Wege, die sich kreuzen - Tommi Kinnunen - E-Book
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Wege, die sich kreuzen E-Book

Tommi Kinnunen

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Beschreibung

"Ein meisterlicher Generationenroman über drei starke Frauen mit dunklen Geheimnissen.“ Dagens Nyheter

In einem Städtchen im Norden Finnlands, 1996. Lahja liegt auf dem Totenbett. Sie kann zurückblicken auf ein langes Leben, in dem sie ihre Leidenschaft zum Beruf machen konnte: das Fotografieren. Aber eines war ihr nicht vergönnt: körperliche Erfüllung. Ihr treu sorgender Ehemann Onni konnte ihr nicht geben, nach was sie sich sehnte – bis sie sich nach Jahren der unterdrückten Gefühle zu einer grausamen Tat hinreißen ließ. Erst nach ihrem Tod findet ihre Schwiegertochter Kaarina auf dem Dachboden einen Brief, der die entsetzliche Wahrheit ans Licht bringt. Er erzählt von einer Familientragödie, die schon fast hundert Jahre zuvor mit Lahjas Mutter Maria ihren Anfang genommen hat.

Über das ganze 20. Jahrhundert mit all seinen Erschütterungen spannt dieser epochal-opulente Familienroman. Kunstvoll verwebt Tommi Kinnunen darin die Schicksale von vier Menschen, deren Träume größer sind als die Möglichkeiten, die das Leben offeriert. Und trotz Enttäuschungen erkämpfen sie sich ihr Glück.

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Seitenzahl: 440

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Das Buch

In einem Städtchen im einsamen Norden Finnlands, 1996. Lahja liegt auf dem Totenbett. Sie kann zurückblicken auf ein langes Leben, in dem sie ihre Leidenschaft zum Beruf machen konnte: das Fotografieren. Aber eines war ihr nicht vergönnt: körperliche Erfüllung. Ihr treu sorgender Ehemann Onni konnte ihr nicht geben, nach was sie sich sehnte – bis sie sich nach Jahren der unterdrückten Gefühle zu einer grausamen Tat hinreißen ließ. Nie hat sie darüber gesprochen, nie konnte ihr jemand vergeben.

Erst nach ihrem Tod findet ihre Schwiegertochter Kaarina auf dem Dachboden einen Brief, der die entsetzliche Wahrheit ans Licht bringt. Er erzählt von einer Familientragödie, die ihre Schatten auf Kaarinas eigenes Leben geworfen – aber schon fast hundert Jahre zuvor mit Lahjas Mutter Maria ihren Anfang genommen hat.

Über das ganze 20. Jahrhundert mit all seinen Erschütterungen spannt dieser epochal-opulente Familienroman. Kunstvoll verwebt Tommi Kinnunen darin die Schicksale von vier Menschen, deren Träume größer sind als die Möglichkeiten, die das Leben offeriert. Und trotz Enttäuschungen erkämpfen sie sich ihr Glück.

»Ein meisterlicher Generationenroman über drei starke Frauen mit dunklen Geheimnissen.« Dagens Nyheter

»Ein Meisterwerk. Tommi Kinnunen ist eine echte Entdeckung!« Jyllands-Posten

Der Autor

Tommi Kinnunen,1973 im nordfinnischen Kuusamo geboren, arbeitet als Finnisch-Lehrer in Turku, im Südwesten des Landes. Wege, die sich kreuzen,2014 im Original erschienen, ist sein erster Roman. Das Buch war ein großer Leser- wie Kritikererfolg und führte die finnische Bestsellerliste wochenlang an. Der Roman wurde vielfach ausgezeichnet und war für den Europäischen Literaturpreis und den renommierten Finlandia-Preis nominiert. Die Jury des Finlandia-Preises lobte das Buch als »ein eindrucksvolles Plädoyer für die Würde des Menschen«. Wege, die sich kreuzen erscheint in über 20 Ländern, und die Kritiker sind sich einig: Mit diesem Debüt hat sich Tommi Kinnunen einen Platz in der europäischen Gegenwartsliteratur erschrieben.

TOMMIKINNUNEN

WEGE, DIESICHKREUZEN

Roman

Aus dem Finnischen von Angela Plöger

Deutsche Verlags-Anstalt

Impressum

Originaltitel: Neljäntienristeys

Originalverlag: Werner Söderström, Helsinki

Die Deutsche Verlags-Anstalt dankt FILI – Finnish Literature Exchange – für die finanzielle Unterstützung der Übersetzung.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2014 by Tommi Kinnunen und WSOY

Vermittelt von Bonnier Rights Finland, Helsinki.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by

Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Covermotiv: General Photographic Agency /Getty Images

Typografie und Satz: DVA / Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Minion

ISBN 978-3-641-21449-4V002

www.dva.de

Für ein Haus, in dessen Räumen viele Geschichten wohnen.

ZURÜCKGELEGTEWEGE

1996 | Gesundheitszentrum

MARIA

1895 | Kapuzengasse

1904 | Gasthausweg

1925 | Erweiterung

1933 | Casanovaweg

1936 | Wildmarkweg

1944 | Kofferträgerweg

1953 | Karrenweg

1955 | Feiergasse

LAHJA

1911 | Perlenfischerweg

1931 | Sehnsuchtsgasse

1938 | Schlamasselweg

1946 | Erdhüttengasse

1950 | Schlagbaumweg

1957 | Depotweg

1959 | Witwenweg

1967 | Kirchweg

1977 | Reusenweg

KAARINA

1964 | Gartentorweg

1966 | Verlustweg

1967 | Fischkastenweg

1969 | Glücksweg

1971 | Kuhpfad

1973 | Angelpunktgasse

1977 | Rüpelgasse

1980 | Bürdenweg

1996 | Abschleifweg

ONNI

1930 | Balzpfad

1934 | Rutschbahnweg

1941 | Gebirgsjägerweg

1946 | Bohrerweg

1950 | Kerleweg

1952 | Schlingenpfad

1953 | Wankelmütigenweg

1954 | Vergnügungsgasse

1955 | Kerzenweg

1957 | Maschinenweg

1959 | Ouluweg

1996 | Der Dachboden

Liederverzeichnis

Glossar

Impressum

Reiß dich zusammen.(Mach dir nichts draus, lass dir nichts anmerken, reagiere nicht.)

1996 | Gesundheitszentrum

Der Schmerz überfällt mich wie eine Sturzsee. Er packt mich und zerrt an mir. Die Flüssigkeit, die aus der Infusionsflasche in meine Adern strömt, überdeckt Pein und Leid. Mein Körper versteht die Schmerzen, die mich zerreißen, ich nicht.

Im Krankenhauszimmer hält Johannes mir die eine Hand und Kaarina die andere. Seit vierzig Jahren wohnt sie im selben Haus wie ich, aber ich duze sie nicht.

Ich sehe es immer wieder vor meinem inneren Auge, obwohl ich damals nicht dabei war.

Die Fensterflügel der oberen Etage fliegen auf. Ein Kopf und ein nackter Oberkörper schieben sich aus dem Fenster. Ein rascher Blick zur Seite, dann nach unten, um die Fallhöhe abzuschätzen.

Ich schaue auf meine Füße, wie sie sich unter der Bettdecke winden, aber ich spüre sie nicht. Johannes versucht zu sprechen, unterbricht sich jedoch. Ich habe nicht die Kraft, zuzuhören. Er klappt den Mund zu wie Onni. Wie sein Vater.

Das Atmen fällt mir schwer. Ich will das nicht noch einmal erleben.

Der Flüchtende zieht sich ins Zimmer zurück, greift nach seinem Hemd, das er mitsamt den Schuhen aus dem Fenster wirft.

Jemand hämmert an die Tür. Die Person, die im Zimmer geblieben ist, sitzt wie gelähmt auf der Bettkante. Gleich muss sie aufstehen und die Tür öffnen, damit diese nicht von außen eingeschlagen wird.

Er war ein guter Mann, der Onni. Er trank nicht und schlug sie nicht. Im Krieg verstummte er nicht und schwitzte das Bett nicht nass. Und er durchlebte die Kämpfe von Kiestinki und am Swir nicht wieder und wieder im Traum. Nach dem Krieg hatte er alle möglichen Ideen. Als die neu gebauten Häuser standen, tischlerte er Möbel und füllte damit die leeren Zimmer der Menschen. Und als es in jedem Zimmer Tisch und Bett und einen Geschirrschrank gab, kam er auf den Gedanken, Netze zu knüpfen.

Er kümmerte sich um die Kinder. Und er hatte sie gern, auch Helena, und regte sie alle zum Spielen an.

Auf dem Fensterbrett erscheint ein Fuß, dann ein zweiter. Der Flüchtende dreht sich um, packt das Fensterbrett, schwingt sich hinaus und lässt seine ausgestreckten Beine einen Moment lang im Leeren pendeln. Ich weiß, er versucht, Blickkontakt zu der Person aufzunehmen, die auf dem Bett sitzt. Er streckt die Hand aus, zum Abschied oder hilfesuchend. Dann lässt er den Fensterrahmen los und winkelt die Beine etwas an, um der immer näher kommenden Schneedecke zu begegnen.

Und er baute ein Haus, so groß und schön, wie sonst niemand eines hatte. Er war ein guter Mann. Aber nicht für mich. Nein. Einmal im Monat fuhr er mit dem Bus nach Oulu. Zuerst musste er angeblich ein Kreissägeblatt bestellen und Ahornholz für die Stühle besorgen, weil hier keine Ahornbäume wachsen, dann gingen ihm die Gründe aus. Ich ahnte es von Anfang an, glaubte es aber nicht. Ich wollte ihn für mich allein haben.

Der Schnee dämpft den Aufprall des Mannes, der in einem Rosenbusch landet. Der Neuschnee bleibt an seinem nackten, verschwitzten Rücken haften.

Der Mann richtet sich auf, sucht im Schnee seine Schuhe und das Hemd und bleibt so lange stehen, bis er erst den rechten Schuh angezogen hat, dann den linken.

Oben geht die Tür auf, und unbekannte Männer dringen in das Zimmer ein. Einer läuft zum Fenster und bemerkt den Flüchtigen. Er winkt die anderen zu sich und zeigt auf ihn.

Als Onni zum letzten Mal nach Oulu fuhr, wusste ich, dass er nicht mehr zurückkehren würde.

Und als die Polizei anrief und sagte, man habe ihn in Raksila gefunden, wunderte ich mich nur, dass er nicht die Mauser benutzt hatte, die er zwölf Jahre lang in dem Versteck unter den Stufen zur Außentoilette aufbewahrt hatte.

Johannes rührt sich. Ich schließe das eine Auge und fokussiere mit dem anderen. Dabei stelle ich fest, dass meine Daumen in seiner und auch in Kaarinas Hand einen blauen Fleck erzeugen. Ich löse meine Hand aus der von Johannes, um seine Haut nicht zu verletzen. Kaarina halte ich weiter fest.

Der Schnee reicht ihm bis an die Knie. Hastig streift er sich das Hemd über. Der eine Ärmel hat sich beim Ausziehen nach innen gestülpt. Am Tor überlegt er, welche Richtung er einschlagen soll. Er hastet nach links, obwohl er weiß, dass diese Richtung nicht besser ist als die andere. »Lauf!«, schreie ich, aber ich weiß, dass er mich nicht hört. Er kann und will es nicht. Obwohl ich nicht mehr dieselbe bin wie damals.

Hinter dem Auge pulsiert der reine, klareSchmerz. Er geht von dem Tumor aus, den ich nicht mehr habe operieren lassen. Der Schmerz nimmt, wenn er nachlässt, die quälenden Bilder mit. Er wogt als Wärme durch meinen Körper, der sich in diesem Rhythmus mal anspannt, mal erschlafft. In der wiegenden Bewegung des Schmerzes verschwindet die Wand des Krankenhauses, und dahinter erscheint der Sommer meiner Kindheit. Ich treibe im eiskalten Fluss, und die Strömung lässt mein volles Haar über den Sandgrund wallen. Meine Mutter kocht am Flussufer blutige Schürzen aus. Sie reckt den Hals und sucht mich mit dem Blick. Ich habe mich hinter einem Weidenzweig versteckt, aber Mutter sieht mich und lacht.

»Lahja, hilf mir beim Spülen, wo du sowieso schon im Wasser bist!«

Und niemand flieht mehr, sondern auch ich lache und halte mich an einem Ast fest, der bis ins Wasser reicht, und durch die Weide fallen Sonnenflecke auf die Oberfläche des Flusses.

Ich bin Mutters kleines Mädchen. Vor den Kriegen. Vor Onni.

Mutter und der Fluss und der Weidenbaum verblassen hinter den weißen Wandfliesen. Die Sonne verfahlt zu einer Neonlampe. Ich spüre, dass er in der Nähe ist. Endlich.

Der Läufer spürt seinen Puls, seinen Atem, seine Schritte. Er wagt nicht, sich umzudrehen, um festzustellen, ob er einen Vorsprung hat.

Kaarina hat ihre Hand aus meiner gelöst und sitzt am Fenster.

Ich sehe, dass die Augen des Mannes wild sind wie die eines durchgehenden Pferdes, wie die eines Ochsen, der Schlachtblut gerochen hat. Der Mann flieht vor der Schlachtbank, ohne zu wissen, wohin. Es geht darum, nicht erwischt zu werden.

Kaarina starrt mich an.

Wohin läuft er? Er entfernt sich von mir. Ich sehe ihn nicht mehr.

Meine andere Hand wird noch gehalten. Das muss Johannes sein. Ich versuche, den Kopf zu drehen, aber es gelingt mir nicht. Der Schmerz jagt mir den Rücken entlang. Ich schreie, spüre aber nicht die Bewegung meiner Lippen.

»Lauf nicht weg!«

Kaarina sagt etwas. Sie spricht undeutlich. Ich krümme den Rücken, und mein Körper spannt sich zu einem Bogen. Ich schreie und will, dass Onni meine Stimme hört, über all die Jahre hinweg.

»Komm zu mir zurück!«

Kaarina antwortet, aber ich höre nicht, was sie sagt.

Ich möchte, dass er zurückkommt.

Die Tür zum Korridor öffnet sich, und Johannes kommt herein. Kaarina steht auf und erklärt ihm etwas. Johannes tritt ans Fußende des Betts. Kaarina eilt hinaus. Ich lasse die Luft aus der Lunge strömen und den Körper aufs Bett sinken.

Der Griff um meine Hand wird fester. Ich will sehen, wer das ist. Die Halsmuskeln gehorchen mir nicht, aber ich bemühe mich, die Augen nach links zu wenden und zu schauen. Mit einem Auge erkenne ich ihn. Es ist Onni. Verschwitzt und keuchend. Seine Hand liegt heiß in meiner.

»Verzeih mir«, sage ich, und er nickt kurz. Dann sieht er mir direkt in die Augen.

Er ist immer noch ein gutaussehender Mann.

MARIA

»Ich gelobe bei Gott und seinen heiligen Evangelien, jeder gebärenden Frau zu dienen, die mich darum bittet. Der vornehmen wie der geringen, der reichen wie der armen, bei Tag und bei Nacht.«

Hebammeneid 1890

1895 | Kapuzengasse

Etwas tun, ohne zu wissen, dass man es kann

Langsam gewöhnten sich Marias Augen an das Halbdunkel. Die Hütte war klein. In den beiden einander gegenüberliegenden Wänden gab es winzige Fenster, von denen eines zur Hälfte mit einem Brett verdeckt war, sodass das Dämmerlicht des Herbstabends nur durch das andere fallen konnte. Direkt neben der Tür ragte eine große Mauer aus Schieferstein auf, in deren Kamin ein Span brannte – als Hilfe für die Wehmütter, dabei war es draußen noch hell. Die Wände waren pechschwarz, obwohl der Ofen schon einen Schornstein hatte. Am Webstuhl befand sich ein grauer schmaler Streifen, der ein Teppich werden sollte. Die Gebärende stand auf allen vieren auf dem Fußboden und lehnte sich gegen das ausziehbare Bett. Neben ihr lagen blutige Handtücher.

Maria war erst heute hierhergerufen worden. In dieser Gemeinde wollte niemand bei einer Entbindung eine ausgebildete Hebamme dabeihaben, und schon gar nicht die neue, junge. Die alte hatte angefangen zu trinken, nachdem sie in den abgelegenen Gegenden mehr Blut und Schleim, Steißlagen und vor Erschöpfung gestorbene Mütter gesehen hatte, als sie verkraften konnte. Angeblich waren innerhalb von vier Monaten fünf Gebärende an Blutverlust gestorben, weil die Hebamme in ihrem Suff nicht mit dem Abholer hatte mitfahren können. Einmal im Winter hatte sie es wohl geschafft, sich irgendwie in den Schlitten zu wälzen, war aber wieder heruntergefallen, obwohl sie mit Fellen und Wandteppichen zugedeckt worden war. Weinend war sie allein im Schnee liegen geblieben. Der Fuhrmann hatte noch versucht, sie festzubinden, aber sie hatte getobt und sich gesträubt und schließlich kriechend den Heimweg eingeschlagen.

Deshalb hatte seit Monaten niemand die neue Hebamme geholt, der Küster hatte sie nicht einmal zu den Impfungen mitgenommen. Im Kirchdorf hatte sie einigen Gören auf die Welt geholfen, die auch sonst problemlos geboren worden und am Leben geblieben wären. Einen besonderen Ruf hatte sie also noch nicht. Und da jedes Dörfchen seine eigenen erfahrenen Geburtshelferinnen, Saunaweiber und Wehmütter hatte, die auch ein schwieriges Kind herausziehen und ihm die Nottaufe geben konnten, holte niemand die Gemeindehebamme zu Hilfe. Und sie hatte keine eigenen Kinder. Die Welt der Frauen konnte ihr also nicht vertraut sein.

Maria erschrak, als die Frau des Kantors am frühen Abend an die Tür der Mietkammer klopfte, gerade als sie sich auszog.

»Sind Sie noch wach, Maria?«, fragte die Kantorin, obwohl es nicht mal fünf Uhr war. Dann öffnete sie die Tür, ohne die Antwort abzuwarten, und kam hereingehumpelt. »Hier ist jemand, der Hilfe braucht.«

Maria wickelte sich einen Schal um die Schultern und folgte der Hausherrin auf die aus Brettern gezimmerte Veranda. Dort stand eine kleine alte Frau. Sie ließ ihr schwarzes Seidentuch auf die Schultern hinabgleiten, stellte sich vor und guckte ungeduldig durch die Fenster hinaus.

»Könnten Sie wohl mitkommen?«, fragte sie und knickste zur Sicherheit vor Maria, obwohl diese die Jüngere war. »Bevor es noch dunkler wird.«

Die Kantorsfrau hatte ihr den zweirädrigen Pferdewagen geliehen und ihr mehrmals den Frieden des Herrn gewünscht, bevor sie hatten losfahren können. Sie hätte ein eigenes Kind verdient, dachte Maria, so sehr war die Kantorin von den Geburten anderer begeistert. Sie ließ sich auch über weite Strecken durchrütteln, um sich die Neugeborenen anzusehen und zu küssen. Die bettlägerigen Wöchnerinnen schämten sich für ihre Stuben mit den Mäuseköteln und den morschen Dielen. Glücklicherweise vergaß die Kantorsfrau nie, frisch gebackenes Brot, geflammten Labkäse und dicke Sauermilch mitzubringen. Wegen ihrer Sehnsucht nach Leben bewahrte sie so manche Wöchnerin und so manchen Säugling vor dem Verhungern. Ein Jammer, dass ihr, die das Zeug dazu hatte und es sich leisten konnte, ein Kind zu erziehen, und die es sich so sehr wünschte, keines geschenkt wurde, während die abgezehrten Frauen in ihren armseligen Hütten, in denen es nichts zu essen gab, mindestens jedes zweite Jahr ins Kindbett sanken.

Auf der Fahrt hatte die alte Frau mit dem schwarzen Kopftuch auf Marias Frage hin erzählt, dass sie die Mutter der Gebärenden sei und die Hebamme geholt habe, obwohl alle anderen ausdrücklich dagegen gewesen seien. Da aber die Geburt schon lange gedauert hatte und die Gebärende nach Ansicht der Mutter zu erschöpft war, hatte sie sich auf den Weg gemacht, um Hilfe zu holen. Die Hebamme solle jedoch bedenken, dass auch die Gebärende sie nicht bei sich hatte haben wollen.

Und nun war Maria hier. Auf den Treppenstufen saßen zwei Männer und warteten auf Neuigkeiten. Sie verfolgten den unerwünschten Ankömmling mit dem Blick.

»Die ist ja noch ein Kind«, sagte der Jüngere, der der Hausherr zu sein schien.

»Es ist gut, wenn Frauen kleine Hände haben«, probierte es der Ältere. »Lass mal die Hosen runter, dann zeigt sie dir, warum.«

Dem Jüngeren war nicht nach Lachen zumute. Er betrachtete Maria, aber sagte nichts. Die junge Hebamme ging zwischen ihnen hindurch ins Haus. Keiner von beiden wich aus.

Drinnen begrüßte die Gebärende sie mit dem leidenden Blick einer Kuh. Ihre Stirn war schweißnass, und zwei Wehmütter waren bei ihr. Die eine bemerkte den Ankömmling und stand auf. Sie wischte sich die Hände an einem Lappen ab, dessen Blutflecke schon getrocknet waren. Maria stellte ihre Tasche an der Tür neben dem Wasserzuber ab. Auch die andere Wehmutter, die jüngere, bemerkte sie. Die erste blieb stehen, nahm mit einem Holzstückchen Feuer von dem brennenden Span und zündete sich ihre Pfeife an. Dann baute sie sich vor Maria auf und maß sie von Kopf bis Fuß mit Blicken. Sie hob die Hand und strich Maria über die Taille, die vom Korsett eingeschnürt war.

»Solch ein Fräulein ist die neue Hebamme also.«

Die Wehmutter wandte sich wieder der Gebärenden zu und tat einen langen Zug aus der Pfeife.

»Es kommt nicht, und wenn man noch so drückt. Es ist stecken geblieben.«

Maria sah dem zur Decke aufsteigenden Rauchring nach. Die Wehmutter stand vor ihr. Maria wollte einen Blick auf die Gebärende werfen, aber die Frau stellte sich ihr in den Weg. Maria versuchte, an ihr vorbeizusehen.

»Sie wird wohl sterben. Und das Kind auch«, sagte sie mit einer Stimme, die Maria zu laut fand. Im Kindbett wurde gestorben, das wusste sie. Das brauchte man der Gebärenden nicht eigens zu sagen.

»Hat sie viel Blut verloren?«, fragte Maria.

»Viel und noch etwas mehr.«

»In welcher Verfassung ist sie?«

»Sie lebt noch.«

Die Wehmutter war mindestens doppelt so alt wie Maria. Sie tat einen weiteren Zug aus der Pfeife und blies den Rauch durch die Nase. Er stieg zur Decke hinauf, die schon völlig verrußt war. Die Wehmutter sah Maria an.

»Was wirst du tun, Mädel?«

Maria drehte sich um und ging zur Tür. Die Frau mit dem schwarzen Kopftuch hatte sich in die Türöffnung geschlichen und schaute zum Bett hinüber. Maria wandte sich zurück in die Stube. Die künftige Mutter starrte sie mit glasigen Augen an. Die jüngere Wehmutter massierte ihr den Rücken.

»Wenn du auf die Treppe hinausgehst und den Hausherren Gesellschaft leistest, dann sagen wir dir Bescheid, wenn sie in den Sarg gelegt werden soll«, sagte sie zu Maria, die fand, dass die Wehmutter viel zu jung war. Ihr Blick war scheu.

Die Frau mit dem schwarzen Tuch trat hinter Maria. Sie schaute auf die Gebärende, die die Augen nicht mehr offen halten konnte.

»Wenn ihr sie umbringt«, sagte sie und deutete auf ihre Tochter, die den Kopf ins Kissen drückte, »dann bringe ich euch um.«

»Was meinen Sie?«

»Das ist mein einziges Kind. Andere habe ich nicht.«

Die jüngere Wehmutter bemühte sich um Blickkontakt zur älteren.

»Was sagt die Hebamme?«

»Ich werde sie am Leben erhalten«, erklärte Maria.

»Wie denn?«

»Ich weiß es nicht. Noch nicht.«

Die ältere Wehmutter sah die Frauen an und trat dann zur Seite. Sie tat, als klopfe sie am Kamin ihre Pfeife aus, deutete aber zugleich mit dem Kopf auf die Gebärende. Maria nahm ihre Tasche auf, ging näher heran und tastete nach der Halsarterie. Die Frau im Bett öffnete die Augen und versuchte, den Blick zu fokussieren.

»Wie heißt die werdende Mutter?«

»Rieti«, antwortete die Frau mit dem schwarzen Kopftuch.

Maria überlegte, ob ihr Name in den Kirchenbüchern Riikka lautete oder Frederiikka. Sie hatte ihren Namen nach der Kantorsfrau bekommen. Die würde sich freuen, wenn sie das hörte. In diesem Hause würde es nicht an süßen Kammwecken mangeln.

»Dreht sie auf den Rücken.«

Die Wehmütter zögerten, gehorchten dann aber. Sie stützten der Gebärenden die Hüften und legten sie auf die Bettkante. Die ältere Wehmutter wischte ihr den erkalteten Schweiß vom Brustkorb, und die Frau mit dem schwarzen Kopftuch legte eine alte Decke über ihre Tochter, damit sie es warm hatte. Rieti wimmerte leise. Maria legte der Gebärenden einen Zipfel der Decke auf den Bauch.

Der Kopf des Kindes war halb hervorgetreten, sein Gesicht war Maria zugewandt. Die Augen standen offen, ihre Farbe ging ins Grünliche. Sie bewegten sich nicht. Maria befühlte die Stirn des Kindes. Sie wirkte kühl. Maria tastete den Bauch erst oben und dann an den Seiten ab. Dann legte sie die linke Hand auf den Bauch und drückte zugleich mit der rechten fest gegen die Rippen. Keine Bewegung. Die jüngere Wehmutter verfolgte aufmerksam, was Maria tat, die ältere stand am Fenster, aber auch sie beobachtete das Geschehen. Maria hob ihre Tasche vom Boden auf und entnahm ihr ein Hörrohr. Sie drückte das Ende gegen den prallen Bauch der Gebärenden und horchte. Kein Geräusch. Sie ließ die Hand vorsichtig am Hals des Kindes entlang hineingleiten, bis sie die Schultern fand. Vorsichtig betastete sie sie mit den Fingern. Das eine Schlüsselbein war gebrochen, vielleicht auch das andere. Das Kind hing an den Schultern fest.

»Seit wann geht das so?«

»Schon die dritte Nacht«, antwortete die Jüngere. Die Ältere schüttelte den Kopf.

»Jetzt wird das Kind nicht mehr kommen.«

»Nein.« Maria machte mit den Fingern ein kleines Kreuzeszeichen auf die Stirn des Kindes.

Die Tür ging. Der eine Mann blieb in der Öffnung stehen, sodass kühle Luft über den Fußboden strich, der andere kam herein. Sein Blick wanderte von einer Frau zur anderen und verweilte dann auf der mit dem schwarzen Kopftuch.

»Gibt es noch Hoffnung?«

»Für wen?«

Der Mann antwortete nicht. Langsam schritt er in seinen lehmigen Stiefeln durch den Raum und setzte sich auf die Bettkante neben seine Frau. Ihre Augen öffneten sich nicht. Der Mann berührte ihre schweißnasse Stirn und hob plötzlich die Hand. Sie verweilte einen Moment lang in der Luft, senkte sich dann auf die Haare der Frau und streichelte sie.

»Jesus Christus wird sich um dich kümmern. Und sich deiner erbarmen.«

Die Frau mit dem schwarzen Kopftuch fing an zu weinen.

»Was hätte sie schon ausrichten können, das junge Ding.« Die jüngere Wehmutter sah Maria herausfordernd an. Die ältere trat vom Fenster weg neben sie.

»Begraben wir sie zusammen oder getrennt?«, fragte sie leise, damit die anderen es nicht hörten, und legte Maria die Hand auf die Schulter. »Wenn nötig, kann ich es herausziehen, wenn Rieti ihren letzten Atemzug getan hat. Wir sagen, dass wir dem Kind die Nottaufe gegeben haben, dann kann niemand etwas einzuwenden haben. Wir einigen uns darauf, dass es ein Mädchen war, Riikka.«

Maria sah sich im Zimmer um. Draußen herrschte schon fast schwarze Finsternis. Die jüngere Wehmutter zündete einen neuen Span an der Flamme des alten an. Der Hausherr saß auf der Bettkante und hielt die Hände im Schoß. Auf seinem Gesicht lag ein resignierter Ausdruck. Die Frau mit dem schwarzen Kopftuch konnte nicht aufhören zu weinen. Das ärgerte Maria.

»Gibt es im Haus ein Messer?«, fragte sie.

»Was haben Sie vor?«

»Es muss doch ein Messer geben.«

Die mit dem schwarzen Kopftuch handelte als Erste. Sie ging und sah auf dem Tisch nach.

»Ein Messer«, wiederholte sie ratlos. »Die Hebamme braucht ein Messer.«

Maria bemühte sich, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen.

»Der Hausherr sucht das Messer. Du holst einen Eimer«, sagte sie und zeigte auf die jüngere Wehmutter.

»Wozu?«, fragte die Ältere widerstrebend.

»Geht ein Melkeimer?«, fragte die Jüngere.

»Nein, keiner aus Holz. Wenn du einen Zinkeimer findest, bring den. Ist heißes Wasser da?«

Die Ältere wandte sich dem Herd zu, und die Jüngere lief hinaus. Der Hausherr konnte nichts tun, beobachtete aber die Frau mit dem schwarzen Kopftuch bei der Suche. Dem Mann neben der Tür fiel sein eigenes Messer ein. Er löste es vom Gürtel.

»Hier wäre eins.«

»Das ist zu schade. Ist da kein anderes? In jedem Haus gibt es doch mehrere Messer.«

Der Handlungseifer übertrug sich auf den Hausherrn.

»Im Stall könnte eins sein.«

»Dann hol es«, sagte die ältere Wehmutter und schöpfte Wasser aus dem Kessel, der auf einem dreibeinigen Schemel stand. Der Mann warf noch einen Blick auf seine Frau, stand dann auf und ging hinaus.

»Und Darmschnur!«, rief Maria ihm nach. Die jüngere Wehmutter kehrte mit einer Waschschüssel aus Blech zurück.

»Geht die?«

Die Alte mit dem schwarzen Tuch hatte auf der Ecke des Herdes ein altes Messer gefunden und in einer Spalte zwischen zwei Holzbalken ein weiteres, neueres. Der Hausherr brachte aus dem Stall eines mit langer Klinge und legte es auf den Tisch.

Maria musterte abschätzend die Messer. Sie prüfte deren Gewicht, nahm sie einzeln in die Hand und ließ das Handgelenk kreisen. Schließlich wählte sie das älteste Messer, dessen Klinge vom vielen Schleifen kurz geworden war und nur noch zum Kartoffelschälen und zum Ausnehmen von Kleinen Maränen benutzt wurde. Sie reichte es der jüngeren Wehmutter.

»Koch das aus. Ist Schnur da?«

»Hab keine gefunden.«

Maria knöpfte ihre Wolljacke auf und faltete sie auf dem Tisch zusammen. Sie holte ihre Schürze aus der Tasche, band sie um und blickte suchend in der Stube herum. Dann nahm sie vom Tisch das Messer mit der langen Klinge und ging zum Teppichwebstuhl. Vom äußersten Kettfaden schnitt sie ein Stück von gut einer Elle ab und feuchtete es im Wasserkessel an. Alle drei Frauen sahen ihr zu.

»Was hast du vor?«

»Raus jetzt. Allesamt.«

Die Männer gehorchten, ohne zu fragen. Das Gebären gehörte zu den Dingen auf der Welt, in denen sich nur die Frauen auskannten. Die jüngere Wehmutter sah Maria an, wandte sich dann ab und führte die Frau mit dem schwarzen Kopftuch hinaus. Die Ältere folgte ihnen. An der Tür drehte sie sich um.

»Kann ich helfen?«

Maria schüttelte den Kopf.

»Die Zeit des Helfens ist vorbei.«

Die Wehmutter ging hinaus und drückte die Tür hinter sich zu. Maria nahm Messer und Faden, hielt aber einen Moment lang inne. Vor ihrem inneren Auge streckten sich zwei kleine Arme nach ihr aus.

»Mutter, verlass mich nicht.«

»Aber nein, ich verlasse dich nicht.«

»Nie im Leben?«

Die Stille wog schwer. Maria konnte nicht erkennen, ob Rieti bei Bewusstsein war oder nicht. Ihre Augen standen ein wenig offen, aber sie hatte nicht die Kraft, mit dem Blick zu folgen, obwohl Maria die Hand vor ihrem Gesicht hin und her bewegte. Der Puls war jedoch spürbar. Maria zog Rietis Hüfte mit einem Ruck näher zu sich und stellte die Waschschüssel auf den Boden zwischen ihre Beine. Dann kniete sie vor dem Bett nieder und spürte, wie sich die Fischbeinstäbe des Korsetts in ihre Rippen drückten. Maria nahm die Schnur und wickelte sich das eine Ende um den rechten Zeigefinger und das andere um den linken. Dann legte sie die Hände zu beiden Seiten an den Kopf des Kindes und führte die Schnur über das Gesicht. Die Schnur wanderte über die Stirn und das Stupsnäschen. Mit den Daumen führte Maria sie weiter, am Kinn vorbei bis an den Hals des Kindes. Sie drückte den Kettfaden hinein und bewegte die Hände vor und zurück. Der Kopf des Kindes ging leicht mit der Bewegung mit. Maria wurde übel. Sie schloss ganz fest die Augen.

»Nimm mich mit, Mutter.«

»Ich fahre weit weg. In die Hebammenschule in der Hauptstadt. Dahin kann man kleine Kinder nicht mitnehmen.«

»Kommst du wieder zurück nach Hause?«

»Ja, bestimmt. Ganz bestimmt. Hier werden sie sich gut um dich kümmern.«

Mit beiden Händen drückte Maria den Faden tiefer hinein, und der Kopf des Kindes begann zu schwingen. Maria kamen die Tränen. Sie biss die Zähne zusammen. Rieti stieß einen kleinen Schrei aus. Die Bewegung hatte ihr wohl wehgetan. Für einen Moment ließ Maria locker. Von den Stufen draußen war leises Sprechen zu hören.

Ich schreibe Ihnen, weil ich nichts von Ihnen dort oben im Norden gehört habe. Ist das Geld angekommen, das ich Ihnen überwiesen habe? Ich habe es hier in Helsinki bei der Sparkasse eingezahlt und auf Ihren Namen geschickt. Wenn möglich, schreiben Sie doch ein paar Zeilen und erzählen Sie mir, ob alles in Ordnung ist.

Der Kopf des Kindes neigte sich langsam nach unten. So als hätte sein leerer Blick die Zimmerdecke vermessen und beschlossen, zum Schornstein des Ofens zu wandern, dann zum Herd und schließlich zum Kasten mit den Holzscheiten. Endlich spürte Maria in den Fingern einen kleinen Ruck, und der Kopf begann haltlos zu pendeln.

Danke für die Lederschuhe, die Sie für Ihr Kind geschickt haben. Ich bin nicht eher dazu gekommen, Ihnen zu schreiben, weil ich krank war und gerade erst wieder vom Bett aufgestanden bin. Es tut mir leid, dass ich Ihnen jetzt schreiben und sagen muss, dass es Ihrem Kind sehr schlecht geht.

Maria riss den Faden mit einem Ruck nach unten, und in der Schüssel gab es einen schweren Aufprall. Ihr drehte sich der Magen um. Eilig beugte sie sich vor und packte mit beiden Händen die Schüssel. Scharfer Magensaft stieg in ihr hoch, kam aber nicht heraus. Maria wickelte den Faden ab. Er hatte sich ihr tief in die Haut eingegraben, und ihre Finger waren dick und kalt. Sie tastete auf dem Bett nach dem Messer mit der kurzen Klinge. Das nahm sie in die Hand und drückte den Daumen zum Schutz gegen die Schneide. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie konnte schlecht sehen, aber es gab auch nichts zu sehen. Mit der einen Hand ertastete sie die Schultern des toten Kindes und ließ mit der anderen vorsichtig das Messer in die Gebärende hineingleiten.

Wie mag es Ihnen im Norden ergehen? Hat das Kind die Krankheit überwunden, oder hat es noch Fieber? Wenn es zum Arzt gebracht werden muss, dann bringen Sie es hin. Ich kann mir das Geld bestimmt irgendwo borgen und bezahle die Rechnung auf Heller und Pfennig.

Marias Hand bewegte sich langsam. Sie schob mit den Fingern die Klinge des Messers gegen den Daumen, als zerkleinerte sie Möhren. Im Zimmer war es fast dunkel, aber das bemerkte sie nicht. Sie verrichtete ihre Arbeit, ohne nachzudenken, ohne sie infrage zu stellen, ohne sich zu wundern. Die Waschschüssel füllte sich Stück für Stück. In Marias Leib erwachte eine Stimme, die aus ihrem Mund fast wie ein Geheul hervorbrach. Sie presste den Kopf gegen Rietis weich gewordenen Bauch, schrie und schnitt. Die senkrechten Fischbeinstäbe des Korsetts pressten ihr die Lunge zusammen. Rietis Bauch bebte unter Marias Kopf.

Wir gratulieren Ihnen zu Ihrer Vereidigung als Hebamme und bitten Sie, nicht allzu böse auf uns zu sein. Viele hier haben dieselbe Krankheit bekommen, und auch nicht alle Erwachsenen haben sie überstanden. Die Schuhe schicke ich anbei zurück. Es wird wohl nichts nützen, aber ich möchte Ihnen doch sagen, dass es zum Glück schnell ging und dass das Kind zuletzt nicht mehr in dieser Welt weilte, sondern schon in der jenseitigen.

Von draußen drangen keine Stimmen mehr herein. Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und die ältere Wehmutter schob sich mit einer Laterne vorsichtig herein. Marias Kopf ruhte immer noch auf Rietis Bauch. Ihr Mund stand offen, aber es kam kein Ton mehr heraus. Langsam rannen geronnenes Blut und Schleim in die Schüssel. Die Wehmutter drehte sich um und winkte die Jüngere herein. Sie kam, blieb aber stehen, als sie die Waschschüssel sah. Sie fürchtete sich. Die Ältere bemerkte es und zog sie am Arm zu der Wöchnerin hin. Die Laterne wurde auf die Bettdecke gestellt. Rieti hatte die Augen offen und folgte der Flamme mit dem Blick.

Die ältere Wehmutter hob die Schüssel vom Boden auf und hielt sie der jüngeren hin. Die wollte sie nicht nehmen, ergriff sie aber doch, als die andere sie nirgendwo absetzte. Die Ältere hob vom Boden ein blutiges Tuch auf und breitete es über die Schüssel.

»Bring das hinaus. Sag, es sei Waschwasser, wenn sie fragen.«

»Wo soll ich das hintun?«

»Denk dir was aus, aber tu es nicht auf den Misthaufen. Und sag niemandem, wo du es hingebracht hast.«

Die Jüngere ging hinaus. Während sie den Raum verließ, spähte die Frau mit dem schwarzen Kopftuch zur Tür herein. Die Frauen nickten ihr beruhigend zu. Sofort wirkte sie erleichtert.

Die Wehmutter ergriff ein weiteres, ebenso blutiges Handtuch. Mit der Hand fasste sie Maria bei der Schulter und reichte es ihr.

»Nun ist es gut. Jetzt musst du dich ein bisschen ausruhen.«

Hiermit wird bescheinigt, dass die Hebammenschülerin Maria Tuomela in der Entbindungsanstalt Helsinki Unterricht genossen und Erfahrungen in den Fertigkeiten der Geburtshilfe erlangt sowie heute bei einer öffentlichen Prüfung bewiesen hat, dass sie über befriedigende Fertigkeiten verfügt. Deshalb geben wir bekannt, dass sie als Hebamme zugelassen ist und ein Anrecht auf den Schutz und die Rechte hat, die gemäß Statuten und Verordnungen einer Hebamme in Finnland zustehen.

Maria glitt auf den Fußboden hinab, sodass sie auf der Seite zu liegen kam. Ihre Wange drückte sich gegen eine der rauen Fußbodendielen. Sie fühlte sich fest und sicher an. Die Wehmutter schöpfte mit einem Becher Wasser aus dem Zuber neben der Tür. Sie setzte sich auf die Bettkante und gab Rieti zu trinken, beobachtete aber die ganze Zeit Maria. Es war, als schüttelte sie den Kopf. Maria drehte sich auf den Rücken, und ihre Absätze schlugen gegen den Fußboden. Im Licht der Laterne sah sie über sich die quer verlaufenden Deckenbalken und die schwarzen Dachbretter. Ihre Augenlider waren schwer. Die Wehmutter reichte ihr den Rest des Wassers, den Rieti übrig gelassen hatte. Das Weinen kehrte in Wellen zurück.

1904 | Gasthausweg

Aufbruch und Heimkehr

»Die Laken waren gestopft, aber sauber. Doch warum muss eine selbstständige Reisende allein in ihrer Kammer essen, obwohl in der Gaststube Platz genug ist? Außerdem war der von gestern übrig gebliebene Eintopf ekelhaft.«

Das schrieb Maria mit ihrer akkuraten Handschrift in das Gästebuch mit dem roten Deckel. Der Wirt hatte zunächst behauptet, man brauche kein Gästebuch mehr zu führen, dann aber schließlich ihrer Forderung nachgegeben und das Buch aus dem anderen Zimmer geholt. Darin war seit über fünf Monaten nichts mehr eingetragen worden. Maria überlegte, was sie sonst noch schreiben sollte, aber ihr fielen keine Verstöße ein. Im Bett gab es keine Tierchen, ein Tischtuch war auf Verlangen geholt worden. Sie hob den Stift. Der Wirt starrte sie fast herausfordernd an.

»Sind Sie fertig, gnä’ Frau?«

»Fräulein.«

Maria starrte zurück und setzte den Stift von Neuem an.

»Die Butter war so ranzig, dass sie stank.«

Sie prüfte ihren Text, fügte einen Punkt hinzu und gab den Stift zurück.

Der Wirt drehte das Buch zu sich und las das Geschriebene. Seine Brauen hoben sich.

»Den Eintopf habe ich direkt aus der Küche geholt, und die Butter ist gestern Abend gekirnt worden.«

»Geben Sie mir noch mal den Stift.«

Maria befeuchtete ihn und schrieb das Datum und ihren Namen darunter. Sie hielt einen Augenblick inne und fügte dann unter den Namen das Wort Hebamme hinzu.

»Dann wird es eher zur Kenntnis genommen.«

Maria griff nach ihrer Tasche aus Gobelinstoff und ging hinaus. Bis nach Oulu waren es noch fast neun Meilen, aber sie würde noch rechtzeitig dort ankommen.

Im Fahrdienstwagen saß niemand außer ihr und dem Kutscher, ein schweigsamer halbwüchsiger Junge. Das Pferd war eine alte Kracke, ging aber gleichmäßig, und der Weg war mit Sand geebnet worden. Die Mittsommersonne sengte die bemooste Heide. Maria saß auf der Bank des zweirädrigen Wagens und genoss die Fahrt, wenn auch aus dem stehenden Wasser der Straßengräben bisweilen dichte Mückenschwärme aufstiegen und über die Reisende herfielen. Berauschend dufteten die Sumpfporstblüten, an windgeschützten Stellen fast unerträglich stark. Zum Glück brachte der Wind an offeneren Stellen den Duft von Heidekraut und Sand mit. Manchmal glaubte Maria sogar, aus der Entfernung Meersalz und Tang zu riechen. Kiefern, Kiefern, Kiefern. Maria würde sich niemals an den reinen Nadelwald gewöhnen. Wenn doch wenigstens eine einzige stämmige Birke darunter gewesen wäre. Und die Häuser längs der Wege gestanden hätten und nicht verstreut in wegelosen Wäldern.

Der eintönige Schritt des Pferdes und die Düfte der Wälder machten Maria müde. Ihre Augen waren halb geschlossen, aber sie war dennoch wachsam, und ihre Sinne waren geschärft. Als das Pferd seine Gangart beschleunigte, erinnerte der neue Rhythmus sie an ein altes Lied. Es rief in ihr nicht mehr Schmerz und unangenehme Gefühle hervor, sondern hatte sich zu einer bloßen Erinnerung an frühere Zeiten abgeschwächt. Zunächst summte Maria nur in Gedanken, aber als ihr der Text wieder einfiel, begann sie laut zu singen. Der junge Kutscher sah sie befremdet an, aber das brachte Maria nur zum Lachen. Die zweite Strophe sang sie noch lauter.

Einstmals, ja, da liebt’ ich dich,

aber nicht nur dich allein!

Und aus Spaß, da küsst’ ich dich,

und aus Spaß, da wurd’ ich dein!

Schließlich tauchten am Wegrand Gebäude auf, zunächst in einigem Abstand voneinander gelegene kleine Hütten, dann etwas größere Katen und zuletzt Bauernhöfe. In der Ferne zeigte sich der Turm der Domkirche von Oulu. Der Weg bog nach links ab und führte abwärts zu dem weitläufigen Flussdelta. Der Bursche hielt den Wagen neben einer kleinen Bude an.

»Jetzt geht’s ans Bezahlen.«

»Ich hab schon bei der Abfahrt bezahlt.«

»Dazu kommt noch das Brückengeld.«

»Wieso? Letztes Mal hat das nichts gekostet.«

»Die Eisenbahnbrücke weiter oben, die ist frei, aber bei diesen Brücken kostet es was.«

Neben dem Wagen war der Brückenwächter aufgetaucht. Er führte die Hand an den Mützenschirm und sah erwartungsvoll zuerst den Burschen, dann Maria an.

»Was kostet es?«, fragte ihn Maria.

»Eine Mark für das Pferd.«

Maria knipste ihre Tasche auf und suchte ihre Geldbörse heraus. Der Preis war hoch, aber über die Eisenbahnbrücke würde es zu lange dauern.

»Und was kostet es ohne Pferd?«

»Zu Fuß fünf Penni.«

Maria suchte ein Fünf-Penni-Stück heraus und drückte es dem Wächter in die Hand. Dann sprang sie vom Wagen und nahm ihre Tasche.

»Der Wagen kann hier umkehren. Das letzte Stück gehe ich zu Fuß.«

Rasch überquerte Maria die Brücken. Die mittlere, die auf die Insel Linnansaari führte, war neu. Sie war nicht wie die anderen aus Holz, sondern mit Eisenträgern erbaut und sah so aus, als hätte sich ein grauer Regenbogen auf die Straße gesenkt. Die Brücke dröhnte unter Marias Füßen. In der Mitte blieb Maria stehen und setzte ihre Tasche auf dem Geländer ab. Die Träger fühlten sich kalt an, obwohl es ein heißer Tag war. Sie rochen nach Metall und Farbe. Maria entnahm ihrer Tasche einen Brief und vergewisserte sich noch einmal des Weges, obwohl sie ihn auswendig konnte. Sie ging weiter in Richtung Ufer und steuerte die Läntinenkatu an. Rasch schritt sie über das Steinpflaster und bog auf der Pakkahuoneenkatu nach links ein. Maria sah sich kurz um, bis sie das Schild des Geschäfts fand, das sie suchte. Sie blieb stehen, schob ein Fischbeinstäbchen ihres Korsetts zurecht und trat ein.

Hinter dem Tresen stand ein Mann, der jünger war als Maria. Er betrachtete sie abschätzend, dann breitete sich ein billigendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Maria wirkte nicht wie eine Hausgehilfin, sondern eindeutig wie eine Kundin, obwohl sie wie eine Landfrau gekleidet war.

»God dag«, begrüßte er sie auf Schwedisch.

»Guten Tag. Sie haben mir geschrieben, dass ich die bestellte Ware abholen kann.«

Der Mann ging zum Finnischen über.

»Das stimmt, gnä’ Frau.«

»Fräulein. Kann ich sie sehen?«

»Wenn Sie einen Moment warten, gehe ich sie holen.«

Der Verkäufer ging durch eine Seitentür auf den Innenhof zum Lager. Maria folgte ihm so lange wie möglich mit dem Blick und wartete dann. Kurz darauf kehrte der Verkäufer zurück. Er öffnete die Durchgangsklappe des Verkaufstresens.

»Sie können mitkommen und es sich ansehen. Ihre Tasche können Sie solange hierlassen.«

Maria folgte mit der Tasche in der Hand dem Mann auf den Hof. An der Rampe des Depots lehnte ein blitzend neues Fahrrad: der stabile Rahmen hellblau, die Felgen der dicken Reifen dunkelrot. Oberhalb der vorderen Gabel befand sich ein Wappen, umgeben von einem Band mit der Aufschrift »Gebr. Friis Kokkola«. Maria besah sich das Rad von allen Seiten, hob es am Lenker an und probierte die Pedale aus. Es war schön, aber kam ihr irgendwie anders vor als das des Apothekers. Sie strich über die geschwungenen Formen. Ihr Finger hielt inne. Hier war etwas anders.

»Ich habe mir erlaubt, ein Damenrad zu bestellen«, sagte der Verkäufer.

»Wie unterscheidet es sich von einem Herrenrad?«

»Der Rahmen ist verstärkt, und deshalb hat es in der Mitte keine Stange. So ist es für Sie leichter, im Rock zu fahren.«

Diese Änderung ärgerte Maria. Sie hatte ein Modell ausgewählt und bestellt und nun dieses bekommen. Der Verkäufer beugte sich vor und lächelte.

»Außerdem braucht man bei einem Damenrad nicht die Waden zu zeigen.«

»Die sollen wir also verstecken?«

Der Verkäufer bemerkte, dass das Gespräch eine falsche Wendung nahm, und wechselte das Thema.

»Wie sieht es aus, gefällt Ihnen das Rad?«

Noch einmal überlegte Maria. Warum hatte der Mann für sie eigens ein Damenrad bestellen müssen? Ein Rad wurde durch Treten bewegt, und sie hatte genauso viele Beine wie ein Mann. Zugleich weckte der Anblick in ihr Gedanken an Tempo und Freiheit und an die Möglichkeit, sich zu bewegen, sich mit eigener Kraft auf den Weg zu machen, um den Gebärenden beizustehen. Der zarte Duft des Kettenöls ließ vor ihrem inneren Auge Bilder von Sandwegen und wehendem Wind erstehen, und sie erinnerte sich an Zeitungsartikel, in denen von der stillen Würde der unberührten Natur die Rede war.

»Ich werde es wohl nehmen.«

Der Verkäufer öffnete Maria die Tür, und sie gingen zurück ins Haus. Wieder knipste Maria ihre Tasche auf und suchte ein am Boden verstecktes Stoffbündel hervor. Sie öffnete es, blätterte Geldscheine auf den Tresen und strich sie mit der Handkante glatt. Dann entnahm sie ihrem Geldbeutel Münzen und stapelte sie sorgfältig auf den Scheinen auf, bevor sie das Geld dem Verkäufer zuschob.

»Bitte sehr.«

»Brauchen Sie einen Transport, mein Fräulein? Wir können es Ihnen nach Hause bringen.«

»Das ist nicht nötig. Wenn Sie es mir nur auf die Straße stellen würden.«

Der Verkäufer hielt das Fahrrad, und Maria hängte ihre Tasche an die Lenkstange. Dann packte sie die Griffe und begann das Rad zu schieben. Das fand sie leicht. Der Verkäufer sah ihr zu.

»Können Sie Fahrrad fahren?«

Maria blieb stehen und sah den Verkäufer an. Sie spürte den süßen Duft von Pomade.

»Und Sie selbst?«

»Ich könnte es Ihnen erklären.«

»Haben Sie Schulen besucht?«

Auf diese überraschende Frage hatte der Verkäufer keine Antwort.

»Wenn ein Mann, der keine Schulen besucht hat, es kann, warum sollte es dann nicht eine ausgebildete Frau können?«

Maria schob das Rad zum Markt. Um die Verkaufstische herum wimmelte es von Menschen, und sie führte das Rad hinter die neue Markthalle, in den Schatten der roten Lagerhäuser. Dort neigte sie es nach links und setzte den Fuß auf das rechte Pedal, dann richtete sie es langsam auf und versuchte, das Gleichgewicht zu finden. Sie war etwas gespannt. Das hatte sie noch nie allein gemacht. Beim letzten Mal hatte der Apotheker das Rad festgehalten und sie leicht an der Schulter gestützt.

Maria versuchte, den linken Fuß auf das Pedal zu setzen, aber das Fahrrad kippte sofort nach links, und sie musste sich am Boden abstützen. Sie neigte es mehr nach rechts, aber dann begann es in diese Richtung zu fallen. Schließlich saß sie auf dem Sattel und stellte beide Füße auf den Boden. Sie hob sie abwechselnd an und versuchte, ins Gleichgewicht zu kommen. Zu Hause hatte der Apotheker in dieser Phase hinten gestanden und das Hinterrad so zwischen den Beinen gehalten, dass das Fahrrad nicht umfallen konnte. Er hatte den Arm um Maria gelegt und den Lenker gefasst, sodass Maria seinen Brustkorb heiß an ihrem Rücken gespürt hatte. Die Schwestern des Apothekers hatten sie überwacht, und in diesem Moment war die dickere der beiden an sie herangetreten und hatte geflüstert, dass diese Haltung unschicklich sei, ebenso wie das Radfahren von Frauen überhaupt, und dass die Dorfleute durch das offene Tor die Übungen der Herrschaften sehen und darüber lachen könnten.

Allmählich fand Maria das Gleichgewicht, und sie probierte, durch Abstoßen mit den Füßen Tempo aufzunehmen. Das Fahrrad rollte stabil vorwärts. Maria saß im Sattel, stieß sich mit beiden Füßen ab und nahm Fahrt auf. Die Tasche am Lenker pendelte hin und her und zog das Vorderrad in die Schräge. Maria hielt an und stieg ab. Sie nahm die Tasche vom Lenker und überlegte, wo sie sie lassen könnte. Einige Tippelbrüder waren vom Markt auf die Stufen des Lagerhauses gekommen und beobachteten ihre Bemühungen. Einer stieß den anderen in die Seite, legte den Kopf schief und starrte Marias Fußknöchel an.

»Bei der Mamsell blitzt ja so allerlei hervor.«

Maria starrte ihrerseits die Männer an.

»Ich weiß, was da unter dem Rock ist, und du weißt das auch. Aber ich kenne es besser als du.«

Die anderen Männer lachten, und schließlich stimmte auch der Erste ins Gelächter ein, denn er wollte nicht ausgeschlossen sein. Der größte Mann näherte sich Maria.

»Mamsell, Sie können Ihre Tasche hier hinten drauftun.« Er nahm Maria die Tasche ab und stellte sie auf den Gepäckträger. Den hatte Maria noch gar nicht bemerkt. Das wäre ein guter Platz auch für die Hebammentasche.

»Ach, so etwas gibt es auch. Vielen Dank.«

»Sie sollten versuchen, Tempo aufzunehmen. Das Rad kippt nicht, wenn man schneller fährt.«

Maria sah den Mann an. Er war unrasiert, aber seine Tuchjacke war sauber, nur die Ränder der Ärmel waren etwas blank gescheuert. Der Mann wirkte vertrauenswürdig.

»Zeig es mir.«

Maria reichte dem Mann das Fahrrad. Der ergriff es beim Lenker und hob ein Bein über den Rahmen. Maria beobachtete ihn genau. Er setzte den einen Fuß aufs Pedal und stieß sich mit dem anderen ab, sodass er in Fahrt kam, bevor er anfing zu treten. Maria sah ruhig zu, wie der Mann hinter der Markthalle verschwand, aber am anderen Ende bald wieder zum Vorschein kam. Er kehrte zu den Männern zurück, stieg vom Sattel und schob das Rad zu Maria.

»Am besten, man setzt sich erst, wenn man Fahrt aufgenommen hat.«

Die Saufbrüder waren schon gegangen, und die letzten Verkaufstische wurden abgebaut, als Maria immer noch übte. Plötzlich begriff sie die Technik. Sie drehte zwei Runden um den Marktplatz, zunächst noch wackelig, dann sicherer, und winkte im Vorbeifahren den Männern zu, die gerade die Rantakatu überquerten. Maria kehrte zu ihrem Übungsplatz zurück und stieg ab. Sie nahm ihre Tasche vom Gepäckträger, öffnete sie und nahm ein sorgfältig zusammengelegtes, in Packpapier eingewickeltes Kleidungsstück heraus. Sie hatte Stoff gekauft und einen Umhang genäht, den sie beim Radfahren tragen wollte. Er bestand aus zwei kegelförmigen Teilen, die übereinanderlagen und zwischen denen sie die Arme bequem auf den Lenker stützen konnte. Maria schüttelte den Umhang auf, öffnete die beiden Kragenknöpfe und warf ihn sich über die Schultern. Sie knöpfte ihn zu, stellte die Tasche zurück auf den Gepäckträger und stieg auf. Nun konnte es losgehen.

Die Fahrt über das Kopfsteinpflaster war holperig, und Maria wurde übel. Vor den Brücken stieg sie ab und suchte aus ihrem Geldbeutel eine Fünf-Penni-Münze heraus. Der Brückenwächter hielt immer noch die Hand hin, obwohl er gerade Geld bekommen hatte.

»Wer mit dem Rad fährt, zahlt zehn Penni.«

»Dann gehe ich zu Fuß und schiebe das Rad.«

»Ich muss auch für das Fahrrad eine Gebühr nehmen.«

»Frag es doch selbst, vielleicht bezahlt es ja.«

Ohne sich um den Protest des Brückenwächters zu kümmern, schob Maria das Rad in den Stadtteil Tuira hinüber und stieg auf. Die Landstraße war eben und trocken, und das Rad fuhr sich leicht, doch die Übelkeit wollte nicht vergehen. Sie wurde zwar schwächer, setzte sich aber schließlich irgendwo im Brustkorb fest. Maria trat gleichmäßig in die Pedale und bemühte sich, wieder in die heiter-freudige Stimmung der Hinfahrt zu kommen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Der Umhang war ihr zu warm, und an der Seite scheuerten die Fischbeinstäbchen des Korsetts.

Maria hielt an, packte den Umhang zurück in die Tasche und fuhr weiter. Das Hitzegefühl ließ jedoch nicht nach. Vor ihr lagen noch mindestens zwanzig Meilen. Maria versuchte, ein Lied anzustimmen, aber sie bekam keines heraus.

Der Weg führte am Rand eines Sumpfes entlang. Eine vereinzelte Bremse witterte den Schweiß der Radfahrerin. Hartnäckig umkreiste sie Maria, setzte sich manchmal irgendwohin, wo sie unsichtbar war, flüchtete dann und flog wieder herum. Mal versuchte sie, sich auf den Nacken, mal auf die Knöchel zu setzen. Maria bemühte sich, sie abzuschütteln, indem sie schneller fuhr, aber die Bremse umschwirrte sie in Bögen, mal in kleineren, mal in größeren. Die Sonne brannte heiß herab, und Maria öffnete mit der linken Hand die Knöpfe ihrer Jacke. Aus dem Sumpf stieg der stechende, starke Geruch von Sumpfporst auf. Immer nur Kiefern.

Plötzlich spürte Maria einen metallischen Geschmack im Mund, und die Übelkeit brach wie eine Welle über sie herein. Sie bremste und konnte gerade noch vom Sattel springen, bevor sie sich erbrechen musste. Der Magen zog sich heftig zusammen, bis nur noch Gallensaft herauskam. Maria lag am Grabenrand auf den Knien. Die Übelkeit ließ nach, aber sie fühlte sich kraftlos. Es war die Butter vom Morgen oder der Eintopf von gestern. Die Bremse setzte sich auf ihre Hand. Sie untersuchte die Haut und wollte gerade eine kleine Wunde hineinbeißen, als Maria sie totschlug. Ein neuer Gedanke kam ihr in den Sinn. Könnte es sein? War sie so dumm, dass sie sich selbst nicht kannte, obwohl sie eine Hebammenschule besucht hatte?

Neuer Eifer erfüllte Maria, eine neue Chance. Sie stand auf und schüttelte die Preiselbeerblätter von ihrem Rock. Für zwei würde die Mietkammer beim Kantor nicht mehr ausreichen. Sie müsste eine neue Unterkunft finden. Eine eigene, wenn auch zunächst ganz kleine. Maria griff nach ihrem Fahrrad, dem strahlend blauen, und stieg wieder auf. Sie wäre nicht bereit, für irgendjemanden die Küchenmagd, die Wäscherin oder die Köchin zu geben. Sie war eine selbstständige Frau. Eine Hebamme in Lohn und Brot, respektiert und erwünscht. In zehn Jahren war ihr Ruf bis in die Nachbargemeinden gedrungen. Jeden Tag und jeden Abend kamen Hilfesuchende aus immer weiter entfernten Dörfern zu ihr. Sie neigte das Fahrrad und setzte den Fuß aufs Pedal. Ja, sie würde zurechtkommen, so wie sie in dieser Welt immer zurechtgekommen war.

Maria stellte beide Füße auf die Erde zurück. Und der Apotheker? Wie sollte sie es ihm sagen? Seine Schwestern würden über sie herfallen, das wusste sie schon jetzt.

Maria hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Rasch zog sie ihre schon offen stehende Jacke aus, legte sie über den Lenker und ertastete die Schnüre des Korsetts auf dem Rücken. Sie riss daran, aber der Knoten wollte nicht aufgehen. Sie zerrte an den Bändern, zog den Knoten nach links und nach rechts, aber ohne Erfolg. Der Knoten hatte sich jedoch so weit gelockert, dass sie ihn mit beiden Händen erreichte. Sie zog daran so lange gerade aufwärts, bis vom Rücken her ein Ratschen zu hören war. Maria ergriff die Fischbeinstäbchen des Korsetts und bog sie nach unten, bis die Schnüre sich qualvoll langsam lösten und ihren Körper in die Freiheit entließen. Maria riss sich das Korsett vom Leib wie ein Insekt seine Puppe und warf es auf den Grabenrand. Dann sog sie die Lungen voll Luft. Sie wog ihre Brüste mit beiden Händen und strich sich über den Bauch. Nun war das Atmen leicht. Ein neues Glück, noch einmal.

Maria nahm ihre Jacke vom Lenker und zog sie an, knöpfte sie jedoch nicht zu, sondern stellte den rechten Fuß auf das Pedal und stieß sich mit dem linken ab. Ein kalter Wind traf sogleich auf ihre Brüste, aber das fühlte sich beruhigend kühl an. Nur noch zwanzig Meilen. Das Damenrad war praktisch, besonders wenn man im Rock fuhr.

Wenn es ein Junge wird, bekommt er den Namen Toivo, Hoffnung.

1925 | Erweiterung

Ein stetig wachsendes Haus

»Jetzt können Sie schon ein kleines Feuer anzünden, dann trocknet es von innen.«

Der Maurer schließt die Türen des runden eisernen Ofens, öffnet sie wieder und bewegt sie hin und her, um sich davon zu überzeugen, dass sie ordentlich funktionieren. Dann schließt er sie erneut und legt den Riegel vor. Maria betrachtet zufrieden sein Werk. Jetzt hat auch die neue Kammer einen Ofen. Sie stellt den Korb mit dem Brennholz daneben.

Der Maurer nimmt ein Scheit in die Hand und schüttelt den Kopf.

»Nur Äste und Reisig, damit es nicht zu heiß wird. Am besten einfach Abfall.«

»Dann hol ich Kleinholz.«

Maria nimmt den Korb und geht durch die anstelle des Fensters eingebaute Tür zum Ofen im Wohnzimmer.

Vom anderen Ende des Hauses hört man ein Schlagen, und die Manschetten der Kerzenständer im Wohnzimmer klirren im selben Takt mit. Der Zimmermann baut eine neue Küche und schlägt einen Zapfen in das Loch, das er in den Balken gebohrt hat. Die Schläge übertragen sich auf das ganze Haus. Sie müsste gehen und nachsehen, ob die Wände dort sind, wo sie es vereinbart hatten. Auch das Wohnzimmer ist mehr als eine Elle kürzer geworden, weil sie die Arbeit nicht immer überwacht hat. Der vorige Zimmermann hat erklärt, er habe die Balken dieser Länge günstig kaufen können, aber es ärgert Maria, dass die Abstände zwischen den Fenstern, von außen gesehen, nicht alle gleich sind.