Das Lied des Glockenspielers - Maren Winter - E-Book

Das Lied des Glockenspielers E-Book

Maren Winter

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das stumme Mädchen und die erlösende Kraft der Musik Lübeck, 1665: Seit Jahren hat die junge Cäcilie kein Wort mehr gesprochen. Ihre Familie, die einflussreiche Kaufmannssippe von Kortholt, ist verzweifelt. Einzig ihr Vetter Thiedemann glaubt an Heilung – und an die segensreiche Wirkung der Musik. Er engagiert den begabten Liron, der mit Cäcilie musizieren soll, und stellt ihm dafür eine Anstellung als Glockenspieler in St. Marien in Aussicht. Der junge Mann ist von Cäcilie sofort fasziniert. Als er eigens ein Stück für sie komponiert, bricht sie tatsächlich ihr Schweigen. Doch nun erwachen Erinnerungen an jenes schreckliche Ereignis, das sie einst verstummen ließ.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 518

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maren Winter

Das Lied des Glockenspielers

Historischer Roman

Gewidmet meiner Schwester Mirja, der Flötistin,

deren Instrument lange geschwiegen hat

und nun wieder klingt

1.Kapitel

Wenn Liron Dulzian zuhörte, wurde alle Welt gesprächig. Dabei versuchte er gar nicht, sein Gegenüber zum Reden zu bewegen, er zeigte weder überzogenes Interesse, noch fragte er besonders häufig nach.

Er hörte einfach nur zu, so auch dem Dreimaster Engel, der an einem nasskalten Februarmorgen 1665 im Hafen zu Lübeck vor Anker lag. Vom Knattern der Flagge angefangen bis hin zum Schlagen der Takelage hatte der Tonfall der Galeone etwas Gereiztes. Es brauste in den gerefften Tuchen, der Rumpf knurrte, sogar die Masten reckten sich in den eisigen Wind und raunten von widriger Fahrt.

All das vernahm Liron noch tief unter Deck, etwas gedämpft und verwoben mit dem Murmeln der Trave. Kräuselwellen schwappten gegen die Steuerbordplanken, während sich Backbord das Wasser zwischen Schiffsrumpf und Steg in Strudeln verschluckte. Er selbst war nur ein einziges Mal mit einem Schiff gereist, von Dassow über die Trave hierher nach Lübeck. Und keinen Moment war das offene Meer zu sehen gewesen.

Im gewohnten Tempo ging er in die Hocke und wuchtete sich das Heringsfass auf den Rücken. Zum hundertsten Mal folgte er dem Keuchen seines Vordermannes, dem dumpfen Trampeln auf den Bohlen, dann dem hohleren Klang der Schritte auf der Stiege.

Liron liebte den Moment, wenn er mit dem Kopf aus der Schiffsluke tauchte und das Spektakel von Hafen und Stadt plötzlich wieder klar von allen Seiten auf ihn einstürmte.

«He Dulzian», rief Eggert ihm von hinten zu. «Pass auf, wenn du hinuntergehst, Kortholt kontrolliert. Meint wohl, seine Fässer könnten Beine bekommen.»

«Schön wär’s», gab Liron zurück.

Eggert lachte. Dieses volle Lachen aus den Tiefen seines massigen Leibes hatte Liron vor ein paar Wochen bewogen, Zimmer und Miete mit dem Hünen zu teilen.

Die meisten Träger fluchten, wenn sie den Namen Kortholt hörten. An den Prähmen, den Schwimmstegen vor dem Ufer, konnten je drei Segler gleichzeitig anlegen, und normalerweise war genügend Stapelfläche für ihre Fracht vorhanden. Nicht jedoch, wenn Görgen von Kortholt dort die Befehle gab. Der drahtige Alte fuchtelte mit seinen Listen, rief scharf nach Gütern, die im Schiffsrumpf hinter allem anderen gelagert waren, und verlangte im nächsten Moment nach dem, was eben noch vorne gestanden hatte. Seine Kästen, Ballen und Fässer verteilten sich bald überall auf dem gesamten Steg, sodass für die Lasten weiterer Schiffe kein Durchkommen mehr blieb. Dadurch wurden Görgens Güter immer als Erstes auf die Wagen geladen, was ihm einen erheblichen Zeitvorteil verschaffte.

Liron beschäftigte die Anwesenheit des Kaufmanns aber aus ganz anderen Gründen. Görgen von Kortholt war als Ratsherr auch Vorsteher von St.Marien. Er regierte über Kantor, Organist und Glöckner der bedeutenden Kirche, die alle Laute der Schöpfung in sich zu bergen schien und in minutenlangem Nachhall zu immer neuen Klängen verwob. Einmal war Liron dem Kaufmann schon so nahe gekommen, dass er ihn hätte berühren können. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, ihn auf sich aufmerksam zu machen.

«Beachtlich, dass der alte Pfeffersack bei diesem Wetter zum Hafen kommt», sagte er.

«Nee, nee», brummte Eggert, «ich meine nicht den Alten, ich rede vom Junior, vom Sohn.»

Lirons Interesse nahm deutlich ab. Er ruckte sein Fass zurecht und trat vorsichtig auf die Planke, die zum Steg hinunterführte. Das Holz war glatt, denn seit dem Morgen nieselte es schon. Wenigstens war die glitschige Schicht heute nicht gefroren. Er war erst wenige Schritte balanciert, als der schleppende Tross ins Stocken geriet. Zurück konnte Liron nicht mehr, und das schwankende Laufbrett war viel zu schmal, um das Fass darauf abzusetzen. Soweit es ihm in der gebückten Haltung möglich war, hob er den Kopf und spähte an den anderen Männern vorbei zum Prahm hinüber.

Da stand er, der junge Thiedemann von Kortholt, in aufrechter Haltung, als ob er einem Maler Modell stehen würde. Seine Rechte ruhte auf dem Degen, in der Linken hielt er einen Federhut. Das dunkle Haar legte sich über einen Kragen aus kunstvoller Nadelspitze, Rock und Pluderhose glänzten schwarz, ebenso die Schuhe, welche mit großen, samtenen Schleifen geschmückt waren.

Schreiber und der Frachtherr scharwenzelten um ihn herum, während sich vor ihm ein Träger bemühte, den Deckel eines Fasses aufzuhebeln.

Warum, zum Teufel, hatte Thiedemann den Träger ausgerechnet an der engsten Stelle angehalten? Das Fass stand direkt vor der Planke. Sah er denn nicht, dass dem Nächsten der Weg versperrt war und die Männer mit den schweren Lasten auf dem Rücken warten mussten?

Natürlich sah er es. Sein Blick schweifte unablässig über die gebeugten Träger hinweg. Für seine Heringe zeigte er weit weniger Interesse.

Lirons Vordermann schwankte. Auch seine eigenen Muskeln zitterten, und der Eisenring des Fasses schnitt ihm in die Finger. Vorsichtig lehnte er sich weiter vor, um seinen Rücken zu entlasten.

Ein Branntwein hätte ihm jetzt gutgetan. Er fror erbärmlich, da er verschwitzt im Wind stand und zum Stillhalten verurteilt war. Die Augen starr auf die Füße geheftet, passte er seinen Atem dem Knarren des Schiffes an und versuchte, sich auf das Geräusch des Wellenschlags unter sich zu konzentrieren. Rhythmisch klatschte das Wasser an den Steg, gurgelte zurück und nahm neuen Anlauf, immer ähnlich, niemals gleich.

Endlich ging es weiter.

Die Männer hasteten mit gesenkten Köpfen an Thiedemann von Kortholt vorüber. Nur keinen Blickkontakt wagen, nur keinen Anlass für eine weitere Stichprobe bieten.

Unvermittelt hob der junge Kaufmann erneut die Hand.

Die Geste galt Liron. Fast erleichtert blieb er stehen, seine Arme waren nur allzu bereit, die Bürde fahren zu lassen.

Hinter sich hörte er Eggert keuchen, und die Planke vibrierte unter seinen Füßen. Wenn er gehorchte, würde sich die Schinderei für alle Nachrückenden ein weiteres Mal verlängern. Aber den Befehl des Frachteigners zu missachten, war völlig undenkbar.

Links türmte sich eine Mauer aus Kisten, also blieb nur noch die andere Seite neben der Planke, die Stelle, wo der junge Kaufmann stand. Kurzentschlossen drehte Liron sich und ließ das Fass genau dort zu Boden rutschen.

Der Junker sprang zurück.

Eggert begriff und hastete vorbei. Zwei weitere Träger folgten dicht auf.

Thiedemann von Kortholt wischte sich einen Dreckspritzer von der Hose und rückte die goldene Kette zurecht, die ihn als Junker der Zirkelgesellschaft auswies. Dann erst wandte er sich an Liron. «Du verdirbst mir den Tag, verfluchter Samariter. Ich hatte auf Abwechslung gehofft, auf einen dramatischen Absturz in die Trave etwa, womöglich von einem Kerl, der nicht schwimmen kann. Vielleicht wäre ich ja hinterher gesprungen. Vielleicht hätte ich meine Kleider verdorben und einem Mann das Leben gerettet. Ich hätte ein Held werden können.»

Er warf den Kopf nach hinten, sodass er auf Liron herabsehen konnte.

«Du verhältst dich nicht erwartungsgemäß. Deinetwegen muss ich heute eine graue Krämerseele bleiben und noch Hunderte von Fässern zählen. Bist du stolz darauf?»

Verwundert blickte Liron auf. Nicht nur der Worte wegen, sondern weil er statt des erwarteten Unmuts eher Neugierde in der Stimme des Ehrbaren hören konnte. Der Junker hatte die Silben rasch aneinandergesetzt und vor allem die Tonhöhe leicht über seine entspannte Sprechlage gehoben.

Die Miene des jungen Kaufmanns zeigte hingegen nichts davon, sie wirkte völlig teilnahmslos. Wie bei seinem Vater beeindruckte auch sein Antlitz mit vornehmer Blässe, abgesehen von ein paar matten Sommersprossen auf den Wangen. Ihm gegenüber hätte Liron sich sogar in frischen Kleidern schmutzig gefühlt. Seine eigene Haut behielt auch im Winter einen Unterton von Sonnenbräune.

Die scharfgeschnittenen Lippen des Junkers verzogen sich nun zu einem spöttischen Lächeln. «Sieh dich um, du Wohltäter. Hättest dir die Kühnheit sparen können, die meisten deiner Kumpane stehen genauso unbeweglich da, als würdest du ihnen den Durchgang versperren.» Sein Tonfall schlug in Langeweile um. «Enttäuschend, nicht wahr? Wie immer.»

Er winkte die Männer von der Planke und wies ihnen einen Bereich zu, wo sie die Ware stapeln sollten. Auch Liron schickte sich an, seine Last wieder aufzunehmen.

«Warte. Findest du nicht, dass diese Angelegenheit zum Himmel stinkt? Aufmachen!»

Ein Diener brachte eilfertig einen Geißfuß, und Liron begann, die Bretter zu lösen.

Heringsfässer stanken eben. Der Frachtraum stank, die Prähmen stanken, und Liron selber stank auch. Ein Kaufmann durfte nicht empfindlich sein, wenn er mit Fisch handeln wollte.

Ein Hauch von Musik wehte über den Hafen. Liron hielt unwillkürlich inne. Es war das Orgelspiel von St.Marien, das wie jeden Donnerstag um die Mittagsstunde dünn über den Dächern zitterte, kaum hörbar, zerrissen durch den Lärm der Fuhrwerke, fast erstickt im Qualm der Schornsteine.

Liron blieb nicht mehr viel Zeit. Rasch brach er den Deckel auf, griff nach dem erstbesten Hering, und hielt dem Ehrbaren seinen Fang vors Gesicht. «Alles frisch, nun könnt Ihr wohl zufrieden sein.»

Thiedemann fächelte sich Luft zu. «Was ist los mit dir? Hast du es eilig? Was erwartet dich schon als das Schleppen weiterer Lasten? Ich biete dir Abwechslung. Reizt dich das nicht? Lass uns diesem Fass hier auf den Grund gehen. Oberflächlich gesehen mag die Ware in Ordnung sein, aber wie sieht es in der Tiefe aus?»

Der Kaufmannssohn ließ Liron nicht aus den Augen. Er befahl ihm, in das Fass zu greifen, weit hinab, so weit, wie sein Arm reichte.

In der Ferne hallten Tonleitern durch die Gewölbe von St.Marien.

Liron stieß seine Hand durch das Gedränge aus glatten Fischleibern und packte zu. Was er nun zutage förderte, ließ ihn würgen. Ob die halbzerfallene Masse tatsächlich einmal Hering gewesen war, hätte er beim besten Willen nicht sagen können, aber es handelte sich um Meeresgetier, um ziemlich altes Meeresgetier.

Die Schreiber drehten sich angewidert um, und der Frachtherr rief, er solle das Zeug in die Trave werfen.

Doch Thiedemann von Kortholt legte ihm sanft den Degen auf den Arm. Geschickt spießte er den Unrat auf und betrachtete ihn eingehend.

«Alles vergeht», meinte er, «selbst die ödeste Pflicht löst sich zu gegebener Zeit in Wohlgefallen auf.» Dann schleuderte er den Fisch in die Luft. Gebannt sah er zu, wie die Möwen dem Bissen nachstürzten und sich im Fluge kreischend darum stritten.

«Mit Dreck befasse ich mich nicht. Meine Aufgabe ist somit erledigt. Die Ladung bleibt hier.»

«Hier auf dem Prahm?», fragte der Frachtherr. «Aber das wird Euren hochachtbaren Vater Unsummen von Gebühren kosten.»

«Mein hochachtbarer Vater wäre genauso wenig erbaut wie ich, wenn du das Zeug in unserem Speicher lagern wolltest. Moment, wurde die Ware nicht im Namen meines Onkels Hinrich bestellt? Dann muss Hinrich eins der stinkenden Fässer bekommen, damit er sieht, womit er heute Nachmittag zu handeln gedenkt. Der da soll es in die Fleischhauerstraße schleppen. Das restliche Zeug bleibt hier.»

Mit gleichmütigem Lächeln nahm er die Bücklinge des Frachtherrn entgegen, nickte seinen Schreibern zu und verließ den Prahm.

«Wie Euer Hochwohlgeboren befehlen», rief der Frachtherr ihm nach, bevor er sich an Liron wandte. «Du hast gehört, was der Junker wünscht. Auch wenn der Inhalt verdorben ist, verlangt diese Fracht höchste Sorgfalt. Lass dir ja nicht einfallen, etwas davon fortzuwerfen, damit du es leichter hast. Ich würde davon erfahren und dich aus dem Hafen jagen lassen.»

***

Cäcilie ließ ihre Finger über die Sitzfläche der langen Wandbank gleiten, während sie die Tafeln des Totentanzgemäldes abschritt. Die lebensgroßen Bilder zogen sich rund um die Plauderkapelle, vom Papst bis zum Handwerker, vom Kaiser zum Mönch, die ganze Menschheit hatte sich versammelt. Auch ein junges Mädchen war dabei, etwa in Cäcilies Alter.

Zwischen den Gestalten tanzte der Tod, er fasste sie an und zerrte an ihren Gewändern.

Cäcilie zwang sich, langsam zu gehen, sie wollte keine der Figuren auslassen, genau wie der Tod niemanden ausließ.

Fast niemanden.

Ihre Hand tastete in der Rocktasche nach der Puppe, die sie vor der Kirche gefunden hatte. Sehr ungewöhnlich für Februar, normalerweise verpuppten sich Raupen im Herbst und verkrochen sich, bevor sie steif wurden. Ihr kleiner Fund bewegte sich nicht mehr. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, dass er unter die Erde kam.

Vier Tafeln noch. Dem Klausner legte der Tod den Arm um die Schulter, beim Bauern hängte er sich ein. Ihnen folgten ein Jüngling und die schöne Jungfrau, die abwehrend ihre Hände hob, doch der Tod hatte sie bereits am Kopfputz gepackt.

Cäcilie atmete auf, als sie endlich beim Schlussbild angelangt war. Die tröstliche Tafel befand sich an der Schmalseite eines Pfeilers und zeigte einen Säugling, der in seiner Wiege lag und mit einer Blume spielte.

Das Kind war das Einzige, was der Tod nicht berührte. Nur ein Zipfel seines Leichentuchs war ganz unten auf dem Bild zu sehen. Er selbst passte nicht mehr darauf und musste hinter der Ecke des Pfeilers bleiben.

In letzter Zeit zog es sie immer häufiger in die Plauderkapelle, um sich zu überzeugen, dass der Tod nicht doch seine Hand nach dem Säugling ausstreckte.

Nein, den unschuldigen Kindern konnte er nichts anhaben. Wenn sie starben, verwandelten sie sich in Engel und flogen direkt in den Himmel.

Als kleines Mädchen hatte sie gedacht, die Verwandlung müsse ähnlich wie bei den Schmetterlingen vor sich gehen, die ja ebenfalls wie leblos schienen, während ihnen Flügel wuchsen.

Sie hatte sogar selbst versucht, den Raupen nachzueifern und sich in den eigenen Leib zurückzuziehen, als wäre er ein schützender Panzer. Manchmal gelang es ihr fast, in ihrem Innersten unterzutauchen, und sie erahnte die tiefe Ruhe, die sie dort erwartete. Die Anwesenheit von Menschen nahm sie dann nur noch wahr, wenn sie berührt wurde, und sie zwang sich dann, nicht darauf zu reagieren. Ihr Gesicht gab schon lange keine Regung mehr preis, und ihr Mund blieb verschlossen, als ob ihre Lippen zusammengewachsen wären. Der nächste Schritt würden ihre Augenlider sein, dann die Ohren, und wenn sie ganz und gar empfindungslos geworden war, würde sie irgendwann nach langer Winterstille rein und neu erschaffen sein.

Die Vorstellung gefiel ihr noch immer, auch wenn sie nicht mehr daran glaubte.

Vorsichtig nahm sie die Puppe heraus und streichelte zart über den harten Rücken. Sie wollte sie unter den Schlehen im Hof eingraben, wie die anderen. Dort im Verborgenen durften sie schlafen, dort waren sie sicher.

Mutter mied den Garten, sie mochte den Geruch des Fleischmarktes hinter der Mauer nicht und grauste sich, wenn die Gefangenen in der angrenzenden Fronerei jammerten. Nicht einmal die Jungs verirrten sich in den hintersten Winkel des Hofes, weil sie keine Lust hatten, zwischen dem Dornengestrüpp Unkraut zu rupfen. Sonst hätten sie die zeitweiligen Gräber sicher längst geplündert.

Cäcilie hätte gerne einen älteren Bruder gehabt. Einen, der ihr ähnelte, so wie Thiedemann. Stattdessen waren ihre Brüder kleine, rotznäsige Strohköpfe, laut, grob und wehleidig. Sie hatten nichts mit ihr gemein.

Ihre Finger zuckten. Rasch steckte sie die Puppe in die Tasche, bevor das Verlangen sie wieder überkam, bevor sie ihren wehrlosen Fund wieder tötete.

Göttliches Leben konnte sich nur in völliger Stille und Abgeschiedenheit entwickeln, das wusste sie genau. Und doch verspürte sie immer wieder diesen Drang, die Erde aufzuwühlen, ihre Nägel in einen der Panzer zu bohren und die braune Hülle aufzureißen, um bei der Wandlung des Lebens zuzusehen.

Einmal hatte sie das getan.

Ihr Herz begann zu pochen, als das Bild eines weißlichen Körpers Gestalt annehmen wollte, die matten Bewegungen der kleinen Glieder, die Augen unter straff gespannter Haut.

Sie versuchte, sich auf das Gemälde zu konzentrieren.

Der Tod berührt die Kinder nicht, der Tod berührt die Kinder nicht, wiederholte sie innerlich so lange, bis sie sich einigermaßen gefangen hatte.

Keine Angst, kleine Puppe, ich will dir ja nicht wehtun. Ich werde dich begraben und über euch alle wachen. Im Frühling sollt ihr Flügel bekommen und in den Himmel fliegen.

***

Liron hastete keuchend die Beckergrowe hinauf. Er ging vornübergebeugt, und der Nieselregen ließ ihn blinzeln, sodass er in der Eile mehrmals entgegenkommende Passanten anrempelte. Ausgerechnet heute schien Lübeck die engste Stadt der Welt zu sein, eine triefende Schlucht voller Pfützen und Lärm. Dicht an dicht rumpelten Fuhrwerke durch die schmalen Straßen, ließen Dreckwasser spritzen, schrammten an Ecksteinen entlang und zwangen die Fußgänger an die Mauern. Klappernde Hufe, Flüche und Gebrüll vermengten sich mit dem Jammern der Flaschenzüge an den Speicherhäusern. Und über den Dächern kreischten die allgegenwärtigen Krähen und Möwen.

Obwohl Liron bei seinen Ausweichmanövern bereits etliche Fische durch den zerbrochenen Deckel verloren hatte, kam ihm das Fass nicht leichter vor. Er kümmerte sich weder um den Schwund noch um die Hunde, die ihm seit geraumer Zeit folgten, denn gleich würde er das Haus der einflussreichen Kaufmannsfamilie betreten. Vor Herrn von Kortholt wollte er sich gesittet verbeugen, seinen Namen nennen, vielleicht einen Gruß von Thiedemann hinzufügen und dann die Last mit aller Sorgfalt verstauen.

Wieder klatschte ein Hering auf die Straße. Die Hunde stürzten sich auf die Beute und rissen sie in Fetzen. Verwesungsgeruch stieg auf. Der penetrante Gestank hüllte Liron ein und schien sich bei jedem Schritt zu verstärken. Nein, er brachte keine erfreuliche Ware, er brachte verdorbenen Fisch. Wer sollte ihm dafür dankbar sein?

Vor ihm ragten die Zwillingstürme von St.Marien in den blassen Himmel. Das Orgelspiel war nun deutlich zu hören, einzelne Akkorde, kurze Läufe vorerst, doch bald würde die Königin der Instrumente die ganze Macht ihrer vielfältigen Stimmen erheben.

Liron sah keinen Grund mehr, sich zu beeilen. Er lud seine Bürde in einer Nische zwischen den Stützmauern ab, legte ein paar Steine auf den geborstenen Deckel und wandte sich dem Seiteneingang zu.

Sobald er die Tür geöffnet hatte, überwältigte ihn der Klang. Mächtig floss das Orgelspiel durch die immensen Weiten von St.Marien. Liron legte andächtig seinen Kopf in den Nacken und blickte hinauf in das eindrucksvolle Gewölbe. Gänsehaut kroch ihm über die Arme. Hier hätte er aufwachsen müssen, vielleicht wäre er dann ein anderer Mensch geworden, ein Virtuose auf einem Instrument, das er sich unter vielen ausgewählt hätte, vielleicht sogar Tonsetzer, ein namhafter Komponist, dessen Werke von ganzen Orchestern gespielt wurden. Doch stattdessen schleppte er Heringsfässer und stümperte sich seine Musik bloß im Geiste zusammen. Er war längst zu alt, um ein richtiger Musiker zu werden. Bei einem groben Kerl über zwanzig konnte selbst der beste Lehrer keine Wunder mehr bewirken.

Gegen St.Marien kam ihm die kleine Kirche in Mummendorf nun plump und lächerlich schlicht vor. Jetzt schämte er sich für seine Versuche, auf der dortigen Orgel musizieren zu wollen. Mehrfach waren plündernde Soldaten darüber hergefallen und hatten Pfeifen herausgebrochen. Beim Spielen hatte Liron sich die fehlenden Töne vorstellen müssen oder sie eben vermieden, wodurch mancher Choral den Zuhörern völlig neu erschienen war. Trotz allem hatte ihn der Verkauf des ramponierten Instrumentes geschmerzt.

Immerhin hingen die Glocken noch, vier wohltönende Glocken. Nur die Seile waren fort. Liron hatte sich immer eine fünfte gewünscht, solange er noch gewagt hatte, in die Balken hinaufzusteigen, um sie mit einem Holzhammer anzuschlagen.

Klettern würde er nie wieder, aber das Glockenspiel von St.Marien traute er sich zu, denn das wurde von einem festen Spieltisch aus bedient.

Verhaltenes Räuspern mahnte ihn, die Tür zu schließen. Im Hauptschiff saßen vereinzelte graue Gestalten, meist alte Weiber und Kriegsversehrte, die sich mit größtmöglichem Abstand zueinander in den Bänken verteilt hatten.

Liron genoss es, durch die weiten Hallen zu wandeln und zu erlauschen, wie die Musik sich dabei veränderte, wie sie mal fern, mal nah ertönte, in Spitzbögen und Durchbrüchen spielte, die schlanken Säulen umfloss, mit ihnen nach oben strebte, steiler und steiler zum Licht hinauf, und schließlich in die nächste, abermals höher überspannte Gewölbehalle flutete.

Dort oben zwischen den Türmen, irgendwo in dem Portal aus glänzenden Pfeifen verborgen, saß Meister Tunder. Der bärbeißige Graubart war nicht nur Organist, sondern zugleich Werkmeister von St.Marien. Er entschied über Dienstleute und Ausgaben, auch über den Betrieb des Glockenspiels.

Liron musste ihn endlich um eine Stellung bitten. Aus diesem Grund war er nach Lübeck gekommen. Dafür hatte seine Mutter das Reisegeld zusammengekratzt. Er war zu jeder Arbeit bereit, selbst wenn man ihm nicht gleich die Glocken anvertrauen wollte. Ob er nun Steinfliesen schrubbte oder Kerzenstümpfe aus den Leuchtern kratzte, er würde von Musik umgeben sein.

Schon mehrmals war er Tunder auf dem Heimweg gefolgt. Doch statt den Organisten höflich anzusprechen, war er nur hinter ihm hergehuscht und hatte sich bei jedem Innehalten des Meisters hinter der nächstbesten Ecke versteckt.

Heute würde er es wieder nicht wagen. Nicht mit dem Fischgestank in den Kleidern.

Seufzend wandte er sich ab und schritt durch den Mittelgang auf den Lettner zu, der Empore für den Chor und die einflussreichen Bürger. Es war der beste Platz im ganzen Bauwerk, dort umfing die Musik den Zuhörer von allen Seiten. Verstohlen spähte er zu der Gruppe vornehmer Herren hinauf. Sie sahen alle gleich aus in ihrem schwarzen Staat mit den blendend weißen Spitzenkrägen. Und alle hielten einen hohen Hut auf den Knien. Kaufleute, die sich regelmäßig vor Eröffnung der Börse in ihrer Kirche zusammenfanden – und sich lautstark unterhielten.

Ignoranten.

Wie konnten sie ihr Sonderrecht nur so verschwatzen?

Bevor der Ärger in Liron aufwallen konnte, übernahm unvermutet ein Cembalo die Melodie. Zierlich mischte sich der Klang des Clavicimbels in den verebbenden Orgelschall hinein. Angenehm klar und auch ein wenig spröde hörte es sich an, wie ein Zehenspitzentanz in silbernen Schuhen. Fürwitzig geziert und keck metallisch setzte es den Rhythmus neu in Szene.

Durch den Nachhall konnte Liron das Instrument nicht orten. Er suchte mit den Augen den Lettner ab, den Altarraum, die Nebenkapellen. Die Orgel hatte längst wieder mit vollen Werken eingesetzt, als sein Blick nach oben wanderte.

Er schrak zurück.

Auf einem der Balkone, mindestens zehn Klafter über ihm, saß Thiedemann von Kortholt, klappte den Cembalodeckel zu und sah zu ihm herab.

Hastig wich Liron in den Schatten des Seitenschiffes. Im Halbdunkel lehnte er sich an eine Säule. Die Backsteinziegel drückten kalt in seinen Rücken. Er sollte verschwinden. Er sollte sein Fass abliefern und sich umgehend im Hafen zurückmelden. Als er sich vorbeugte und noch einmal zum Balkon hinaufsah, war Thiedemann fort.

Liron schloss die Augen.

Nur noch ein paar Takte zuhören, nur dieses eine Stück noch genießen, bevor er sich mit dem Fass zu den Kortholts aufmachte.

***

Inzwischen hatten die Hunde das Heringsfass in Besitz genommen. Liron musste nach ihnen treten, damit sie ihm zähnefletschend ihre Beute überließen. Abschütteln konnte er sie aber nicht, bis zur Fleischhauerstraße hechelten sie ihm nach.

Die hohe Flügeltür des Kaufmannshauses und mehr noch die langen Sprossenfenster, die über zwei Stockwerke reichten, ließen großzügige, lichte Räume vermuten. Zögernd stieg Liron die Eingangsstufen hinauf.

«Meines Wissens haben wir keinen Hundefänger bestellt.» Thiedemann von Kortholt stand hinter ihm und blickte betont gelangweilt in eine andere Richtung. Nur seinen Hut schlug er ungeduldig gegen den Oberschenkel. «Würdest du die Güte haben, dich da herunterzubequemen? Du versperrst mir den Weg.»

Sobald Liron von der Schwelle gesprungen war, spazierte der junge Kaufmann an ihm vorbei die Eingangsstufen hinauf. «Ich frage mich, was du mitten am Tag in der Kirche zu suchen hast. Dringende Geschäfte etwa? Bleibt zu wünschen, dass sie erfolgreicher verlaufen sind als deine prompte Lieferung.»

Während Liron noch nach einer Entschuldigung suchte, öffnete der Junker bereits die Tür und trat ein. Er hatte nicht einmal geklopft. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Liron, ihm zu folgen. «Aber deine räudigen Kumpane lass gefälligst draußen.»

Im Inneren des Hauses war es unerwartet schummrig. Beengt durch hölzerne Wände auf beiden Seiten blieb statt einer freundlichen Eingangshalle nur ein schmaler Gang zum hinteren Teil der Diele übrig. Dort lag die Küche mit einem riesigen Schornstein. Gegenüber schluckten schwarze Schränke das wenige Licht, das vom Hof durch Butzenscheiben auf einen Essplatz fiel.

«Thiedemann!», ertönte es von der schmalen Treppe, und ein Bursche stürzte dem Kaufmannssohn entgegen. Ihm folgte ein ganzer Wildbach aus Getrappel, zwei weitere Knaben, klappernde Schuhe und wildes Krakeel. Überschwänglich fielen sie über ihren Besuch her und scherten sich nicht um Thiedemanns Versuche, sich die Bande vom Leib zu halten.

«Ich liebe Verwandtschaft, insbesondere deren Brut», sagte er mit dem Anflug eines Lächelns und wandte sich dann an Liron. «Stell das Fass dort draußen ab.»

Im Winkel neben der Hoftür lehnte ein junges Mädchen an der Wand. Sie sah etwas verwildert aus, ihre Kleider waren nachlässig geschnürt, und das dunkle Haar fiel ihr in langen Strähnen über das Gesicht. Vielleicht eine Magd. Liron musste nahe an ihr vorbeigehen und rechnete damit, dass sie ihm ausweichen würde. Doch die schlanke Gestalt rührte sich nicht. Sie hielt die Hände neben sich an die Mauer gepresst und starrte ins Nichts.

So stand sie noch da, als Liron seine Last abgeladen hatte und wieder hereingekommen war.

Inzwischen hatte Thiedemann sich der Bengel erwehrt und rief auch der jungen Frau seinen Gruß zu. Da sie nicht antwortete, ging er zu ihr und strich ihr das Haar aus der Stirn.

Als ob ein Vorhang von den Fenstern gezogen würde, dachte Liron. Überraschend helle Augen leuchteten in ihrem Antlitz. Sie sah dem Junker verblüffend ähnlich, die dunklen Brauen und der blasse Teint, die schmale Nase, die hohen Wangenknochen.

«Nun, schöne Cousine», sagte Thiedemann und hob sanft ihr Kinn, «schenkst du mir heute ein Lächeln?»

Sie antwortete noch immer nicht, aber Liron horchte auf. Hatte er einen winzigen Laut vernommen? Oder war es nur das Stocken ihres Atems gewesen? Bevor er die Stimme eines Menschen kannte, blieb dieser fremd und unfassbar für ihn, und dieses Mädchen hatte seine Neugierde geweckt.

«Lass doch den Stockfisch.» Einer der Jungen zerrte an Thiedemanns Ärmel.

Mit einem schnellen Griff packte der Junker den Bengel am Arm. «Pass auf, was du sagst, Nils. Sie ist deine Schwester, vergiss das nicht. Ich persönlich würde sie jeder geschwätzigen Schnepfe vorziehen.»

«Au, was hab ich denn getan? Wir nennen sie immer Stockfisch. Sie ist doch stumm. Stumm wie Stockfisch eben.»

«Lass doch Thiedemann, Kinder sind so, es ist nicht böse gemeint.»

Liron hatte die Dame in der Küche noch gar nicht bemerkt, und nach ihrem Tonfall zu urteilen, wäre sie wohl auch am liebsten im Hintergrund geblieben. Ihr Leib ließ kaum Formen in der strengen Tracht erkennen, und ihre Miene wirkte unentschieden und sonderbar verwischt. «Kommt dein Vater auch?»

Als Thiedemann verneinte, lächelte sie kurz und begann, unstet in der Küche umherzulaufen. Wein, Tabak und eine lange, weiße Pfeife sammelte sie auf einem Tablett zusammen.

«Ach, die Stube ist gar nicht geheizt», sagte sie plötzlich und blieb mitten in der Diele stehen.

Thiedemann fegte ein Kissen von der Bank, setzte sich und klopfte auf den Tisch. «Hier.»

Sofort rutschten die Kinder an seine Seite. Sie krabbelten fast auf seinen Schoß, er konnte kaum die Pfeife stopfen. «Verschwindet, ihr Quälgeister. Lasst eure Mutter sitzen. Der Träger da wird auch nichts gegen eine Pause einzuwenden haben.»

«Aber der Kerl ist widerlich», sagte der Jüngste, musterte Liron schamlos und hielt sich die Nase zu.

«Er ist ein Held», raunte Thiedemann ihm ins Ohr, «hat heute im Hafen mehrere Männer vor dem Ertrinken bewahrt.» Darauf schubste er den Jungen sanft von der Bank.

Die Jungen lümmelten sich an der Treppe und blickten verstohlen zu Liron herüber. Sie flüsterten miteinander, eine Mischung aus Zweifel, Bewunderung und Abscheu mischte sich in ihr Gewisper.

Mit einer einladenden Geste bedeutete Thiedemann der Frau, auf der Bank Platz zu nehmen, Liron wies er einen Schemel zu.

Während der Junker sich bequem zurücklehnte und seinen Wein trank, saß Liron genauso gehemmt da wie die Dame des Hauses. Sein eigener Geruch widerte ihn an, seine Hände waren dreckig, die Kleider ebenfalls. Wahrscheinlich würde die Hausfrau seinen Schemel später mit Unmengen von Seife schrubben. Zu alledem beobachtete Thiedemann ihn unverhohlen.

Ein weiteres Augenpaar ruhte auf ihm, hellgraue Augen, hinter einem Vorhang aus schwarzem Haar. Ihretwegen war er geblieben, ihretwegen hatte er überhaupt Platz genommen.

Sie war stumm. Nicht einen einzigen Ton würde er von ihr hören, nicht einmal eine Ahnung vom Klang ihrer Stimme haben. Sie entzog sich ihm ganz und gar.

Aber musste stumm denn lautlos heißen?

Er wagte nicht, direkt zu ihr hinüberzuschauen, daher heftete er seinen Blick auf das Muster des Tischteppichs und horchte konzentriert auf das Hauchen ihres Atems. Sie atmete ganz flach. Nach wenigen Augenblicken bemerkte er winzige Unregelmäßigkeiten. Vielleicht sprach sie innerlich.

«Möchtest du etwas essen?», fragte die Hausfrau und sprang auch schon auf. «Ich habe Kuddeln auf dem Herd, die magst du doch immer.»

Thiedemann schüttelte den Kopf und legte ihr die Hand auf den Arm. «Ich bin aus anderen Gründen hier. Dein Mann hat Dreck gekauft, den Beweis findet ihr in dem Heringsfass. Da hat jemand beim Pökeln mit Salz gespart. Ich fürchte, die ganze Ladung ist verdorben.»

«Lieber Herr Jesus!», rief sie und sackte auf die Bank zurück. «Es muss ja niemand bemerken, Fisch wird doch oft weit ins Binnenland versendet.»

«Dieser nicht, Grethke, ich habe Onkel Hinrich soeben daran gehindert, auf der Börse einen Abschluss zu machen.»

«Was?» Mit aufgerissenen Augen sah sie ihn an. «Wir brauchen jeden Pfennig, das weißt du. Dein Vater hat uns die Summe vorgestreckt, jetzt wird er seinen Gewinn verlangen. Die Fracht kommt auch noch dazu. Wir schulden ihm schon so viel. O Gott, soll das denn niemals enden?»

Sie presste die Hände in ihren Schoß. Ihre Schultern zitterten, während sie leise schluchzte.

Liron rutschte unruhig auf seinem Schemel hin und her. Wie sollte er verhindern, jedes Wort mitanzuhören? Das hier betraf nur die Familie.

«Hör auf zu weinen, Grethke», sagte Thiedemann, und sie verstummte. «Dein Mann darf das Zeug nicht verkaufen, nicht hier, auch nicht in Hamburg. Um seinen Ruf steht es ohnehin nicht zum Besten. Salzhering im Februar. Das Zeug hat Monate gelegen, da muss man doch misstrauisch werden.»

«Ich verstehe ja nichts davon, aber Hinrich hat den Fisch bestimmt sehr günstig bekommen, und weil dein Vater gerade für drei Last Platz auf der Engel hatte…»

«Drei Last.» Thiedemann blies eine Rauchwolke zur Decke. «Hinrich muss über Land fahren und die Fässer einzeln irgendwelchen Mecklenburgern andrehen. Sag ihm das.»

«Ich? Er bespricht seine Geschäfte nie mit mir…»

«Sag’s ihm trotzdem. Am besten macht er sich erst am Ende des Winters auf den Weg, da hilft ihm der Hunger, und in der Kälte riecht man die Fäulnis nicht.» Plötzlich lächelte der Junker. «Wie in Nowgorod, wahrhaftig, ich hätte Lust, Onkel Hinrich zu begleiten, wie früher, als ich noch sein Lehrling war.»

«Ja, wie früher», wiederholte Grethke, und für einen Moment verjüngte sich ihr Antlitz.

«Ich komme mit», rief einer der Burschen von der Treppe zu ihnen herüber. Der Kleinste drängelte sich an ihm vorbei, um als Erster am Tisch zu sein. «Ich auch!»

«Du willst schon reisen, Nils? Werde erst mal einen Meter groß.» Thiedemann hielt seine Hand über den Kopf des Jungen, gerade so hoch, dass der sie nicht berühren konnte. «Bald schon segeln Lars und Lukas fort, nach Bergen oder Skåne, wo die Leute sprechen, als hätten sie heiße Rüben im Maul. Dann bist du deine Brüder los und kannst der Mann im Hause sein. Ja, dann beschützt du die Weiber.»

Das Mädchen an der Wand drehte sich brüsk zur Hoftür um und schlüpfte hinaus.

Um ein Haar wäre Liron ihr nachgelaufen, doch Thiedemanns Stimme hielt ihn davon ab: «Zum Henker, Grethke, du musst dich besser um sie kümmern. Wie kannst du sie nur derart vernachlässigen? Hast du ihren Rock nicht gesehen? Als ob sie auf Knien durch den Garten gekrochen wäre, Ihre Hände sind auch ganz schwarz vor Dreck, und warum trägt sie keine Haube?»

Nichts von dem, was der Junker bemängelte, hatte Liron störend gefunden. Er hatte ihre Augen gesehen, die hohe Stirn, vor allem ihre Lippen, die sich nicht bewegen wollten, um mit ihm zu sprechen.

Der Junker dagegen wusste offenbar auch ohne Worte, was ihr fehlte. Liron konnte nicht umhin, ihn zu darum beneiden.

Scharf fügte Thiedemann hinzu: «Wenn deine Tochter herumläuft wie Soldatengesocks, wirft das ein schlechtes

Bild auf die Familie, zu der ich schließlich auch gehöre.»

«Was soll ich denn tun?», fragte Grethke mit gesenktem Kopf. «Donnerstag und Samstag ist die Magd beim Waschen, dann macht sie, was sie will. Von mir lässt sich meine Tochter ja nicht anrühren.»

«Waschtag am Sonnabend?», fragte Thiedemann.

Grethke ging nicht darauf ein. «Stur wie ein Ochs ist sie. Du ahnst nicht, was ich heute wieder auszustehen hatte, als ich sie zum Gottesdienst ankleiden musste. Und hinterher wollte sie einfach nicht mit nach Hause kommen, sondern lief in der Plauderkapelle im Kreis. Manchmal denke ich, sie wäre in einem frommen Stift besser aufgehoben.»

Unvermittelt stand der Junker auf. Grethke wischte sich die Tränen von den Wangen und erhob sich ebenfalls. Doch bevor sie ihren Gast hinausgeleitete, fragte sie: «Ist Görgen in der Stadt? Will er uns später aufsuchen?»

«Bestimmt nicht. Vater verschont selbst mich die ganze Woche schon mit seiner Anwesenheit. Er hat sich ein neues Spielzeug zugelegt, eine Bierbrauerei auf dem Gut. Deshalb sitze ich ja in seinem muffigen Speicher fest und darf von früh bis spät Kisten zählen.»

«Oh… das tut mir leid.» Doch es klang, als hätte Grethke eher «Gott sei Dank» sagen wollen.

Sorgfältig setzte sich Thiedemann seinen Hut aufs Haupt. «Ihr müsst kreditwürdig bleiben, alles andere ist zweitrangig. Ich habe Mehlstaub auf Hinrichs Wams gesehen, und Ihr, liebe Tante, seid heute auch nicht ganz präsentabel.»

«Trine hat Waschtag…»

«Behauptet sie das? Wie auch immer, gebt eine Feier im Gasthaus und macht die Lästerer mundtot. Wie ihr hier drinnen haust, interessiert dann niemanden mehr.»

Mit langen Schritten durchquerte er den dunklen Flur, gefolgt von Liron und Grethke. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und wandte sich an den kleinsten der Burschen: «Ich erwarte dich am Montag in der Gröpelgrowe, Nils. Und bring deine Brüder mit. Dieses Jahr ist es an mir, das Fastnachtsschwein für die Blinden zu stiften.»

Es dämmerte bereits, als sie auf die Straße traten. Wenn Liron nicht bald auf den Prähmen erschien, konnte er den heutigen Verdienst vergessen.

«Ich muss jetzt gehen», sagte er.

Thiedemann hob eine Braue. «Was denn, du verlangst keinen Botenpfennig? Kaum zu glauben. Ein gewöhnlicher Hafenknecht überrascht mich gleich mehrmals an einem Tag. Wenigstens das muss belohnt werden.»

Er kramte in seiner Manteltasche und warf ihm eine Münze zu. Liron fing das Geldstück auf und ließ es in seinen Beutel gleiten. Kein Klirren. Bis auf diese eine Münze war das Säckchen betrüblich leer. Er dankte mit einem Kopfnicken und eilte auf die Beckergrowe zu.

An der Ecke lungerte eine Gruppe von Handwerksgesellen. Fünf Männer waren es, die Hände in den Taschen, die Köpfe missmutig vorgereckt. Sie starrten genau in Lirons Richtung und tuschelten miteinander. Alle trugen sie Messer am Gürtel, einer sogar ein Zimmermannsbeil.

Liron verlangsamte seinen Schritt und wechselte die Straßenseite. Nach der Wache zu rufen kam nicht in Frage. Die Stadtsoldaten hatten ihre eigene Vorstellung davon, mit wem sich Prügeleien lohnten; und wen sie einmal in den Klauen hatten, den ließen sie nur gegen Bares gehen. Daher beeilte er sich lieber, im Gewimmel der Karren und Fuhrwerke unterzutauchen, um unbehelligt an den Kerlen vorbeizukommen.

Aber sie folgten ihm nicht einmal mit den Blicken.

«Da hinten! Seht euch den Gockel an!», hörte Liron einen der Männer rufen.

«Stolziert in Samt und Zobel einher, der kommt sich wohl vor wie ein Fürst mit seiner bleichen Visage.»

Das raue Lachen des Gesellen ging in Husten über.

«Ach, lasst ihn, das ist Thiedemann, den kenne ich», erwiderte ein anderer. «Der hat immer pünktlich gezahlt.»

«Ja und? Seinen Vater kennen wir noch besser – Görgen von Kortholt. Der hockt im Rat und hütet angeblich die Bürgerordnung, aber auf seinem Gut hält er sich einen Schreiner.»

«Und einen Schmied, heißt es. Wer weiß, ob er nicht noch weitere Bönhasen beschäftigt, die uns die Preise verderben.»

Der Mann rotzte abfällig auf das Pflaster. «In die Stadtkasse zahlt ein Görgen von Kortholt natürlich nichts für seinen unbilligen Verdienst – aber uns pressen seinesgleichen die letzten Pfennige aus den Rippen.»

Die Kerle rückten zusammen. Langsam setzte sich die Rotte in Bewegung.

2.Kapitel 

Cäcilie kauerte hinter den Schlehen und hatte sich an die Mauer gelehnt. Ihr Atem flog noch immer, als wäre sie gerannt. Sie winkelte die Beine an, fasste ihren Rock neben den Knöcheln und zog ihn so weit zurück, dass ihre Füße nicht nach vorne rutschen konnten. Der Stoff spannte über ihren spitzen Knien.

Durch das Gewirr der schwarzen Dornenzweige konnte sie die Hoftür sehen. Ob er wohl noch da drin war?

Er hatte kein einziges Wort gesprochen, genau wie sie. Aber er hatte sich nicht in sein Schweigen zurückgezogen, im Gegenteil, seine Präsenz konnte sie immer noch fühlen.

Und riechen.

Sie rümpfte die Nase. Er hätte nach Zimt duften müssen. Zimt, wie die Farbe seines Haars. Es würde sich weicher anfühlen als ihre schweren Strähnen. Sicher war es weich, sein Ohr hatte sich immer wieder daraus hervorgemogelt.

Warum lächelte sie? Und warum hoffte sie insgeheim, Trine würde nicht gerade jetzt nach Hause kommen?

Ihre Miene fror ein.

Der fremde Bursche hatte sie heimlich beobachtet. Er war mit seinem widerlichen Fass unverschämt dicht an ihr vorbeigetrampelt, sodass sie die Muskeln an seinen Unterarmen sehen musste, die Sehnen an seinem Hals, die dunkelgeschwitzte Jacke mit Flecken am Rücken und auf den Schultern. Nicht einmal unter Bettelvolk konnte es üblich sein, fremden Menschen so nahe zu treten.

Und jetzt stand sein Fass in ihrem Hof. Er hatte ihr dreist eine stinkende Duftmarke in den Garten gesetzt. Wie ein Straßenköter. Die ganze Zeit hatte er sie bedrängt. Obwohl er den Blick auf den Tisch gerichtet hielt, hatte er ihr nicht erlaubt, sich abzuwenden. Sie hatte ja kaum noch zu atmen gewagt. Ausgehorcht hatte er sie, so intensiv, als ahnte er, dass sie ein Geheimnis in sich barg, als hätte er versucht, es ihr abzulauschen.

Unsinn!

Der dreckige Tagelöhner kannte nun höchstens das Muster des falschen Gobelins, auf den er die ganze Zeit gestarrt hatte. Von ihr wusste er nichts, konnte er nichts wissen.

Es war unnötig, sich Gedanken zu machen, schließlich war er nur ein Kerl wie all die anderen, die Fässer oder Kisten hinein- und hinausschleppten, die kamen und gingen, fraßen, prügelten und soffen. Cäcilie würde ihn kaum jemals wieder treffen, und falls doch, würde sie ihn vergessen haben und nicht mehr erkennen.

Es bestürzte sie, dass sie vor sich selber log.

Winzige Schweißperlen sammelten sich über ihrer Lippe. Sie spürte es deutlich, wenn der Wind darüberstrich.

«Da kommt die Schlechtigkeit heraus», hätte Onkel Görgen jetzt gesagt. Görgen schwitzte nie. Immer perfekt, kein Knitter im Mantel, kein Fleck, kein Geruch. Manchmal dachte Cäcilie deshalb, die Schlechtigkeit könne womöglich in ihm stecken bleiben.

Wie auch immer, ihr Onkel hatte sich selbstlos um die Familie gekümmert, als Thiedemann und Vater monatelang zur See gefahren waren. Und er hatte ihr damals gesagt, was sie tun sollte, zumindest nahm sie das an. Wenn sie sich doch nur an jene schreckliche Nacht erinnern könnte, wenn doch der Schlüssel nicht so tief in ihr verborgen läge.

Sie musste danach suchen.

Warum war es nur so schwer? Wieso ließ sie sich in letzter Zeit dauernd ablenken. Was ging sie der Krakeel auf dem Fleischmarkt an? Viel zu oft ertappte sie sich beim Lauschen. Dann wieder ließ sie sich hinreißen, im Geiste zu ihren Puppen zu sprechen, manchmal richtete sie ihre lautlosen Worte sogar schon an Menschen. Heute nun dieser Hafenknecht. Und morgen?

Wenn es ihr nicht gelang, sich zusammenzureißen, würde sie bald ihrer Mutter gleichen und all den anderen willensschwachen Weibern, die ihren Launen haltlos ausgeliefert waren, ebenso den Forderungen ihrer Gatten, der Brüder, der Nachbarn…

Der verhasste Kloß stieg in ihrer Kehle auf. Aber Cäcilie hatte über die Jahre gelernt, ihren Leib zur Räson und den geschwätzigen Geist zum Schweigen zu bringen. Sie blinzelte, damit sich keine Tränen in ihren Augen sammeln konnten, holte tief Luft und schlüpfte aus ihren Schuhen.

Ihre Fußspitze bohrte sich unter das Moos.

Die Kälte betäubte.

Wenn sie jetzt an einen Stein schrammte, würde sie keinen Schmerz mehr verspüren. So ähnlich musste er sein, der stille, wunschlose Winterschlaf unter der Erde.

Erst als ihre Zehen zu eisigen Fremdkörpern wurden, zog sie ihren Fuß zurück.

***

Liron blieb stehen und versuchte, durch die Fuhrwerke hindurch die Handwerkerrotte im Blick zu behalten. Sie gingen zu zweit und zu dritt nebeneinander, ihre Schultern berührten sich. Langsam schob sich der Pulk auf die Breite Straße vor. Wenige Schritte vor ihnen schlenderte Thiedemann gemächlich einher, begrüßte hier einen Bekannten, schwatzte dort mit einer Dame.

Niemand würde es wagen, einen angesehenen Herrn auf offener Straße zu behelligen. Kein Grund also, beunruhigt zu sein. Überhaupt, was scherte Liron sich um den Kaufmannssprössling? Welten lagen zwischen ihnen.

Aber er spielte Cembalo, direkt neben Tunder. Und sein Vater stand der Marienkirche vor. Und er hatte eine Cousine, die nur mit den Augen sprach.

Ohne einen Entschluss gefasst zu haben, zog Liron die Schultern hoch und folgte ihm unauffällig in einigem Abstand.

Thiedemann stellte seinen Fuß auf einen Schwellenstein und zupfte an seinem Strumpf. Kurz hatte Liron den Eindruck, der Junker würde unauffällig hinter sich spähen. Wie es aussah, bemerkte er die Handwerkerrotte aber nicht, denn er beschleunigte seinen Gang keineswegs.

Die Kerle hielten sich ebenfalls zurück, als würde ein unsichtbares Hindernis sie zwingen, gebührenden Abstand zu halten.

Thiedemann ging auf den Koberg zu. Die Feder an seinem Hut wippte im Gleichklang mit seinem Degen. Dann wechselte er überraschend die Richtung und verschwand hinter der Ecke der Schiffergesellschaft.

Sofort begannen die Kerle zu laufen.

Auch Liron rannte los und bog in die Engelische Growe ein. Hier, im oberen Bereich, schien die Straße selbst bei Tage düster. Mehrere Stützbögen spannten sich zwischen den Häusern, und doch blieb der Eindruck, die Mauern drängten unaufhaltsam aufeinander zu. Wer Lasten transportierte, bevorzugte andere Wege, wer unbehelligt sein Ziel erreichen wollte, auch. Besonders in der Dämmerung.

Regen setzte ein. Liron konnte Thiedemann nicht mehr sehen, doch er hörte dessen harte Absätze weiter unten auf der Straße klappern. Der Handwerkertrupp nahm jetzt die ganze Breite der Gasse ein. Schulter an Schulter folgten sie dem Kaufmannssohn bergab. Das waren sichere Schritte in breit getretenen Schuhen. Sie alle gebrauchten täglich ihre Muskeln, wie es auch Liron gewohnt war. Sein Leib war hart und seine Hände unempfindlich vom Zupacken – ganz im Gegensatz zu Thiedemanns langen Cembalofingern. Der Junker würde verloren sein, wenn er den Kerlen nicht entkommen konnte.

Liron hörte die erregten Stimmen der Männer. Sie raunten sich gegenseitig Anweisungen zu, und der Zimmerer ließ den Stiel seines Beils rhythmisch in die hohle Hand klatschen.

Auf einmal veränderte sich das Klappern der Schleifenschuhe. Das Geräusch versank in aufgeweichtem Lehm. Thiedemann musste einen der Hinterhöfe betreten haben, wahrscheinlich den Capellengang, der nicht gepflastert war – und keinen zweiten Zugang besaß.

Der Junker tappte geradewegs in die Falle!

Liron stürzte los.

Zwei der Kerle drehten sich nach ihm um. Am ersten kam er vorbei, den anderen rempelte er in vollem Lauf an, dann schnellte er nach vorn und warf sich auf den Zimmerer. Lirons Arme umklammerten den Hals des Mannes – keinen Augenblick zu früh, denn der Zimmerer wankte direkt in den schmalen Durchgang zum Hinterhof hinein.

Wo zur Hölle war Thiedemann?

Lirons Schulter ratschte an rauen Ziegeln entlang. Der Kerl rammte ihm den Ellenbogen in den Leib und versuchte, ihn an der Mauer abzustreifen. Sie rutschten auf dem feuchten Boden, schleuderten gegen Wände. Doch Liron hielt sich fest. Sein Knie schlug gegen einen Vorsprung, er brüllte, aber er ließ nicht los. Nur nicht in dem engen Gang unter den Gegner geraten. Er drückte sich gegen die Wand und versuchte, sich abzustoßen. Immer wieder, mit den Beinen, mit der Schulter.

Plötzlich stieß er ins Leere.

Er wurde herumgewirbelt. Sein Rücken krachte gegen eine Mauer. Kurz blieb ihm der Atem weg. Jemand packte ihn am Haar, sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Mit offenem Mund starrte er in ein wutverzerrtes Gesicht.

Dann kam die Faust.

Der Schlag traf sein Ohr mit voller Wucht.

Er schrie, doch seine Stimme verlor sich in der Dunkelheit. Hart schlug er auf den Boden.

***

Es tropfte.

Leise und stetig. Vollkommen gleichmäßig.

Es tropfte in eine Pfütze, die jeden Aufpitscher mit einem winzigen Glucksen quittierte.

Liron fragte sich, ob seine Wange wohl in dieser Pfütze lag. Beim Versuch, den Kopf zu heben, schoss ihm ein stechender Schmerz durch den Schädel, und er verschob seine Absicht auf später. Vorerst reichte es, die Augen zu öffnen.

Seltsam schräg ragten die Giebel der brüchigen Hinterhofbuden über ihm auf, und am Himmel wanderte der abnehmende Mond durch formlose Wolkenschichten.

Keuchen war zu hören und Tappen in schmatzendem Lehm. Es dauerte eine Weile, bevor Liron die wandelnden Schemen einordnen konnte, ihre Konturen lösten sich immer wieder auf und verdunkelten sich zeitweilig im Schmerz hinter seiner Schläfe. Sie bewegten sich in lauernder Haltung im Kreis, wie in einem schwerfälligen Bauerntanz ohne Musik. Einer der Kerle hinkte, und der Zimmerer presste die Hand auf seinen blutenden Arm. Hatte der Mann nicht eben noch ein Beil getragen?

Ein Blitzstrahl funkelte in ihrer Mitte auf. Ein silberner Taktstock, der den Reigen dirigierte. Er zischte dicht an ihren Gesichtern vorbei, zuckte auf und nieder, und zwang sie auseinander.

«Allez!»

Das war Thiedemanns Stimme. Liron drückte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf mit dem Arm. Der Schmerz ließ nur zögerlich nach.

Wo kam der Junker plötzlich her?

Thiedemanns schwarze Kleider verschmolzen mit der Dunkelheit des Hofes, seine aufrechte Haltung hinter der wirbelnden Waffe war nur zu erahnen.

«Et flèche – uuh, parée.»

Mal leuchtete sein Spitzenkragen auf, mal schimmerte seine weiße Manschette.

Wieder schnellte der Fechter vor. Sein Degen kam zitternd an der Kehle des Zimmermanns zum Stillstand.

«Victoire!», fauchte Thiedemann atemlos.

Der Zimmerer wich zurück, bis er an der Bretterbude lehnte. «Wir hätten Euer Hochwohlgeboren nichts angetan, ich schwöre es.»

Seine Kumpane nickten. Unmerklich drückten sie sich rückwärts Richtung Ausgang.

Thiedemann bleckte die Zähne. «So? Und was hattet ihr dann im Sinn?»

Die blanke Klinge bog sich. Immer höher musste der Kerl sein Kinn recken, er stand fast auf Zehenspitzen.

«Eine Verwechslung», stieß er hervor. «Wir sind geprellt worden, wollten den Händler bloß zur Rede stellen. Eine Verwechslung, ich schwöre, Eure Kleider, ich meine von hinten–»

«Dein Name», unterbrach Thiedemann.

Der Zimmermann antwortete kaum hörbar, als würde er mit seinem Namen auch seine Seele offenbaren. «Claas Pommer.»

Liron hatte sich oft gewundert, dass auf diese Frage so wenige Männer lügen konnten, selbst abgebrühten Schurken fiel das schwer, und meist verriet sie ihre eigene Stimme.

«Sehr schön», sagte Thiedemann. «Du weißt von dem kaiserlichen Gebot, dass die aufständischen Lübecker endlich ihrem Rat gehorchen sollen? Die Bürgerschaft war einverstanden und hat unterschrieben. Du richtest dich also gegen Kaiser Leopold, wenn du weiter Unruhe stiftest. So etwas nennt man Hochverrat. Überlege dir das gut, Claas Pommer. Jetzt darfst du gehen.»

Mit einem scharfen Geräusch rutschte der Degen in die Scheide.

Die Männer tauschten verwirrte Blicke und schlichen schweigend aus dem Hof. Erst weit unten auf der Engelischen Growe begannen sie zu murmeln und entfernten sich Richtung Trave.

«Kannst du aufstehen?»

Es klang, als würde Thiedemann hilfreich seine Hand ausstrecken. Aber das tat er nicht. Also rappelte Liron sich selber hoch. Ihn schwindelte, in seinem Kopf fiepte es grell, er musste sich anlehnen.

Thiedemann zückte ein Tüchlein und tupfte sich das Gesicht. «Selbstüberschätzung mit Dummheit vermengt, das ist eine riskante Mischung, wie du gerade am eigenen Leib erfahren durftest.»

Liron vernahm den Spott. Wie hätte er denn wissen sollen, dass der verwöhnte Kaufmannssohn ein Fechtmeister war? Wenn ein lobendes Wort zu viel der Gunst sein sollte, verdiente er wenigstens ein beifälliges Nicken für seinen Einsatz. Auch ohne jeden Dank wäre er friedlich abgezogen, aber es gab keinen Grund, sich verhöhnen zu lassen. Sein pochender Kiefer verhärtete sich.

Thiedemann winkte ab. «Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken, ich habe dich schließlich recht lange zappeln lassen. Möglicherweise hättest du dich ja selbst aus der Affäre ziehen können, und ich wollte dir keinesfalls den Triumph verderben.»

Gönnerhaft griff er nach Lirons Kinn, wohl um die Prellung zu begutachten. Liron wandte sich entschieden ab, was ihm eine weitere Schmerzwelle bescherte.

«Schon gut, schon gut.» Thiedemann grinste. «Nur eines noch. Wie soll ich es auffassen, dass du mich für einen Schwächling hältst, dem man zu Hilfe eilen muss?»

«Das könnt Ihr halten wie Ihr wollt.»

«Ein großherziges und leider äußerst seltenes Angebot. Ich nehme es gerne an.» Er lachte, dann schüttelte er den Kopf. «Du bist ein sonderbarer Vogel, verfolgst mich den ganzen Tag, sogar in die Kirche rennst du mir nach, und nun hast du meinetwegen auch noch Prügel eingesteckt. Was willst du von mir?»

«Ich bin nicht Euretwegen in der Kirche gewesen.»

«Wegen der unwiderstehlichen Orgelmusik etwa?»

Lirons Nicken sah der Junker nicht mehr, denn am Ende des Hofs öffnete sich eine Tür, und in dem leuchtenden Spalt erschien der Umriss einer Frau. Für seinen Kampfgefährten hatte der Kaufmannssohn nur noch eine verscheuchende Geste übrig.

Liron ärgerte sich, dass er gehorchte wie ein Hund und brav zur Engelischen Growe hinaustappte. Er blickte in den grauschwarzen Himmel und blieb stehen. Sein heutiger Verdienst im Hafen war längst dahin.

Vielen Dank, Thiedemann von Kortholt.

***

Es tropfte von den nackten Schlehenzweigen. Darunter hatten sich schon kleine Pfützen gebildet. Und es war kalt. Cäcilie blickte zum Fenster hinüber. Das flackernde Öllicht leuchtete auf den Hof hinaus, und es duftete nach Brühe. Drinnen saß die Familie bei Tisch. Vaters profilloser Schatten residierte am Kopfende, die Brüder hampelten wie üblich herum, und Mutter setzte sich anscheinend nur, um wieder aufspringen zu können.

War Trine denn noch nicht zurück?

Cäcilie hatte plötzlich Appetit auf einen Löffel Suppe. Natürlich musste sie irgendwann essen. Natürlich hätte sie einfach hineingehen können, ohne darauf zu warten, dass die Magd sie holte.

Oder sie aß jetzt eben nicht.

Sollten sie dort drinnen ruhig auch ihren Anteil verspeisen. Vater würde dennoch lauthals nach mehr Fleisch verlangen, was Mutter aber längst den Söhnen zugeschoben hatte. Sie alle stemmten die Ellenbogen breit auf den Tisch, stießen ihre Löffel in die Schüsseln wie gierige Möwenschnäbel und redeten in einem fort. Doch nichts von dem, was sie so dringend zu sagen hatten, drang durch das Fenster.

Cäcilie fühlte sich auf einmal ganz leicht. Das beleuchtete Viereck mit den gestikulierenden Schemen schien immer weiter fortzugleiten. Es gefiel ihr, dem fernen Treiben zuzusehen, als sei sie ein Geist, der nicht dazugehören musste.

Leise richtete sie sich auf und bewegte sich auf das Fenster zu. Wie zum Abschied streckte sie die Hand nach der Scheibe aus. Doch kurz bevor ihre Finger das Fenster berührten, zog sie sie wieder zurück.

Mit wem disputierten sie wohl, wenn ihr Gegenüber doch gerade selber sprach? Und woher kamen die vielen Worte? Wahrscheinlich bestand das Geschwätz aus überzähligen Gedanken, die sich Luft machen mussten, wie Rülpser nach zu schwerem Essen. Cäcilie wandte sich ab, um in die Dunkelheit zurückzuhuschen.

Ihr Knie stieß gegen etwas Hartes. Verflucht, das Fass. Mit Gepolter fiel der Deckel zu Boden. Abrupt blieb sie stehen und hielt den Atem an.

Aber drinnen hoben sie nicht einmal die Köpfe. Wahrscheinlich hörten sie alle nur sich selbst. Der fremde Hafenknecht hätte den Lärm bestimmt bemerkt. Er hatte sogar ihr gelauscht, einer Stummen, die keinen Ton von sich gegeben hatte. Hitze schoss ihr in die Wangen. Schnell hob sie den Deckel auf und legte ihn auf das Fass. Mochte Trine das Zeug als Dünger verwenden, sie selbst wollte nichts damit zu schaffen haben, weder mit dem Fisch noch mit dem fremden Burschen.

Ihre Brüder kletterten aus der Bank. Ein Kuss für Mutter, ein Kuss für Vater, mit Gepolter die Treppe hinauf und ab in die Federn. Vater gähnte und reckte sich, wie jeden Abend nach dem Mahl.

Seltsam, dass Trine so lange ausblieb.

Die Öllampe wanderte in die Höhe, schwebte nach rechts und entschwand aus dem Fensterbereich. Die Hoftür öffnete sich.

«Cäcilie?»

Mutter stand im Türrahmen und hielt die Lampe hoch. «Cäcilie?»

Erwartete sie etwa eine Antwort?

«Der Stockfisch wird schon in der Kammer sein.»

Der leuchtende Spalt klappte zu. Dann das Geräusch des Riegels.

Ein wohltuend endgültiges Geräusch.

Stille.

Leichter Regen setzte ein. Er streichelte kühl ihre Kopfhaut, perlte über ihr Gesicht, durchnässte die Schultern, rann durch die Kleider über ihren Leib.

***

Nass, verdreckt und frierend schleppte Liron sich zum Koberg hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, ins ärmlichste Viertel der Stadt. In unregelmäßigen Abständen fiel grünliches Licht auf die Gasse und ließ den Regen glitzern. Nirgends gab es so viele Brauereien wie am Wakenitzufer. In einer davon würde er sich aufwärmen. Gleich würde er den Druck in seinem Schädel fortspülen.

Schmerzlich fiel ihm ein, dass er nichts außer Thiedemanns Botenpfennig besaß. Er musste ohnehin erst die nassen Kleider loswerden. Die Silhouetten der Zecher hinter den dicken Scheiben erschienen ihm wie lockende Geistergestalten – vergeblich versuchte er, das einladende Stimmengewirr zu überhören.

Wie überall in der Stadt hatte man auch an der Wakenitz die Hinterhöfe zu Wohngängen umgebaut, die durch schmale Durchlässe im Vorderhaus zu erreichen waren. Liron musste den Kopf einziehen. Jeder Gang hatte seinen eigenen, typischen Hall, dieser klang nach morschem Holz. Das feine Prisseln auf seinem Haar verstummte und setzte nach vier Schritten wieder ein. Erst der Unterschied verhalf dem zarten Geräusch zu Bedeutung.

Wo früher vielleicht einmal Gärten geblüht hatten, lehnten sich nun zweistöckige Buden an die Hofmauer. Hier hausten Söldner mit ihren Familien, ein Bettelkrüppel und ein Blinder. So groß die Stadt auch sein mochte, so fremd die vielen Menschen, im Hinterhof lernte man sich zwangsläufig kennen und wenig blieb der nachbarlichen Lästerlust verborgen, fast wie in Mummendorf. Doch dort hatte Liron wenigstens die Orgel spielen dürfen und die Glocken geschlagen. Hier schleppte er nur Fisch.

Mit der Unterkunft hatte er allerdings eine gute Wahl getroffen. Die Bude maß immerhin fünf Schritte in der Breite. Außer Eggert wohnte nur noch Marikke Zink im Haus, ihre Wirtin, die wie alle Frauen verfroren war und gottlob großzügig heizte.

Das Fenster im Untergeschoss hatte sie mit Läden verschlossen, nur durch die Türritze schimmerte anheimelnder Feuerschein. Liron horchte, bevor er öffnete. Er wollte Marikke ungern in die Arme laufen und hoffte, dass sie sich bereits zur Ruhe begeben hatte. Es war nichts zu hören. Erleichtert trat er ein.

«Ah! Du kommst spät. Ich dachte schon, ihr würdet mir absichtlich aus dem Weg…»

Marikke ließ ihre Näharbeit sinken. «O Gott, was hast du denn angestellt?»

Bevor Liron antworten konnte, war sie auch schon bei ihm, zog ihn in die Stube und drückte ihn auf den Stuhl. Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn, beide Hände in die Taille gestemmt. «Was hast du angestellt?»

Liron schüttelte den Kopf. «Nichts, und es sieht schlimmer aus, als es ist, nur die Kleider haben einiges abbekommen.»

Marikke war nur wenig älter als er und auf den ersten Blick eine sehr zierliche Erscheinung. Doch weder ihm noch Eggert gelang es, sich gegen sie zu behaupten, was nicht nur am geschuldeten Mietzins lag. Sie sprach ohne Umschweife aus, was sie dachte, und handelte nach Möglichkeit sofort. Niemals hatte Liron gezierte Töne von ihr zu hören bekommen, und ihr Tadel konnte schärfer knallen als jeder Peitschenhieb.

«Nur die Kleider? Dumprat. Du musst dich waschen. Das Dreckzeug lass gleich unten. Und wenn du Wunden hast, die verbunden werden müssen, sag mir Bescheid. Den Gestank von Eiter und Geschwüren will ich nicht im Hause haben.» Sie warf zwei Scheite ins Feuer und schob den Wasserkessel darüber. «Kannst du aufstehen?»

Liron nickte und schloss die Augen. Er fühlte sich plötzlich schwach in der Wärme, unfähig, sich zu regen.

«Jesus», sagte Marikke. «Zieh dich aus.»

Sie warf ihm ihre Decke auf den Schoß und lief die Treppe hinauf.

Im Moment schien es ihm am besten, nur das zu tun, was sie befohlen hatte. Gleich. Erst noch ein wenig ausruhen. Auf dem Tisch vor ihm häufte sich ihr Nähzeug, bedenklich nahe der Lampe, die in der Zugluft vom Fenster flackerte. Liron mochte das unstete Licht. Es huschte über die welligen Lehmwände und verwob die Stockflecke mit weichen Schatten. Bilder besaß Marikke nicht. Die kleine Mandora auf dem Schrank war der einzige Gegenstand, der nicht zum täglichen Leben benötigt wurde. Liron hatte sich vorgenommen, das verstaubte Instrument mit neuen Saiten zu versehen, sobald er einmal ein paar Pfennige erübrigen konnte. Das Feuer knackte, und er spürte die Hitze auf seiner Wange, die sicher schon rötlich glühte.

Marikkes Schritte trappten oben geschäftig hin und her. Jetzt zerrte sie wohl gerade seinen Kleidersack über die Dielen.

Er atmete durch und zwang seinen Leib, sich zu straffen. Die schlammdurchweichte Jacke ließ sich noch einigermaßen leicht ausziehen. Dann zog er den unverletzten Arm nach innen aus dem Ärmel und versuchte vorsichtig, den nassen Kittel über seinen Kopf zu krempeln, ohne dabei die lädierte Schulter zu bewegen. Bei der geringsten Unachtsamkeit schoss ihm ein dumpfer Schmerz in den Nacken, der bis in den Kiefer strahlte. Das Fiepen in seinem Ohr fing wieder an. Er musste innehalten, bis sein Schädel Ruhe gab.

Wie hatte er sich nur den ganzen Weg hierher auf den Beinen halten können? Und Thiedemann, der noble Kaufmannssohn, hatte ihm nicht einmal aufgeholfen.

Als er sich aus Kittel und Hemd befreit hatte und beides zu Boden werfen wollte, berührte er versehentlich sein Knie. Der gleißende Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Seine Hose war aufgerissen, und die Fetzen hatten sich mit Blut und Dreck in den Abschürfungen verklebt. Liron sog Luft durch die Zähne und hielt seine Hände wie eine schützende Kuppel über die Wunde. Es wurde heiß darunter, sein Knie brannte.

Es half nichts, das Zeug musste weg. Er biss sich auf die Lippen, kniff die Augen zu und riss den Stoff herunter. Eine Weile lang schöpfte er Atem.

Behutsam rollte er die Hose bis zu den Fußgelenken hinunter. Er hätte die Schuhe vorher ausziehen sollen.

Die Tür flog auf und knallte gegen die Außenwand. Eggert langte nach der Klinke, doch mitten in der Bewegung hielt er inne und starrte Liron an. «Ihr beide habt…»

Sein Gesicht rötete sich. «Hier bist du also gewesen! Und ich war noch so drösig, Ausreden für dich zu erfinden.»

«Tür zu.» Marikke kam mit den frischen Kleidern im Arm herunter. «Hilf ihm. Er braucht warmes Wasser. Und schließ endlich die Tür.»

Hastig zog Liron die Decke über seine Blöße. Mit den Füßen streifte er Schuhe und Hose ab.

Eggert musterte Liron und kratzte sich am Nacken. «Nichts für ungut, ich hatte tatsächlich kurz gedacht… na ja, wenn ich denke, kommt nie etwas Vernünftiges dabei zustande.» Betont sorgfältig ließ er den Riegel einrasten.

Mit seinem Eintreten war der Raum sofort überfüllt. Da er nur zwischen den Deckenbalken aufrecht stehen konnte, hatte er sich eine Haltung angewöhnt, die ihn wie einen geprügelten Riesenhund aussehen ließ, und Liron wünschte, er hätte sich hingesetzt.

«Junge, du siehst zum Heulen aus», sagte der Hüne, «aber das kriegen wir schon wieder hin.» Er stellte den Waschbottich auf die Truhe und schöpfte Wasser aus dem Kessel hinein.

«Und?», fragte er. «Wer hat dich in den Klauen gehabt? Du hättest mich rufen sollen. Zu zweit wären wir doch… oder ging es etwa um ein Weibsbild?»

«In gewisser Weise.»

Vielleicht hätte Liron den Kaufmannssohn tatsächlich seinem Schicksal überlassen, wenn er nicht vorher dessen Cousine begegnet wäre. Wieder sah er sie vor sich, sah das schwarze Haar aus ihrer Stirn gleiten, und für einen Moment strahlten ihre hellen Augen auf.

Rasch verscheuchte er das Bild und wand sich die Decke um die Hüften. Er konnte nur mit winzigen Schritten zum Bottich hinüberschlurfen, was Eggert zu Gelächter reizte.

Verdrießlich schaufelte Liron sich Wasser ins Gesicht. «Warm ist das aber noch nicht», bemerkte er.

«Nun sag schon», drängte Marikke und reichte ihm ein Waschtuch. «Wer ist die Frau, für die du dich geschlagen hast?»

Liron war es nicht gewohnt, über sich selbst zu sprechen. Meistens erzählten die anderen, und er hörte zu. Dabei achtete er weniger auf das Gesagte als vielmehr auf die Betonung und den Klang, auf all das, was hinter den Worten mitschwang.

Eggert ließ sich auf die Wandbank fallen. «Ich bin auch mal so verbohrt gewesen, mich um ein Weib zu prügeln. Den Kerl konnte man danach vom Pflaster schaben. Aber was tut die dumme Wachtel? Fällt sie dem Sieger um den Hals? Nein, sie heult, wirft sich auf den Schwächling am Boden und…»

Doch im Moment war Liron nicht an Eggerts Geschichten interessiert, es sei denn, der Hüne hätte von einem stummen Mädchen gesprochen.

«Da ihr es unbedingt wissen wollt», fing er an, «ich musste heute ein Fass ins Haus der Kortholts liefern. Die Tochter war dort.»

«Oh Schiet», war Eggerts Kommentar.