Das Licht meiner Worte - Klara Juli - E-Book

Das Licht meiner Worte E-Book

Klara Juli

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Beschreibung

“So sehr ich mich gegen diese Gefühle wehren möchte, so schwer fällt es mir.“
Emmett verlor seine Freundin bei einem tragischen Kletterunfall. Um dem Schmerz zu entfliehen, besucht er seine Tante in dem kleinen Städtchen Brokenville. Ivy, die von einer gescheiterten Beziehung und Zweifeln an ihrer Zukunft geplagt wird, kehrt für die Ferien nach Hause zurück.
Als Emmett und Ivy aufeinandertreffen, erkennen sie sich in ihrem Schmerz wieder – und langsam entwickelt sich neben dem Verständnis für ihre Verluste eine Anziehung zwischen ihnen, die sie beide nicht erwartet haben.
Doch während Ivy bereit ist, nach vorne zu blicken, hängt Emmett noch immer an der Vergangenheit. Können sie trotz Missverständnissen und alten Wunden einen Weg zueinander finden?

Der dritte und letzte Band der New Adult Romance-Reihe “Brokenville” ist eine emotionale Liebesgeschichte über den Mut, das Leben nach einem Schicksalsschlag neu zu beginnen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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DAS LICHT MEINER WORTE

BROKENVILLE BUCH 3

KLARA JULI

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Klara Juli

Cover: Zeilenfluss

Satz: Zeilenfluss

Korrektorat:

Dr. Andreas Fischer, Nadine Löhle - Goldfeder Texte

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-504-5

Für alle,

denen das Leben den Boden unter den Füßen weggezogen hat.

PLAYLIST

Someone You Loved – Lewis Capaldi

Impossible – James Arthur

Bruises – Lewis Capaldi

When Love Sucks – Jason Derulo, Dido

Memory Lane – Zara Larsson

Before You Go – Lewis Capaldi

Mercy – Shawn Mendes

SNAP – Rosa Linn

See You Again – Wiz Khalifa, Charlie Puth

I Love You, I’m Sorry – Grace Abrams

Pictures of You – The Last Goodnight

Stargazing – Myles Smith

Beautiful Reason – Michael Schulte

TRIGGERWARNUNG

Liebe Leser*innen,

ich möchte euch darauf aufmerksam machen, dass dieses Buch einige Elemente enthält, die unter Umständen triggern könnten.

Die Themen, die angesprochen werden, sind facettenreich und lösen bei jedem und jeder etwas anderes aus. Auch der Umgang damit ist ganz unterschiedlich.

Für den Fall, dass ihr sie braucht,

findet ihr die Triggerthemen unter zeilenfluss.de/trigger,

da sie Spoiler für das ganze Buch enthalten.

Bitte achtet beim Lesen auf euch und eure Gefühle!

Ich wünsche euch schöne Lesestunden mit Emmett und Ivy.

1

EMMETT

»Und du bist dir sicher, dass du das durchziehen willst?« Ronan, mein bester Kumpel, hebt fragend eine Braue.

Ich schaue auf die mit blauem Samt überzogene Schatulle, die zwischen uns auf dem Tisch steht. Nachdenklich berühre ich sie und klappe instinktiv den Deckel auf. Zum Vorschein kommt ein schmaler, mit kleinen Diamanten verzierter Ring. Mein Herz klopft wild in meiner Brust, als ich mit dem Finger über das Schmuckstück fahre. Ich weiß noch genau, wie ich beim Juwelier in Chicago stand, überfordert mit der riesigen Auswahl an Verlobungsringen, die sich im Schaukasten befand. Alles, woran ich denken konnte, war Yanas strahlendes Lächeln, wenn ich ihr einen Heiratsantrag machen würde. Nach über fünf Jahren Beziehung.

»Ja«, antworte ich. »Ja, auf jeden Fall.«

»Aber denkst du nicht, dass ihr noch ein wenig Zeit habt?« Er lehnt sich auf dem Stuhl zurück, verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Ihr seid noch so jung und solltet das Leben genießen. Heiraten klingt so nach Hauskaufen und Kinderkriegen.« Sein Blick ruht auf mir.

»Nur weil ich ihr einen Antrag machen möchte, bedeutet das noch lange nicht, dass wir gleich eine Familie gründen.« Ich schüttle ungläubig den Kopf. »Ich will Yana einfach für immer an meiner Seite wissen. Ich will ihr damit zeigen, wie sehr ich sie liebe. Nichts anderes.«

Ronan atmet geräuschvoll aus. Er ist ein Typ, der ungern Beziehungen eingeht. Ein Typ, der sich nicht vorstellen kann, ein Leben lang mit jemandem zusammen zu sein. Bei alldem, was er in der Vergangenheit erlebt hat, kann ich ihm das auch nicht verdenken. »Okay.« Obwohl er noch immer alles andere als begeistert ist, beugt er sich in meine Richtung. »Wie stellst du dir das Ganze vor? Und wie kann ich dir helfen?«

Meine Mundwinkel heben sich, und mein Herzschlag beschleunigt sich. Natürlich habe ich eine konkrete Vorstellung von dem perfekten Antrag, der Yana gerecht werden soll. Meine große Liebe seit der Highschool bedeutet mir alles. Wir sind durch dick und dünn gegangen, haben eine Fernbeziehung überstanden und uns nie aus den Augen verloren. Sie ist perfekt für mich, vermutlich die einzige Frau, die ich so lieben kann, wie ich es tue.

»Also, ich möchte übermorgen mit ihr einen Ausflug zum Silver Lake State Park machen. Dort hatten wir unser erstes Date, und sie redet schon lange davon, wie cool es wäre, mal wieder offroad unterwegs zu sein. Deshalb habe ich uns zwei Wägen gemietet, mit denen wir auf der Area fahren können.« Ronan lauscht aufmerksam, während er an seinem Bier nippt, das er sich vorhin bei der Bedienung der Kneipe bestellt hat. »Ganz in der Nähe befindet sich auch ein Leuchtturm, zu dem ich mit ihr möchte. Leider dürfen wir nicht hinein, aber davor gibt es eine schöne Strandfläche, und dort möchte ich ihr abends den Antrag machen.«

»Okay.« Mein bester Freund nickt, nachdem er die Flasche wieder abgestellt hat. »Und wo ist da jetzt meine Aufgabe?«

»Da du mir noch einen Gefallen schuldest, habe ich dich fest dafür eingeplant, die Kulisse romantisch zu gestalten.«

Er runzelt die Stirn.

»Du weißt schon«, helfe ich ihm auf die Sprünge, »mit Kerzen, einer Picknickdecke und dem ganzen Schnickschnack. Ich habe sogar Blumen bestellt, die du nur noch im Laden abholen musst.«

»Ich soll mich um den romantischen Kram kümmern?« Vorwurfsvoll schaut er mich an. »Dir ist aber bewusst, dass ich eine absolute Niete darin bin?«

»Ach, Ronan.« Ich greife über den Tisch und klopfe ihm auf die Schulter. »Du machst das schon. Es ist wirklich nicht viel.«

»Wow.« Er fährt sich durch das schwarze Haar. »Du hast anscheinend eine gute Meinung von mir.«

»Natürlich! Du bist nicht umsonst mein bester Freund.« Ich lache.

Ronan und ich kennen uns seit dem College. Dort haben wir uns ein Zimmer im Wohnheim geteilt und sind dadurch zusammengewachsen. Tatsächlich konnten wir uns anfangs nicht ausstehen, weil er eher das Studentenleben genießen wollte, während mir mein Studium verdammt wichtig war. Meine Eltern haben alles dafür gegeben, dass ich kaum einen Kredit für den Collegebesuch aufnehmen musste, und das wollte ich entsprechend auch nutzen. Ronan hingegen liebte die Unabhängigkeit von seinen Eltern, hat ständig irgendwelche Mädels mitgebracht und sich ausgetobt. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt, und ich habe ihm meine Meinung gegeigt. Ronan hat das mit Fassung genommen, und irgendwie hat sich daraus eine Freundschaft entwickelt.

»Okay.« Ronan seufzt. »Dann hoffe ich, dass ich deine Ansprüche erfüllen kann.« Er kratzt sich am Bart.

»Natürlich kannst du das«, bestätige ich ihm. »Sonst hätte ich dich nicht gefragt.«

Wir wechseln das Thema und unterhalten uns über alles Mögliche, ehe ich mich von ihm verabschiede und mich auf den Weg zu Yanas und meiner Wohnung, also nach Hause, mache. Seit ungefähr einem halben Jahr wohnen Yana und ich in Chicago. Wir haben ein kleines Appartement am Stadtrand gefunden, welches in der Nähe meiner Arbeitsstelle liegt. Seit ein paar Monaten bin ich neben meinem Studium als Aushilfslehrer an einer Highschool beschäftigt und unterrichte eine neunte Klasse. Der Job macht mir Spaß und fühlt sich an wie eine Berufung, auch wenn manche nicht verstehen, warum ich mich im Laufe meines Studiums, bei dem ich den Schwerpunkt auf Mathematik gelegt habe, dafür entschieden habe. Mittlerweile bin ich dabei, die notwendige Qualifikation zu erwerben, um als Lehrkraft arbeiten zu können.

Yana hingegen macht ihren Master, weil sie später als Physiotherapeutin tätig sein will. Ihr Leben hat sie dem Sport, vor allem dem Klettern, verschrieben. Sie kommt aus einer sehr leistungsorientierten, sportlichen Familie, und ihr Vater ist als berühmter Kletterer auch ihr Trainer. Nicht umsonst hat sie früh an ihrer ersten Kletterweltmeisterschaft teilgenommen, bei der letzten sogar den fünften Platz belegt. Dieses Jahr bereitet sie sich erneut darauf vor, mit dem Ziel, sich für Olympia zu qualifizieren. Aus diesem Grund ist sie im Moment mit ihrem Team unterwegs.

Dass wir seit ein paar Monaten zusammenwohnen, verdanken wir vor allem der Tatsache, dass sie einen Studienplatz in Chicago ergattern konnte. Schon lange haben wir überlegt, eine gemeinsame Bleibe zu finden, um mehr Zeit miteinander zu haben. Nachdem ihr Dad eine Kletterhalle in Chicago eröffnet hatte, hat sie sich spontan an den dortigen Unis für einen Master beworben, während ich ziemlich schnell die Zusage der Schule hatte.

Ich bin mehr als glücklich, dass es so gekommen ist, weil wir jetzt endlich genügend Zeit miteinander verbringen können. Die Zeit, die wir uns so lange gewünscht haben.

Ein Lächeln umspielt meine Lippen, als ich in die U-Bahn einsteige und mich auf einen der freien Sitze fallen lasse. Ich verspüre eine Vorfreude darauf, Yana morgen endlich wiederzusehen. Sie in meine Arme schließen und ihr einen Tag später den Antrag machen zu können. Es fühlt sich einfach verdammt richtig an. Ich will mein Leben mit ihr verbringen, egal, was auch kommen wird. So wie für sie habe ich noch für niemanden gefühlt.

Eine gute halbe Stunde später muss ich aussteigen und verlasse die Metrostation. An der Oberfläche angekommen, erwartet mich eine Menge Verkehr, doch auch der bringt mich nicht von meiner guten Laune ab. Ich schlendere durch die Straße, lege bei dem Chinesen, der sich in der Nähe unserer Wohnung befindet, einen Zwischenstopp ein und nehme mir ein Takeaway mit. Bei unserem Wohnblock angelangt, begrüße ich eine Nachbarin, die mir gerade entgegenläuft, ehe ich die Treppen in den siebten Stock nehme. Dort schließe ich die Tür auf und betrete das Appartement. Sobald die Wohnungstür hinter mir ins Schloss gefallen ist, saust Bud, unser Labrador, um die Ecke. Mit wedelndem Schwanz kommt er auf mich zu, hüpft hoch und stützt sich mit den Pfoten an meiner Hüfte ab.

»Hallo Bud, ich freue mich auch, dich zu sehen«, sage ich und kraule den Rüden zwischen den Ohren, während ich meine Sneakers von den Füßen streife und tief durchatme. Wie jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, verspüre ich ein Glücksgefühl. Ausgehend von meiner Brust, strömt es durch meinen gesamten Körper und erfüllt mich mit einer tiefen Zufriedenheit.

Denn das ist es, was ich habe. Unheimlich viel Glück. Mit Yana, mit dieser Wohnung. Mit dem Verlauf meines Lebens. Mit Bud, der zur Begrüßung an mir hochhüpft, weil wir es ihm immer noch nicht abgewöhnt haben.

Ich lege den Schlüssel auf dem hölzernen Sideboard im Flur ab und nehme mein Abendessen mit. Bud folgt mir wie ein Schatten. In unserer bunt zusammengewürfelten Küche hole ich mir Besteck, gehe anschließend in den Wohnbereich und lasse mich dort aufs Sofa sinken. Bud legt sich in sein Körbchen, das sich direkt neben der Couch befindet. Seine Augen sind dabei wachsam auf mich gerichtet.

»Nach dem Essen drehen wir unsere Runde«, verspreche ich ihm.

Sobald ich es mir gemütlich gemacht und meine Lunchbox geöffnet habe, entsperre ich mein Handydisplay, um Yana anzurufen.

Es klingelt, aber sie geht nicht ran. Stattdessen springt die Mailbox an. Ein komisches Gefühl macht sich in mir breit, aber ich ignoriere es. Also klicke ich auf Moms Nummer und starte einen Videoanruf.

»Emmett, mein Schatz.« Moms rundes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm, als sie den Anruf annimmt. Sie hat ihr graues Haar hochgesteckt und trägt eine Schürze. Da ich die Küchenfläche sehen kann, gehe ich davon aus, dass sie gerade kocht.

»Hi Mom.«

Sie lächelt mich an, während sie Gemüse schneidet. »Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens, Mom«, meine ich und schiebe mir eine Gabel voll Essen in den Mund.

»Hast du dir wieder nur etwas vom Chinesen geholt?« Sie runzelt die Stirn. »Ich habe dir doch gesagt, du solltest anfangen, selbst zu kochen«, tadelt sie mich.

Ich lache. »Mom, ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Ich war mit Ronan unterwegs und … habe ihn in meine Pläne eingeweiht.«

»Du machst also wirklich Ernst?« Ihre Wangen färben sich rosa, und ihre blauen Augen strahlen mich an.

Mom war sofort Feuer und Flamme, als ich ihr davon erzählt habe, dass ich Yana einen Antrag machen möchte. Lediglich Dad war skeptisch, weil er die gleiche Ansicht vertritt wie Ronan. Er ist der Meinung, Yana und ich sollten uns noch Zeit lassen, weil wir noch so jung sind. Wir sollten erst mal unser Leben auskosten und eigene Erfahrungen sammeln, bevor wir den Bund der Ehe eingehen. Dass ich alle meine Erfahrungen gemeinsam mit Yana sammeln möchte, hat er dabei ignoriert.

»Ja, definitiv. Ich habe heute nicht nur die Blumen bestellt, sondern auch mit Ronan die Details besprochen. Er wird für den dekorativen Part zuständig sein.«

»Ob das gutgeht?« Mom lacht.

»Ich glaube fest an ihn«, meine ich. »Aber jetzt erzähl mal, was gibt es bei euch Neues?«

»Lilian hat mich gestern angerufen. Sie hat sich sehr gefreut, dass ihr beiden in Brokenville gewesen seid«, berichtet sie. Lilian ist Moms Schwester, also meine Tante, und wir haben sie vor ein paar Wochen gemeinsam mit Bud besucht. Sie selbst hat keine Kinder, nimmt für mich allerdings die Rolle einer zweiten Mom ein. Als Kind war ich viel bei ihr, vor allem, wenn Mom und Dad arbeiten mussten.

»Die Zeit hat uns sehr gutgetan«, berichte ich Mom. »Ich glaube, Bud hat sich noch nie so sehr gefreut, in einen Weiher zu hüpfen, wie dort.«

»Das glaube ich dir. Brokenville hat etwas Beruhigendes an sich. Kein Wunder, dass sich Lilian und Jack dort so wohlfühlen.«

»Da könnte etwas dran sein«, stimme ich ihr zu.

Mom erzählt mir von ihrer Woche, während ich mich wieder meinem Essen zuwende.

»Wie geht es eigentlich Grandpa? Weißt du schon etwas?« Grandpa hat sich bei einem Sturz vom Fahrrad das Bein gebrochen und befindet sich heute wegen einer OP im Krankenhaus.

»Alles bestens. Ich habe vorhin Bescheid bekommen, dass er schon im Aufwachraum ist. Lilian ist bei ihm und wartet, bis er wach ist und auf sein Zimmer gebracht wird.« Moms Mimik entspannt sich, und ihr ist anzusehen, dass ihr ein Stein vom Herzen fällt. Grandpa ist ihr Dad, zu dem sie eine sehr enge Beziehung hat.

»Zum Glück.« Ich atme erleichtert auf. Nach Grandpas Unfall haben wir uns alle Gedanken um ihn gemacht. Niemand wusste so wirklich, wie es weitergehen soll, weil seine Verletzungen erst nicht abschätzbar waren. Mittlerweile wissen wir, dass er gute Chancen auf eine nahezu vollständige Heilung hat, natürlich unter Berücksichtigung seines hohen Alters. Grandpa wird nämlich dieses Jahr achtzig, was gebührend gefeiert werden wird.

»Und? Was machst du noch?«, hakt Mom nach, während sie das Gemüse, welches sie geschnitten hat, in eine Pfanne gibt und anbrät.

»Ich versuche es nochmal bei Yana, bevor ich mir dann einen Film anschaue. Morgen muss ich wieder früh raus«, erzähle ich.

»Gefällt es dir immer noch? Also in der Schule, meine ich?«

»Ja, sehr! Das Kollegium ist sehr nett, und ich bin wirklich froh, dass ich erste Erfahrungen sammeln kann. Bisher komme ich auch gut mit den Eltern zurecht«, beruhige ich sie. Mom war eine der Ersten, die skeptisch auf meine Berufswahl reagiert hat. Ihrer Meinung nach wäre mein Platz in einer Kanzlei oder Bank gewesen.

»Okay.« Dieses Mal ringt sie mit sich, was mir verdeutlicht, dass sie noch immer unglücklich mit meiner Entscheidung ist. Manchmal gibt sie mir dadurch das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Ihren Ansprüchen nicht zu genügen, obwohl sie mir von klein auf beigebracht hat, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich selbst zu sein.

Mein Smartphone meldet einen eingehenden Anruf. Eingeblendet wird der Name von Yanas Mutter, und mit einem Mal ist mein merkwürdiges Bauchgefühl zurück.

»Ist alles okay?«, fragt Mom, der mein irritierter Gesichtsausdruck nicht entgangen ist.

»Ich muss auflegen, Mom. Ich bekomme gerade einen Anruf von Sandra.«

Mom nickt, und wir verabschieden uns hastig voneinander, ehe ich den Anruf von Yanas Mom annehme.

»Emmett? Emmett, bist du dran?« Sandras Stimme ist zittrig, beinahe schon aufgebracht. »Emmett?«

»Ja, Sandra. Ich bin am Telefon.« Ich atme kurz durch. »Was ist los?« Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen, während ich auf eine Antwort warte.

Ein Schluchzen entfährt ihr. »Es ist etwas Schreckliches passiert. Etwas ganz Schreckliches, und … ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

Das ist der Augenblick, in dem mein Herz stehen bleibt. Die Welt um mich herum wird aus den Angeln gerissen, und ich habe keine Ahnung, was gerade geschieht. Alles ist so weit von mir entfernt, das Einzige, was ich noch wahrnehme, ist das Schluchzen am Telefon.

»Was ist los? Geht es um Yana?« In meiner Magengrube bildet sich ein Klumpen, der sich hartnäckig festsetzt. Meine Kehle ist mit einem Mal eng, und mir wird schlecht. So unglaublich schlecht.

Sandra weint am Telefon, ohne mir zu sagen, was vorgefallen ist. Kurz darauf knackt es in der Leitung. Ich hoffe, dass ich gleich Yanas Stimme hören werde, und erleichtert aufatmen kann, weil es ihr gutgeht. Dass es sich um ein blödes Missverständnis handelt, weil sich Yanas Mom verwählt hat.

»Emmett?« Larry, Yanas Dad, ist am Telefon. »Bist du zuhause?«

»Ja, bin ich. Könnt ihr mir verdammt nochmal sagen, was los ist?« Ich brülle fast ins Telefon, obwohl ich es nicht will. Ganz automatisch erhebe ich mich, gehe zu dem bodentiefen Fenster, das die Sicht auf die Straßen von Chicago frei gibt. Den Blick nach draußen gerichtet, balle ich die Hand zur Faust. »Was ist passiert, verdammt?«

»Yana … Yana ist im Krankenhaus. Sie … sie lebt nicht mehr.« Larry atmet angestrengt aus. »Ich … Es tut mir leid. Die Ärzte haben alles gegeben, aber sie … sie hat es nicht geschafft.« Ein Ächzen folgt. »Es tut mir so leid, Emmett. Es tut mir so leid.«

Sie lebt nicht mehr. Sie lebt nicht mehr. Sie lebt nicht mehr.

Die Worte rauschen durch meine Gedanken.

Wiederholen sich, reißen mir ein ums andere Mal den Boden unter den Füßen weg. Meine Knie sind weich, geben nach, und ich lasse mich auf das Parkett sinken. Den Kopf zum Fenster gewandt, starre ich einfach geradeaus. Versuche das, was Larry mir eben gesagt hat, zu verstehen. Zu verarbeiten. Irgendwie zu greifen.

Sie hat es nicht geschafft. Sie hat es nicht geschafft. Sie hat es nicht geschafft.

»Emmett?«, höre ich jemanden im Telefon fragen. »Emmett? Bist du noch da?«

»Ja, ich …« Meine Stimme versagt. Erst jetzt spüre ich die Tränen, die über meine Wangen rinnen. Sie brennen und fühlen sich gleichzeitig kühl an. Sie sind wohl das Einzige, das mich gerade an das Sein erinnert. Das mich daran erinnert, dass mein Leben weitergeht.

Allein.

Der Knoten in meiner Kehle wird enger, der Klumpen in meinem Magen schwerer. Eine scheinbar unsichtbare Hand legt sich um meinen Brustkorb, drückt zu und erschwert mir das Atmen. In meinem Kopf ist ein einziges Wirrwarr aus Gedanken. Aus Dingen, die im Moment nicht wichtig sein sollten. Aus Dingen, die mir wichtig erscheinen, obwohl sie vorher selbstverständlich für mich waren.

»Was ist passiert?«, will ich von Yanas Dad wissen. Als wäre es nicht schlimm genug, sie verloren zu haben. »Was ist mit Yana passiert?«

Ich höre ihn schlucken. »Sie … sie war mit ihren Freundinnen beim Klettern und ist abgestürzt. In die Tiefe … im Krankenwagen um ihr Leben gekämpft … im Krankenhaus hatte sie ein Kreislaufversagen … innere Blutungen … Tod festgestellt …«

Es fällt mir schwer, ihm zu folgen. Ich finde nicht die richtigen Worte, weiß nicht, was ich sagen soll. Deshalb schweige ich. Dabei wären Beileidsbekundungen bestimmt angebracht, oder? Schließlich hat er seine Tochter verloren.

Und du deine Freundin, erinnert mich diese Stimme, die nach ihrer klingt.

Die Emotionen ergreifen mich, überrollen mich wie eine Welle. Ziehen mich unter Wasser, wollen mich in der Dunkelheit gefangen nehmen. Lassen das Licht erlöschen.

Ich kann nicht anders, als all das zuzulassen.

Ich bekomme nicht mal mehr mit, wie ich auflege.

Ich weiß noch nicht mal, ob ich mich von ihm verabschiedet habe.

Ich weiß nicht, ob er nochmal was zu mir gesagt hat.

Da ist kein einziger klarer Gedanke, den ich fassen kann. Nichts, was ich sagen könnte, um mein Beileid zu bekunden. Yana ist, nein, war meine Freundin. Ich wollte sie heiraten. Mein Leben mit ihr verbringen. Sie für immer an meiner Seite wissen und nie wieder verlassen.

Und jetzt?

Habe ich sie verloren.

An das Schicksal.

An ihre Liebe zum Klettern.

»Fuck!«, schreie ich mir die Seele aus dem Leib. »Fuck, fuck!«

2

EMMETT

Meine Augen sind rot umrandet, die Tränensäcke dick. Sie heben sich dunkel vom Rest meiner blassen Haut ab, lassen mich wie ein Zombie wirken. Müde fahre ich mir durch mein vom Duschen nasses Haar, greife nach dem Föhn, der sich auf unserem, nein, meinem Waschtisch befindet. Wie in Trance trockne ich mein Haar, schaue, dass es am Ende einigermaßen ordentlich aussieht. Anschließend putze ich schleppend meine Zähne, wobei ich mein Spiegelbild nicht aus den Augen lasse.

Meine Wangen sind eingefallen, und Mom ist außer sich vor Sorge. Als sie von Yanas Tod erfahren hat, ist sie sofort nach Chicago gekommen. Aus Angst, ich würde nicht genügend auf mich schauen. Aus Angst, sie könnte mich verlieren. Sie wollte mich nicht alleinlassen, wollte wissen, dass es mir gutgeht. Um mir genügend Freiraum zu gewähren, hat sie sich gemeinsam mit Dad in ein Hotel eingemietet, das direkt um die Ecke ist. Genauer gesagt habe ich sie darum gebeten, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Nicht trauern zu können. Ständig unter Beobachtung zu sein.

Dabei wollte ich nichts anderes als allein sein.

Doch da ist noch Bud. Bud, der mich jeden Morgen weckt. Dafür sorgt, dass ich aus dem Bett komme. Mir zeigt, dass er auch noch da ist. Mir zeigt, dass auch er trauert – auf seine Art. Oft schnüffelt er an Yanas Kleidung, die noch immer über dem Stuhl hängt, seit sie zu ihrem Urlaub aufgebrochen ist. Mehr als einmal hat er einen ihrer Schuhe aus der Garderobe geholt und ihn vor meine Füße gelegt. Erst war ich wütend, weil ich dachte, er wollte sie zerstören. Dabei brauche ich ihre Sachen. Ich brauche etwas, woran ich merke, dass sie echt war. Dass sie trotz ihres Todes ein Teil meines Lebens bleibt.

Die ersten Tage konnte ich kaum schlafen. Sobald ich eingenickt und wieder aufgewacht war, dachte ich, sie würde jeden Moment freudestrahlend durch die Tür in unser Schlafzimmer kommen. Mit einem Tablett, auf dem Frühstück steht. Auf dem eine Tasse dampfender Kaffee auf mich wartet.

Doch dann holte mich die düstere Erinnerung ein, dass genau das nicht passieren würde. Dass sie eben nicht hereinkommen und mich wecken würde, wie sie es sonntags so oft nach ihrer Joggingrunde getan hat. Schmerz überrollte mich. Sog mich ein, in einen Strudel aus Traurigkeit, Wut und Hass.

Traurigkeit, sie nicht mehr dazuhaben.

Wut, dass ausgerechnet ihr das zugestoßen ist.

Hass auf jede Ungerechtigkeit in diesem Leben.

Ich spucke die Zahnpasta aus und lege die Zahnbürste auf die Seite, um meinen Mund auszuspülen. Anschließend starre ich mich im Spiegel an und atme rasselnd aus. Bud, der direkt vor der Badezimmertür liegt und mich aus seinen dunklen Augen beobachtet, hebt den Kopf. Er legt ihn schief, als würde er mich fragen, ob alles okay ist.

»Bud«, wimmere ich, »ich schaffe das nicht. Ich schaffe es nicht, ihre Urne zu sehen. Ich schaffe es nicht, zu sehen, wie sie unter die Erde gelassen wird.« In meiner Brust krampft sich alles zusammen. Ich lege meine Hand darauf, umschließe sie mit meiner anderen und krümme mich. Tränen rinnen über meine Wangen, hinterlassen Spuren auf meinem Gesicht. Meine Kehle schnürt sich zu, und ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Als mich die Trauer erneut überwältigt, lasse ich es einfach zu. Ich lasse es zu, weil ich später stark sein will. Weil ich später stark sein muss.

Meine Finger zittern, als ich meine Hände voneinander löse. Mein Kopf tut weh von dem Weinen, meinen Gefühlen und dem ständigen Druck, den ich mir mache, den mir andere machen.

Yana ist seit siebzehn Tagen tot. Siebzehn Tage habe ich allein in unserer Wohnung verbracht. Siebzehn Tage war ich weder in der Uni noch auf der Arbeit. Die Kinder meiner Klasse haben gemeinsam mit den Lehrkräften eine Karte gestaltet, die noch immer auf dem Sideboard im Flur steht. Eine Geste, für die ich mich bis heute nicht bedankt habe. Für die ich mich bis heute nicht bedanken konnte. Ich finde nicht die richtigen Worte, sehe kein Licht mehr. Um mich herum ist nur Dunkelheit, und in meinen Gedanken sind nichts als Wolken. Trübe, düstere Wolken, die mich vernebeln.

Bud erhebt sich und kommt zu mir. Mit seiner feuchten Schnauze stupst er meine Hand an, ehe er an meinen Fingern leckt. Es hat etwas Tröstendes, fühlt sich an, als wäre ich nicht mehr ganz so allein. Seinen Kopf schmiegt er in meine Hand, drückt seinen Körper gegen meinen. So, als würde er mir Halt geben. So, als würde er mir sagen, dass ich nicht allein bin. So, als würde er mir zeigen, dass ich das schaffe.

Das Klingeln an der Tür zerreißt die Stille. Bud spitzt sofort seine Ohren, dreht den Kopf zur Haustür und beginnt, zu bellen.

Seit Yana weg ist, macht er das immer. Ich kann nur vermuten, womit das zusammenhängt, und bilde mir ein, dass es seine Art der Hoffnung ist. Hoffnung, sie bald wiederzusehen.

Ich schleppe mich zur Haustür und linse durch den Spion, während ich mir die Tränen von den Wangen wische. Im Flur steht Ronan, gekleidet in einen schwarzen Anzug.

»Hey Mann!« Er klopft gegen die Wohnungstür. »Ich weiß, dass du da bist. Bud hat euch verraten.«

Ich drehe den Schlüssel im Schloss und öffne die Tür. Bud beruhigt sich bei Ronans Anblick und stürmt zu ihm. Er schmiegt sich an Ronans Füße und fordert seine gewohnte Streicheleinheit zur Begrüßung ein.

»Hi«, murmle ich, als Ronan mich anschaut, und lasse beide im Flur zurück, um im Schlafzimmer meinen Anzug aus dem Schrank zu holen. Frisch aus der Reinigung hat Mom ihn mir gestern Abend übergeben. Noch immer habe ich ein schlechtes Gewissen, weil sie meinetwegen hier sind, ich sie aber nicht sehen will. Mir wäre es am liebsten, sie wären nicht gekommen. Hätten mich mir selbst überlassen. Gleichzeitig ist da dieser leise Funken Wärme in mir. Denn ich weiß, dass sie jederzeit für mich da sind. Sie sind da, wenn ich sie brauche.

Ich öffne die Knopfleiste, ziehe mir mein Shirt über den Kopf und schlüpfe in das Hemd. Ronan und Bud kommen ebenfalls ins Schlafzimmer, wobei sich Bud sofort in sein Körbchen legt. Manchmal frage ich mich wirklich, wann er so brav geworden ist. Ich habe oft den Eindruck, dass der aufgeweckte Welpe verloren gegangen ist. Dass auch er gealtert ist, als Yana uns verlassen hat. Dass auch er das Gefühl hat, nicht mehr er selbst sein zu können.

So wie ich.

Während ich die Knöpfe des Hemds schließe, fällt mir auf, wie Ronan mich schweigend beobachtet.

»Analysierst du mich?«, frage ich ihn.

»Nein. Ich überlege nur«, erwidert er.

»Und was?«

»Ob ich dir die Wahrheit über dein Aussehen sagen soll oder nicht.« Er seufzt, als ich nicht lache. Denn das war nichts anderes als ein Versuch, mich aufzumuntern. »Nein, jetzt mal im Ernst.« Er kommt zu mir, als ich die Anzughose hochziehe. »Du siehst wirklich scheiße aus, und ich … mache mir Sorgen um dich.«

»Soll ich etwa lachen, am Tag der Beerdigung meiner Freundin?« Ich schüttle ungläubig den Kopf. »Yana ist tot, und ich werde in wenigen Stunden sehen, wie sie unter die Erde kommt, Ronan. Natürlich geht’s mir dreckig!«, fahre ich ihn an.

»Emmett.« Besänftigend hebt Ronan die Hände. »Ich will für dich da sein, okay? Ich bin dein bester Freund und werde das mit dir zusammen durchstehen!«

»Du weißt nicht mal ansatzweise, was in mir vorgeht!«, entfährt es mir. »Du weißt nicht, wie ich mich fühle! Du weißt nicht, wie es ist, seinen Partner zu verlieren!« Zu spät bemerke ich, dass mich die Wut gepackt hat. Dass ich meine Wut gegen Ronan wende, der am allerwenigsten für all das kann.

»Ganz genau, das weiß ich nicht«, stimmt er zu. »Aber du redest auch nicht darüber. Ich will für dich da sein, dir beistehen, aber du musst reden, Emmett. Reden!« Er reibt sich über die Stirn, und an seinen geblähten Nasenlöchern erkenne ich, dass es ihm schwerfällt, ruhig zu bleiben. »Weißt du«, fügt er versöhnlicher hinzu, »ich kann dir nur helfen, wenn du mir sagst, was in dir vorgeht.«

Frustriert schnaube ich. »Ich weiß es noch nicht mal selbst.« Ich vergrabe meine Finger in meinem Haar und schließe die Augen. »Ronan, ich weiß es nicht. Da ist Trauer, da ist Wut, da ist Hass. Da ist alles Mögliche, aber ich … ich kann nicht drüber reden. Ich kann es einfach nicht, okay?« Ich öffne die Augen und schaue meinen besten Freund an. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich das heute nicht allein schaffe.«

»Okay.« Ronan legt seine Hand auf meine Schulter. »Ich bin für dich da, hörst du? Wenn du raus musst, weg willst oder eine Pause brauchst, gib mir ein Zeichen.«

»Danke.« Ich nicke und versuche mich an einem Lächeln, aber es fühlt sich falsch an.

Alles fühlt sich falsch an.

Auch die Tatsache, dass ich die Krawatte anlege und es einfach nicht hinbekomme.

Ronan, der meinen inneren Kampf spürt, stellt sich direkt vor mich und hilft mir, die Krawatte richtig hinzurücken.

»Ist es nicht ironisch?«, sage ich mit einem Mal. »Eigentlich sollte ich einen Anzug tragen und deine Hilfe brauchen, weil ich Yana zum Altar führe. Doch stattdessen …« Meine Stimme bricht.

Ronan nimmt mich schweigend in den Arm. In dem Glauben, ich würde jeden Moment losheulen, will ich mich von ihm abwenden. Doch da ist nichts. Da ist keine einzige Träne, die ihren Weg findet. Nicht mal meine Augen brennen. Es ist nur meine Kehle, die eng wird. Die Wolken in meinen Gedanken, die schwerer werden. Das Loch, das tiefer wird. Und zugleich bin ich dankbar für meinen besten Freund, der mich in diesem Augenblick auffängt.

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis Ronan etwas sagt. »Deine Eltern sind bestimmt bald da.«

Mir wird schwer ums Herz, als ich nicke und das Jackett anziehe. Bud schaut zu mir, wobei ich mir einbilde, dass er traurig ist.

»Hey Kumpel.« Ich gehe in die Knie, woraufhin er sofort zu mir kommt. »In nicht mal drei Stunden bin ich wieder da, okay?«, verspreche ich ihm und kraule ihn zwischen den Ohren. Als ich mich wieder aufrichte, fällt mein Blick auf das schwarze Nachtkästchen auf meiner Bettseite. Darauf steht die Schatulle, in der sich der Verlobungsring befindet, den ich Yana geben wollte.

Aus einem Impuls heraus gehe ich hinüber, nehme sie in die Hand und lasse sie in die Tasche meiner Hose gleiten. Sie fühlt sich schwer an, scheint ein Loch in den Stoff zu brennen. Dennoch erinnert sie mich an sie. An all die schönen Momente mit ihr.

Das Klingeln an meiner Haustür reißt mich aus meinen Gedanken.

»Und da sind deine Eltern auch schon«, bemerkt Ronan und eilt hinaus in den Flur. Sofort umfängt mich eine Kälte. Einsamkeit.

»Hallo Ronan«, höre ich Mom meinen besten Freund begrüßen.

»Hallo Mrs. Stone.«

»Hallo Ronan, bitte nenn uns doch beim Vornamen«, erklingt Dads Stimme. »Ich bin Gerard, und das ist Lisbeth.«

»Wo ist Emmett?«, hakt Mom nach, ohne auf Ronans Antwort zu warten.

»Hier bin ich, Mom«, rufe ich und setze mich in Bewegung. Einen Fuß vor den anderen,sage ich mir selbst und achte auf jeden einzelnen Schritt, bis ich die Schlafzimmertür hinter mir zuziehe und bei meinen Eltern und Ronan im Flur angelange.

Mom trägt ein schwarzes Kleid, das ihr bis zu den Fußknöcheln reicht und sie blasser erscheinen lässt, als sie ist. Ihre dunklen Haare werden von einem Hut verdeckt, der einen kurzen Schleier hat. Dad hat seine Jeans und sein Holzfällerhemd gegen einen schwarzen Anzug getauscht.

Sie beide so zu sehen, löst etwas in mir aus. Ehe ich michs versehe, rinnen mir Tränen über die Wangen. Dad, der das sofort sieht, kommt zu mir und schließt mich in seine Arme. Meine Gefühle, die ich eigentlich unterdrücken wollte, werden dadurch stärker und reißen die Kontrolle an sich.

»Ich kann das nicht, Dad«, presse ich hervor. »Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll.«

»Wir sind bei dir, mein Junge.« Er streichelt mir beruhigend über den Rücken, während von Mom ein Schluchzen zu hören ist. Als ich zu ihr schaue, sehe ich, wie Ronan ihr beschützend einen Arm um die Schultern gelegt hat.

»Wir alle stehen das gemeinsam durch«, verspricht mir Dad.

»Okay.« Ich nicke und versuche, tief durchzuatmen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass die Luft nicht in meinen Lungen ankommt. Dass da etwas ist, das mich blockiert.

Mom kommt zu uns, greift in ihre Handtasche und holt eine Packung Taschentücher hervor. Sie hält mir eines hin, welches ich dankbar annehme, um mir die Tränen vom Gesicht zu wischen und mich zu schnäuzen. Anschließend befördere ich das Taschentuch in den Müll.

»Wir können.« Fest entschlossen gehe ich zur Wohnungstür und öffne sie. Das Letzte, was ich will, ist, zu spät zu kommen.

Ronan nickt und folgt mir, woraufhin sich auch Mom und Dad in Bewegung setzen. Wie in Trance gehe ich hinunter, trete hinaus ins Freie und werde empfangen von einigen Passanten, die hektisch durch die Straßen laufen, Autos, die sich hintereinander reihen. Es ist verrückt, wie die Welt einfach weitergeht, obwohl Yanas Tod so einen tiefen Riss hinterlassen hat. Obwohl meine eigene Welt aus den Fugen gerissen wurde.

Direkt vor dem Eingang des Wohnhauses steht das Uber, mit dem meine Eltern wohl hergekommen sind. Ich steuere darauf zu, nehme auf dem Beifahrersitz Platz, ohne den Fahrer zu begrüßen. Die anderen steigen hinten ein, grüßen den Fahrer freundlich, hüllen sich anschließend in Schweigen.

Ich hasse es, unhöflich zu sein. Ich hasse es, andere Menschen zu ignorieren. Ich hasse es, nicht ich zu sein.

Aber ich kann das im Moment nicht. Ich kann im Moment nicht ich sein. Ein Teil von mir ist weg. Gestorben mit Yana.

Den Blick auf die Straßen gerichtet, schaue ich dabei zu, wie die Häuser an mir vorbeiziehen. Irgendwann lichtet sich die Umgebung, und wir gelangen zum Friedhof, auf dem sich bereits eine Menschenmenge versammelt hat.

Yanas Eltern haben die Planung der Beerdigung in die Hand genommen. Sie haben entschieden, wer alles eingeladen wird. Sie haben entschieden, was an diesem Tag alles passieren wird. Mich haben sie nicht nach meiner Meinung gefragt, so, als wäre ich nie ein Teil von ihr gewesen. So, als wäre ich … einfach nur ein Anhängsel gewesen.

Mit flauem Magen steige ich aus. Die Sonne steht am Horizont, erhellt die Welt, während ich mich in Schwärze bewege. Meine Gliedmaßen fühlen sich bleiern an, als ich auf die Menschenmenge zulaufe. Ganz vorne stehen Larry und Sandra. Beide haben sich herausgeputzt, tragen schwarze Kleidung. Sandra hat ebenfalls einen Hut mit einem Schleier auf, der tief in ihr Gesicht reicht. Larry hingegen hat sein helles Haar zur Seite gegelt und seinen Bart zurechtgestutzt, als wäre das hier nicht die Beerdigung seiner Tochter, sondern ein wichtiger Werbeauftritt, bei dem er für das neueste Haargel wirbt. Als Klettersportler hat er immer mal wieder das Angebot erhalten, für eine Firma zu modeln.

Sein Pokerface hat er über die Zeit hinweg perfektioniert, es sitzt auch in diesem Augenblick perfekt. Es ist ihm keinerlei Trauer anzusehen, ganz im Gegensatz zu Sandra, die gekrümmt neben ihm steht. Sie hält ein Taschentuch fest umklammert, hat den Blick auf den Boden gerichtet, als würde sie sämtliche Augenkontakte meiden wollen.

Yana hatte nicht die allerbeste Beziehung zu ihren Eltern. Larry war ihr Klettertrainer, wollte sie bis zu den olympischen Spielen bringen und hätte es bestimmt auch geschafft. Dennoch hat sie sehr unter seinem Leistungsdruck gelitten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre sie auch nie mit mir zusammen gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre ich niemals mit ihr in eine Wohnung in Chicago gezogen.

Auch die Verbindung zu ihrer Mom war vorbelastet. Sandra ist eine Karrierefrau, die sich mit ihrer Immobilienfirma einen Namen gemacht hat. Sie steht oft in der Öffentlichkeit, wirkt wie eine starke Frau. Lernt man sie näher kennen, merkt man sofort, dass sie alle Entscheidungen ihres Mannes bedingungslos toleriert, egal, welche Auswirkungen diese haben. Allein aus diesem Grund war auch sie gegen eine Beziehung zwischen Yana und mir.

Wenn wir Yanas Eltern besucht haben, hat es sich immer ein wenig angefühlt, als wäre es eine rein platonische Sache. Die Gespräche gingen nie in die Tiefe, sondern kratzten lediglich an der Oberfläche, als könnte ich sonst zu viel über sie erfahren. Als könnte ich mich sonst in ihrer Familie einnisten.

Mein Herz zieht sich zusammen, als wir zu der Menschengruppe kommen. Ich sehe einige Freunde und Kommilitoninnen von Yana, die sich um ihre Eltern geschart haben. Sie alle scheinen Yanas Eltern ihr Beileid zu bekunden. Einige von ihnen umarmen ihre Mom und schütteln die Hand ihres Dads.

»Komm, wir sollten auch zu ihnen gehen«, ermutigt mich Mom. Sie greift nach meiner Hand, verschränkt ihre Finger mit meinen. Für eine Sekunde lasse ich das zu. Dieses Gefühl, nicht allein zu sein. Dieses Gefühl, jemanden an meiner Seite zu haben.

Dann atme ich röchelnd aus und lasse ihre Hand los. »Okay.«

Schnurstracks bahne ich mir meinen Weg zu Larry und Sandra. Larry erblickt mich als Erstes, woraufhin sich seine Stirn furcht. Er beugt sich zu Sandra, flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie hebt den Blick und schaut mich direkt an. Ihre Augen sind gerötet, als hätte sie die letzten Nächte nur geweint. Ein seltsamer Ausdruck zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, den ich nicht einordnen kann.

Ohne mich davon beirren zu lassen, bleibe ich vor ihnen stehen.

»Emmett«, begrüßt Larry mich knapp.

»Larry, Sandra.« Ich nicke.

»Mr. und Mrs. Robinson«, sagt Mom, die neben mir zum Stehen kommt. »Wir möchten Ihnen unser herzliches Beileid aussprechen.«

»Yana war eine bezaubernde junge Frau, und wir können uns kaum vorstellen, wie schmerzhaft der Verlust für Sie sein muss«, fügt Dad hinzu.

Sandra presst ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ihre Augen füllen sich mit Tränen, und sie wendet den Kopf Larry zu, der sie sofort beschützend an sich zieht.

»Wir danken Ihnen«, antwortet er für meinen Geschmack eine Spur zu förmlich. »Später gibt es einen Schmaus in unserem Haus, und wir laden Sie herzlich dazu ein.«

Ich spüre einen Stich im Herzen und balle die Hand zur Faust. Auch davon haben sie mir nichts gesagt.

Als Larry mich ansieht, liegt ein wissender Ausdruck in seinen Augen. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass er genau weiß, wie ich mich fühle. Er ist kein Idiot, schließlich wusste er von Anfang an, wie sehr ich seine Tochter vergöttere. Wie sehr ich Yana geliebt habe – und noch immer liebe.

Dad, der meinen Gefühlswechsel bemerkt, legt beschwichtigend eine Hand auf meinen Unterarm.

»Wir schließen uns sehr gerne an«, sichert er Larry dann zu. Mir zuliebe versucht er, die Situation, die eh schon schwer genug ist, zu entschärfen.

»Das würde uns sehr freuen«, bringt Sandra hervor.

Larry nickt zustimmend. »Jetzt sollten wir uns aber allmählich in die Kirche begeben.«

Mit diesen Worten leitet er seine Frau, die sich an seinem Arm festklammert, hinüber zur Kirche, die sich im Zentrum des Friedhofs befindet.

Schweigend schließen wir uns den anderen Gästen an, die dem trauernden Ehepaar folgen. Je näher die Kirche kommt, umso schwerer wird mir ums Herz. Meine Kehle schnürt sich zu, und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Sobald ich im Flur des Gotteshauses stehe, atme ich geräuschvoll aus.

»Ist alles okay?« Ronan, der direkt neben mir läuft, sieht mich mitfühlend an.

»Ja, ich … hatte nur einen Frosch im Hals«, lüge ich überflüssigerweise, woraufhin Dad meinen Arm drückt.

»Denk dran, wir sind direkt bei dir«, wispert Mom. Aufmunternd sieht sie mich aus ihren blaugrauen Augen an.

Wortlos nicke ich, weil ich nicht fähig bin, eine Antwort auszusprechen. Mein Mund fühlt sich pelzig an, so, als wäre er kurzzeitig außer Gefecht.

Während ich im Mittelgang direkt auf den Altar zuschreite, um mir einen Platz in der zweiten Reihe zu sichern, den Ronan zu meinem Glück bereits freihält, starre ich auf die Urne, die neben dem Rednerpult aufgebahrt ist. Der dunkelbraune Deckel mit den eingeritzten Blumenranken ist geschlossen. Direkt daneben steht ein Bild von Yana. Sie trägt ein hellblaues Sommerkleid, hat ihr Haar offen und strahlt in die Kamera. Ihre blauen Augen drücken dabei all die Liebe aus, die sie in sich getragen hat. Ihre Begeisterung, ihre Leidenschaft.

Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wann das Bild entstanden ist. Tatsächlich habe ich es von ihr geschossen, als wir bei ihren Eltern zu Besuch waren und sie mir am Tag zuvor eine Kamera geschenkt hatte. Schon während des Studiums hatte ich meine Vorliebe für Fotografie entdeckt und mir deshalb ein bestimmtes Modell gewünscht, um meinem Hobby intensiver nachgehen zu können. Gemeinsam haben wir bereits davon geträumt, wie ich sie auf ihren Kletterurlauben begleite, Bilder mache und sie diese für ihren Social-Media-Kanal verwenden kann.

Doch dazu kommt es nicht mehr.

Die Klaue, die seit Tagen um meine Brust liegt, drückt zu. Mein Herz klopft wild, erinnert mich an den Schmerz, den es seit siebzehn Tagen aushalten muss. An das Loch, das sich vor siebzehn Tagen in meinem Herzen aufgetan hat und nie wieder gefüllt werden kann.

Ich schlucke hart, als ich zu Ronan in die Reihe rutsche. Die Hände lege ich in meinem Schoß übereinander und starre die Urne an.

Wie kann es sein, dass Yana diese Welt jetzt schon verlassen muss? Wie kann es sein, dass sie mich allein zurücklässt?

Die Fragen kreisen unaufhörlich in meinem Kopf, während der Pastor die Zeremonie einleitet. Ich kann lediglich ein paar Wortfetzen aufschnappen, in denen er beschreibt, was für ein lebenslustiges Kind sie war. Wie sehr sie das Klettern geliebt hat. Wie sehr sie ihre Familie geliebt hat. Wie sehr sie es mochte, anderen Menschen zu helfen, zumal sie Physiotherapeutin werden wollte.

Mit keinem Wort werde ich erwähnt, was den Klumpen in meiner Magengrube wachsen lässt. Gleichzeitig komme ich mir unglaublich egoistisch vor. Schließlich war ich nur ihr Partner. Nicht ihr Mann, nicht ihr Verlobter. Einfach nur ihr Freund. Vielleicht nicht wichtig genug?

Die dunklen Gedanken kehren zurück, vernebeln wie Wolken meinen Kopf. Lassen mich den Schmerz fühlen, den ich Tag und Nacht spüre. Dem ich nicht entkommen kann.