichnen konnte, war er doch zufrieden mit seinem Beruf, der ihm, seiner Frau und seiner inzwischen 18-jährigen Tochter Clarissa das tägliche Brot sicherte, ohne dass er sich größerer Gefahr aussetzen musste. Die Männer vor ihm am Tisch beeindruckte er allein durch sein Auftreten, seine stämmige Gestalt und seine Größe.

„Nichts für ungut, Herr Wachtmeister, wir haben keinerlei Interesse an der Fortführung dieses Gesprächs. Unser Mitstreiter ist ein wenig durcheinander, aber er wird sich umgehend fassen und seinen Kaffee bezahlen, nicht wahr, Willy?“

Der Mittlere warf dem Dicken einen eindringlichen Blick zu, der ihn davor warnte, jetzt ein falsches Wort zu sagen. Der Dicke nickte mit einer servilen Geste. „Bitte verseihen Sie, Herr Wachtmeister, ich werde sssofort bei dem gnädigen Fräulein bezahlen. Aber könne Se mir helfen, wie ich na‘h Eitorf komme?“

„Immer die Sieg abwärts, das können Sie nicht verfehlen. Oder über den Berg, das geht noch schneller. Lassen Sie sich aber nicht mehr erwischen. Wer sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang zu sehr hingibt, der landet schneller im Bau, als Sie gucken können. Außerdem hat Fräulein Müller gewiss genug Arbeit für Sie in der Küche übrig. Haben Sie noch Fragen?“

„Nein, Herr Wachdmeister.“

„Dann einen schönen Tag noch.“ Fuchs warf Julia einen vielsagenden Blick zu und machte kehrt.

Jetzt freute sich Fuchs auf den ungestörten Genuss seiner Zeitung und seines Kaffees.

Doch schon nach seinen ersten Schritten auf der Außenterrasse wurde er erneut behelligt. „Ist etwas passiert, Herr Sergeant?“, rief ihm eine dunkle Frauenstimme entgegen. Die zugehörige Dame saß zusammen mit einer Freundin an einem Tisch und blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft wie eine Dampflok im Siegtal. Sie war die Ehefrau eines reichen Industriellen aus dem Ruhrgebiet und verbrachte regelmäßig die Sommermonate in Herchen. Sie trug einen Nachnamen, der so gar nicht zu ihrer äußeren, etwas rundlichen Erscheinung passte, wie Fuchs fand. „Guten Morgen Frau Belweide, es gab nur ein paar Trunkenbolde, die etwas anderer Meinung waren als wir, wenn es um die Bezahlung des morgendlichen Kaffees geht. Wir haben uns jedoch auf eine Meinung verständigt.“

„Wie aufregend! Sagen Sie, was steht heute bei Ihnen an, Herr Sergeant?“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Nun, ich werde mir einige Verbrecher hier vorknöpfen“, lachte Fuchs.

„Oh, Sie sind so ein mutiger Mann.“ Fuchs lächelte. Auch wenn er nicht wusste, ob die bisweilen zu Übertreibungen neigende Dame ihre Worte völlig ernst meinte, fasste er sie zumindest als ein halbes Kompliment auf. Insgeheim hätte er sich gewünscht, solche Worte einmal von seiner Gattin zu hören. Doch er wollte sich nicht beklagen, schließlich war Johanna ihm eine treue und fleißige Ehefrau, die auch nach Jahren nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt hatte.

Sein Lächeln erstarb, als er daran dachte, wie sein Tagesablauf tatsächlich aussehen würde: Nach einer ausführlichen Studie seiner Zeitung würde der aufregendste Teil des Sonnabends bereits hinter ihm liegen. Einer kurzen anschließenden Promenade und einem guten Mittagessen zu Hause würde der Rückzug an seinen Schreibtisch folgen, an dem er sich die Akten mit Bauanträgen der Gemeinde in Ruhe anschauen und auf deren Einklang mit dem Fluchtliniengesetz prüfen wollte. Zum Abschluss würde er den Tag mit Frau und Tochter vor dem Haus ausklingen lassen und vielleicht noch den einen oder anderen Apfel ernten.

Fuchs schüttelte sich. Jetzt wurde es wirklich Zeit für seinen Kaffee, bevor ihn noch mehr Menschen über sein Leben nachdenken ließen. Er gehörte zu den Menschen, die unruhig wurden, wenn sich ihre gewohnten Tagesabläufe etwas verzögerten. Sein Kaffee schmeckte gut, obwohl er nur noch lauwarm war. Seine Zeitung nahm das zum Monatsende auslaufende Sozialistengesetz als Anlass für eine Bestandsaufnahme der innenpolitischen Sicherheitslage des Reiches, indem die Politik von Bismarcks Nachfolger Leo von Caprivi in den höchsten Tönen gelobt wurde. Caprivi habe Sinn für die Realität bewiesen, indem er das Reich durch ein versöhnendes Bündnis aller Parteien ohne Umsturzgelüste stabilisieren wolle. Das auslaufende Sozialistengesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie sei angesichts des wachsenden Selbstbewusstseins der Arbeiter nicht mehr zeitgemäß, der Kampf gegen die Sozialisten nur durch eine Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft zu gewinnen, um eine Revolution zu vermeiden. Auch Caprivis wirtschaftsliberaler Kurs mit der Abkehr von Schutzzöllen und der geplanten Ausarbeitung von Handelsverträgen mit anderen Staaten wurde gelobt.

Fuchs nahm seine Tasse zur Hand und blinzelte in die einzelnen Sonnenstrahlen, die zwischen den sanft vom Wind bewegten Weidenblättern am Siegufer hin- und hertanzten. Dann nahm er den letzten Schluck Kaffee zu sich und verzog seine Miene. Jetzt war sein Kaffee endgültig kalt. In diesem Moment ertönte hinter ihm eine hysterische Frauenstimme, eine Mischung aus Keuchen und Kreischen, die ihm durch Mark und Bein fuhr. Erschreckt wandte er sich um. „Herr … Wachtmeister … Sie müssen mitkommen …“ Die Frau, ihrem schlichten, dunklen Rock mit Bluse und Kopftuch nach zu urteilen eine Bäuerin, stützte sich mühsam an seinem Tisch ab, sodass er ihren Atem spüren konnte. Sie hatte offensichtlich einen weiten Lauf hinter sich. Nur wenige Momente später folgten ihr zwei elegant gekleidete Herren, die ebenfalls völlig atemlos an seinem Tisch aufschlugen und ihre Zylinder in den Händen trugen. Eine Einheimische, die von zwei edlen Herren verfolgt wurde … Fuchs traute seinen Augen nicht angesichts des skurrilen Anblickes, der sich ihm bot. „Sind die beiden hinter Ihnen her, werte Dame?“ Die Frau schüttelte vehement den Kopf, noch unfähig, ein weiteres Wort herauszubringen.

„Nun beruhigen Sie sich doch. Setzen Sie sich erst einmal …“

„Wir haben eine Leiche in der Sieg gefunden!“

Fuchs starrte die Frau an und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. „Eine Leiche? Um Gottes Willen!“

„Ja, Herr Wachtmeister, bitte entschuldigen Sie unseren peinlichen Aufzug, aber die Frau hat recht!“, drängte sich nun einer der beiden Herren nach vorne. „Bitte, Sie müssen mitkommen! Es ist einer von uns!“

Fuchs benötigte einen Augenblick, um zu verstehen, dass die Herren dem Malkasten angehörten, dem großen Künstlerverein aus Düsseldorf, der eine kleine Kolonie in Herchen begründet hatte. „Ein Künstler?“

„Es ist August Reben!“

„Sie meinen den berühmten Landschaftsmaler? Das ist doch nicht möglich!“

„Doch, Herr Wachtmeister! Nun kommen Sie mit und schauen Sie sich den Toten an!“, drängte der andere Maler.

Fuchs erhob sich und rief Fräulein Müller zu, die sich besorgt zu der kleinen Gruppe gesellt hatte. „Ich zahle später, Fräulein Müller.“ Dann folgte er den Dreien.

II

Die kleine Gruppe, die über die Promenade siegaufwärts hastete, bildete einen augenfälligen Kontrast zu ihrer Umgebung. Allein deren Zusammensetzung aus einer Bauersfrau, einem Sergeanten und zwei Düsseldorfer Künstlern war imstande, den Herren und Damen in feinen Aufzügen, die dort ihren Morgenspaziergang vollführten, einige erstaunte Blicke abzutrotzen. Umso merkwürdiger musste ihnen die Tatsache erscheinen, dass die Bäuerin die Gruppe anführte und sich die edlen Herren völlig ungeniert im Eilschritt hinter ihr herbewegten. Normalerweise herrschte vornehme Ruhe auf dem Spazierweg, auf dem die Damen neben ihren eleganten Ehemännern die neuesten Kleider mit schmalen Röcken, Hüten und Sonnenschirmen zur Schau trugen. Doch jetzt wandten sie ihre Köpfe und starrten erschreckt der merkwürdigen Gruppe nach. Die Herren vergaßen vor Verblüffung sogar, ihre Hüte zu ziehen.

„Guten Tag die Herren und die Dame“, begrüßte sie schließlich ein älterer Herr, der seinen Wohlstand durch eine etwas untersetzte Taille zum Ausdruck brachte, „wohin so eilig des Weges?“

„Ein Toter!“, rief die Bäuerin im Vorbeilaufen lauter, als es Albert Fuchs lieb war. „Sscht!“, ermahnte Fuchs sie. „Das muss doch noch nicht das ganze Dorf wissen!“

„Ja, warum denn nicht?“

„Wir können jetzt keinen Aufruhr gebrauchen. Wir müssen zunächst schauen, wie es dazu kommen konnte, bevor wir Gerüchte in die Welt setzen.“

„Aber dass wir einen Toten gefunden haben, ist doch kein Gerücht. Wieso sollen die Leute das nicht wissen?“

„Ich will ihn mir erst einmal anschauen und dabei kann ich keine 100 Leute gebrauchen, die um den Fundort herumstehen.“

„In Ordnung, Herr Wachtmeister, ich werde nichts mehr erzählen.“

Die Nachricht von dem Fund des Toten machte dennoch schneller die Runde, als es Fuchs erwartet hatte. „Herr Wachtmeister, gut, dass wir Sie treffen! Wir haben einen Toten …“, stürmte eine weitere Einheimische auf ihn zu. Es handelte sich um Frau Weber, die Frau des örtlichen Schmiedes, die ihr feuerrotes Haar üblicherweise sehr penibel unter ihrem Kopftuch versteckte. Es hielt sich das Gerücht im Ort, dass sie Angst habe, dass man sie für eine Hexe halten und für ein mögliches Unglück zur Rechenschaft ziehen konnte, sollte sie ihr Haar einmal nicht vollständig bedecken. Doch heute Morgen hatte sie sich offensichtlich keine große Mühe damit gegeben, denn eine Haarsträhne schaute aus ihrem Kopftuch hervor und fiel sogar bis auf ihre Schultern hinab. „Man hat mich bereits informiert“, antwortete Fuchs, während sie sich zu der Bäuerin gesellte. Gemeinsam setzten sie den Weg fort und passierten die Sieg auf Höhe des Nordportals des Herchener Eisenbahntunnels, der sich am anderen Ufer des Flusses befand. Etwas weiter siegaufwärts erkannte Fuchs auf der gegenüberliegenden Seite schon die eichenbewachsene Felsformation, die sich zwischen dem Fluss und der Bahnstrecke auftürmte. Hinter den Felsen machte die Sieg einen Bogen um die am Fuße der Anhöhe gelegene Kuhweide, die im Volksmund „Katzenstein“ genannt wurde. Hier ließen die Bauern aus dem benachbarten Ort Röcklingen ihre Kühe grasen.

Fuchs beschlich ein ungutes Gefühl. Am Katzenstein sollte angeblich der Geist eines Mannes spuken, der einen französischen Soldaten am Ende der Napoleonischen Kriege erschlagen hatte und nun sein ruheloses Unwesen trieb, erzählte man sich. Sicherlich handelte es sich um ein Volksmärchen, das einer Überprüfung in der Wirklichkeit gewiss nicht standhalten würde. Aber ein mulmiges Gefühl blieb dennoch, wenn er sich vorstellte, dass in der Nähe ein Mensch zu Tode gekommen war. Dass die Leiche nicht weit entfernt liegen musste, wurde Fuchs klar, als die Bäuerin und Frau Weber sich einen schmalen Pfad durch hohe Ufergras in Richtung Sieg bahnten. Schließlich gelangten sie an das Ufer, das durch den niedrigen Wasserstand nach dem Sommer eine schmale, trockene Steinbank freigab. Dort lag der Tote hinter einem Haufen wild gestikulierender Männer, Bürger wie Kurgäste gleichermaßen. Von Geheimhaltung konnte also keine Rede mehr sein.

„Bei Gott, wie kann jemand inmitten dieser Idylle seinen Tod finden?“, fragte Fuchs die Männer.

„Gut, dass Sie kommen, Herr Sergeant! Wir wissen noch nicht viel. Der Körper weist gleich vier Einschusslöcher und starke Kopfverletzungen auf. Die Kopfverletzungen hat er sich sehr wahrscheinlich durch einen Sturz zugezogen. Woher die Schüsse kommen, ist noch unbekannt. Ich habe ihn soeben für tot erklärt.“ Dorfarzt Doktor Ludwig Werner stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, dessen Blässe sich bis auf seinen spärlich behaarten Kopf ausbreitete. Er musste zufällig in der Nähe gewesen sein, als die Leiche gefunden wurde, denn normalerweise versah Werner seinen Dienst im benachbarten Eitorf etwas weiter siegabwärts. Ein Menschenleben konnte er hier jedoch nicht mehr retten.

„Bitte lassen Sie mich den Leichnam einmal inspizieren und treten Sie alle einen Schritt zurück.“ Fuchs klang nicht scharf, aber bestimmt und erzielte damit die gewünschte Wirkung. Nach und nach wichen die etwa ein Dutzend Leute und gaben den Blick frei auf August Reben.

Fuchs zitterte, als er sich über den Leichnam beugte. Reben lag auf dem Bauch, die Arme nach hinten verdreht. Die Ärmel seines braunen Sakkos waren blutdurchtränkt. Auf seinem Hinterkopf klaffte eine riesige Platzwunde, aus seinem Mund lief noch Blut heraus. Fuchs schluckte. ‚Ein Verbrechen …‘, schoss es ihm durch den Kopf. Er winkte Doktor Werner zu sich heran. „Herr Doktor, gibt es Zeugen davon, wie er zu Tode kam?“

Werner schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Bislang hat sich noch niemand gemeldet. Frau Lange hat Reben heute Morgen im Fluss gesehen. Der Körper hatte sich an einem Stein verfangen, sodass er nicht weiter abwärts trieb.“ Werner deutete auf die Bäuerin, die Fuchs und die anderen hergeführt hatte. Die Frau schluchzte beim Anblick des Künstlers. „Sie hat dann Hilfe geholt und mit vereinten Kräften konnte Reben geborgen werden.“

Fuchs sah fassungslos auf den leblosen Körper des Künstlers hinab. „Die Einschusslöcher sind auf der Vorderseite?“ Werner nickte. „Wurde irgendetwas Auffälliges in der Nähe gefunden? Die Waffe vielleicht?“

„Leider bislang nicht, Herr Wachtmeister.“ Frau Lange schluchzte lauter. „Gehen Sie nach Hause, Frau Lange, und schonen Sie Ihre Nerven. Dieser Ort ist nichts für zarte Gemüter wie Sie“, sagte Werner beschwichtigend und wies ihr mit dem ausgestreckten Arm den Weg. Noch ehe sie gehen konnte, wandte sich Fuchs an sie. „Warten Sie, Frau Lange, geben Sie mir doch noch bitte eine Auskunft: Sie haben Reben als Erste gesehen. Können Sie mir bitte den genauen Ort nennen?“ Er zog ein Stofftaschentuch aus seiner Uniform hervor und reichte es ihr.

„Vielen Dank, Herr Wachtmeister …“ Sie schniefte einmal laut, dann fuhr sie mit gebrochener Stimme fort: „Dort drüben an dem Stein hing er fest, fast vollständig umspült vom Wasser.“ Sie deutete auf einen kleinen Felsen unweit des gegenüberliegenden Ufers. „Ich vermute, dass er etwas weiter aufwärts von der Felswand hinabgestürzt ist. Bei Gott, wie kann so etwas geschehen?“ Sie verneigte sich ehrfürchtig vor dem Toten und schlug das Kreuz. „Bitte, Herr Wachtmeister, tun Sie Ihr Möglichstes, um diesen Fall aufzuklären, im Namen der Gerechtigkeit Gottes, die höher ist, als der menschliche Verstand fassen kann.“

„Das verspreche ich Ihnen. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Lange. Sie dürfen jetzt gehen.“

Gemeinsam mit Frau Weber, die tröstend den Arm um sie legte, machte die Bäuerin kehrt. Fuchs nutzte die Gelegenheit und musterte die verbliebenen Dorfbewohner und Künstler. „Meine Herren, ich werde nun erst den Leichnam und dann den Fundort untersuchen und muss Sie alle bitten zu gehen, es sei denn, Sie können mit aussagekräftigen Hinweisen zu den Umständen des Todes von August Reben dienlich sein. Ansonsten gehen Sie bitte in die Wirtschaft und trinken einen Schnaps auf den fürchterlichen Schreck. Ich werde später hinzukommen und Ihnen die Neuigkeiten berichten.“ Die Männer murmelten und grummelten, erkannten jedoch schnell die Lage und machten sich zum Abgang bereit. Nach Lachen war niemandem zumute.

Bevor auch Doktor Werner gehen konnte, packte ihn Fuchs am Ärmel seines Mantels und zog ihn zu sich heran: „Sie bleiben hier. Sie sind Mediziner, ich kann Ihre Hilfe gut gebrauchen. Wir ermitteln jetzt wegen Mordes.“

Werner starrte ihn aus unbewegten Augen heraus an. „Sind Sie sich sicher, dass es …?“

„Ja. Vier Schüsse im Leib bringt sich kaum jemand selbst bei.“ Bei dem Gedanken lief es Fuchs eiskalt den Rücken herab. Mit einem Mordfall hatte er in allen seinen Dienstjahren noch nie zu tun gehabt. „Sagen Sie, weiß der Bürgermeister schon Bescheid? Bei den Umstehenden habe ich ihn nicht gesehen …“

„Hohnquad befindet sich auf Jagdreise im Rosbacher Wald. Sie wissen, er ist ziemlich eng mit Pappenstiel.“ Fuchs seufzte ein wenig sarkastisch. Da passierte in Herchen ein Mord und der Bürgermeister befand sich auf Pirsch. Doch, um ehrlich zu sein überraschte es ihn nicht wesentlich, denn Carl Friedrich Hohnquad war für sein in wichtigen Kreisen nicht gerade ungewöhnliches Freizeitvergnügen bekannt und wurde hinter vorgehaltener Volkshand von einigen unanständigen Zeitgenossen als „De Sau“ bezeichnet. Auch sein Rosbacher Amtskollege Pappenstiel war ein derart närrischer Jäger, dass seine Bürger bereits munkelten, er regiere eher den Wald als das Dorf.

„Dann müssen wir eben alleine für Gerechtigkeit sorgen“, sagte Fuchs. „Packen Sie mal mit an!“ Werner benötigte einen Augenblick, um dem sehr tatendurstigen Sergeanten zu folgen, griff dann jedoch gleichermaßen beherzt und sanft zu, wie nur ein gelernter Arzt es vermochte, sodass sie Reben schonend umdrehen konnten. Der Körper des Toten fühlte sich kalt an; die ersten Strahlen der Septembersonne waren noch zu schwach, um ihn aufzuwärmen. Fuchs erschrak, als er in die leeren Augen des Künstlers sah, ließ sich jedoch nichts anmerken. Das ehemals weiße Hemd Rebens unter dem aufgeknöpften, braunen Sakko bot gleichwohl keinen angenehmeren Anblick: Der ganze Bauch des Toten mit den vier Einschusslöchern bestand aus einer einzigen Blutlache. Der mutmaßliche Mörder hatte ganze Arbeit geleistet. Fuchs kratzte sich am Kinn. „Sagen Sie mal, Herr Doktor, Sie haben Reben aus dem Fluss gezogen, richtig?“

„Ja, wieso fragen Sie?“

„Ich dachte es mir, da Sie direkt bei der Leiche standen und offenbar zufällig in der Nähe gewesen sein mussten, versehen Sie doch normalerweise Ihren Dienst in Eitorf.“

Werner runzelte die Stirn. „Worauf möchten Sie hinaus? Sie meinen doch nicht etwa, dass …?“

„Keine Sorge, ich stelle Sie nicht unter Tatverdacht, seien Sie beruhigt. Ich möchte nur alles wissen, was Sie wissen. Mit wem haben Sie die Leiche aus dem Fluss gezogen?“

„Mit Mörs, dem jungen Gerber. Ich versehe nämlich zufällig nicht nur meinen Dienst in Eitorf, sondern versorge auch die Gemeinde Herchen, wie Sie wissen. Ich wollte gerade nach der kleinen Tochter von Mörs schauen. Sie ist vor drei Tagen zur Welt gekommen und ein sehr schmächtiges Kind. Ich stand gerade am Kindsbett, als Frau Weber hereinplatzte und rief, ich müsse unbedingt mitkommen.“

„Und die Künstler? Wie haben die reagiert?“

Werner zuckte mit den Schultern. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Aber wie ich sie so anschaute, standen sie einer Ohnmacht nahe. Wenn seinesgleichen stirbt, ist man doch aus ihrer Sicht eine Spur getroffener, als wenn es ein Einheimischer wäre, möchte ich annehmen.“

„Soso … Na immerhin sind sie eben recht klaglos von Dannen gezogen, als ich sie wegschickte.“ Fuchs wusste, dass er sobald wie möglich mit den Künstlern ins Gespräch kommen musste. Doch zunächst war es seine Aufgabe, den Tatort nach verdächtigen Gegenständen zu untersuchen. „Haben Sie schon in die Sakko- und Hosentaschen geschaut, Herr Doktor?“

„Nein, bislang noch nicht.“

„Vielleicht finden wir etwas Interessantes …“

„Sie meinen einen Abschiedsbrief oder so etwas?“

„Ich glaube nicht an einen Selbstmord. Vier Schüsse in den Bauch setzt man sich für gewöhnlich nicht, wenn man sich selbst von dieser Welt verabschieden möchte. In dem Fall zielt man wohl eher auf den Kopf.“

„Aber mit diesen neuartigen Revolvern könnte man sich doch theoretisch vier Schüsse innerhalb kürzester Zeit setzen, oder?“

„Theoretisch vielleicht. Aber könnte man anschließend auch noch von einem Felsen springen?“

Werner zuckte mit den Schultern. „Und wenn er zuerst gesprungen ist und sich dann erschossen hat? Immerhin ist der Felsen nicht so hoch, dass man einen Sturz unter keinen Umständen überleben könnte.“

Fuchs kratzte sich am Kinn, während er zu der steilen, nur sporadisch begrünten Felswand aufsah. „Wir müssen in alle Richtungen ermitteln, Herr Doktor. Ich dachte jedenfalls eher an ein Tagebuch oder ein kleines Zeichenheft, das wir in Rebens Tasche finden könnten. Künstler tragen so etwas schon einmal gerne bei sich.“

Das Einzige, das Fuchs in Rebens Hosentasche fand, war jedoch eine vom Wasser völlig aufgeweichte und bis auf ein paar Pfennige wohl unbrauchbare Geldbörse. Die Sakkotasche war leer. Fuchs betrachtete den Toten noch einmal sehr intensiv. Er wusste, dass Reben hier nicht ewig herumliegen konnte. Es wurde höchste Zeit, den Bestatter zu rufen, um den Körper an einem kühleren Ort als auf dem sich in der Sonne bald aufheizenden Steinbett aufzubahren und den Zersetzungsprozess hinauszuzögern. In der Hoffnung, nichts übersehen zu haben, sagte er schließlich zu Werner: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Mohrenkamm zu holen? Ich will mich in der Zeit nach der Waffe umsehen.“

Der Arzt staunte nicht schlecht. Er hatte Fuchs‘ Arbeit bisher immer zu schätzen gewusst, aber eine so gründliche Ermittlung hätte er dem Sergeanten nicht zugetraut. „Keineswegs, ich bin schon unterwegs. Aber sagen Sie: Sie haben doch nicht etwa vor, in der Sieg nach der Waffe zu suchen? Es ist an der Stelle nicht ungefährlich und Sie können dort nicht bis auf den Grund sehen.“

„Genau das habe ich vor. Ich muss zunächst in der Sieg suchen, bevor ich mich in die Büsche droben auf dem Felsen schlage.“

„Herr Sergeant, denken Sie an die Loreley.“

„Ich denke, eine hübsche Jungfrau ist dort oben wohl kaum zu finden. Außerdem liebe ich meine Frau.“ Fuchs lachte etwas freudlos. Zu sehr saß ihm der Schreck in den Gliedern, als dass er sich ganz dem Scherz hingeben konnte. Aber irgendwie musste er nun mit der Situation umgehen, ob er wollte oder nicht.

Werner klopfte ihm auf die Schultern. „Das ist jetzt mein Ernst. Bitte, passen Sie auf sich auf. Zwei Tote an einem Tag können wir nicht gebrauchen.“

III

Als der Bestatter kam, stand Fuchs noch mit beiden Beinen im Fluss. Den Fund einer Tatwaffe hatte der Sergeant nicht zu verkünden: Wie von Werner vorausgesagt, fehlte ihm der Blick auf den Grund, den ihm die aufgewühlte Erde verwehrte. Hinzu kam, dass er sich nur so weit in den Fluss begab, dass ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, um sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben. Das Flussbett bestand aus groben, glitschigen Steinen, auf denen ein falscher Schritt schon ein Abrutschen zur Folge hatte, das angesichts der starken Strömung in dem Drittel des Flusses, das dem gegenüberliegenden Ufer näher war, verheerende Konsequenzen haben konnte. Doch gerade dieses Drittel rund um den Felsen, an dem man Reben gefunden hatte, interessierte ihn. Mit Akkuratesse ließ er seine Augen an dem Steilhang hinaufwandern, an dem der Künstler mutmaßlich abgestürzt war. An dem blanken Felsgestein konnte sich keine Tatwaffe verfangen. Auch in den Pflanzenbüscheln der kleinen Felsvorsprünge erkannte Fuchs nichts Auffälliges. Es gab natürlich mehrere Möglichkeiten ihres Verbleibes: So konnte die Waffe nicht nur in die Sieg gefallen sein, sondern auch oben auf dem Felsen liegen … Oder der Täter hatte die Waffe mitgenommen und verschwinden lassen.

Plötzlich vernahm er eine Stimme hinter sich, die ihn vor Schreck mitten im Fluss das Gleichgewicht gekostet hätte. „Suchen Sie etwas, Herr Sergeant?“ Als er sich umwandte, sah er Ernst Mohrenkamm neben Doktor Werner und zweien seiner Gehilfen am Ufer stehen, einen Wagen samt Sarg im Schlepptau. Mohrenkamm war ein kleingewachsener Mann von beinahe zierlicher Statur, der das Schreinerhandwerk exzellent beherrschte. Seinerzeit hatte er Fuchs bei dessen Hausbau in allen Belangen unterstützt und stets eine Lösung für jedes Problem gefunden. Auch die herrliche Veranda aus Holz entstammte der Architektur und dem Geschick Mohrenkamms. Jetzt kam Mohrenkamm als Bestatter wieder.

Fuchs deutete auf Reben. „Ich suche die Waffe, deren Patronen August Reben viermal getroffen haben.“

Mohrenkamm schüttelte den Kopf. „Ein Mord in Herchen … So etwas habe ich noch nicht erlebt.“ Dass Mohrenkamm schon so einige Jahre auf dem Buckel hatte, verrieten seine wenigen und kurzen grauen Haare und sein gegerbtes Gesicht. „Doktor Werner hat mir gesagt, ich soll ihn abholen. Ich bringe ihn in meinen Keller, wenn es recht ist? Soll ich schon irgendetwas mit ihm machen oder möchtest du ihn dir nachher noch einmal ansehen?“

„Bring ihn in den Keller, das ist gut. Du kannst ihm auch schon die Kleidung abnehmen. Ich würde ihn mir gerne später ansehen, vielleicht entdecken wir noch mehr an ihm als die Schusswunden und die Platzwunde am Kopf.“

„Ist gut.“ Mohrenkamm gab seinen Gehilfen das Zeichen, den Toten in den Sarg zu überführen.

„Ach, Herr Mohrenkamm? Seien Sie bitte so freundlich und informieren Sie meine Frau, warum ich heute nicht zum Mittagessen komme.“

„Sie wird es sicherlich schon wissen. So etwas bleibt im Dorf nicht lange geheim. Aber ich mache trotzdem einen kurzen Abstecher zu ihr. Die zwei Burschen hier werden mir in der Zeit schon nicht mit der Leiche abhauen, oder?“ Er lachte dunkel.

„Dankeschön.“

Da die Suche nach der Waffe in der Sieg fruchtlos geblieben war, begaben sich Fuchs und Werner auf den Weg zu dem Felsvorsprung nahe dem Katzenstein, um dort in den Büschen am Felsen mit ihrer Suche fortzufahren. Tatsächlich hatten sie alsbald den Beweis dafür, dass dies der Ort war, von dem August Reben abgestürzt war: Nach einigen Kratzern an ihren Händen bargen sie eine Staffelei aus den Brombeersträuchern, die gleich neben einer noch weißen Leinwand und einer Palette lag. Auch eine Laterne fanden sie vor, die unversehrt auf einer kleinen, ebenen Steinfläche stand. Der Maler musste offensichtlich noch vor seinem ersten Pinselstrich überrascht worden sein. „Der Laterne nach zu urteilen sieht es ganz danach aus, als hätte sich Reben schon gestern Abend diesen Platz hier ausgesucht“, schloss Fuchs. Der Fund der Gegenstände am Tatort verschreckte und bestärkte ihn zugleich. Es schauderte ihn, wenn er daran dachte, dass hier an dieser Stelle ein Mensch einem heimtückischen Verbrechen zum Opfer gefallen war. Doch nach der Entdeckung der Malutensilien des Künstlers konnte sich Fuchs nicht nur des Tatortes sicher sein, sondern sich auch die berechtigte Hoffnung machen, das Corpus delicti schnellstmöglich zu finden.

„Herr Sergeant, da ist jemand!“, riss ihn der Ruf Ludwig Werners plötzlich aus seiner Grübelei. Fuchs zuckte zusammen. Die Stimme des Doktors klang tonlos und entbehrte jeder Regung eines Gefühls. Werner stand nur wenige Schritte vor ihm, genau auf der Stelle, die das Felsgestein am blankesten zeigte und wo eine falsche Bewegung tödlich enden konnte. In dunkler Vorahnung griff Fuchs in die Seite, in der er den Kolben seines Revolvers fand, während er sich Werner vorsichtig näherte. Dieser bedeutete ihm jedoch mit ausgestreckten Handflächen, dass er die Situation offensichtlich falsch eingeschätzt hatte. „Ruhig, Herr Sergeant, es sind nur eure Frau und eure Tochter.“ Werner deutete mit dem Finger nach unten ins Tal, wo Fuchs Johanna und Clarissa erkannte, die am Ufer unweit des Ortes standen, an dem August Reben noch vor wenigen Minuten gelegen hatte, und heftig zu ihm hinaufwinkten.

„Ihre Mahlzeit, Herr Papa!“, schrie Clarissa so laut, dass ihre Stimme an dem Gestein widerhallte.

Nach Essen war ihm beileibe nicht zumute. Doch der Schreck saß ihm noch zu sehr in den Gliedern, als dass er sich dagegen wehren konnte, und so bedeutete er seinen beiden Damen mit einer matten Handbewegung, dass sie ihm das Essen nach oben bringen durften.

„Machen Sie das nie wieder, Herr Werner!“, funkelte er den Dorfarzt an. „Ich habe mich halb zu Tode erschreckt.“

„Bitte verzeihen Sie, das war nicht meine Absicht.“ Werner klang ehrlich. Auch wenn er menschlich bisweilen als etwas hölzern galt, hielt Fuchs ihn doch für eine gute Seele, die sich einen solch makaberen Scherz in dieser ernsten Situation niemals mit purer Absicht erlaubt hätte. „Schon gut, lassen Sie uns weitersuchen.“

Johanna und Clarissa fanden ihren Mann und Vater an dem Steilhang wieder, wo er sich mit einer Hand an dem Ast einer jungen Eiche festhielt. „Herr Papa, was ist geschehen?“, fragte Clarissa besorgt und zupfte nervös an einem ihrer langen dunkelbraunen Bauernzöpfe.

„Wir haben es wohl mit einem Mord zu tun … Aber du brauchst dich nicht zu fürchten, Clarissa. Wir werden den Mörder finden und zur Rechenschaft ziehen. Mehr erzähle ich heute Abend. Wir sind noch mittendrin in der Arbeit.“

„Albert, pass bloß auf dich auf“, ermahnte ihn Johanna.

„Keine Sorge, ich gebe schon auf ihn acht“, schaltete sich Doktor Werner ein, der hinter dem Busch einer jungen Hainbuche hervortrat. „Aber dem Geruch nach habt ihr ein feines Mittagessen mitgebracht, das hätte ich auch gerne.“ Werner lachte.

„Puttes mit Backpflaumen und Apfelkompott. Die Kartoffelernte ist gut dieses Jahr“, erklärte Johanna. „Ihr dürft euch gerne eine Portion abfüllen, Herr Doktor. Ich bin mir jedoch sicher, dass Ihre Frau Sie ebenfalls bald verköstigen wird. Die Geschichte hier macht vor keinem Haus Halt.“ Johanna bedeutete Clarissa, den Korb mit der Mahlzeit abzustellen. „Nehmt euch, solange es noch dampft. Wir wollen nicht weiter stören.“

„Aber Frau Mama, die Herren suchen gewiss etwas. Können wir ihnen nicht behilflich sein? Ein Mord ist hier noch nie passiert“, protestierte Clarissa.

„Das kommt überhaupt nicht infrage. Wir wollen uns nicht in Angelegenheiten einmischen, für die wir nicht zuständig sind. Du machst dir in dem Gebüsch nur das Kleid kaputt und so üppig ist der Verdienst deines Herrn Papa auch nicht, als dass er dir sofort ein neues kaufen könnte.“

„Aber wenn ich doch achtgebe …“

„Ab nach Hause! Von einem beinahe erwachsenen Mädchen wie dir erwarte ich ein wenig mehr Vernunft.“

Nur widerwillig sah Clarissa ein, dass ihre Mutter recht hatte. Es war nicht sehr klug, ihr taubenblaues Lieblingskleid aufs Spiel zu setzen. Also folgte sie ihrer Mutter.

Kurze Zeit später rückte auch Friederika Werner mit einer warmen Mahlzeit an und brachte ihrem Mann frische Reibekuchen mit Apfelmus oder „Rievkooche met Appelkumpott“, wie sie im Dialekt genannt wurden.

Die Stärkung tat Ludwig Werner spürbar gut; so konnte er sich nach dem Essen wieder voller Eifer in die Büsche schlagen. Zusammen mit Fuchs durchwühlte er jeden Brombeerstrauch, jedes Farnblatt, jeden Grashalm, den sie erreichen konnten, was angesichts des gefährlichen Steilhanges nicht überall gegeben war. Doch von der Tatwaffe fehlte weiter jede Spur. Während sich Werner diesmal sehr kühn bis tief in den Hang hineinwagte, zog Albert Fuchs seine Kreise immer weiter um den mutmaßlichen Tatort. Den Blick Richtung Boden gewandt schritt er den kleinen Pfad bis auf die Höhe des Eisenbahntunnels ab in der Hoffnung, irgendwo im Gras eine Waffe oder einen anderen verdächtigen Gegenstand zu finden.

Voller Faszination hatte er in der Zeitung gelesen, dass es bereits in vielen großen Städten des Reiches eine Kriminalpolizei gab, die solche Verbrechen nach dem Berliner Vorbild mittels einer eigens dafür eingerichteten Mordkommission sehr professionell untersuchte. Bisher war es eher üblich gewesen, den Tatort nach einem Verbrechen sofort aufzuräumen, was allerdings wichtige Spuren und somit potenzielle Beweismittel vernichten konnte, wie er gelernt hatte. Die aufstrebende Wissenschaft des Kaiserreiches mischte auch auf diesem Gebiet mit. Aber dass er selbst eines Tages in einem Mordfall in Herchen würde ermitteln müssen, hätte er nicht für möglich gehalten. ‚Ich muss für die Gerechtigkeit kämpfen und den Täter überführen‘, dachte er grimmig.

Ein schmatzendes Geräusch unter seinem rechten Fuß riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Offenbar hatte er den Fuß zu weit vom Pfad weg in das mittelhohe Gras gesetzt und war in eine nur schwer vorhersehbare Pfütze getreten. Er fluchte. Doch dann entdeckte er etwas, das sein Herz höherschlagen ließ: Vor seinem Fuß, ein wenig zwischen den Grashalmen versteckt, so dass er auf den ersten Blick kaum zu erkennen war, hatte jemand seinen Fußabdruck mitten in den Schlamm gesetzt. Es handelte sich um einen Morast, den die vergangenen sonnigen Tage noch nicht getrocknet hatten. Fuchs stockte der Atem. Wer hatte hier seinen Abdruck hinterlassen? Dem Absatz zufolge rührte der Abdruck von einem Herrenstiefel, dessen Profil ein recht feines Rautenmuster auszeichnete und dessen Spitze in die entgegengesetzte Richtung wies. Theoretisch konnte dieser von allen Stiefeln mit Absatz stammen, doch eine Sohle mit Rautenmuster kam – sofern er es einzuschätzen vermochte – längst nicht bei allen Stiefeln vor. Viele Stiefel, wie sein eigener, wiesen eine glatte Sohle ohne ein bestimmtes Profil auf. Natürlich konnte auch August Reben selbst den Abdruck hinterlassen haben. Da er sich die Leiche des Künstlers später ohnehin noch einmal anschauen wollte, konnte er diese Frage bei der Gelegenheit beantworten. Zudem hielt es Fuchs für die beste Lösung, nachher oder spätestens morgen früh an diesen Ort zurückzukehren und den Abdruck vorsichtig auszugraben.

Er sah sich um in der Hoffnung, noch weitere Spuren zu entdecken, hatte damit jedoch keinen Erfolg.

Als er schließlich zu Werner an den Steilhang zurückkehrte, meinte er: „Ich habe den ganzen Weg abgesucht, aber die Waffe bleibt verschwunden. Dafür habe ich einen Fußabdruck im Morast gefunden, den ich nachher oder morgen ausgraben möchte. Ich bitte Sie jedoch, dieses möglicherweise nicht unbedeutende Detail noch nicht preiszugeben, um zu verhindern, dass die Leute anfangen, ihre Schuhe zu verstecken.“