Das Licht in deinen Augen - Tommi Kinnunen - E-Book
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Das Licht in deinen Augen E-Book

Tommi Kinnunen

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Beschreibung

Von zwei Menschen, die allen Widerständen zum Trotz ihren eigenen Weg gehen

Die dunklen Jahre des Zweiten Weltkriegs sind vorbei, und die Menschen in dem abgelegenen Städtchen im hohen Norden Finnlands beginnen wieder an die Erfüllung ihrer Sehnsüchte zu glauben. So auch Helenas Eltern, die dem Mädchen, das früh das Augenlicht verloren hat, ein selbstständiges Leben ermöglichen wollen. Sie schicken das Kind auf eine Blindenschule im tausend Kilometer entfernten Helsinki. Dort findet Helena zur Musik. Als junge Frau nimmt sie all ihren Mut zusammen, bewirbt sich am Sibelius-Institut, und Schritt für Schritt geht sie ihrer Eigenständigkeit entgegen. So wie Tuomas, Helenas Neffe, vier Jahrzehnte später. Auch er lässt seine Familie zurück und damit all die Erwartungen an ihn, die der junge Mann nicht erfüllen will.

Kunstvoll verwebt Tommi Kinnunen in diesem fulminanten Familienroman die Schicksale zweier Außenseiter, die hoffen, dass die Menschen eines Tages die Unterschiede nicht mehr sehen, sondern nur noch die Gemeinsamkeiten. Eine ergreifende Geschichte, die vom Mut erzählt, anders zu sein.

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Seitenzahl: 473

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Von zwei Menschen, die allen Widerständen zum Trotz ihren eigenen Weg gehen

Die dunklen Jahre des Zweiten Weltkriegs sind vorbei, und die Menschen in dem abgelegenen Städtchen im hohen Norden Finnlands beginnen wieder an die Erfüllung ihrer Sehnsüchte zu glauben. So auch Helenas Eltern, die dem Mädchen, das früh das Augenlicht verloren hat, ein selbstständiges Leben ermöglichen wollen. Sie schicken das Kind auf eine Blindenschule im tausend Kilometer entfernten Helsinki. Dort findet Helena zur Musik. Als junge Frau nimmt sie all ihren Mut zusammen, bewirbt sich am Sibelius-Institut, und Schritt für Schritt geht sie ihrer Eigenständigkeit entgegen. So wie Tuomas, Helenas Neffe, vier Jahrzehnte später. Auch er lässt seine Familie zurück und damit all die Erwartungen an ihn, die der schwule junge Mann nicht erfüllen will.

Kunstvoll verwebt Tommi Kinnunen in diesem fulminanten Familienroman die Schicksale zweier Außenseiter, die hoffen, dass die Menschen eines Tages die Unterschiede nicht mehr sehen, sondern nur noch die Gemeinsamkeiten. Eine ergreifende Geschichte, die vom Mut erzählt, anders zu sein.

Tommi Kinnunen zählt zu den wichtigsten Stimmen der finnischen Gegenwartsliteratur. Er wurde 1973 im nordfinnischen Kuusamo geboren, heute arbeitet er als Lehrer in Turku, im Südwesten des Landes. Die Geschichte seiner Familie inspirierte ihn zu seinem Debüt; »Wege, die sich kreuzen« (DVA, 2018) führte wochenlang die finnische Bestsellerliste an und war ein internationaler Leser- wie Kritikererfolg. Auch für seinen zweiten Roman standen Familienmitglieder Pate. »Das Licht in deinen Augen« wurde für den renommierten Finlandia-Preis nominiert. Seine Bücher erscheinen in rund 20 Ländern.

»Was für ein Glück, dass der finnische Lehrer Tommi Kinnunen in Familienalben geblättert hat und nicht davor zurückschreckte, seinen Vorfahren eine Stimme zu geben.« BRIGITTE woman, über »Wege, die sich kreuzen«

»›Das Licht in deinen Augen‹ ist ein leidenschaftlicher Roman.« Helsingin Sanomat, Finnland

»Atemberaubend (…) poetisch (…). Kinnunens Beschreibungen sind so realistisch, dass der Leser von der Schwärze vor seinen eigenen Augen überrascht wird, während er versucht, sich Helenas Blindheit vorzustellen.« NRC, Niederlande

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TommiKinnunen

Das Lichtin deinenAugen

Roman

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2016

unter dem Titel Lopotti

bei WSOY, Helsinki.

Der Penguin Verlag dankt FILI – Finnish Literature Exchange – für die finanzielle Unterstützung der Übersetzung.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © der Originalausgabe Tommi Kinnunen und WSOY 2016

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt durch: Bonnier Rights Finland, Helsinki.

Redaktion: Annika Krummacher

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben

Umschlagabbildung: © plainpicture/EWG

Satz: Buch-Werk­statt GmbH, Bad Aib­ling

ISBN 978-3-641-24211-4V001

www.penguin-verlag.de

Für meinen Vater, von dem ich die Neugierde geerbt habe, und für meine Mutter, von der ich immer noch Geduld zu lernen versuche.

Wir kennen uns, obwohl du dort drinnen bist und ich hier, außerhalb des Bauchs deiner Mutter. Ich bin es, der für dich gesungen hat. Der deine Mutter um Erlaubnis gebeten hat, dich zu ertasten und zu berühren, das zu streicheln, was ich für deine Stirn halte. Ich liebe dich, obwohl ich dich noch nicht einmal gesehen habe.

Du wirst mich Papa nennen. Ich habe auch einen eigenen Namen, aber den wirst du nie brauchen, denn für dich lerne ich diesen neuen Namen. Du musst nur deinen Papa zu Hilfe rufen, dann werde unter allen Menschen auf der Welt genau ich deinen Ruf hören und sofort zu dir eilen. Du versprichst mir doch, immer zu mir zu kommen, wenn du Angst hast? Ich tröste dich, wenn du dir wehtust oder hinfällst. Väter vertreiben alles Böse. Väter geben Schutz.

Aber du kommst auch dann zu mir, wenn alles gut ist, oder? Dann sitzen wir beisammen und freuen uns über den schönen Sommerabend oder über die Eins, die du in Geschichte bekommen hast. Du traust dich doch, mir davon zu erzählen, wenn du dich verliebst? Dann werde ich antworten, dass es leicht ist, sich zu verlieben, aber dass es Mühe kostet zu lieben. Ich hätte noch viele andere Ratschläge, doch ich weiß nicht, ob du mit ihnen etwas anfangen kannst. Das eigene Leben verläuft nicht immer so mustergültig, dass es sinnvoll wäre, auf dieser Basis für jemand anderen eine Landkarte zu zeichnen. Aber ich verspreche dir, dass ich, ganz gleich, was dich bedrückt, gemeinsam mit dir nach einer Lösung suchen werde. Es gibt nichts, wovon du mir nicht erzählen kannst. Ich will alle deine Worte hören. Ich verlasse dich nie, ich höre nicht auf, dein Vater zu sein. Ich beschütze dich bis zum Tage meines Todes und auch darüber hinaus.

Ich schreibe diesen Brief ohne Wissen deiner Mutter, denn sie würde mich sonst einen rührseligen Dummerjan nennen. Dann stecke ich ihn in einen Umschlag, auf den ich die Namen schreibe, die wir für dich gewählt haben. Ich weiß nicht, ob der Brief so lange erhalten bleibt, bis du lesen kannst. Vielleicht bleibt alles nur ein netter Gedanke, womöglich vergesse ich den Brief, und er verschwindet im Umzugsgut des Lebens. Mag sein, dass wir dir einen anderen Namen geben und uns irgendwann wundern, wieso bei uns Post auftaucht, die an einen Fremden adressiert ist. Aber es kann auch alles gut gehen: Vielleicht bleibt der Umschlag zwischen den Büchern im Regal stecken und du entdeckst ihn irgendwann, wenn du älter bist. Vielleicht sind bis dahin Dutzende dieser Briefe entstanden. Womöglich gebe ich dir zu jedem Geburtstag einen neuen Brief. Wir haben Jahre und Jahrzehnte Zeit, uns kennenzulernen.

Komm bald. Spielsachen und Kleider liegen für dich bereit. Hier neben mir ist Platz für dich.

Papa

ERSTER TEIL

DIE ANFÄNGE DES GUTSHOFES

Manche behaupten, der Gutshof Pieselfall sei nach dem gelblich schäumenden, humushaltigen Wasserfall benannt. Andere meinen, der tiefe Sturz des Wassers in die trichterartige Schlucht und vor allem das dabei entstehende Geräusch seien die wichtigsten Gründe für die Namensgebung. Dieses Geräusch erinnert nämlich an einen flachen, unregelmäßigen Harnstrahl, der in die Mitte eines Nachttopfs gelenkt wird. Doch weder das eine noch das andere ist der Grund für den Namen des Gutshofs, denn – anders als die Bevölkerung glaubt – der Wasserfall wurde nach dem Gut benannt und nicht umgekehrt.

Im August des Jahres 1778 hatte der schwedische König das Gleiche getan wie jeder König der Schweden, Gauten und Wenden seit Menschengedenken: Er hatte Russland den Krieg erklärt. Der Krieg verlief so, wie es sich gehörte. Die Offiziere waren zu Schiff von Stockholm nach Turku gebracht worden wie früher auch, in den Einöden der Provinzen Häme und Savo war wie üblich eine Zwangsrekrutierung erfolgt. Man war nach Russland vorgedrungen, hatte Prügel bezogen und den Rückzug nach Turku angetreten. Wie jeder Finne wusste, würden die Offiziere als Nächstes ein Schiff besteigen und in die westliche Hauptstadt zurücksegeln. Der östliche Teil des Reiches würde auf unbestimmte Zeit von den Russen besetzt werden, bis diese sich irgendwann im Gefolge der Friedensverhandlungen das Stück Ostfinnlands einverleiben würden, das ihnen angemessen erschien. Während die Oberfeldwebel an Bord gingen, würden sie überlegen, wie man diese Zeit wohl nennen könnte. Der Große Unfriede war schon gewesen, ebenso der Kleine Unfriede. Nach- oder Fortsetzungs-Unfriede klang albern, Mittlerer Unfriede hätte schon früher verwendet werden müssen.

Von seinen Adjutanten umgeben, stand der König auf den matschbedeckten Felsen von Pikisaari und beobachtete die Offiziere, die auf das Schiff verfrachtet wurden. Unten am Kai hatten sich die Offiziere in Rangordnung aufgestellt, um die Ruderboote zu besteigen. Schwer Verstümmelte waren nicht unter ihnen, natürlich nicht, denn verwundet zu werden war Aufgabe der Mannschaften. Die einfachen Soldaten würden erst mit der Nachhut in drei Tagen eintreffen, wenn die Offiziere bereits ein gutes Stück nach Westen gesegelt waren, bis hinter Kastelholm, vielleicht sogar an Märket vorbei.

»Ihr solltet nun an Bord gehen, Eure Majestät.«

Der Dienstbursche sprach ein überraschend gutes Schwedisch, obwohl der blonde Strubbelkopf und die Nase, die einer überwinterten Kartoffel glich, ihn schon auf den ersten Blick als Finnen auswiesen.

»Wir danken.«

Der Weg nach unten war lang, und das Moos auf dem Felsen hatte sich voll Wasser gesogen. Der König musste lachen. Kurz bevor er den Kai erreichte, beschloss er, noch rasch seine Blase zu erleichtern. Er wollte sein Zepter nicht in Richtung der Offiziere entblößen, weniger aus Gründen der Schicklichkeit, denn Herrscher stehen über solchen Dingen, sondern deshalb, weil der kräftige Südwestwind die Flüssigkeit geradewegs auf seine hübschen Gobelinschuhe gelenkt hätte. Deshalb kehrte er den Offizieren den Rücken zu und blickte direkt auf das Volk, während er das hervorholte, was er Gerüchten zufolge der Königin kein einziges Mal gezeigt hatte. Der Dienstbursche wandte das Gesicht ab, als er die Absicht Seiner Majestät erkannte, wagte aber nicht auszuweichen. Der König betrachtete den vor ihm stehenden Jungen, schob das Becken vor und versuchte, den Strahl auf den linken Schnabelstiefel des Finnen zu lenken.

Der König betrachtete sich als wertvolle Perle in der langen Kette von Herrschern seines Landes. Die Dinge liefen, wie sie laufen sollten. Freude sprudelte aus seinem Unterleib oder aus der sich leerenden Blase. Dieser Moment musste festgehalten werden. Der Kriegszug sollte eine bleibende Erinnerung hinterlassen.

»He, Bengel!«, rief er. »Hör mir gut zu. Du wirst jetzt zum Baron gemacht.«

Der Dienstbursche wagte nicht zu antworten, doch seine veränderte Haltung verriet, dass er zuhörte.

»Calle sucht einen passenden Wald oder Berg als Lehen für dich aus.«

Einer der Adjutanten nickte ernst. Man würde dem Jungen weit oben im Norden, hinter Tavastehus, so viel Moor und Fjäll geben können, wie er in einer Woche auf dem Pferd zu umreiten vermochte. Platz gab es in diesem dunklen Land zur Genüge.

Der Junge starrte auf seine nassen Füße. Der König war nicht mehr jung. Er sehnte sich nach der Zeit zurück, als er seine Signatur so schön in den Schnee pinkeln konnte, wie er sie mit der Hand schrieb. Hatte der Strahl die Buchstaben früher wie mit dem Florett gestochen in den Schnee gezeichnet, so erinnerte er nun an den breitesten Springbrunnen des Schlosses Drottningholm. Seine Majestät ließ das Becken zucken und presste die letzten Tropfen heraus.

»Denk dir für deinen Gutshof einen passenden Namen aus, der an den König erinnert.«

EIN PLÄTZCHEN KLEIN AUF DIESER WELT1

Mutter fasst mich unter den Achseln, hebt mich hoch und lässt mich dann herunter, ziemlich tief herunter.

»Versuch mal, da zu sitzen.«

Mein Schuh schlägt auf den Boden, der hohl dröhnt wie ein Fass. Ich begreife nicht, wo ich bin. Der Raum klingt so, als wäre er schmal. Ich taste meine Umgebung ab, mit der einen Hand erreiche ich die Wand. Sie fühlt sich kühl an, fast kalt. Mutters Stimme kommt von oben und hallt ein wenig.

»Helena, nimm Johannes auf den Schoß.«

Mutter hebt meinen kleinen Bruder vor mich, und wir sitzen mit gespreizten Beinen hintereinander. Ich lege die Arme um Johannes, denn er hat Angst vor allem Neuen. Dann frage ich Mutter, wo wir sind, doch sie antwortet nicht. Omas Stimme kommt von der anderen Seite. Sie erklärt, dass wir uns in einem Zug befinden, in einem von denen, mit denen Sand transportiert wird, auf der Strecke, die die Deutsc Mutter muss lachen. Auch Oma gackert.

»Der Mastdarm ist zwar einen Zoll rausgerutscht, aber zu guter Letzt haben wir das Ding doch zum Rollen gebracht.«

»Red nicht so«, zischt Mutter.

Ich streichle Johannes über den Kopf und erzähle ihm, dass Oma gerade albern ist. Mein Bruder fasst meine Finger mit beiden Händen und schwenkt sie hin und her. Mutter lacht und sagt, es sei lieb von mir, dass ich mich kümmere, und dazu seien große Schwestern da. Ich kümmere mich um Johannes, und Anna kümmert sich um mich. Ich drehe das Gesicht nach hinten und frage, wie weit der eiserne Weg eigentlich führt. Mutter antwortet, wahrscheinlich bis in den Süden, aber sie sei sich nicht sicher. Sie ist noch nie weiter gereist als bis nach Oulu, aber Oma ist mit dem Zug gefahren, als sie in der Hebammenschule war, in einem großen Haus aus Stein, so weit im Süden, dass dahinter nur noch das Meer liegt. Dort ist es anders als hier, es gibt andere Bäume und lauter Häuser aus Stein.

Ich lasse Johannes los, denn er kommt ja zurecht, und ertaste mit den Händen, was hinter mir ist. Ein Haufen Sand. Ich lehne mich zurück und will mich hinlegen, aber Johannes bleibt auf meinem Rocksaum sitzen. Die Seitenwand ist kühl. Man merkt nicht mehr, dass der Zug sich bewegt, er ruckelt nicht. Ab und zu bebt der Boden ein wenig, und man hört Geratter. Oma erklärt, das sei der Gesang der Räder in den Schienen.

Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich reiße die Augen ganz weit auf. Manchmal verschwindet das Licht hinter Schatten. Das sind Bäume. Vater hat mir erzählt, dass ich als Säugling alles Mögliche gesehen habe, bevor ich krank wurde, aber daran erinnere ich mich nicht. Und Vater ist nicht mehr zu Hause, sondern im Krieg. Ich drücke die Daumen auf meine Augen. Das fühlt sich gut an. Der Wind säuselt in den Bäumen. Es ist Sonntag.

Oma singt im Takt des ratternden Wagens.

Durch dieses Dorf hier laufe ich,

so weit die Füße tragen,

wen ich will, den küsse ich,

auch wenn die Weiber klagen.

Mutter mag Omas Lieder nicht. »Bitte nicht so was«, sagt sie jedes Mal.

»Wohin fahren wir?«, frage ich, und Mutter antwortet: »Nach Hause.«

Oma erklärt, dass die Gleise noch nicht bis nach Lopotti2 führen. Die Deutschen haben für den Krieg eine Bahnstrecke aus dem Binnenland gebaut, die bald bis zum Kirchdorf reichen wird und dann an die Grenze zur Sowjetunion und ganz am Ende bis zur Murmansk-Bahn. Aber noch nicht, und deshalb sind wir mit dem Pferdewagen gekommen. Mutter sagt etwas zu Oma. Ich höre die Worte nicht, aber in ihrer Stimme ist kein Lachen mehr. Der Zug wird langsamer und bleibt dann stehen. Mutter tritt neben mich.

»Wir wohnen nicht in Lopotti«, sagt sie laut zu Oma.

»Reg dich ab, Lahja, ich mach ja bloß Spaß.«

Nach Mutters Ansicht beginnt Lopotti erst hinter unserem Zaun, und dort wohnen ganz andere Leute als wir. Oma meint, es sei doch nur ein Name. Plötzlich wird Johannes aus meinen Armen gerissen. Ich erschrecke und versuche, ihn festzuhalten, aber Mutter befiehlt mir, ihn loszulassen. Ihre Stimme ist kalt.

»Was tust du?«, fragt Oma.

»Wir gehen jetzt.«

Ich will nicht weg, sondern mit dem Zug nach Hause fahren, aber Oma fasst mich unter den Achseln und stellt mich auf den Sand. Der Boden neben dem Zug ist abschüssig. Es fällt mir schwer, dort zu stehen, ich halte mich an der Eisenwand fest.

»Was ist Lopotti?«, frage ich, doch niemand erklärt es mir.

Oma nimmt mich an die Hand.

»Lass uns nach Hause gehen, Helena. Vielleicht hat dein Vater ja Heimaturlaub.«

Ich versuche, am Abhang entlangzugehen, indem ich das obere Bein anwinkle. Vor mir humpelt Oma. Sie ruft Mutter nach, wieso sie sich nur immer wieder über uralte Ortsnamen aufrege.

»Außerdem wohnen in Lopotti keine verrufenen Frauen außer uns beiden.«

Mutter antwortet nicht. Oma lacht.

WER MEINEN SCHLAF ZU STÖREN WAGT3

Mutter schlägt an die Tür zu Vaters Kammer und brüllt, dass sie ohnehin schon alles ahnt. Sie fragt, warum Vater nicht reden will.

Ich liege im Bett und halte mir die Ohren zu, aber Mutters Stimme ist trotzdem zu hören. Sie verwendet große Worte, die von den Wänden abprallen wie Bälle und aus dem Wohnzimmer bis hierher schießen. Merkt Oma gar nichts, oder hat man sie zu einer Entbindung in ein abgelegenes Dorf geholt? Oft kommt sie an solchen Abenden aus ihrer Kammer und ermahnt meine Eltern, sie sollen leise sein, und so was sagt man doch nicht laut. Ich presse die Ohrläppchen mit beiden Händen fest an den Kopf. Jetzt höre ich die Worte nicht mehr, nur die Stimme.

In solchen Nächten kommt der Bodengeist, sobald man einschläft. Sobald man einen Schritt vorwärts macht, wird der Fußboden abschüssig. Wenn man sich umdreht und flieht, geht es dort abwärts. Man kann versuchen, zuerst zur Kommode oder zum Fenster zu gehen, aber das hilft nichts, denn die Dielen richten sich überall auf. Wohin man auch geht, man rutscht abwärts wie ins Grab. Das ist eine tiefe Grube, in die man die Kriegstoten und die von Bomben getöteten Kinder legt. Da kann man reinfallen. Selbst wenn man versucht, sich am Teppich festzuhalten, gleitet man in die Leere, die kalt ist und aus der eine tiefe Stimme kommt, die keinem Menschen und keiner Katze und keinem Hund und keinem anderen Tier gehört.

Ich versuche, die Ohren zu verschließen, aber die Augen offen zu halten, damit ich nicht einschlafe. Die Decke ist zu heiß. Ich will sie wegtreten, aber Vater hat sie unter meinen Füßen eingeschlagen. Er deckt uns immer zu, wenn er Heimaturlaub hat, obwohl ich ihm gesagt habe, dass Mutter es besser kann. »Bist du denn gar nicht mehr Vatis Mädchen?«, hat er gefragt, und ich habe geantwortet: »Nein, Muttis.« Ich bitte Vater, vom Krieg zu erzählen, aber er sagt jedes Mal Nein.

Ich will kühle Luft an meine Beine lassen. Deshalb muss ich die Hände von den Ohren nehmen und die Stimmen ertragen. Mutter bittet Vater, ihr aufzumachen. Oben in der Bodenkammer sind Annas Schritte zu hören. In das Zimmer meiner Schwester kommt man von außen über eine Treppe, die ich aber nicht allein hochgehen darf. Anna kann auch nicht schlafen. Ich ziehe die Decke von den Beinen. Dann drehe ich mich um und drücke das eine Ohr aufs Kissen. Der Bodengeist ist nahe.

Die Latten in Johannes’ Bett knarren. Ich hebe den Kopf und lausche. Johannes weint leise. Als ich seinen Namen rufe, hört das Schluchzen auf.

»Komm her!«, flüstere ich.

Er antwortet nicht.

»Lauf schnell her, bevor der Bodengeist kommt.«

Aus dem Wohnzimmer ist Mutter zu hören, die wie ein Hund heult. Johannes antwortet, er wolle nicht kommen. Zwischen den Worten schnappt er nach Luft.

»Komm her«, locke ich. Das Bett knirscht, als er sich aufrichtet.

Plötzlich höre ich hinter Mutters Schrei eine Bewegung, dunkel und kalt. Die Dielen beginnen zu beben. Ich rufe Johannes zu, er soll sich beeilen. Er springt aus dem Bett und rennt auf mich zu. Schafft er es? Ich lausche, wo er ist. Jetzt hat er den Teppich erreicht, jetzt hat er ihn überquert.

»Lauf! Nimm dich vor dem Bodengeist in Acht!«

Ich rufe, und er läuft und weint und läuft. Seine nackten Füße patschen auf den Boden, die Dielen klappern. Er greift nach der Bettkante, und ich helfe ihm hoch. Sein Ellbogen trifft mich an der Schläfe. Es tut weh, aber ich schimpfe ihn nicht, weil es ein Versehen war. Die kalte Stimme flacht ab, Mutter weint lauthals.

Ich streichle Johannes’ Kopf. Er drückt seinen Teddy an sich und kann nicht aufhören zu weinen. Ich suche nach seiner Achselhöhle und kitzle ihn, bringe ihn aber nicht zum Lachen. Im Wohnzimmer ist Mutter inzwischen verstummt, doch Vater spricht. Ich kann nicht verstehen, was er sagt. Er brüllt nie. Johannes windet sich. Ich strecke mich neben ihm aus.

»Er ist weg. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«

Ich wische ihm die Tränen ab und streiche ihm über den Kopf. Die große Schwester kümmert sich. Ich setze mich auf und blase ihm prustend auf den Bauch, doch er schluchzt immer noch.

»Heulsuse«, sage ich.

Denn ich weiß, was Johannes braucht. Ich setze mich auf die Bettkante und lausche ins Haus. Anna läuft nicht mehr herum, Mutter erklärt irgendwas, schnell und mit leiser Stimme. Der Fußboden bebt nicht, doch ich weiß, dass unter den Dielen ein Geisterwesen mit kühler Haut schwimmt. Es streckt beide Arme über den Kopf und stößt sich mit den Beinen vorwärts wie ein Frosch im Wasser, das hat Vater mir erklärt. Es lauscht durch die Ritzen zwischen den Dielen und folgt einem von einem Zimmer ins nächste, unter den Wänden hindurch. Dennoch rolle ich mich über Johannes hinweg und setze vorsichtig die Füße auf den Boden. Mit beiden Händen halte ich mich an der Bettkante fest und fühle, ob der Boden schon schwankt. Johannes befehle ich, ganz leise zu warten und sich nicht zu rühren.

»Du darfst mir nicht nachlaufen. Jetzt musst du tapfer sein.«

Ich folge der Bettkante und gehe auf die Kommode zu. Als ich sie mit der Hand ertastet habe, lasse ich das Bett los und setze meinen Weg fort. Ich gehe vorsichtig. Der Bodengeist schwimmt unter irgendeinem anderen Zimmer. Ich erreiche die Tür und öffne sie, lausche. Mutters Stimme ist heiser. Sie sagt Erwachsenenwörter, die Kinder nicht verwenden dürfen. Sobald man sie hört, muss man sich umdrehen und weggehen. Ich lasse mich auf alle viere hinab und krieche hinter das Sofa. Johannes hat gestern gesagt, das sei ein gutes Versteck. Oma fragt mich immer ab, in welchem Zimmer welche Sachen sind und an welcher Stelle. Deshalb kenne ich schon fast alle Zimmer und ihren Inhalt auswendig.

Ich folge dem Rand des Teppichs weiter ins Wohnzimmer hinein. Vater sagt etwas zu Mutter, aber ich will es nicht hören. Die Dielen beben. Unter ihnen schwimmt ein Wesen, das keine Grenzen kennt. Ich bleibe stehen, halte die Luft an und horche. Es schwimmt vorbei. Mutter lacht vor sich hin, aber es klingt nicht fröhlich.

»Du berührst mich nicht mehr.«

Vater ist ganz still.

An der Ecke des Teppichs wende ich mich in Richtung Klavier. Früher hat Vater darauf gespielt, aber neuerdings sagt er, er hat keine Lust. Von hier ist es nicht weit bis zum Wäscheschrank. Ich stehe auf, mache ein paar Schritte und ertaste den Weg. Jetzt darf ich nichts herunterwerfen, nichts umstoßen. Ich trete gegen den Blumenständer, aber er schaukelt nur und macht kein Geräusch. Früher stand er mitten im Zimmer, aber Oma hat ihn an die Wand gerückt, damit ich nicht dagegenlaufe. Ich drehe mich um, finde mit der rechten Hand den Schrank, stelle mich davor und suche nach dem Schlüssel im Schloss. Er fühlt sich kühl an. Ich drehe ihn um und bekomme die linke Tür auf. Das zweite Fach von unten. Ich schiebe eine Hand zwischen die nach Sonne duftenden Laken, bis ich ihn finde. Johannes’ alten Schnuller. Ich habe ihn in der vorigen Woche entdeckt. Mutter hat ihn dort hingelegt oder Oma oder Anna.

Lautlos schließe ich die Tür und suche den Blumenständer. Dann drehe ich mich um und trete den Rückweg an. Vater spricht leise. Er will wissen, was er nicht getan oder was Mutter nicht bekommen hat.

»Bist du überhaupt ein richtiger Mann, Onni?«, fragt Mutter.

Plötzlich wird Vater laut. Er schlägt von innen gegen die Kammertür. Seine Stimme klingt nicht nach Vater, sondern nach irgendeinem anderen. Er ist nicht mehr der Mann, der süßlich riechende Pomade verwendet oder mit dem man sich verrückte Geschichten ausdenkt. Sein Schrei klingt, als käme er von einem durchgehenden Pferd oder von dem großen Stier des Nachbarn. Die Stimme kommt nicht aus seinem Mund, sondern aus der Brust. Als ich mich an den Teppich drücke, spüre ich, wie die Dielen beben. Ich will mich nicht bewegen, aber der Fußboden wogt. Der tauchende Bodengeist macht in der Küche kehrt, stößt sich an der Rückwand ab und gleitet unter der Wand des Wohnzimmers hindurch. Seine Haut ist kalt und glitschig wie bei einem Fisch. Er hält inne und schnüffelt, Augen hat er keine. Er hört Vater, schert sich aber nicht um ihn. Er sucht Kinder für das Grab.

Vater bittet darum, eine Weile schlafen zu dürfen, einen traumlosen Schlaf, ohne sich fürchten zu müssen. Mutter antwortet nicht, und Vater schreit, dass er an der Front Kies auf die Augen seiner toten Kameraden schaufeln muss, bis die Luft grau vom Staub ist. In der Feldsauna wäscht er sich Blut und Gedärm und Schädelstücke von der Haut. Er fragt, ob Nachbars Ville lange leiden musste oder sofort das Bewusstsein verloren hat. Und zu Hause wartet dann diese geile Stute, sagt er, die er besteigen soll, statt eine Weile einfach nur seine Ruhe zu haben. In der Kammer weint Johannes. Vaters Stimme wird richtig laut.

»Kann ich wenigstens eine Minute für mich allein haben? Wenigstens einen verdammten Augenblick, ohne dass jemand was von mir will?«

Ich schreie gellend, um Vaters Worte nicht hören zu müssen, aber dadurch merkt der Bodengeist, wo ich bin. Er stößt sich ab und schwimmt auf mich zu. Die Dielen heben sich, ich rutsche nach hinten. Mir bleibt nichts anderes, als aufzustehen, mich in Bewegung zu setzen. Ich laufe. Die Dielen lösen sich voneinander. Ich weiß die Richtung nicht. Der Blumenständer kippt um und stößt gegen das Klavier, doch ich bleibe nicht stehen. Mir ist heiß. Blinde dürfen nicht laufen, denn dann stoßen sie gegen irgendwelche Gegenstände und verletzen sich. Ich bekomme keine Luft. Ich versuche, geradeaus zu gehen, lasse den Arm vor mir nach rechts und links schwenken und den Weg suchen.

Mutter ruft meinen Namen, doch ich kann nicht innehalten. Die Dielen fallen und neigen sich und richten sich senkrecht auf. Das Schloss an Vaters Kammertür rasselt. Ich muss schneller laufen, mein Kopf stößt an die Wand und ich pralle mit dem Knie gegen das Sofa. Ich habe Gänsehaut. Mutter schreit Vater an: »Verdammt noch mal, siehst du, was du angerichtet hast?« Aber ich drehe mich nicht um und bleibe nicht stehen. Johannes muss den Schnuller bekommen. Ich presse ihn gegen den Bauch und laufe. Meine Hand trifft auf die Kälte der Fensterscheibe, ich drehe mich um und suche die Kammer. In welcher Richtung ist sie?

Johannes ist doch nicht etwa aufgestanden und ins Wohnzimmer gekommen? Er kann sich nicht mal am Teppichrand festhalten, wenn der Fußboden sich neigt.

»Komm nicht!«, rufe ich. »Bleib da, bleib da!«

Johannes weint in der Kammer, und ich orientiere mich daran. Ich finde die richtige Tür und schlüpfe hindurch. Schließe ab. Ich stoße gegen die Bettkante, halte mich daran fest und richte mich auf. Hinter der Tür sind Vater und Mutter. Ich lege mich neben Johannes und nehme ihn in den Arm. Dann öffne ich die Faust und gebe ihm den Schnuller. Das Gummi ist ausgeleiert. Als ich prüfend taste, merke ich, dass Johannes sich den Schnuller in den Mund gesteckt hat. Ich streiche ihm über die Haare.

Hinter der Tür bittet Vater um Verzeihung. Ich singe Johannes etwas vor. Du du du, mach nur deine Äuglein zu. Er schiebt seine Zehen unter meine Beine, in Sicherheit.

WIR LIEFEN UNS ÜBER DEN WEG4

Die Typenhebel der Schreibmaschine sind wie die Beine einer Mücke. Oder so, als hätte man Weberknechte in mehreren Reihen festgeklebt und jeder von ihnen würde abwechselnd ein Bein heben und mit den Zehen sein eigenes Bild auf dem Papier hinterlassen. Tuomas schaut zu, während Mutter Tasten herunterdrückt, manche öfter als andere, und zwischendurch gegen den metallisch glänzenden Hebel schlägt, der die schwarze Walze und das Papier ans andere Ende zurückschiebt. Auf dem Briefbogen ist das Bild einer Regenwolke abgedruckt, aus der die Tropfen wie Tränen herablaufen. Diese Briefe gehen an diejenigen, denen Vater Kameras oder Fotos umsonst mitgegeben hat, weil sie gerade kein Geld dabeihatten. Dann gibt es noch ein anderes Briefpapier, auf dem es gewittert und blitzt, aber das wird nur an Leute geschickt, die Vater vorher angerufen hat, und dann Mutter, und später Mutter noch einmal ohne Vaters Wissen.

Tuomas lässt den Deckel der Filmdose auf und zu klicken. Die Dose ist aus Metall. Mal öffnet er sie und nimmt den stechenden Plastikgeruch wahr, mal presst er sie in der Hand. Seitlich lässt sie sich leicht eindrücken, aber wenn man gleichzeitig am oberen Ende und am Boden drückt, passiert nichts. Einmal hat er mehrere Dosen auf den Asphalt im Innenhof gelegt und die an der Garagenwand aufgestapelten Ziegelsteine vom abgerissenen Backofen darüber gehäuft, doch die Ziegel sind heruntergerutscht und keine einzige Dose wurde zerdrückt.

Im Laden sind Vaters Schritte zu hören. Er ruft nach Mutter.

»Hast du kurz Zeit, Kaarina? Komm bitte mal nach vorn und sag guten Tag.«

Mutter stößt die Luft aus, so wie sie es auch tut, wenn Oma Lahja am Esstisch sagt, die Kartoffeln wären schlecht geschält oder die Soße wäre zu dünn. Dann schreibt sie die Zeile zu Ende und schiebt die Walze auf die nächste Zeile. Steht auf und geht zu Vater.

Tuomas weiß, was das bedeutet. Vater erinnert sich nicht an den Namen oder die Adresse des Kunden. Er kann die Gesichter nicht sofort zuordnen. Tag für Tag stehen Leute am Ladentisch, die überzeugt sind, dass der Fotograf sie kennt, weil er vor Urzeiten das Foto zu ihrer Konfirmation und Oma Lahja das Hochzeitsfoto der Großeltern gemacht hat. Jedes Mal nickt Vater wissend, erkundigt sich nach zurückliegenden und bevorstehenden Ereignissen, durchforstet in seinem Kopf Dörfer, Kreuzungen und gemeinsame Bekannte, Berufe und Verwandte. Die Kunden antworten, erzählen von kalbenden Kühen, von den Ergebnissen der Rentierwettläufe und den ständigen Ohrenentzündungen ihrer Kinder. Schließlich fallen Vater der Familien- und der Vorname seines Kunden ein, und er schreibt sie auf die Filmtüte. Die Kunden mögen es, wenn der Fotograf sich an ihren Namen erinnert. Sie finden Johannes Löytövaara nett und zuvorkommend.

Aber gelegentlich kommt es vor, dass Vater aus der Geschichte nicht schlau wird. Dann unterbricht er den Kunden und wendet sich zum Hinterzimmer.

»Einen Augenblick, ich hole Kaarina, damit sie auch guten Tag sagen kann.«

Mutter sitzt jedoch nicht immer im Hinterzimmer, um Rechnungen zu schreiben oder Fotos auf Danksagungskarten zu kleben. Dann muss Vater sich sputen.

»Einen Moment, ich sehe in der Küche nach«, sagt er zu dem Kunden und läuft aus dem neuen Anbau mit dem Fotostudio außen herum zum Wohnhaus, ruft schon unten in der Diele Mutters Namen und nimmt auf dem Weg nach oben zwei Stufen auf einmal.

»Ich komme einfach nicht auf seinen Namen! Es ist der Mann, der in den Fünfzigern jahrelang mit Kaisa Nevala gegangen ist, bevor er das hübsche Mädchen aus Salla geheiratet hat.«

Dann seufzt Mutter jedes Mal, nimmt den Topf vom Herd, legt den Staubsauger aus der Hand, stellt den Rasenmäher aus, hört auf, mit Oma zu zanken, legt die halb geschälte Kartoffel in die Waschschüssel zurück und eilt in das Fotogeschäft. Sobald sie den wartenden Kunden erblickt, lächelt sie.

»Guten Tag, Jaska Määttä, wie geht’s?«, fragt sie und sieht Vater wissend an.

Vater schnappt sich den Stift vom Ladentisch und schreibt den Namen auf die Filmtüte. Er will wissen, ob der Kunde die Abzüge lieber im Format neun mal neun oder zehn mal zehn hätte. So oder so wären die Bilder am Dienstag der folgenden Woche fertig.

Jetzt steht Mutter vom Schreibtisch auf und geht ins Geschäft. Tuomas setzt sich auf ihren Stuhl und schlägt einige Tasten an, allerdings nicht so fest, dass die Mückenbeine Zeichen auf dem Papier hinterlassen. Das hat er ein paarmal getan, aber da ist Mutter böse geworden. Sie hat mit Tuomas an der Maschine gesessen und ihn die Rechnung neu schreiben lassen. Geduldig hat sie ihm erklärt, was er als Nächstes tun musste.

»Dann schlägst du die Taste an, auf der ein gerader Strich von oben nach unten verläuft. Such nur, so einen gibt es. Such, such. Gut.«

Tuomas rutscht von Mutters Stuhl und geht zum Laden. Er blickt auf die Uhr und sieht, dass der kleine Zeiger schon fast an der Stelle steht, wo Tapio aus der Schule kommt. Tuomas möchte zur Schule gehen wie Tapio, aber er muss noch viele Portionen Haferbrei essen, bevor man ihn dort aufnimmt. Er schlüpft in den Laden und unter den Verkaufstisch. Früher war dort reichlich Platz, aber jetzt wird es zwischen Fußboden und Theke allmählich eng. Über ihm ist die Registrierkasse, an der Mutter zuerst auf die graue Taste mit der Zwei drückt, dann auf die schwarzen mit der Null und der Sechs und zum Schluss auf die große rote, woraufhin die Kasse klingelt und die Lade aufspringt. Tuomas würde die Kasse gern ausprobieren, aber das ist verboten. Vater lässt ihn ab und zu abends die Fünf-Penni-Stücke zählen, Mutter nie.

Vater zeigt irgendwem eine teure Kamera, und Tuomas weiß, dass man ihn dabei nicht stören darf. Mutter erzählt oft, dass Vater gerade dabei war, einem deutschen Touristen eine Systemkamera zu verkaufen, als Tuomas beschloss, zur Welt zu kommen. Mutter hatte auf der Leiter am Regal mit den Bilderrahmen gestanden, um das obere Brett abzuwischen, und plötzlich gesagt, sie wolle jetzt ins Krankenhaus. Sie lacht immer, wenn sie Gästen die Geschichte erzählt.

»Ich werde nie vergessen, wie Johannes mich gebeten hat, noch ein bisschen durchzuhalten, weil er erst die Kamera verkaufen wollte. Und er hat sie verkauft.«

Mutter sucht in der Schublade nach Raatikainens Bildern. Von seinem Platz unter der Theke sieht Tuomas nur die Schuhe der Kunden. Braune Halbschuhe. Gummistiefel. Die Ladenglocke bimmelt, und rote Pumps betreten das Geschäft. Die Gummistiefel drehen sich um. Die Halbschuhe machen einen Schritt zur Seite. Tuomas hört die Fragen der Mutter und die Antworten der Schuhe. Die Halbschuhe möchten einen Termin für das Konfirmationsfoto des Sohnes. Mutter fragt, ob der Junge die Rosen selbst mitbringt. Die Gummistiefel wollen einen billigen Bilderrahmen mit Rosen an den Ecken für die Gedenkfeier der Schwiegermutter. Mutter geht ans Regal und holt zwei Modelle, eines aus Kupfer und eines aus Silber. Das silberne ist teurer. Die Gummistiefel möchten sich die Rahmen in Ruhe ansehen und sagen: »Bedienen Sie so lange den Kunden da drüben.« Die roten Pumps kommen näher an den Ladentisch und bitten um zwei Rollfilme, vierhundert ASA. Die Gummistiefel beschließen, dass für die Schwiegermutter Kupfer gut genug ist, legen das abgezählte Geld auf den Tisch und gehen.

Irgendetwas an der Art, wie die roten Pumps sprechen, irritiert Tuomas, doch er kommt nicht darauf, was daran seltsam ist. Er kriecht aus seinem Versteck und bleibt mit dem Rücken zur Theke auf dem Boden sitzen. Mutter holt Filmpackungen aus dem Regal. Als sie Tuomas bemerkt, runzelt sie die Stirn. Schüttelt sie sachte den Kopf? Tuomas klickt den Deckel seiner Filmdose auf und wieder zu, dreht sich um und hebt den Kopf auf die Höhe der Registrierkasse. Mutter reicht einem großen Mann in einem schmierigen blauen Overall die Filme. Der Mann bedankt sich, nimmt die Filme in die eine Hand und greift mit der anderen in die Gesäßtasche seines Overalls, findet aber nicht, was er sucht.

»Wo habe ich sie nur hingetan?«

Tuomas bückt sich und späht unter dem Ladentisch hindurch. Die roten Pumps verlagern das Gewicht erst auf das eine, dann auf das andere Bein. Tuomas erhebt sich wieder auf die Höhe der Theke. Der Mann im Overall legt die Filme auf den Ladentisch und daneben eine schöne, dünne Geldbörse mit orangefarbenen Pailletten und einer violetten Metallrosette als Verschluss. Er öffnet die Rosette, holt einen sorgfältig gefalteten Geldschein heraus und reicht ihn der Mutter.

Tuomas krabbelt ans Ende der Theke, zu dem großen orangefarbenen Plastikpapierkorb. Dort holt Mutter immer die leeren Filmdosen heraus, die Vater weggeworfen hat, sammelt sie in einer Plastiktüte und schenkt sie der Spielgruppe der Gemeinde. Tapio und Minna bekommen ihr wöchentliches Taschengeld in Filmdosen. Drei Mark in Fünf- und Zehn-Penni-Münzen. Maarit ist schon so groß, dass sie einen Fünf-Mark-Schein bekommt. Tuomas späht über den Rand des Papierkorbs, als der Mann die Hand ausstreckt, um das Wechselgeld in Empfang zu nehmen. Er hat einen ähnlichen Overall wie der Mechaniker an der Tankstelle, bei dem Vater das Auto und den Rasenmäher reparieren lässt. Aus der Seitentasche hängt Putzwolle. Der Mann faltet die Geldscheine ordentlich auf die Hälfte und noch einmal auf die Hälfte, steckt sie in seine Geldbörse und drückt die Rosette zu. Die Pailletten glitzern, dann verschwindet die Geldbörse in der tiefen Tasche des blauen Overalls.

Der Kamerakäufer will vorsichtshalber noch seine Frau nach ihrer Meinung fragen. Vater schraubt das Objektiv von der Kamera und nickt zum Abschied. Er bemerkt Tuomas. Der Junge öffnet den Mund, doch Vater dreht den Kopf langsam nach rechts und dann nach links.

Der Mann im Overall bedankt sich bei Mutter und geht zur Tür. Aus der anderen Gesäßtasche zieht er eine fleckige Schirmmütze im gleichen Blau und setzt sie auf, bevor er die schwere Ladentür aufschiebt. Auf dem Hof steigt er in einen dunkelgrünen Ford. Nun ist der Laden leer. Vater setzt den Linsenschutz auf die Kamera.

»Er ist Schweißer. Gläubig. Hat schon sieben Kinder.«

Tuomas sagt nichts dazu, denn er hat ja auch nichts gefragt. Vater legt das Objektiv ins Regal zurück.

»Ein netter Mann. Jeder ist, wie er ist.«

»Haben sie ihn schon zur Bußversammlung5 eingeladen?«, fragt Mutter.

»Er hat es nicht für nötig gehalten, hinzugehen. Wenn man andersartig genug ist, sticht man nicht mehr hervor. Die hoffen einfach, dass er nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregt als bisher.«

Mutter hat in der Schublade des Ladentischs eine Kamerarechnung gefunden, auf der der Name des Käufers fehlt, und schwenkt sie verärgert vor Vaters Gesicht. Dem kleinen Zeiger an der Ladenuhr nach zu urteilen müsste Tapio gleich nach Hause kommen. Tuomas geht zur Tür und wartet auf seinen Bruder. Bald kommen auch Maarit und Minna aus der Schule.

UND DANN IST ES MIR, ALS SPRÄCH’ ES LAUT6

Mutter hat den Tannenbaum schon hereingeholt. Anfangs duftete er nach Harz und Wald, aber jetzt ist der Geruch schwächer geworden. Ich streiche mit dem Handrücken über einen Zweig, und Hunderte Nadeln kratzen sanft an der Haut. Auf der Höhe des Wohnzimmers sind hinter dem Fenster knarrende Schritte und Geflüster zu hören, doch ich kümmere mich nicht darum.

Ich gehe in den Fotoraum. Dort riecht es nach Magnesiumpulver, das man benutzt, um genug Licht zu bekommen. Mutter macht täglich Fotos für die Militärpässe und Passierscheine der Deutschen. Deshalb heißt sie bei ihnen Fotomama. Sie klopfen an die Haustür und fragen: »Ist die Fotomama da?« Wenn Mutter zu Hause ist, muss man die Tür öffnen und »Bitte« sagen. Heutzutage soll die Tür immer abgeschlossen sein, weil Krieg ist und die Grenze ganz in der Nähe.

Ich gehe durch den Durchgangsraum ins Esszimmer. Der Teig duftet bis hierher. Mutter fegt Kohle aus dem Backofen, und Anna verquirlt irgendetwas in einer Schüssel. Ich höre sofort, wo Johannes ist. Beim Versteckspiel ist er miserabel, läuft zuerst durch das ganze Haus, wechselt den Platz und poltert. Ich rate ihm immer wieder, sich neue Verstecke zu suchen, unter ein Bett zu kriechen oder in den Kasten mit dem Brennholz zu klettern, aber er hört nicht auf mich, sondern steht immer keuchend hinter einer Tür, weil er glaubt, er müsse mir alles leicht machen. Manchmal tue ich so, als würde ich ihn nicht bemerken, und irre durch andere Zimmer, und dann kichert er. Man muss Jungen ab und zu gewinnen lassen. Diesmal mag ich nicht lange spielen, sondern drücke die Küchentür zu und taste nach seiner Hand. Er versucht, sich nicht zu bewegen, damit ich ihn nicht bemerke.

»Ich hab dich schon gefunden.«

»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«

Das Flüstern ist jetzt hinter dem Fenster des Durchgangsraums zu hören, aber mir machen die Wichtel keine Angst. Vergangene Woche hat Anna gesagt, es gibt sie gar nicht. Johannes quengelt, ich soll ihn noch einmal suchen. Vor der Kammer neben der Haustür mache ich »pst«, er soll leise sein, denn Oma ist erst am Morgen von einer Entbindung zurückgekommen. Sie sagt immer, es ist das letzte Mal, aber die Leute kommen aus alter Gewohnheit zu uns, wenn die neue Hebamme unterwegs ist. Über dem Fotoraum knarren die Dielen der Mietkammer im Obergeschoss. Mutter hat als junges Mädchen dort gewohnt und bis vor Kurzem Anna, aber jetzt geht dort ein deutscher Oberst auf und ab. In jedem Haus sind Offiziere einquartiert worden. Manchmal lässt der Oberst seinen Plattenspieler laufen, so laut, dass man es bis unten hört, und dann singt Oma mit: »Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein.« In die Kammer geht man von außen über die Treppe, deshalb begegnen wir dem Oberst nicht oft. Manchmal kommt er herunter, klopft an die Tür und setzt sich mit Oma ins Wohnzimmer. Dann holt Oma aus ihrer Kammer schöne Gläser und eine Karaffe, an deren Seiten tiefe Furchen von oben nach unten geschliffen sind.

Anna ruft aus dem Esszimmer.

»Mutter sagt, du sollst noch eine Weile mit Johannes spielen, bald gibt es Pfefferkuchen.«

Johannes quiekt vor Begeisterung. Ich habe keine Lust, aber so kurz vor Weihnachten ist es besser, nicht Nein zu sagen.

Johannes bleibt auf dem Sofa sitzen und zählt, obwohl er noch nicht alle Zahlen kann. Ich habe mir mein Versteck schon ausgesucht und mache mich auf den Weg zur Veranda. Die Tür ist schwer und die Luft dahinter frostig. Anfangs brennt sie beim Einatmen in der Lunge. Ich drücke die Tür zu und gehe an den Schrank, in dem Omas dicker Wolfspelz aufbewahrt wird. Er muss zum Aufwärmen nach drinnen gebracht werden, wenn Oma bei Frost von weither geholt wird. Wenn ich in den Pelz schlüpfe und die Arme in die Ärmel stecke, findet Johannes mich nie.

Ich warte. Er kommt einmal an die Tür, geht aber wieder hinein. Der Pelz riecht nach Oma. Ich wickle ihn um mich, doch die Kälte packt mich an den Zehen. Johannes läuft an der Tür zum Wohnzimmer vorbei.

»Gib mal Laut«, fordert er.

In den Ärmel des Pelzmantels rufe ich so leise: »Hier!«, dass ich mich nicht sofort verrate. Johannes hört es dennoch und öffnet die Verandatür. Er ruft mehrmals meinen Namen.

Ich antworte nicht. Er fordert wieder ein Signal von mir, aber ich bin still. Das Versteck ist gut, ich werde es öfter verwenden. Johannes wird böse.

»Man muss was sagen, wenn der andere es will.«

Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich beschließe, weiter zu schweigen. Johannes lauscht, und als er nichts hört, geht er zurück zur Tür.

Plötzlich wird an die Außentür geklopft. Ich habe die ganze Zeit auf Johannes gelauscht und das Knarren der Schritte im trockenen Schnee nicht gehört. Johannes kommt zurück und fragt, wer da ist.

»Mach auf. Will zur Hebamme.«

Der Mann spricht eigenartig. Sicher will er Oma in irgendeine ferne Ortschaft an der Grenze holen, Richtung Paanajärvi. Johannes öffnet nicht, denn abends dürfen nur Erwachsene das Schloss anfassen. Er erklärt, dass er Mutter holen muss.

»Mach erst auf. Will zur Hebamme.«

Der Mann rüttelt an der Tür, aber Johannes ist schon weg. Die Scheiben der Veranda klirren. Jemand flüstert. Ich ziehe die Hände aus den Ärmeln des Pelzmantels, öffne die Schranktür und klettere hinaus. Die Stimme des Mannes ertönt hinter dem Fenster.

»Schönes Mädchen, mach auf.«

Die Tür zum Wohnzimmer wird geöffnet. Mutter erkundigt sich, worum es geht.

»Wichtige Sache.«

Mutter tritt ans Fenster und kratzt den Reif von der Scheibe.

»Woher kommen Sie? Haben Sie überhaupt ein Pferd?«

Ich öffne den Schrank noch einmal und hole den Wolfspelz heraus. Hinter der Tür ist nun die Stimme eines anderen Mannes zu hören. Er erklärt, dass ein Foto gebraucht wird. Ein Passfoto.

»Um diese Zeit?«

Ich schließe die Schranktür. Mutter bemerkt mich.

»Was willst du mit dem Pelz?«

Ich sage, dass er zum Aufwärmen nach drinnen gebracht werden muss, damit Oma nicht friert.

»Er braucht doch ein Foto.«

Ich erkläre, dass er zuerst nach Oma gefragt hat. Mutter bleibt stehen, ohne etwas zu sagen. Dann geht sie wieder zur Tür.

»Wofür wird das Foto gebraucht?«

»Für einen Passierschein.«

Mutter befiehlt mir, sofort nach drinnen zu gehen. Sie dreht mich an den Schultern um und schiebt mich von der Haustür weg. Ich frage, ob ich den Pelz mitnehmen soll.

»Von mir aus, aber hol Oma her, sofort.«

Ich lasse die Hand über die Wandpaneele gleiten, bis ich links die Tür finde, die direkt in den Durchgang führt. Dann lege ich den Pelz auf den Tisch neben der Tür und klopfe bei Oma.

»Herein!«

Im Zimmer riecht es nach Kampfer, die Luft ist so muffig wie immer. Oma liegt auf dem Bett.

»Was gibt’s, Helena?«

Ich erkläre ihr, dass Mutter sie an die Tür bittet. Dass zwei Männer sie holen wollen und außerdem ein Foto für einen Passierschein brauchen.

»Für einen Passierschein?«

Oma steht auf und zieht Wollsocken an. Sie öffnet eine Kommodenschublade und holt etwas Kleines hervor, macht dann die Schranktür auf und nimmt etwas Größeres heraus. Dann geht sie an mir vorbei. Ich folge ihr auf die Veranda.

»Was willst du damit?« Mutter klingt erschrocken.

»Sei still«, antwortet Oma.

Ich versuche zu fragen, was Oma aus dem Schrank genommen hat, aber Mutter zischelt nur etwas Unverständliches. Sie zieht mich zu sich und legt ihre Hände auf meine Schultern. Oma geht an die Tür.

»Ich bin die Hebamme. Wohin werde ich gerufen?«

Hinter der Tür ist nichts zu hören.

»In welchem Dorf werde ich gebraucht?«

Niemand antwortet.

»Sie sind noch da«, sagt Mutter.

»In Käylä?«, fragt Oma.

Jetzt kommt eine Antwort.

»Ja.«

»Ich habe es nicht richtig gehört. Sag noch mal, wo.«

»In Kä…«

Der Mann bricht mitten im Wort ab.7

»Bring das Kind weg«, befiehlt Oma.

Mutter führt mich ins Wohnzimmer und zieht die Tür zu. Auf der Veranda ist Omas Stimme zu hören.

»Ihr habt fünf Sekunden Zeit zu verschwinden, dann feuere ich durch die Tür. Jeder Deutsche im Dorf ist sofort hier, wenn er den Schuss hört.«

Mutter hält mich immer noch an den Schultern fest.

»Hat Johannes sich wieder versteckt? Suchen wir ihn gemeinsam?«, fragt sie, obwohl sie eigentlich keine Lust dazu hat, und zieht mich in Richtung Küche. Als wir am Fotoraum vorbeigehen, kracht es auf der Veranda wie bei einem Gewitter.

»Um Himmels willen«, ruft Mutter, lässt meine Schultern los und läuft ins Wohnzimmer. Sie schlägt mit dem Besenstiel an die Decke.

»Kommen Sie sofort runter!«

Anna kreischt in der Küche, und Johannes weint im Kinderzimmer.

»Was ist los?«, rufe ich, aber Mutter antwortet nicht.

Ich muss Johannes finden. Mutter läuft auf die Veranda, und in der Kammer im Obergeschoss sind ebenfalls Laufschritte zu hören. Johannes kommt und fasst mich an der Hand und weint vor Schreck, und auf der Veranda höre ich Anna schluchzen. Mir ist auch zum Weinen, aber niemand erklärt mir etwas. Die Fenster zum Hof klirren, als der Oberst die Außentreppe herunterläuft.

»Was passiert da?«, frage ich Johannes, doch er bringt keine Antwort zustande.

Ich gehe an die Tür und rufe in Richtung Veranda:

»Alles in Ordnung, Oma?«

Die Haustür wird aufgerissen, und der Oberst kommt herein. Mutter und er sprechen Deutsch miteinander, und Annas Weinen übertönt alles, was sie sagen. »Was? Was? Was?« und »Die Partisanen«. Auf der Veranda höre ich Oma fluchen. Ich spüre die Erleichterung im Magen.

Am Abend sitzt Oma mit Mutter und dem Oberst am Küchentisch. Der Oberst schnappt sich zuerst Johannes und dann mich, kneift uns in die Wange und sagt etwas auf Deutsch. Oma erklärt, dass er sich entschuldigt. Der Oberst hat zu Hause auch Kinder, weit weg von hier.

Das Bett im Durchgangsraum hat ein junger Soldat der Deutschen bekommen, der Wache hält, und die Haustür dürfen wir Kinder auch tagsüber keinem Unbekannten öffnen. Und wenn ein Bekannter an der Tür steht, muss man ihn trotzdem ein Wort sagen lassen, in dem ein Y vorkommt.

Oma sagt zu Mutter: »Verdammt, das hat so einen Rückstoß gegeben, dass ich jetzt einen blauen Fleck am Bauch habe.« Keiner erklärt mir, was ein Rückstoß ist.

»Sie waren an jedem Fenster, nur in die Bodenkammer haben sie nicht geguckt«, erzählt Oma und gießt aus der eingekerbten Karaffe etwas in ein langstieliges Glas. »Aber die hat’s erwischt.«

In der Nacht fragt Johannes in der Kammer, ob Oma einen Wichtel getroffen hat.

DER RHYTHMUS GEHT INS BLUT8

Minna erklärt Tuomas, wie man mit dem Filzstift großäugige Katzen malt.

»Zuerst malst du einen Kreis als Kopf, da hinein die Schnurrhaare, dann noch einen Kreis und zum Schluss den Schwanz.«

Mutter hat auf dem Fußboden zwei große Bogen vergilbte Pappe ausgebreitet, die früher als Hintergrund im Schaufenster des Fotogeschäfts hingen, und Tuomas Buntstifte gegeben. Maarit und Minna haben den Auftrag, ihrem kleinen Bruder, der ängstlich gespannt auf den Weihnachtsmann wartet, Gesellschaft zu leisten, und sie malen eifrig mit. Tapio hat seinen Geschwistern vom Sofa aus zugeschaut und schließlich einen blauen Filzstift genommen. Jetzt will er sich den schwarzen borgen, damit er den Rauch malen kann, der aus dem Auspuff des Autos qualmt. Maarit zeichnet ein Logo in der Form eines Wappens, auf dem in der Mitte in Großbuchstaben Hurriganes steht.

Die Flurtür klappert, und aus dem Treppenhaus weht scharfer Zigarettenrauch ins Wohnzimmer. Kari führt Helena am Arm hinein, steuert sie vorsichtig um den Weihnachtsbaum herum und hilft ihr, sich auf das Sofa zu setzen. Die Tante hat das weite braune Kleid angezogen, das Oma ihr gestern geschenkt hat, nachdem Vater die Weihnachtsgäste vom Flughafen abgeholt hatte.

Kari setzt sich in den Sessel, knipst die Stehlampe an und liest die Erzählung des Monats in dem Reader’s-Digest-Heft, das er auf dem Tisch hatte liegen lassen. Tuomas hat ihn gefragt, ob sie in Helsinki selbst ein Kind haben, aber keine Antwort bekommen. Sonst ist Kari immer nett und spielt mit ihnen und erzählt lustige Geschichten, doch jetzt hat er schlechte Laune.

Helena lauscht in den Raum.

»Wer ist hier?«, fragt sie.

»Wir alle«, antwortet Maarit ihrer Tante. »Minna und ich und die Jungen.«

»Was macht ihr?«

»Wir malen.«

Helena steht vom Sofa auf, sucht mit der linken Hand die Tischkante und folgt ihr, bis sie am Tisch vorbei ist und den Sessel findet.

»Die Möbel stehen anders als im Sommer«, sagt sie.

Im hinteren Teil des Wohnzimmers ist mit einem Bücherregal eine Schlafecke für Minna abgetrennt. Helena geht am Sessel vorbei und wendet sich nach links. Maarit schiebt Tuomas zur Seite, damit die Tante nicht über ihn stolpert.

»Wo steht das Klavier?«

»Gleich neben dir. Links«, antwortet Kari, ohne vom Heft aufzublicken.

»Da, wo die Fenster sind?«

»Dazwischen.«

»Hier steht alles anderswo als früher.«

Helena dreht sich nach links, schwenkt die Hand nach unten, macht einen Schritt und schwenkt sie erneut. Beim dritten Schritt findet sie das Klavier. Sie sucht den Hocker, setzt sich darauf und klappt den Deckel hoch.

»Dann spiele ich mal.«

Die Hände legen sich auf die Tasten. Helena schlägt eine von ihnen leise an, lauscht auf den Ton und legt die Finger schnell auf die richtigen Stellen. Tuomas kennt das Weihnachtslied aus der Spielgruppe und steht auf, um die Hände der Tante zu sehen. Mutter legt Wert darauf, dass Helena Tante genannt wird. Sie schimpft nicht, wenn man Tante oder Onkel nur beim Vornamen nennt, aber sie blickt jedes Mal auf und verbessert einen. Tante Helena, Onkel Kari. Verwandtschaft ist für Mutter eine ernste Sache.

Die Finger der rechten Hand der Tante spielen die Melodie schnell. Sie finden die richtigen Tasten, obwohl die Augen schräg nach oben starren. Die linke Hand sucht Akkorde, aber sie hat es nicht so eilig. Ab und zu streckt sich der kleine Finger oder der Daumen, um leise auf eine weiße Taste zu drücken, und dann lauscht Helena auf den Ton, der dabei entsteht. Mit seiner Hilfe finden die anderen Finger ihren Platz. Tuomas kommt es vor, als würden die Hände unabhängig voneinander arbeiten, die eine spielt »All die Lichter geh’n aus«, während die andere verschiedene tiefe Töne hinzufügt, und doch entsteht daraus das bekannte Lied.

»Was hast du vor, wenn du im Herbst mit der Schule fertig bist, Maarit?«, fragt Helena.

»Ich gehe weiter aufs Gymnasium«, antwortet Maarit und malt das S im Logo aus.

»Sie wäre gern Friseurin geworden«, erklärt Minna.

Maarit zieht die Augenbrauen hoch.

»Was geht dich das an?«

An die Stelle des Wichtelliedes tritt »Die Nacht am Blauen Berg«. Tuomas geht zum Papier zurück und übermalt das Orange mit Grün. Minna hat von Maarit zum Dank für das Ausplaudern ihres Geheimnisses einen roten Fleck auf die Wange gemalt bekommen. Sie feuchtet ihren Finger an, wischt die Farbe routiniert ab und wirft ihrer Schwester einen wütenden Blick zu. Maarit starrt zurück.

»Vater hat sie in die Oberstufe am Gymnasium gezwungen, obwohl er selbst nicht so lange zur Schule gegangen ist.«

»Euer Opa hat mich nach Helsinki gezwungen.«

»Ach, ich wünschte, ich könnte da hin.«

»Jeder Mensch tut, was er will.«

Kari unterbricht seine Lektüre und wirft Helena einen Blick zu, sagt aber nichts.

Tuomas beobachtet Tapio beim Zeichnen. Das Auto sieht ziemlich toll aus. Er versucht, gelbe Reifen zu malen. Minna zeichnet noch eine Katze und hat dann stellvertretend für ihre große Schwester eine Idee.

»Kannst du was von den Hurrikanes spielen?«

Maarit versucht Minna zu kneifen, bekommt sie aber nicht zu fassen. Helena unterbricht ihr Klavierspiel.

»Kenne ich nicht. Ist das was Neues?«

»Ja.«

»Sing mir mal vor.«

»Die haben so eins, das heißt ›Get on baby, get on‹.«

»Was ist das?«

»Was ist was?«

»Rockmusik«, sagt Tapio.

Helena sitzt einen Moment lang still da. Sie legt die Hände in den Schoß und lauscht zum Flur hin.

»Wo ist eure Oma?«

»Mit Vater an Opa Onnis Grab, sie bringen ihm eine Kerze.«

Helena legt die Hände wieder auf die Tasten. Der rechte Daumen schlägt leise einen Ton an, und die anderen Finger gruppieren sich um ihn. Der kleine Finger der linken Hand schlägt ganz schnell zwei Töne an, dann der Ringfinger, der Mittelfinger und der Zeigefinger. Vom Daumen geht der Rhythmus zum Zeigefinger zurück und von dort der Reihe nach weiter bis zum kleinen Finger. Die rechte Hand beginnt die Melodie zu spielen. Tapio erkennt den Rhythmus und steht auf.

»Rockabilly!«

Helena streicht mit der rechten Hand eine Haarsträhne beiseite, die ihr ins Auge fallen will, und spielt weiter. Kari legt die Zeitschrift aus der Hand und schaut sie an. Minna und Maarit stehen auf und hören gebannt zu.

Tuomas bleibt allein bei dem Papier sitzen und denkt über Helenas Finger nach. Er vergleicht Helena, Tapios Patentante, mit seiner eigenen. An Tante Anna ist nichts auszusetzen, sie ist nett, erinnert sich immer an seine Geburtstage und Namenstage, strickt grüne Strümpfe und lädt ihn zu Besuch ein. Dennoch ärgert er sich jetzt über irgendetwas, das er aber nicht zu fassen bekommt. Tuomas beugt sich vor und greift nach dem roten Filzstift, den Maarit liegen gelassen hat. Dann zieht er die Kappe vom Stift, drückt die Spitze auf Tapios Auto und kritzelt lauter Striche darüber, immer auf und ab.

BRENNENDES FEUER9

Tuomas fürchtet sich, aber Omas Hand beruhigt ihn. Sie ist nicht so wie Mutters Hand, sondern runzlig, und die Adern verlaufen dicht unter der Haut. Mutter hat lange, schmale Finger, Oma kurze, so wie Vater.

Vater macht Hochzeitsfotos. Er ist nervös, weil er damit rechnen muss, dass das aufkommende Gewitter den Strom unterbricht und das Blitzlicht nicht funktioniert. Mutter hat ihm geholfen, denn vor Blitzlichtern hat sie keine Angst, nur vor Blitzen. Jetzt ist sie im Keller. Obwohl sie behauptet, die Gewitter im Norden seien überhaupt nicht schlimm, und da, wo sie als Kind gewohnt hat, habe es so gedonnert und geblitzt, dass sogar Opi es mit der Angst zu tun bekommen habe, geht sie immer in die Sauna im Keller, wenn der erste Blitz aufzuckt. Hinterher lacht Oma sie aus und nennt sie Feigling, aber Mutter regt sich darüber nicht auf.

»Dann habe ich eben auch eine Schwachstelle. Da können Sie ja zufrieden sein.«

Mutter sagt immer Sie zu Oma und nie Du, und Oma hält es genauso. Vater behauptet, sie seien höflich zueinander, aber Tuomas glaubt ihm nicht.

Tuomas war mit Tapio im Wohnzimmer, als sich das Gewitter zusammenbraute. Er wollte in den Keller, um Mutter Gesellschaft zu leisten, aber Oma fasste ihn an der Hand.

»Jeder Mensch muss entscheiden, ob er sich vor der Welt fürchten will oder nicht.«

Oma öffnet die schwere Tür zum Dachboden, und sie steigen gemeinsam die knarrenden Stufen hinauf. Das Haus ist das größte im ganzen Dorf, das Erdgeschoss ist komplett vermietet, und sie wohnen im ersten Stock. Darüber gibt es noch den Dachboden, auf dem es nach altem Sägemehl riecht. Nach Maarits Auszug hat Minna die Bodenkammer bekommen. In ihrem Zimmer qualmt ständig ein Räucherstäbchen.

»Ich bin zu jung, um nach einem alten Haus zu riechen.«

Tuomas schläft bei Vater und Mutter im Zimmer, denn Tapio ist aus dem Etagenbett umgezogen und liegt jetzt an Minnas Platz hinter dem Bücherregal. Nun flüstert abends keiner mehr, dass im Tapetenmuster Monster zu sehen seien oder dass ein Gespenst in dem Schrank wohne, wo der schwarze Anzug hängt, den Vater trägt, wenn er Begräbnisfotos macht. Das war allerdings gelogen, Tuomas hat tagsüber oft im Schrank nachgesehen. Dennoch ist es langweilig, schlafen zu gehen, ohne ein klein wenig Angst zu haben.