Das Lied des roten Todes - Bethany Griffin - E-Book

Das Lied des roten Todes E-Book

Bethany Griffin

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Beschreibung

Der Rote Tod bittet zum Tanz – der atemberaubende zweite Teil von Bethany Griffins Saga um „Das Mädchen mit der Maske“

In der Stadt, in der Araby lebt, tobt ein Bürgerkrieg, und zu der schrecklichen Seuche, die von jeher dort wütet, ist eine neue, noch tödlichere Krankheit gekommen. Mit einigen wenigen Freunden kann Araby gerade noch fliehen, doch sie hat alles verloren: Ihr Elternhaus ist zerstört, ihre Mutter wurde entführt und ihre beste Freundin ist infiziert. Zudem scheint ihre einstige große Liebe William sie betrogen zu haben. So bleibt Araby nur der Blick nach vorne: Sie stellt sich an die Spitze der Rebellion und kämpft für Gerechtigkeit, für ihr Volk, das so schrecklich leiden musste – und für eine neue Liebe, die von unerwarteter Seite entflammt …

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Seitenzahl: 416

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Buch

Als Angehörige einer kleinen privilegierten Oberschicht führte die 17-jährige Araby ein Leben im Luxus. Während in ihrer Stadt eine schreckliche Seuche tobte, konnten ein paar reiche Familien sich mit kostspieligen Masken vor der Krankheit schützen. Arabys Vater hatte diese Masken einst erfunden und genoss daher den besonderen Schutz Prosperos, des korrupten, grausamen Herrschers des kleinen isolierten Stadtstaates.

Doch dann bricht Arabys Welt in sich zusammen: Ihre Mutter wird von Prospero selbst entführt, ihr Vater entpuppt sich als scheinbar skrupelloser Mörder, der die tödliche Seuche einst selbst in Umlauf gesetzt hat und der nun auf der Flucht vor Rebellen in den Untergrund abtauchen muss. In der Stadt tobt offen der Bürgerkrieg, zudem rafft eine neue, noch tödlichere Seuche die Menschen schneller als je zuvor dahin – der »Rote Tod«. In letzter Minute entkommt Araby dem ausbrechenden Chaos in einem Luftschiff. An ihrer Seite einige wenige Freunde, darunter auch William, ihre einstige große Liebe, der sie jedoch betrogen zu haben scheint. Und Elliott, der Neffe des Prinzen, der eine Revolution anzetteln möchte und mit Araby an seiner Seite das Volk von seinem grausamen Onkel befreien will. Hin- und hergerissen zwischen ihren wieder aufkeimenden Gefühlen für Will und ihrer Faszination für den charismatischen Elliott beschließt Araby, vorerst ihr eigenes Schicksal zurückzustellen. Sie will nach ihrem Vater suchen – dem Einzigen, der ein Heilmittel gegen die Seuche haben könnte – und sie will für ihr Volk kämpfen. Bevor es zu spät ist und der Rote Tod zum letzten Tanz aufspielt …

Weitere Informationen zu Bethany Griffinsowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Bethany Griffin

Das Lieddes roten Todes

Das Mädchen mit der Maske

Band 2

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Susanne Gerold

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013unter dem Titel »Dance of the Red Death« bei Greenwillow Books,an Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

1. AuflageDeutsche Erstausgabe März 2014Copyright © der Originalausgabe 2013 by Bethany GriffinCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Yolande de Kort /Trevillion Images; FinePic®, MünchenRedaktion: Eva WagnerTh · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-10803-8www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine Mutter, Vicki Griffin,weil Fortsetzungen beinahe genauso unmöglich sindwie das Aufziehen von Teenagern.Aber die Liebe einer Mutter ist bedingungslos.

Eins

Mein Vater ist ein Mörder.

Das Luftschiff schwankt heftig über der schwelenden Stadt. Der Regen brennt in meinem Gesicht, und kalte Windstöße drohen mich vom Deck zu vertreiben. Aber ich kann den Blick nicht von der Zerstörung unter uns abwenden.

Von hier oben sieht es so aus, als würde die Stadt aus nichts anderem als aus Rechtecken und Quadraten bestehen. Brennenden Rechtecken und zerstörten Quadraten. Rauch quillt aus Fenstern. Die Kathedralen sind nur noch Skelette, offen für den Regen.

Kent, der dieses erstaunliche Schiff gebaut hat, steht am Steuerruder und kämpft gegen den Wind, der uns vom Kurs abzubringen droht. Wir fliehen, um uns von dem Hinterhalt zu erholen, in dem wir beinahe getötet worden wären, und wir fliehen vor dem Angriff des Roten Todes, dieser entsetzlichen neuen Seuche.

»Du solltest reingehen«, ruft Kent, übertönt den Wind und den Regen. Ich schüttle den Kopf, schütze mein Gesicht mit einem Arm und betrachte weiter die Stadt. Der Fluss ist ein Band aus schaumigem Blau, das sich durch die symmetrisch angelegten Straßen schlängelt. Aus dieser Höhe wirkt alles so winzig klein, selbst die Zerstörung.

Der Anblick erinnert mich an die Modellstadt aus Zahnstochern, die Vater für meinen Bruder gebaut hat. Ein Mann, der stundenlang mit seinem Sohn kleine Holzspießchen zu runden Türmen zusammengeklebt hat, kann doch nicht der Mann sein, der die ganze Menschheit vernichten würde – oder doch? Nicht absichtlich … In meinen Augenwinkeln bilden sich Tränen.

»Araby?«

Elliott ist direkt hinter mir. Ich spüre ihn, auch wenn er mich nicht berührt. Noch nicht. Ich richte mich gerade auf. Ich will nicht, dass er sieht, wie viel Angst ich habe.

»Es ist kalt ohne dich.« Seine Stimme klingt brüchig, und ich stelle mir vor, dass ich endlich einmal einen Blick in sein Inneres werfen kann, wenn ich mich umdrehe, aber in diesem Moment macht das Schiff einen Satz, und ich muss mich irgendwo festhalten. Meine Knöchel heben sich knochenweiß von dem Geländer ab, während das Schiff bei jeder Windböe hin und her schwankt.

Der Wind wirbelt meine Haare auf, und sie peitschen um uns beide herum. Elliott berührt meinen Nacken. Etwas hat sich zwischen uns geändert, aber ich weiß nicht, was es bedeutet, weiß nicht, was ich fühle, abgesehen von diesem schrecklichen Schmerz, wenn ich daran denke, was mein Vater möglicherweise getan hat.

»Liebst du sie immer noch?«, frage ich. »Diese Stadt?«

»Ja.«

Er schaut nach unten, aber ich glaube nicht, dass er die Leichen sieht.

»Wir werden sie retten«, spricht er weiter. »Die Stadt und die Menschen. Aber zuerst müssen wir uns selbst retten.«

Unsere Reise sollte schon bald vorbei sein. Kent hält auf den dichtesten Teil des Waldes zu, der sich zwischen der Stadt und Prosperos Palast erstreckt. Er ist weit genug weg, dass wir dort in Sicherheit sind, und zugleich nahe genug, um schnell zurückkehren zu können. Elliott streicht mir über die Haare; er versucht, sie zu bändigen. Ein unmögliches Unterfangen, aber die sich wiederholende Bewegung ist beruhigend, und einem Teil von mir gefällt es, dass er so nah bei mir ist.

Eine plötzliche heftige Windböe drückt das Schiff nach unten, und mein Magen sackt bei dem abrupten Sinkflug ebenfalls herab. Kent brüllt etwas, das ich nicht verstehe, während er mit dem Steuerruder kämpft. Als er das Schiff wieder stabilisiert hat, befinden sich die Dächer der höchsten Häuser dicht unter uns. Das höchste ist nur ein Gitter aus kantigen Balken. Auf anderen befinden sich Möbelstücke und Kübelpflanzen.

Über ein besonders baufälliges Dach stolpert ein halbes Dutzend Jungen; sie lachen und schubsen einander. Als sie das Luftschiff sehen, bleiben sie stehen, schauen zu uns hoch und zeigen auf uns. Einer hebt eine Flasche und prostet uns zu, aber dann stolpert er und verschüttet sein Getränk. Sie alle haben Musketen in den Händen, und ein paar von ihnen feuern ziellos auf die Straße. Dann schießen einige in die Wolken.

»Verdammt«, sagt Elliott. »Wir sind viel zu dicht dran.«

Und der Wind scheint entschlossen, uns sogar noch näher an sie heranzutreiben. Das Luftschiff sackt noch einmal ab. Ich ziehe Elliot zum Heck, halte mich immer noch mit einer Hand an der Reling fest, bis wir Kent nah genug sind, um mit ihm sprechen zu können.

Er schiebt seine Schutzbrille hoch auf den Kopf. Seine braunen Haare stehen wild in alle Richtungen ab.

»Eine halbe Stunde später, und wir wären vielleicht vorbeigefahren, ohne dass uns irgendjemand gesehen hätte«, sagt er düster. Nach Sonnenuntergang wären wir fast unsichtbar gewesen. Aber jetzt nicht. Kents Hände bewegen sich schnell; er versucht, das Schiff wieder hochzubringen, aber der Sturm drückt uns weiter nach unten. Er flucht leise, und ich mache mich auf einen Aufprall gefasst. Das Schiff torkelt auf das nächste Gebäude zu.

»Wir müssen Höhe gewinnen«, sagt Elliott.

Einer der Jungen auf dem Dach ruft laut etwas.

Achtlos weggeworfene Flaschen liegen auf dem Dach herum, als hätten diese jungen Männer irgendeinen Weinkeller geplündert. Wir sind ihnen nahe genug, um sehen zu können, dass die uns zugewandten Gesichter plötzlich feindselig werden.

»Wir sind keine Bedrohung für sie«, sage ich, während ich gleichzeitig Elliots Arm fester packe.

»Ich glaube, das ist ihnen egal«, sagt Kent, als einer der Jungen seine Muskete hebt und auf uns zielt.

Als sich der Gewehrlauf auf mich richtet, scheint die Realität einen Moment zu schwanken. Vielleicht ist es aber einfach nur die Art und Weise, wie die Welt im kalten, strömenden Regen aussieht. Wie können wir abgeschossen werden, wenn wir gerade erst anfangen?

»Runter!«, brüllt Kent über die Schulter nach hinten. Er kämpft immer noch mit dem Steuerruder. Ein Schuss ertönt, und Elliott wirft mich aufs Deck, schlingt seine Arme um mich.

Will kommt aus der Kabine geschossen. »Was war das?«

Kent dreht heftig am Steuerruder. »Nicht mein Schiff«, murmelt er. »Nicht mein wunderschönes Schiff.«

Der Himmel ist jetzt fast vollkommen dunkel.

Blitze zucken, und die Jungen jubeln und rufen und schießen mit den Musketen wild in die Luft.

April folgt Will aufs Deck, und als das Schiff einen Satz macht, stolpert sie gegen mich. Ich strecke meinen Arm aus, um sie aufzufangen, denn obwohl sie beinahe fällt, ist sie immer noch mit ihren Haaren beschäftigt.

»Wir geben ein verdammt gutes Ziel ab«, sagt Elliott zu Kent. »Sie sind betrunken. Sie können nicht anders. Wenn wir nicht weiter wegkommen, schießen sie uns ab, ohne dass wir etwas dagegen tun können.«

»Ich versuche, das Schiff zu drehen«, antwortet Kent darauf, »aber ich habe es nur begrenzt unter Kontrolle. Der Wind treibt uns direkt auf sie zu.«

Sie lachen, als sie wieder auf uns schießen, und sie werden genauso lachen, wenn unser Schiff abstürzt. Sie werden jubeln, wenn es explodiert. Wer macht sich noch etwas aus dem Leben, wenn man jeden Moment an der Seuche sterben kann? Ich frage mich, ob mein Bruder auch so geworden wäre, wenn er weiterleben hätte dürfen. Gedankenlos und zerstörerisch. Vater hat immer gesagt, dass die Menschheit es nicht verdient hat zu überleben. Er hat es geflüstert, und er hatte dabei Tränen in den Augen, aber ich hätte nie gedacht, dass er es ernst meint. Jetzt weiß ich es besser.

»April, bring mir eine Muskete«, sagt Elliott.

»Du wirst Araby loslassen müssen.« Sie steht mühsam auf und geht in die Kabine zurück, um kurz darauf mit zwei Gewehren wieder zurückzukommen, eines in jeder Hand.

Elliott steht mühsam auf. Er lächelt grimmig, als er April eine Waffe abnimmt und zielt. Die Kälte ist entsetzlich, seit er mich nicht mehr festhält.

Will nähert sich hinter Elliott der Reling. Sein Mantel ist offen und flattert um ihn herum, während der Wind heult und uns vorwärtsschiebt.

April tritt neben ihn und hebt ihre eigene Muskete.

»Schieß sie nicht tot«, sagt Elliott. »Das sind nur dumme betrunkene Jungen.«

Ich kämpfe mich taumelnd auf die Beine. Ich werde mich nicht verstecken, während meine Freunde sich dieser Bedrohung entgegenstellen.

Einer der Jungen legt den Kopf schräg und zielt mit seinem Gewehr direkt auf mich. Elliott schiebt mich auf Will zu, der zurückweicht, als hätte er Angst, mich zu berühren.

Der Schütze verändert seine Position, sein Gewehrlauf folgt mir. »Erschieß ihn doch«, sagt Elliott.

April und Elliott feuern gleichzeitig, und dann sind wir direkt über dem Gebäude und sehen nicht mehr, was unter uns passiert.

Ich halte den Atem an. Die Jungen schießen auf uns, aber das Geräusch geht im Sturm beinahe unter. April und Elliott laden nach. Will stellt sich schließlich neben mich; unsere Schultern berühren sich ganz leicht. Die Wunde auf meinem Rücken von der Flucht durch den Tunnel beginnt zu pulsieren.

»Wir sind gleich außer Schussweite«, ruft Kent.

Erneut zucken und krachen Blitze, und Donner grollt am Himmel, bringt das Deck des Luftschiffs zum Beben.

Als das Dach hinter uns zurückbleibt, trete ich wieder zu Elliott an die Reling. Obwohl da eine seltsame Erregung ist, weil er sich so beschützend gibt – wenn er oder April einen der Jungen erschossen hat … Ich mache mich auf alles gefasst, aber es scheint niemand verletzt zu sein. Es sieht so aus, als hätten sie das Interesse an uns verloren. Stattdessen haben sie sich im Kreis aufgestellt.

»Du hast keinen getroffen?«, fragt Elliott April. Er klingt überrascht.

»Und du auch nicht.« Sie hebt ihr Gewehr, als wäre sie entschlossen, den Sachverhalt zu korrigieren, aber sie schießt nicht.

»Was tun sie jetzt?«, fragt Kent. Der Wind hat gedreht, bläst ihm jetzt in die Augen. Er wischt die Linsen der Schutzbrille an seinem Hemd ab, aber sobald er sie wieder aufsetzt, beschlagen sie gleich aufs Neue.

»Ich wünschte, ich wüsste es«, sagt Elliott. »Araby, geh in die Kabine.«

Ich höre nicht auf ihn. Wir alle bewegen uns an der Reling entlang, um sie im Blickfeld zu behalten, während sich das Schiff von ihnen wegbewegt.

Aus der Gruppe der Jungen auf dem Dach fliegen Funken auf, erschreckend hell im Grau des Sturms. Die Jungen weichen zurück, und eine Rakete kommt zum Vorschein. Einen Moment steht sie harmlos da, dann schießt sie in die Höhe, zieht einen Flammenschweif hinter sich her. Sie kommt geradewegs auf uns zu. April zielt, aber bevor sie abdrückt, verliert die Rakete an Schwung und stürzt in einer Spirale nach unten.

Die Jungen heulen vor Enttäuschung auf, und Elliott lacht, während er sich die Haare aus dem Gesicht streicht. Seine Wangen sind gerötet. »Sie klingen wie Kent, wenn eine seiner Erfindungen nicht funktioniert.« Er lächelt immer noch, als unter uns erneut ein Musketenschuss kracht.

Der Junge, der ihn abgegeben hat, steht am Rand des Daches.

»Unmöglich«, sagt April spöttisch. »Wir sind zu weit weg.« Sie wedelt mit dem Schal in seine Richtung, und er winkt halbwegs freundlich zurück.

»Fast unmöglich«, sagt Kent mit zusammengebissenen Zähnen. Das Steuerruder vor ihm dreht sich unkontrollierbar. »Er hat den Steuermechanismus getroffen.«

Das Schiff dreht sich.

»Jetzt sind wir dem Wind vollständig ausgeliefert.« Kents Stimme klingt immer noch ruhig.

»Ich habe Schüsse gehört.« Henrys schrille Stimme trägt weit. Er kommt aus der Kabine, zielt mit dem Finger, als wäre er ein Gewehr. Elise ist direkt hinter ihm.

Ich will beide wieder zurückschieben, aber Will kommt mir zuvor. Er nimmt Henry an die Hand, und alle drei verschwinden in der Kabine.

»Araby, du blutest wieder«, sagt April und tritt zu mir. »Das muss jetzt sofort genäht werden.«

Sie hat recht. Die Wunde hat sich wieder geöffnet. Ich kann spüren, wie das Blut mein Kleid nässt. Und im Gegensatz zum Regen ist es warm.

Ich fange an zu schwanken, und ich kann nicht sagen, ob es von den Bewegungen des Luftschiffs kommt oder vom Blutverlust.

Elliott hebt mich hoch, achtet dabei behutsam darauf, meine verletzte Schulter nicht zu berühren.

»Werden wir abstürzen?«, fragt er Kent.

»Das hängt vom Wind ab. Wir schaffen es jedenfalls ganz sicher nicht bis zum Wald.« Wir hatten vorgehabt, dort zu landen, um uns für ein oder zwei Tage zu erholen. Und um zu entscheiden, wie wir am besten in die Stadt zurückkehren und die Dinge wieder ins Lot bringen könnten.

»Wie weit können wir kommen?« Elliotts klatschnasse blonde Haare kleben ihm am Kopf.

Kent zuckt mit den Schultern, aber die Stirn über seiner Schutzbrille ist gerunzelt. »Wir fliegen genau auf den Sumpf zu.«

Zwei

Mein Vater ist ein Mörder. Mein Bruder ist tot, und meine beste Freundin stirbt an der Seuche, die möglicherweise mein Vater erschaffen hat. Ein Refrain, der sich immer wieder in meinem Kopf wiederholt, in fiebrigen Träumen und sogar jetzt. Und doch … mein Vater ist der sanfteste Mensch, den ich kenne. Er hat uns vor der Ansteckung bewahrt. Ich taste nach der Maske aus Porzellan, die mein Gesicht bedeckt – die größte Erfindung meines Vaters.

Ich zwinkere mehrmals, denn ich will nicht weinen, auch wenn ich allein an Deck des Luftschiffs bin. Das eine Bruchlandung hinter sich hat. Jetzt ist es zwischen den beiden großen Schornsteinen eines stattlichen Herrenhauses angebunden. Das Haus muss vor Jahren verlassen worden sein, als der sich ausbreitende Sumpf es sich einverleibt hat.

Von meinem Platz an der Reling aus kann ich das Torhaus sehen, an dem vermutlich früher Kutschen angehalten haben, bevor sie die Gäste zu einem Ball gebracht haben. Jetzt lässt sich das Bauwerk nur noch an den zerfallenden Giebeln erkennen, da der Rest von den Schlingen und Ranken der Sumpfpflanzen eingehüllt ist. Zwei Steinsäulen mit Löwenköpfen stehen vor dem Torhaus. Eine ist umgestürzt und im trüben Wasser fast verschwunden. Um die andere kräuselt sich der Sumpf.

Vom Dach des Hauses hinter mir höre ich Geräusche; es wird gehämmert, und hin und wieder flucht jemand. Der Wind hat uns weit von unserem Kurs abgebracht, aber Kent hat schließlich das Steuerruder immerhin lange genug im Griff gehabt, um das Schiff auf dieses Dach runterzubringen. Ansonsten wären wir im Sumpf gelandet. Er und Elliott sind jetzt vollauf damit beschäftigt, das Schiff zu reparieren. Wir sind seit zwei Tagen hier, und den größten Teil der Zeit habe ich geschlafen. Will hat sein Bestes getan, aber er ist kein Arzt, und die Wunde auf meinem Rücken brennt. Jede Bewegung zieht an der sorgfältigen Naht, mit der er sie geschlossen hat.

Es ist uns gelungen, aus der Stadt rauszukommen, aber wir werden nicht so leicht wieder zurückkehren können, wie wir gedacht haben. Wir sitzen auf dem Dach dieses sinkenden Hauses fest, eine von Menschenhand geschaffene verfallende Insel im Sumpf. Gestern konnte ich noch Rauch aus der Stadt aufsteigen sehen, aber heute befindet sich überall um uns herum nichts als grünes Wasser, Büschel aus Sumpfgras und ein paar Bäume. Es sieht ruhig aus, aber der Eindruck täuscht. Im Sumpf sind Raubtiere. Infizierte Menschen. Schlangen. Krokodile.

Ich beschatte meine Augen mit der linken Hand, um meine verletzte Schulter zu schonen, und beobachte, wie Insekten auf der Oberfläche von flachen Tümpeln landen und Reptilien hin und her huschen. Obwohl wir von der Zivilisation einige Tagesmärsche entfernt sind, können Kent und Elliott nicht mit Gewissheit sagen, ob dieses Haus auch sicher vor Malcontent und seinen Sumpfbewohnern ist. Der Mann, der Will und seine Geschwister die Leiter des Luftschiffs hinauf verfolgt hat, während wir abgehoben haben, ist jetzt unser Gefangener. Er war einer von Malcontents Soldaten, und von ihm haben wir mehr über Malcontents alptraumhaften Plan erfahren, die Seuche in der ganzen Stadt zu verbreiten.

Jetzt fegt also der Rote Tod durch die Stadt, eine neue Seuche, die noch viel schneller tötet als die ursprüngliche. Ich rücke meine Maske zurecht, taste mit dem Daumen über den Sprung an der Innenseite. Wir müssen das Schiff reparieren, und zwar schnell. Wir sind hier in Gefahr und können nichts tun, um den Zustand der Stadt zu verbessern. Da ich sonst nicht viel tun kann, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, nach allem Ausschau zu halten, was ungewöhnlich ist. Nach allem, was bedrohlich ist.

Aber meine Umgebung zu beobachten reicht nicht, um den Refrain in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Mein Vater ist ein Mörder. Mein Vater ist möglicherweise ein Mörder. Ich muss die Wahrheit wissen.

Als ich fünf Jahre alt war, habe ich auf den Schultern meines Vaters gesessen und einer Parade zugeschaut. Mutter hat auf meinen Zwillingsbruder Finn aufgepasst, der zu Hause war, um sich von irgendeiner Krankheit zu erholen, deswegen waren wir zwei allein. Als Vater mich über die Menge gehoben hat, habe ich mich absolut sicher gefühlt. Als er mich auf seine Schulter gehoben hat, habe ich ein bisschen gewackelt und in seine Haare gegriffen, um mich festzuhalten. Obwohl er zusammengezuckt ist, hat er seine Hände weiter auf meinen Knien gelassen.

Kinder säumten den Weg, den die Parade nahm, und niemand von uns hat eine Maske getragen. Wir hatten keine Angst vor der Menge, es gab keinerlei Grund zu befürchten, dass sich eine Seuche von Mensch zu Mensch ausbreiten könnte. In dieser lang vergangenen Welt war ich sicher, weil mein Vater bei mir war.

Die Leute blickten erwartungsvoll auf die Straßen, dicht aneinandergedrängt und sich nach vorn beugend, um besser sehen zu können. Jetzt entsetzt mich die Vorstellung so vieler gleichzeitig ausatmender Menschen. Es kommt mir so vor, als würde die Erinnerung jemand anders gehören, als wäre sie weniger wirklich als die Träume, die die Leere füllen, wenn meine Gedanken verblassen … dunkle Träume von Mord und Tod. Nur eine Person kann diesen niemals endenden Zweifel vertreiben. Ich muss meinen Vater finden.

Das Hämmern hat aufgehört. Ich halte mich an der Reling fest, ignoriere das Brennen in meiner Schulter und beobachte den Sumpf, lausche den Schritten, die sich über das Deck des Luftschiffs nähern. Elliott wird es nicht gefallen, dass ich das Bett verlassen habe.

»Araby?« Noch bevor ich mich umdrehe, weiß ich, was für ein Gesicht ich sehen werde, wie viel Besorgnis sich darauf abzeichnen wird. »Du blutest schon wieder. Ich möchte dir etwas gegen die Schmerzen geben.«

Mein Vater hat mir immer einen Schlaftrunk gemixt. Elliott zieht Spritzen vor. Mein Arm ist voller Blutergüsse.

Die Sonne steht direkt über uns, und ein bisschen Schweiß rinnt meinen Rücken entlang. Das Salz brennt, aber der Schmerz sitzt sehr viel tiefer, ist beinahe unerträglich. Eine Mücke landet auf meiner Schulter, und als ich sie wegschlage, kann ich nicht verhindern, dass ich zusammenzucke.

»Ich lasse nicht zu, dass dich jemand verletzt«, flüstert Elliott.

Aber ich bin bereits verletzt worden.

Als das Dampfschiff explodiert ist und ich dachte, er wäre tot. Als Will mich unter die Stadt mitgenommen und an einen Wahnsinnigen ausgeliefert hat. Als ich das Pamphlet gefunden habe, in dem erklärt wird, dass mein Vater die Seuche erschaffen hat, die unsere Stadt zerstört hat.

Und ich habe sie überlebt. Ohne die Hilfe von Elliotts silberner Spritze.

Ich trete zurück und schüttelte den Kopf. Jetzt, da ich so weit genesen bin, um selbst entscheiden zu können, möchte ich seine »Hilfe« bei den Schmerzen nicht mehr.

»Komm wenigstens rein in die Kabine und ruh dich aus«, sagt er. »Du brauchst deine Kraft noch.«

Er hat recht; das tue ich. Schon allein hier für kurze Zeit zu stehen hat mich bereits erschöpft, und die Reling ist das Einzige, das mich noch auf den Beinen hält. Aber ich muss kämpfen können, wenn wir zur Stadt zurückkehren. Ich muss meinen Vater suchen. April hat die Seuche, und wenn jemand sie retten kann, dann Vater. Und so lasse ich für den Augenblick zu, dass Elliott meine Hand nimmt und mich in die Kabine führt.

Ich werfe einen letzten Blick auf den Sumpf. Bewegt sich da draußen irgendetwas? Ich bleibe stehen, suche nach der kleinsten Kräuselung, aber alles ist reglos. Und dann zieht Elliott mich durch die Tür und die Hauptkabine des Luftschiffs hinüber zu der kleinen Schlafkammer, in der der Gefangene festgehalten wurde, bevor Will und Elliott ihn irgendwo im Haus eingesperrt haben.

Ich trage immer noch mein grünes Partykleid, auch wenn es jetzt um einige Zentimeter kürzer ist als damals, als ich es angezogen habe. April hat alles abgeschnitten, das bei unserer Flucht zerfetzt worden war, sodass es jetzt beinahe unanständig kurz ist. Der ausgefranste Saum verfängt sich am Türrahmen, und Papier raschelt in einer der Taschen, als das Tagebuch darin gegen mein Bein stößt.

Vaters Tagebuch hat mich den ganzen Weg durch die Stadt begleitet, durch Trümmer und Feuer und Fluten. Ich bin dankbar, dass es mir niemand weggenommen hat. Ganz egal, was für Enthüllungen in dem Buch stehen, ich möchte sie als Erste lesen. Allein, nicht inmitten anderer Menschen. Nicht so, wie ich von Vater und der Seuche erfahren habe. Niemals wieder möchte ich etwas so Erschütterndes in der Öffentlichkeit erfahren müssen. Und heute ist der erste Tag, an dem mein Kopf sich klar genug anfühlt, um es zu lesen.

»Jemand sollte den Sumpf im Auge behalten«, sage ich, als ich mich hinlege. »Malcontents Männer könnten da draußen sein.« Elliott zieht mir die Decke bis zum Kinn hoch und tätschelt meine gesunde Schulter. Er hört nicht zu, aber ich weiß, dass er der Gefahr gegenüber nicht blind ist, die uns vom Sumpf droht. Er wird dafür sorgen, dass jemand Wache hält.

Ich lasse meine Augen geschlossen, bis er die Tür hinter sich zugemacht hat, dann hole ich das Tagebuch aus meiner Tasche. Das Pamphlet, in dem mein Vater als Mörder bezeichnet wird, ragt dort heraus, wo ich es hineingesteckt habe.

Das Papier des Tagebuchs ist vom Wasser wellig geworden, und es öffnet sich wieder an der Stelle, die ich beim ersten Blick hinein bereits gelesen habe. Die Tinte ist immer noch klar: Es ist alles meine Schuld.

Mein Herz stolpert.

Aber das steht fast am Ende, und ich muss am Anfang beginnen. Einige Seiten kleben aneinander. Vater ist allerdings vorsichtig, er benutzt nie Tinte, die ausläuft, nicht bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Ich blättere weiter.

Habe den Morgen damit verbracht, Finn zu zeigen, wie man das Mikroskop benutzt. Catherine hat den Kindern was angezogen, das lächerlich aufeinander abgestimmt ist. Sie möchte, dass wir Porträts von ihnen malen lassen. Es ist erstaunlich, wie ähnlich sie sich sind. Ich mache ihr keinen Vorwurf, dass sie diesen Moment gern festhalten möchte. Wir haben bereits erlebt, wie schnell sie wachsen und sich verändern.

Sie weiß nicht, dass all unsere Ersparnisse aufgebraucht sind. Was sie möchte, ist durchaus vernünftig. Aber meine Forschungen sind teuer.

Als wir jung waren, hatten wir nie genug Geld. Erst nach der Seuche.

Bin für ein neues Projekt angeheuert worden; versuche, einen Defekt beim hiesigen Vieh zu lokalisieren. Wir sind in einem Dilemma, was die örtliche Viehzucht betrifft. Ich habe hierfür meine eigenen Forschungen hintangestellt.

Die nächsten fünf Seiten beschreiben die Irrungen und Wirrungen der Viehzucht. Auf der siebten Seite heißt es:

Araby hat etwas angezogen, das ganz aus weißer Spitze und Bändern besteht. Catherine wollte sie zu Verwandten mitnehmen. Sie ist ein so hübsches Kind. Finn hat einen Becher Traubensaft darauf verschüttet, und der Ausflug wurde abgesagt. Catherine ist mit Kopfschmerzen ins Bett gegangen. Ein ganzer Forschungstag verschwendet.

War das alles, was wir jemals waren, was ich jemals war? Eine Ablenkung von Vaters Arbeit? Ich schiebe diesen Gedanken beiseite. Ich suche nicht nach Hinweisen darauf, ob Vater mich geliebt hat. Ich brauche Informationen über die Seuche, die unsere Art zu leben zerstört hat.

Einige Seiten weiter schreibt mein Vater darüber, dass er mit Prospero zusammengearbeitet hat, bevor er Prinz wurde. Mir fällt fast das Tagebuch aus der Hand. Ich muss nachdenken. Hat Vater jemals erwähnt, dass er Prospero schon vorher gekannt hat? Ich zwinge mich weiterzulesen, um alles zu erfahren, was ich über die Seuche erfahren kann. Sie hatte eigentlich Ratten töten sollen. Nur Ratten. Aber dann hat sie so viel mehr getan.

Dies ist die Bestätigung meiner schlimmsten Befürchtungen. Wer immer das schreckliche Pamphlet geschrieben hat, hatte recht. Mein Vater hat den Schwärenden Tod erschaffen. Der letzte Funken Hoffnung, dass er unschuldig ist, erlischt.

Meine beste Freundin stirbt. Mein Bruder ist tot. Seinetwegen.

Aber da gibt es etwas, an dem ich mich festhalten kann. Wenn er sie erschaffen hat, weiß er vielleicht auch, wie sie zu heilen ist. Die Gerüchte, die Kent gehört hat – dass Vater nach Finns Tod etwas entdeckt haben soll –, könnten wahr sein. Vielleicht ist es für April noch nicht zu spät. Ich lese weiter, bis die Worte vor meinen Augen zu verschwimmen beginnen.

Als ich aufwache, ist es im Zimmer düster. Elliott liegt neben mir, obwohl es noch ein anderes Bett gibt und das, in dem wir liegen, schmal ist. Er stützt sich auf einem Arm auf und sieht auf mich herab. Seine Augenbrauen wandern nach oben, als ich seinem Blick begegne. Sein Gesichtsausdruck ist sanft, und ich habe den ausgeprägten Verdacht, dass er mir über die Haare gestrichen hat. Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, wirkt er ruhig.

»Wie fühlst du dich?«, fragt er.

Zerknittert. Benommen. Der Schmerz in meiner Schulter ist ein dumpfes Brennen.

»Wieso bin ich so angeschlagen?« Dieses Zimmer erzeugt in mir das Gefühl, in einer Kiste eingeschlossen zu sein. »Hast du mir etwas gegeben, nachdem ich eingeschlafen bin?«

Er muss nicht antworten. Seine silberne Spritze liegt auf dem Tisch, gleich neben der Kosmetiktasche, die April aufbewahrt und mir zurückgegeben hat.

»Du hast im Schlaf geweint. Es war nötig.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich nichts will.« Ich schiebe mich von ihm weg. Wie konnte er so etwas tun? Als ich mich aufsetze, fallen mir meine Haare über den Mund.

Ich taste mit einer Hand nach meinen Gesicht, hoffe, kühles Porzellan zu berühren, aber meine Finger finden nur Haut. Meine Maske ist weg. Elliott trägt seine auch nicht, aber nun, das tut er selten.

Die letzte Warnung meines Vaters lautete, nie die Maske abzunehmen. Und ich weiß, dass er eine solche Warnung nie unnötig ausgesprochen hätte.

»Elliott, wo ist sie?« Meine Stimme klingt verärgert.

Er versucht, meine Hand zu nehmen, aber ich ziehe sie weg. »Keine Sorge, hier ist sie.« Er greift unter das Bett und holt einen schwarzen Samtbeutel mit Tunnelzug hervor. Die gleiche Art Beutel haben wir benutzt, um unsere Masken im Debauchery Club aufzubewahren.

Ich beuge mich vor und nehme ihm den Beutel ab, und dabei raschelt etwas unter der leichten Decke. Ich bin eingeschlafen, während ich Vaters Tagebuch gelesen habe, und natürlich habe ich nicht damit gerechnet, dass ich beim Aufwachen Elliott im Bett neben mir finden würde.

Elliott gehört nicht zu denen, die warten. Was, wenn er mich betäubt hat, damit er sich das Tagebuch nehmen konnte? Hätte er es mir zurückgegeben? Ich verändere meine Lage ein wenig, schiebe mein Bein über das Buch, damit es nicht mehr raschelt. Ich werde es ihm zeigen, aber jetzt noch nicht. Nicht, bevor ich alles gelesen habe. Ich öffne den Samtbeutel und nehme meine Maske heraus. Schmutz hängt an den Kanten des hässlichen Sprungs, wie eine Narbe, aber der Filter ist trotzdem noch intakt.

Elliott streckt sich, während ich die Maske aufsetze.

»Sie haben uns hier reingebracht, damit wir etwas Privatsphäre haben«, sagt er mit einem selbstgefälligen Grinsen.

Ich sehe zur Seite, tue so, als würde ich das Ölgemälde mit dem Meer an der gegenüberliegenden Wand betrachten, fest entschlossen, Elliott nicht wissen zu lassen, dass seine Nähe mich nervös macht. Entschlossen, seine Anzüglichkeiten zu ignorieren. An meiner Verärgerung ihm gegenüber festzuhalten.

»Privatsphäre, während wir uns erholen«, fügt er hinzu, und diesmal ohne spöttischen Unterton. Jetzt schaue ich ihn doch an. Sein Hemd ist geöffnet, und seitlich an seinem Hals glänzt die Haut rosa.

Ich strecke die Hand aus, halte aber inne, bevor ich die schmerzhaft aussehende Brandwunde berühre. »Aber du warst doch mit Kent damit beschäftigt, das Schiff zu reparieren.« Ich war davon ausgegangen, dass er sich von den Verletzungen erholt hatte, die er sich bei der Explosion des Dampfschiffs zugezogen hatte.

»Ich habe getan, was ich konnte. Will hilft jetzt Kent. Ich habe April gebeten, den Sumpf zu beobachten, da du dir so viel Sorgen darum gemacht hast. Wir beide, du und ich, müssen unsere alte Kraft wiedererlangen. Wir haben noch einen Kampf vor uns.«

»Einen Kampf vor uns«, wiederhole ich. Jetzt wirken seine Augen fiebrig, und ich fühle mich wider Willen zu ihnen hingezogen. Bevor ich Elliott kennengelernt habe, hatte ich keine Ahnung vom Kämpfen. Aber jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, diese Kraft zu haben. Und als er mich mit dieser fiebrigen Miene ansieht, die er normalerweise aufsetzt, wenn es um seine Revolution geht, schmilzt etwas in mir.

Er riecht nach Seife, obwohl wir aus der brennenden Stadt geflohen sind und schon tagelang im Sumpf ausharren. Während der Flucht aus der Stadt habe ich ihn geküsst, als würde unser Leben davon abhängen. Die Stadt unter uns hatte in Flammen gestanden, und ich hatte meine Arme um ihn geschlungen und mich verloren. Bei der Erinnerung erröte ich.

Aber er hat mich unter Drogen gesetzt, obwohl ich ihm gesagt hatte, dass ich es nicht wollte. Kann ich ihm vertrauen?

Er ist skrupellos.

Aber genau das mag ich an ihm. Vielleicht sollte mein Ziel sein, mehr wie Elliott zu werden. Eine Kämpferin. Eine Revolutionärin. Unsere Väter sind beide Mörder. Vielleicht verdienen wir einander. Vielleicht kann er mir auch nicht vertrauen.

»Araby?« Elliott hält mir ein Gefäß mit einer Salbe hin, während er gleichzeitig den letzten Knopf seines Hemdes öffnet. »Wenn du schon mal da bist …« Sein Hemd fällt auf den Boden.

Obwohl das Licht in der Kabine schwach ist, erkenne ich, dass einige seiner Wunden wirklich schlimm sind. Elliotts Rücken ist geradezu übersät mit frischen Verletzungen und Verbrennungen, ebenso wie mit den Narben von alten, verheilten. Da ist eine lange Schramme, wo ihn irgendein Teil des Dampfschiffs getroffen haben muss, als es explodiert ist. Er kann von Glück sagen, dass er noch am Leben ist. Wir alle können das.

Als ich meine Finger in die Salbe tauche, kribbeln sie sofort. Elliott schnappt nach Luft, als ich ihn berühre, und dann entspannt er sich. Ich lasse meine Fingerspitzen auf seiner Haut liegen. Als er sich zu mir umdreht, ist das spöttische Lächeln verschwunden. Seine Augen sind groß, und ihren Blick könnte man als arglos bezeichnen, wenn ich es nicht besser wüsste. Im Halbdunkel schimmern seine Haare in einem dunklen Goldton.

Ich werde vollkommen still, konzentriere mich nur auf die Nähe zwischen uns.

Mein Herz rast.

Nervös tauche ich meine Finger wieder in die Salbe und reiße meinen Blick von seinem Gesicht los, suche nach Verbrennungen, die noch gelindert werden müssen. Meine Finger finden einen Schnitt, und wir zucken beide ein bisschen zusammen.

»Du hast so viele Narben«, sage ich sanft.

Seine Muskeln spannen sich an. Ich weiß, was ich getan habe. Er hat mich schon einmal die Narben von Prosperos Folter anfassen lassen. Aber ich habe nie ihr ganzes Ausmaß gesehen. Er war noch ein Junge, als er das hier erlitten hat. Kein Wunder, dass er Prospero so schrecklich hasst.

»Du ballst deine Hände zu Fäusten«, sage ich. Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Ich nehme eine seiner Hände und öffne die Finger leicht, zwinge ihn, sie zu entspannen, verschränke seine Finger mit meinen eigenen. »Es tut mir leid.«

Er schließt die Augen, und als er sie langsam öffnet, ist er wieder bei mir. Nicht nur bei mir, sondern auf mich konzentriert. Seine Aufmerksamkeit jagt Schauer durch mich hindurch.

Die Luft in der Kabine ist unnatürlich unbewegt. In diesem Moment sind Elliott und ich die einzigen Menschen auf der Welt.

Er rückt näher, ganz geschmeidige Anmut und Kraft, wie eine große Katze. Etwas Gefährliches. Aber ich fühle mich nicht wie Beute. Nicht so richtig.

Wir sehen uns an. Ich kann ihm nicht trauen, aber trotz seiner verborgenen Motive hat er mich nie im Stich gelassen. Seine freie Hand ist an meiner Taille, schlängelt sich um mich herum, zieht mich näher und näher zu sich heran.

Die Tür öffnet sich quietschend.

»Tut mir leid, dass ich euch störe«, sagt Will. Er bleibt auf der Türschwelle stehen, und die Kerzen im Raum hinter ihm ziehen seinen Schatten in die Länge. Will ist groß, aber nicht substanzlos wie der Schatten, der über mich und Elliott fällt. Über das Bett. Als Will die Kabine betritt, fallen seine dunklen Haare nach vorn. Trotzdem können sie nicht verbergen, dass seine Wangen gerötet sind, als wäre er verlegen – oder aufgebracht.

Ich bewege mich von Elliott weg, und mein eigenes Gesicht wird ebenfalls heiß. Von allen Leuten, die mich hier zusammen mit Elliott sehen könnten, ist Will derjenige, bei dem es am Schlimmsten ist.

»Ich habe die Aufgabe der medizinischen Versorgung übertragen bekommen, warum auch immer«, sagt Will.

»Nein«, sage ich und schaue ihm in die Augen. In seine sehr dunklen Augen. »Keine Schlafmittel mehr.«

Was immer Elliott mir gegeben hat, verliert endlich seine Wirkung, und ich beginne, mich wieder mehr wie ich selbst zu fühlen. Bewusster. Auch der brennende Schmerz von meiner Verletzung nimmt wieder zu, aber das ist ein Preis, den ich gern dafür zahle, dass ich wachsam sein kann.

Wills Stimme ist sanft. »Leg dich auf den Bauch, Süße. Ich möchte mir die Naht genauer ansehen.«

Der achtlos dahingeworfene Kosename führt mich in den Debauchery Club zurück. In eine einfachere Zeit, als ich noch keine dunklen Geheimnisse kannte und nicht versucht habe, die Welt zu retten. Aber das wischt seinen Verrat nicht beiseite. Er berührt meine gesunde Schulter, um mir zu helfen, aber ich schiebe ihn weg.

Elliott setzt sich auf, rutscht zum Fußende des Bettes. Er macht sich nicht einmal die Mühe, sein selbstgefälliges Grinsen vor Will zu verbergen.

Ich lege mich behutsam hin, versuche so zu tun, als wenn mir nichts weh tun würde. Ich werde keinem von beiden einen Grund geben, mir ein Medikament zu verabreichen. Meine Schulter schmerzt, als Will den Verband von der Wunde nimmt. Er ist vorsichtig, aber meine Augen füllen sich trotzdem mit Tränen.

»Ist schon besser geworden«, sagt er, und seine Erleichterung klingt aufrichtiger, als man es bei jemandem erwarten würde, der mich einem Wahnsinnigen übergeben und damit zum Tod verurteilt hatte. »Die Naht hält, und die Wunde sieht nicht entzündet aus.«

»Danke«, sagt Elliott mit der Stimme und in dem Tonfall, den er gegenüber Dienern benutzt.

Wills Hände verharren für den Bruchteil einer Sekunde. »Gern geschehen, Sir«, sagt er. Es klingt distanziert, unnahbar. Er wird nicht zulassen, dass Elliott denken könnte, es würde ihm etwas ausmachen. Aber ich weiß, dass es das tut.

»Ich muss jetzt Essen kochen.« Will rollt das unbenutzte Verbandsmaterial zusammen, ohne einen von uns anzusehen. »Niemand sonst scheint zu wissen, wie das geht. Die Reichen haben so wenig nützliche Fähigkeiten.«

Er lässt die Tür hinter sich zuknallen.

»Ich habe sogar einige sehr nützliche Fähigkeiten«, ruft Elliott.

Mein Gesicht brennt bei dem zweideutigen Ton von Elliotts Bemerkung. Hier liegen wir gemeinsam in diesem schmalen Bett, und Elliott hat sein Hemd immer noch nicht wieder angezogen. Aber die einzige Anwort ist Aprils unverkennbares Lachen.

April sollte eigentlich den Sumpf beobachten und nach drohenden Gefahren Ausschau halten. Wieso steht sie hier vor der Tür zu dieser Kabine?

Die Bettfedern quietschen, als ich versuche, mich aufzusetzen, und ich kann nicht verhindern, dass ich bei dem plötzlichen Schmerz in meiner Schulter nach Luft schnappe. Elliott streckt die Hand aus, um mir zu helfen, aber mein Ellenbogen trifft die verbrannte Stelle oberhalb seiner Rippen, und er stöhnt. Ich beiße die Zähne zusammen.

»Versucht, euch ein bisschen zurückzuhalten«, ruft April. »Auf diesem Schiff sind Kinder.«

»Es gibt hier nichts zurückzuhalten«, murmele ich, schwinge meine Beine seitlich aus dem Bett und stehe auf. Ich lasse das Tagebuch verborgen unter der Decke liegen und hebe Elliotts Hemd auf. Er zögert, als wolle er etwas sagen, aber schließlich nimmt er es.

»Versprich mir, mir keine Betäubungsmittel mehr zu geben«, sage ich und sehe ihm in die sehr blauen Augen.

»Ich verspreche es«, beginnt er, aber ich kann sehen, dass er keine Ahnung hat, wie ernst es mir ist.

»Ich brauche das nicht«, sage ich zu ihm. »Ich bin stärker als vorher. Wir müssen so bald wie möglich in die Stadt zurückkehren.« Ich versuche, mir vorzustellen, wie es sein wird, wenn wir in eine Stadt kommen, die zugleich überflutet und niedergebrannt ist, während der Rote Tod die Menschen auf den Straßen getötet hat. Ich muss mich bereit machen. Ich muss tapfer sein.

»Araby«, sagt Elliott. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um deine Eltern machst. Deine Mutter …«

Mutter. Ich hatte mich so auf Vater und seine Geheimnisse konzentriert. Dabei ist Mutter im Schloss des Prinzen eingesperrt. Und Elliott hätte ihren Namen nie ohne Grund erwähnt. Ich kneife die Augen zusammen.

»Während du geschlafen hast, haben wir beschlossen, dass wir nicht in die Stadt zurückkehren.«

Drei

Als wir die Stadt verlassen hatten, wollten wir uns neu organisieren – wir wollten dafür sorgen, dass wir alle am gleichen Strang ziehen, wenn wir zurückkehren, um es mit Malcontents Rebellen-Armee und der Seuche aufzunehmen. Um meinen Vater zu finden, den einzigen Mann, der uns sagen könnte, wie wir das Sterben um uns herum aufhalten können.

»Wir gehen stattdessen zu Prosperos Palast«, sagt Elliott. »Wegen der Waffen. Ich weiß, wo sie aufbewahrt werden. Kent und ich haben stundenlang darüber gesprochen. Wir können schnell eindringen, die Wachen überraschen, das Luftschiff beladen und uns dann mit meinen Männern zusammentun, um gegen Malcontent zu kämpfen.«

»Wir kehren nicht in die Stadt zurück?« Das ist falsch. Wir müssen zurückkehren und Vater finden. Wir müssen April retten. Waffen können sie nicht heilen.

Und ich war in Prosperos Palast gewesen. Wie sollen wir – selbst mit einem Luftschiff – hinein- und wieder herauskommen, wenn wir kaum Waffen haben? Viel wahrscheinlicher ist, dass Prospero uns alle gefangen nehmen und zum Spaß foltern wird.

Ich lege eine Hand an meine Maske und hole tief Luft. Aber Elliott ist noch nicht fertig.

»Wir werden später trotzdem in die Stadt zurückkehren, nur –« Er steht da, stellt einen Fuß etwas nach hinten, als würde er sich auf einen Angriff gefasst machen. »So wie wir geflohen sind, kann ich nicht mit leeren Händen zurückkehren.«

Prospero versteckt sich weit weg von der Stadt in der Festung, wo er alles absolut vollständig unter Kontrolle hat, vor der Seuche. Dorthin zu gehen ist ein Selbstmordkommando. Beim letzten Mal, als Elliott und ich dort waren, sind wir nur mit Mühe und Not wieder herausgekommen.

»Elliott –«

»Wir mussten die Stadt verlassen«, fällt er mir ins Wort. »Aber wir sind jetzt nicht besser dran als in dem Moment, als wir weggegangen sind. Was können wir schon erreichen, wenn wir zurückkehren? Auf der einen Seite haben wir Prospero, auf der anderen Malcontent. Aber Prospero kümmert sich um nichts mehr – nicht solange der Rote Tod wütet. Mit seinen Waffen –«

»Waffen, die er uns wahrscheinlich einfach so geben wird?« Meine Stimme wird lauter.

»Er wird nicht mit einem Angriff aus der Luft rechnen. Wir können direkt über der Waffenkammer landen.«

»Aber er wird uns kommen sehen. Das Schiff ist ziemlich auffällig.«

»Nicht in der Nacht. Nicht während einer seiner Feiern. Ich werde mich in Prosperos Bau schleichen und ihm stehlen, was ich brauche, aber ich will mich nicht in die Stadt zurückstehlen müssen. Ich will siegreich zurückkehren.«

Natürlich will er das. Wir alle haben unsere Fantasien. Ich könnte ihm sagen, dass ich will, dass die Dinge wieder so sind wie vorher, dass ich will, dass mein Vater ein Held ist, dass ich will, dass meine Mutter in Sicherheit ist, dass ich will, dass meine wichtigste Entscheidung die ist, was ich im Debauchery Club anziehen soll. Aber das Leben ist nicht so leicht. Und ich kann erkennen, dass er nicht zuhören wird, nicht jetzt. Dennoch ist diese Diskussion alles andere als beendet.

Ich schnappe mir die Reste meiner zerfetzten Röcke und rausche aus dem Zimmer in die Hauptkabine. In ihrer Mitte steht ein schwerer Holztisch. Karten und Navigations-Instrumente sind darauf verstreut. April steht am anderen Ende des Raumes, und Kent sitzt am Tisch.

»Da bist du ja. Ich dachte schon, du wärst da drin vielleicht gestorben«, sagt April leichthin, und dann werden ihre Augen groß, als würden die Worte ihr selbst einen Schreck einjagen.

Es passt nicht zu ihr, Witze über den Tod zu machen. April hat immer versucht, den Tod zu ignorieren, ihren Fahrer dazu zu bringen, ihm aus dem Weg zu gehen und den Leichen auf der Straße auszuweichen. Aber jetzt ist es ihr unmöglich, die Seuche zu ignorieren. Vielleicht ist es das auch für mich. Mir wird plötzlich klar, dass ich eine offene Wunde habe – und das mitten im Sumpf, während zwei aggressive Seuchen wüten. Manchmal habe ich das Gefühl, als wartet die Welt nur darauf, dass wir alle krank werden. Dass wir alle verblassen und sterben.

Trotz der Feuchtigkeit trägt April lange Ärmel. Die Seuche klettert ihr hinten am Hals wie ein Finger nach oben. Sie sieht, dass ich es ansehe, und schüttelt die Haare, um das verräterische Mal zu bedecken.

»April …«, setze ich an. Wir sollten von vorn anfangen.

»Ich würde dich umarmen«, sagt sie. »Aber du weißt …«

Ich nicke. Es gibt viele Gründe, warum wir uns nicht umarmen – ihre Krankheit, meine Verletzung –, sogar wenn wir die Art Freundinnen wären, die sich normalerweise umarmen. Was wir nicht sind.

Am Tisch untersucht Kent einige mechanische Gegenstände, von denen ich glaube, dass sie mit der Reparatur des Schiffes zu tun haben. Irgendwie hat er es geschafft, sofort auf jedermanns Seite zu sein. Das erste Mal habe ich ihn bei meinem Vater gesehen, aber er ist auch mit Elliott und mit Will befreundet. Und hier in der Kabine des Luftschiffs, das er konstruiert hat, sitzt April sehr nah bei ihm. So nah, dass Elliotts Augenbrauen nach oben wandern. Er mag Aprils älterer Bruder sein, aber er sollte wissen, dass es zu spät ist, um sich um ihre Keuschheit Gedanken zu machen. Elliott war derjenige, der uns Geld gegeben hat, damit wir Mitglieder des Debauchery Clubs werden konnten, auch wenn Kent ganz und gar nicht die Art Junge ist, auf die sie es dort immer abgesehen hatte. Damals waren es frivole Jungen in Samtjacken und mit Lidschatten gewesen. Kent ist überaus ernst, seine braunen Haare sind unordentlich, und er trägt eine dicke Brille.

Ich greife nach dem glänzenden Metallgegenstand, der vor ihm auf dem Tisch liegt.

»Sobald ich es geschafft habe, diese Teile zu reparieren, können wir das Schiff wieder steuern«, erklärt er.

»Und dann können wir diesen Ort verlassen«, sagt April leise. »Kannst du dir die Leute vorstellen, die hier gelebt haben? Wie sie jeden Tag gehofft haben müssen, dass sich der Sumpf wieder zurückzieht? Sie haben ihre Möbel hiergelassen, ihre Kleidung …«

»Wohin sind sie gegangen?«, frage ich. »In die Stadt?« Die Vorstellung ist schrecklich; wir alle wissen, wie schnell sich die Seuche in den dichter bevölkerten Gebieten ausgebreitet hat.

April zuckt mit den Schultern. »Sie müssen schon eine ganze Zeit lang weg sein. Alles ist staubig oder angeschimmelt oder zerfällt. Sie sind wahrscheinlich alle tot.«

»Wir sollten schon bald aufbrechen können.« Kent steht auf und geht zur Tür. »Vielleicht am Abend. Ich ziehe es vor, nachts zu fahren. Auf diese Weise erregen wir weniger Aufmerksamkeit.«

Weniger Aufmerksamkeit von den Leuten im Sumpf? Oder von Prosperos Wachen? Ich sehe Elliott an. Er steht mit vor der Brust verschränkten Armen da.

»Ein neuer Sturm braut sich zusammen«, fährt Kent fort. »Ich werde beim Schiff bleiben, aber ihr anderen müsst Schutz suchen. Auch du«, sagt er zu April, und sie wechseln ein Lächeln.

Elliotts Brauen heben sich jetzt sogar noch mehr.

»Wo sind die Kinder?«, frage ich. Sie sind bisher kaum jemals draußen gewesen, und jetzt ist ein neuer Sturm im Anmarsch – einer, der stark genug ist, um sie wegzufegen.

»Die Kinder sitzen auf dem Dach und halten nach drohenden Gefahren Ausschau. Ich habe ihnen mein Fernglas gegeben«, sagt Kent. »Es scheint ihnen zu gefallen, da draußen zu sein. Thom ist in der Nähe und passt auf sie auf.«

Elise und Henry sind noch so klein. Ist es sicher für sie, den Sumpf zu beobachten? In den Weiden und dem Sumpfgras um das Haus herum könnten sich alle möglichen Feinde verbergen. An denen herrscht kein Mangel. Reverend Malcontent will die Macht in der Stadt ergreifen. Mich, die Tochter des Wissenschaftlers, würde er hinrichten, und er hat bereits einmal versucht, Elliott zu töten. Prospero ist hinterhältiger, aber ich zweifle nicht daran, dass es ihm sehr recht wäre, wenn wir alle tot wären. Und er würde liebend gern unser Luftschift haben.

Prospero war schon immer eifersüchtig auf technische Neuerungen bedacht. Mit so einem Schiff hätte er die Möglichkeit, seine Höflinge mit nach oben über die Stadt zu nehmen, wo sie aufwendige Partys feiern könnten. Wo sie tanzen könnten. Allerdings würde es eine Falle sein, denn egal, wohin der Prinz geht, immer gibt es dort auch Folter.

Ich durchquere die Kabine, folge Kent und werfe einen Blick nach draußen. Das blaugraue Schieferdach fällt flach in Richtung des Sumpfes ab. Es ist sehr ruhig. Ich habe noch nicht ein einziges Mal die hellen Stimmen der Kinder gehört.

»Will verpflegt uns alle«, sagt April. Sie steht neben mir und deutet auf die schmale Rauchfahne, die aus einem der beiden Kamine aufsteigt. Aus dem, der noch intakt ist. Gegen den anderen ist Kent bei der Landung geprallt. »Er benutzt eine der Feuerstellen zum Kochen, da Kent in der Nähe seines kostbaren Luftschiffs kein offenes Feuer erlaubt.« Sie winkt Kent zu. Er bastelt an irgendetwas herum und bemerkt es nicht. »Thom hat die Wache übernommen, um Elliott aus dem Weg zu gehen.« April sucht meinen Blick. Thom ist der infizierte Junge, den wir vor dem Ertrinken gerettet haben. Und dann haben wir ihn aus der Stadt und vor Malcontent gerettet. Seine Haut ist von Schorf mit nässendem Eiter bedeckt. Das ist das Beste, was April zu erwarten hat, wenn sie nicht stirbt. Wir müssen meinen Vater finden. Wie kann Elliott Zeit damit verschwenden wollen, in Prosperos Palast zu gehen?

Elliott ist unruhig, als ich ihn ansehe. Er trommelt mit den Fingern auf den Tisch, an dem Kent arbeitet. Er ist aufgewühlt.

Es kracht laut, und wir zucken alle zusammen. Aber es ist keine Explosion. Der Himmel wird dunkler. Blitze zucken, und es donnert erneut.

Elliott geht an mir vorbei durch die Tür nach draußen. April und ich folgen ihm hinaus aufs Deck.

Von hier aus kann ich die Fäulnis riechen. Der sich unkontrolliert ausbreitende Sumpf ergreift von allem Besitz. Blätter zerfallen in dem Morast um uns herum, und das Haus selbst verrottet unter unseren Füßen. Die beiden Kamine, an denen das Schiff angebunden ist, gehören zum Hauptgebäude. Von ihm zweigen drei Flügel ab, bilden den Buchstaben E. Wenngleich einer der Flügel in sich zusammengefallen zu sein scheint. Einige Zimmer sind Wind und Wetter völlig offen ausgeliefert, wie die Puppenstube, die ich als Kind gehabt habe. Vater hat sie gebaut, und Finn hat immer Eidechsen und Frösche in die einzelnen Zimmer gesetzt. Er hat gelacht, wenn sie die sorgfältig aufgestellten Möbelstücke umgeworfen haben.

Elliott steht an der Reling. Seine Haare glänzen, und selbst die Art, wie er dasteht, verströmt Zielstrebigkeit.

Ich trete neben ihn und sehe nach unten. Unter dem grünen Schleim, der an der Oberfläche schwimmt, kräuselt sich das dunkle Wasser des Morasts. Die langen Gräser bewegen sich, aber nicht mit dem Wind, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Umgestürzte Bäume in verschiedenen Stadien des Zerfalls liegen im Morast. Etwas bewegt sich im Sumpf. Etwas, das lebt und hungrig ist.

»Ein Krokodil.« Elliotts Lippen verziehen sich zu einem Beinahe-Lächeln, als ich vor Ekel erschaudere. Wie zur Bestätigung seiner Bemerkung ertönt ein lautes Platschen.

Dunkle Wolken sammeln sich über dem Sumpf, und es blitzt auch wieder. Die Gräser erzittern. Die Krokodile platschen ruhelos umher.

»Kent möchte, dass wir ins Haus gehen«, sagt April. Ich zucke beim Klang ihrer Stimme zusammen. Sie ist ruhiger geworden, seit sie krank ist. Sie beißt sich auf die Lippe. Die alte April hat nie so ernst ausgesehen. Sie führt uns vom Schiff. Elliott nimmt meine Hand, aber er zieht mich nicht mit sich. Zwischen den Holzstufen des Luftschiffs und dem Dach des Hauses befindet sich nur ein schmaler Spalt, aber er hilft mir trotzdem herunter.

Henry und Elise sitzen im Schatten von einem der Schornsteine.