Das Lied vom Untergang - Filia V. Temporis - E-Book

Das Lied vom Untergang E-Book

Filia V. Temporis

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Beschreibung

Jedes Jahr. Am vierzehnten Januar. Ein Leben wird zerbrochen. Jemand muss das Monster aufhalten. Merut und David kämpfen darum, einen Mann zur Strecke zu bringen, der sie einst entführt, missbraucht und gefoltert hat, bis ihre Seelen zerbrochen sind. Sie wissen, was zu tun ist, um ihn aufzuhalten. Sie kennen den Preis, den es dafür zu zahlen gilt. Gay-Thriller mit expliziten Szenen. Altersempfehlung ab 18 Jahre. Warnung: In dieser Geschichte wird keine Gewalt oder Pornographie verherrlicht. Doch es gibt Szenen und Darstellungen von physischer und psychischer Grausamkeit, die verstörend wirken können. Ca. 62.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 300 Seiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Jedes Jahr.

Am vierzehnten Januar.

Ein Leben wird zerbrochen.

Jemand muss das Monster aufhalten.

 

Merut und David kämpfen darum, einen Mann zur Strecke zu bringen, der sie einst entführt, missbraucht und gefoltert hat, bis ihre Seelen zerbrochen sind. Sie wissen, was zu tun ist, um ihn aufzuhalten.

Sie kennen den Preis, den es dafür zu zahlen gilt.

 

Gay-Thriller mit expliziten Szenen.

Altersempfehlung ab 18 Jahre.

Warnung: In dieser Geschichte wird keine Gewalt oder Pornographie verherrlicht. Doch es gibt Szenen und Darstellungen von physischer und psychischer Grausamkeit, die verstörend wirken können.

 

 

Ca. 62.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 300 Seiten.

 

 

 

 

 

 

Filia V. Temporis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die erste Strophe: Licht in der Dunkelheit

 

1.

Niklas

„Niklas?“

Er stöhnte ungehalten.

„Niklas! Zeit aufzustehen!“

Und das, wo er gerade so schön geträumt hatte. Er verfluchte seine Mutter. Ganz leise, denn natürlich war es gut, dass sie ihn zuverlässig aus den Federn warf. Auch wenn er nach seiner anstrengenden Nachtschicht lieber noch zwei, drei Stunden länger geschlafen hätte, er musste sein kuschelwarmes Bett verlassen. Jetzt. Jetzt sofort, nicht in fünf Minuten. Ach verdammt! Er hatte sich das alles leichter vorgestellt. Studium und Nebenjob, das bekamen die anderen auch geregelt. Leider hatte er völlig unterschätzt, wie hart das Informatikstudium tatsächlich war. Wie viel Mathematik darin steckte, auf einem Niveau, von dem er niemals geträumt hätte. Gerade einmal im zweiten Semester angekommen benötigte er bereits mehrere Stunden Nachhilfe pro Woche. Gleich hatte er wieder eineinhalb Stunden mit Ulli vor sich. Obwohl es Samstag und noch nicht einmal elf Uhr vormittags war. Ulrich war sechsundzwanzig und befand sich fast auf der Zielgeraden seines Physikstudiums mit Mathematik im Nebenfach. Wenn Ulli Graphen zeichnete und mit Äquivalenzen jonglierte, schien das alles wahnsinnig einfach zu sein. Im Hörsaal hingegen, wenn der untermotivierte Dozent vor sich hindröhnte, fühlte sich Niklas stets, als wäre er aus Versehen in einer Vorlesung auf Niederländisch geraten – er hatte bei jedem zweiten Wort eine Ahnung, was es bedeuten musste und manchmal verstand er sogar einen vollen Satz, doch unterm Strich war dies eine Fremdsprache, die ihn außen vorließ. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er in der Lage war, sich ebenfalls zu verständigen. Schlimmstenfalls musste er das Semester wiederholen. Es wäre kein Beinbruch, auch andere brauchten zwei Anläufe.

Niklas blickte sich in seinem dämmrigen Jugendzimmer um. Sieben Quadratmeter. Nicht allzu üppig, aber alles seins. Es wäre nicht schlimm, ein halbes oder ganzes Jahr länger hierzubleiben und seinen Eltern auf der Tasche zu liegen, oh nein. Da war bloß dieses innere Brennen. Die Sehnsucht nach der Welt dort draußen, die in ihm loderte, seit er sein Abi abgeschlossen hatte. Sein zwanzigster Geburtstag hatte es noch schlimmer gemacht. Er wollte raus! Etwas bewegen, sich beweisen. Zeigen, wer er war! Oder na ja, eher herausfinden, wer er sein wollte.

Stattdessen zerbretzelte er sich an Linearer Algebra, Analysis, Algorithmen und Datenstrukturen. Es fiel ihm schwer, gute Kontakte unter den Mitstudenten zu knüpfen, weil die meisten irgendwie anders als er tickten. Da praktisch alles an dieser Uni auf Gruppenarbeit hinauslief, ging es nicht ohne Freundschaften. Nun gut, mittlerweile hatte er einige Leute gefunden, mit denen es sich reden und arbeiten ließ.

Niklas quälte sich aus dem Bett. Wenn er vor Ullis Eintreffen noch rasch duschen, sich anziehen, frühstücken und mit zwei Riesenbechern Kaffee die Folgen der durchgearbeiteten Nacht fortspülen wollte, musste er Kissen und Decke jetzt Adieu sagen.

Auf dem Weg ins Bad überholte ihn seine kleine Schwester.

„Erster!“ Rebecca drehte ihm eine lange Nase. Die In-Ear-Kopfhörer waren mit ihrem Kopf verwachsen, man sah sie nie ohne. Dank ihres wuscheligen hellblonden Pixie-Haarschnitts fiel es noch mehr auf als früher, als sie noch Haare bis zum Hintern hatte. Sie steckte mitten im Abi und hatte sich in den vergangenen Monaten sehr verändert. Zum Guten – sie war ruhiger, reifer und zielstrebiger geworden. Leider auch sehr viel dünner. Sie behauptete, es wäre bloß der Lernstress. Das konnte stimmen oder auch nicht. Jedenfalls hatte Niklas nicht vor, sich von der nervigen Mistgöre von heißgeliebter kleiner Schwester auf der Nase herumtanzen zu lassen. Er packte sie am Handgelenk, zog sie zu sich heran und warf sie sich wie einen Kartoffelsack über die Schulter. Becky, wie jeder sie üblicherweise nannte, quiekte, schrie, schimpfte und lachte. Alles zugleich. Sie trommelte ihm mit den Fäusten auf den Rücken, was ihn ins Wanken brachte. Dennoch schaffte er es, sie in ihr Zimmer zu tragen und auf ihr Bett zu werfen.

„Sorry, ich hab gleich Nachhilfe und danach steht noch ein Referat an. Also geh ich zuerst ins Bad“, verkündete er und rannte los, bevor sie sich lachend aus der Decke befreien konnte. Wenigstens war er jetzt wach und munter nach dieser Frühsporteinlage.

Eine gute halbe Stunde später saß er mit Ulli in der Küche. Mamas Heiligtum, ein Traum in Birkenholz und Chrom. Sein Zimmer war zu klein, im Wohnzimmer war es zu unruhig für Mathe. Zumal sein Vater sich mal wieder mit Becky anbrüllen musste. Die beiden waren sich zu ähnlich vom Typ her. Beckys spätpubertäre Trotzanfälle und Papas Midlife Crisis vertrugen sich nicht allzu gut. Ein Wort genügte, manchmal reichte auch ein falscher Blick, damit einer der beiden durch den Kamin explodierte.

Niklas blendete es nach Kräften aus und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Ulli ihm erklärte. Erschwert wurde das dadurch, dass Ulli heute mal wieder umwerfend aussah. Allein sein Aftershave weckte unanständige Träume und Sehnsüchte. Die sportliche Figur, diese eisblauen Augen, die modisch verwuschelten braunen Haare … Was würde er dafür geben, Ulli fragen zu dürfen, ob sie mal irgendwann gemeinsam abhängen könnten. Eis essen, in diese verrückte Rollschuhdisco im Stil der 80er gehen, oder einfach ins Kino. Das war ausgeschlossen. Ja, dies waren moderne Zeiten. Homos durften heiraten und ein Outing in der Schule war nicht mehr unbedingt das Todesurteil, was es noch vor ein paar Jahren gewesen wäre. Und ja, irgendwann würde er zu seinen Eltern gehen und ihnen die Wahrheit beichten, die sie vermutlich längst kannten. Irgendwann war definitiv nicht heute. Keiner kannte Niklas‘ Geheimnis. Jedenfalls nicht dadurch, dass er sich freiwillig geoutet hatte. Es fehlte an Verbündeten und Gelegenheiten in ihrem Kuhkaff.

Ulli war sowieso hetero, er textete manchmal mit seiner Freundin, während Niklas an seinen Übungsaufgaben verzweifelte.

„Schatz?“ Seine Mutter steckte den Kopf durch die Tür, strahlte Ulli an und nickte Niklas zu. „Wir sind weg. Essen bringen wir dann mit. Herr Tietz, Ihr Geld liegt auf der Flurkommode.“

Er nickte rasch zurück, froh und dankbar, dass sie ihn nicht noch einmal vor anderen Leuten mit „Schatz“ ansprach. Das war peinlich, verdammt!

„Großer Wochenendeinkauf?“, fragte Ulli, als die Tür wieder zu war.

„Nee. Meine Schwester macht Abi und braucht ein Kleid für den Abschlussball. Ist bereits der dritte Anlauf, anscheinend ist das superkompliziert, etwas Passendes zu finden.“ Sie zuckten gemeinsam ratlos mit den Schultern. Niklas hatte keine zwanzig Minuten benötigt, um für seinen Ball Anzug, Hemd und Krawatte auszusuchen. Die Schuhe hatten noch einmal dieselbe Zeit verschlungen. Bereits diese vierzig Minuten Lebenszeitverlust hatte er als unerträglich empfunden. Wie Becky es aushielt, endlose Stunden von einem Laden in den nächsten zu rennen, Ballkleider in sämtlichen Farben, Formen und Längen anzuprobieren und alles als schrecklich und unpassend abzutun … Er wandte sich eifrig wieder den Algorithmen zu. Die waren leichter zu verstehen als weibliche Modeprobleme. Wenigstens konnte er gleich in Ruhe sein Referat bearbeiten, ein leeres Haus war manchmal toll. Auch wenn er seine Familie abgöttisch liebte – und sich in der Gewissheit sonnte, dass diese Liebe bedingungslos erwidert wurde. Nichts konnte das ändern. Niemals.

 

 

Merut

Seit Stunden saßen sie da. Stillschweigend. Die Blicke ins Nichts gerichtet.

Heute war der Tag.

Der 14. Januar.

Wie jedes Jahr.

Merut starrte auf die Wanduhr. Es würde erst nach Einbruch der Dunkelheit geschehen. Wann genau, das stand nicht fest. Sie würden es nicht erfahren, es war sinnlos, sich deswegen zu quälen. Gegensteuern war ihnen leider nicht möglich. Sie mussten diesen Tag ertragen. Wie die anderen davor auch.

David saß ihm gegenüber. Er schob Salz- und Pfefferstreuer hin und her. Seine Hände zitterten, er war regelrecht grau im Gesicht. Ein starkes, schön geformtes Gesicht. Wundervolle hellbraune Augen, kurz geschorenes Haar, ein gepflegter Vollbart. Der war extrem wichtig für David. Genau wie für Merut. Ihre Leben könnten davon abhängen und sie würden sich dennoch niemals die Manneszier abrasieren. Sie stutzten sich die Bärte lediglich alle paar Tage, damit niemand sie für Bombenleger hielt.

Die meisten Tage kamen sie beide klar.

An einem vierzehnten Januar nie. Niemals. Auch nach all den Jahren nicht. Für ihn waren acht Jahre vergangen. Für David zwölf. Vorbei war es nicht und es konnte auch gar nicht vorbeigehen.

„Hörst du ebenfalls die Melodie?“, flüsterte David.

„Ununterbrochen, seit dem Aufstehen.“ Sie nickten einander zu. Auch sonst hörten sie die Melodie. Das Lied vom Untergang. So nannte Merut sie insgeheim. Das würde er David niemals erzählen. Aus Angst vor … Nein, es hatte nichts mit Angst zu tun. Es war albern, weil es ihm schwer fiel, seine Gedanken und Gefühle bezüglich dieses Liedes zu ordnen. Alles andere ließ sich abschütteln. Zumindest zeitweise. Die Melodie begleitete sie, wohin auch immer sie gingen.

Merut ergriff die Hände seines Freundes. Er musste ihn festhalten. Ihn daran hindern, den Salzstreuer auseinander zu nehmen. In Momenten wie diesen gab es keine Gemeinsamkeit. Kein wir. Keine Liebe. Sie waren verloren und weigerten sich stur, diese Tatsache anzuerkennen.

 

 

Niklas

Langsam streckte er die Hand nach der Türklinke aus. Ihn empfing betäubend laute Musik, zuckende Lichter, noch heftiger zuckende menschliche Leiber. Zu viele davon. Niklas verließ den Umkleidebereich, der für die Angestellten eingerichtet worden war, und huschte die Treppe hinab. Fort von der oberen Etage, wo die gewöhnlichen Gäste feierten, tanzten, sich betranken, hinab in die VIP-Lounge des Clubs, wo die besser gestellten Leute dasselbe taten. Hier war die Musik leiser, die Dekoration aufwändiger, statt gesalzene Erdnüsse, Bier und Mixgetränke wurde Champagner ausgeschenkt und exquisite Snacks serviert. Weiße Ledersessel umstanden seltsam geschnittene rote Tische. Zahllose Schnüre mit geschliffenen Bleikristallsplittern waren an der Decke befestigt. Das erzeugte hübsche Effekte, je nachdem, wie das Licht sich darin brach. Niklas arbeitete jeweils am Freitag und Samstag als Kellner in diesem Club. Den Job hatte ihm ein Studienkollege vermittelt, man brauchte Empfehlungen und viel Glück, um in einem solch teuren Etablissement Zugang zu erhalten. Das Trinkgeld war extrem gut, die Grundbezahlung auch nicht schlecht. Zwei Mal Nachtschichten in der Woche, jeweils sechs Stunden lang. Es war anstrengend, aber man schuftete sich nicht gerade zu Tode. Hier unten war Platz für fünfundzwanzig Gäste. Die bediente er allein, trotzdem gab es zwischendurch Gelegenheit, sich unauffällig irgendwo anzulehnen oder mal ein Glas Cola zu trinken, um besser durchzuhalten. Morgen konnte er ausschlafen und Hausaufgaben abarbeiten.

„Wie läuft es?“, fragte er Clarissa. Sie war es, die er ablöste, sie hatte die Schicht von 18.00-22.00 Uhr. Die zarte Blondine studierte ebenso wie er, allerdings irgendwas mit Krankenhausmanagement. Sie hatte eine kleine Tochter, die sie ohne Mann großzog, und musste schauen, wie sie sich durchs Leben boxte.

„Ruhig soweit. An Tisch sieben ist ein anspruchsvolles Pärchen, die hätten mir fast den Krabbencocktail vor die Füße gekippt. Sonst bloß das Übliche.“

„Okay. Schönen Feierabend!“

„Ruhige Schicht.“ Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln und tätschelte ihm die Schulter. Niklas seufzte. Er wollte ja gar nicht, dass ihn Frauen anhimmelten. Trotzdem wäre es nett, wenn sie ihn nicht durchweg als kleinen Bruder wahrnehmen würden. Vielleicht sollte er es auch mal mit einem Bart versuchen, damit er weniger niedlich und jungenhaft aussah? Hm – nein. Das Problem waren seine brünetten Wuschellocken, die er nicht abrasieren lassen wollte, auch wenn sie ihn jünger wirken ließen. Auf gar keinen Fall! Und die himmelblauen, riesengroßen Babyaugen. Die sämtlichen sportlichen Bemühungen trotzende schlacksige Jungenfigur. Nicht zuletzt die Tatsache, dass sein Bartwuchs bislang eher ein löchriger Flusenteppich war, echt keiner Erwähnung wert. Auf seiner Brust spross noch gar nichts. Sein Vater meinte, das würde sich geben. Ein bisschen Geduld, in fünf, sechs Jahren würde er schon noch zum Mann heranwachsen.

Na wundervoll …

„Hey, Miguel!“ Der Barkeeper nickte Niklas auf dessen Zuruf hin freundlich zu und arbeitete weiter an der Verzierung eines Cocktails.

Das LED-Feld im Barbereich leuchtete auf und zeigte an, dass Tisch dreizehn bedient zu werden wünschte. Niklas eilte los, richtete die schwarze Uniformjacke und setzte das strahlende Lächeln auf, das seine Kunden an ihm zu schätzen wussten. Fröhlichkeit demonstrieren, gute Laune, die die Leute mitriss und dazu veranlasste, mehr zu bestellen und ein noch besseres Trinkgeld zu geben.

Nach zwei Stunden wurde es zum ersten Mal mühsam. Seine Füße begannen zu schmerzen, sein toter Punkt näherte sich, da sein Körper nicht an Nachtschichten gewöhnt war, und die Gäste wurden allmählich trunken von zu viel Champus und bunte Cocktails zu lächerlichen Preisen mit übertrieben kreativen Namen. Eines stand schon mal fest: Diesen Job würde er nicht für den Rest seines Lebens machen.

„Niklas.“

Er zuckte schuldbewusst zusammen, als plötzlich seine Chefin hinter ihm stand. Dabei hatte er sich definitiv nichts zuschulden kommen lassen. Keine Fehler bei der Bedienung, abgerechnet wurde per Kreditkarte, wenn ihm jemand Bargeld zusteckte, warf er es in einen Topf, den er sich am Ende des Abends nur mit Miguel teilen musste. Seine Kleidung war sauber und saß akkurat … Also durchatmen, umdrehen, lächeln!

Katja Brauninger trug ein pinkfarbenes Kleid, das garantiert mehr kostete, als Niklas‘ Eltern gemeinsam in einem Monat verdienten. Was bei einem Steuerberater mit eigener Firma und einer Anwaltsgehilfin in einer renommierten Kanzlei gar nicht mal wenig war. Der Schmuck war protzig, das Make-up versteckte jegliches Anzeichen von Alterungserscheinungen, die eine Mittvierzigerin mit anstrengendem Live Style üblicherweise haben sollte.

„Ich habe eine Sonderaufgabe für dich“, sagte sie und zog ihn ein Stück mit sich, außer Hörweite von den Gästen und Miguel. „Die Bedienung übernehme ich solange selbst.“

„Okay“, erwiderte er verunsichert. „Worum geht es?“ Er sah sich bereits in staubigen Archiven herumwühlen oder in irgendwelchen Kellergewölben schwere Kisten schleppen.

„Im Separee. Tisch vier. Der Gast fragt nach einem speziellen Gefallen und er will dafür ausdrücklich dich haben.“

Niklas blinzelte sie an. Er benötigte mehrere Sekunden, bis er zu verstehen glaubte, was sie gerade gesagt hatte – im Separee durfte er nicht bedienen, dort waren zwei festangestellte Kolleginnen unterwegs. Sehr leicht bekleidete Kolleginnen. Mehr wusste er nicht, mehr wollte er nicht wissen. Außer dass es bereits mehrere hundert Euro kostete, um sich dort an einen Tisch setzen zu dürfen und niemand von außen hineinblicken konnte. Ihm wurde erst schwindelig, dann flau im Magen.

„Frau Brauninger, dass … auf gar keinen Fall kann ich …“

Sie lächelte falsch.

„Niklas, mein Schatz. Ich hoffe, du hast dir nicht eingeredet, dass ich jemanden ohne Kellnerausbildung, Erfahrung oder irgendwelchen Referenzen in meinem Club einstelle, wenn er nicht wenigstens andere Qualitäten zu bieten hat. Du bist irrsinnig süß und fröhlich und siehst zum Anbeißen aus. Zugleich bist du dermaßen jung, dass die Herren nicht eifersüchtig werden und die Damen spontanen Milcheinschuss erleiden. Deshalb, und nur deshalb bist du hier und darfst Kristallgläser durch die Gegend tragen. Ein wunderbares Dekorationsstück, an dem sich das Auge erfreut, genau das bist du. In diesem Haus gibt es keine Prostitution. Ich verlange nicht von dir, dass du für den Gast strippen sollst. Das wäre sowieso verantwortungslos, denn er könnte dein Urgroßvater sein. Oder vielleicht sogar meiner. Also, mein Süßer. Du gehst jetzt ins Separee und wenn der Herr deine Wange tätscheln und dein Händchen halten will, dann erträgst du das mit einem Lächeln. Will er deinen Arsch tätscheln oder an deinem Mini-Würstchen spielen, dann strahlst du ihn an, entschuldigst dich nett und rufst mich, damit ich den Dreckssack rauswerfen kann. Klar soweit?“

Er nickte beklommen. Lächeln, freundlich sein, einem alten Herrn etwas Gesellschaft leisten, ohne ein Risiko einzugehen. Das schaffte er mühelos. Sobald er den Spruch mit den Milcheinschuss verkraftet hatte. Oder den zum Mini-Würstchen. Atmen sollte helfen.

 

David

Er kniete mit dem Gesicht zur Wand am Boden. Die Arme waren auf den Rücken gefesselt, seine Augen verbunden und aus Kopfhörern drang eine klassische Sinfonie von Vivaldi. Eindringliche, emotionale Musik, die strikt auf der hellen Seite des Spektrums verblieb. Es war laut genug, um die restliche Welt vollständig auszublenden, seinen Kopf mit süßen Geigenklängen zu erfüllen. Das war wichtig. Nur so blieb die andere Melodie fern. Die Musik der Dunkelheit.

Davids Kopf ruckte unwillkürlich, als er eine Bewegung hinter sich spürte. Sein Körper spannte sich vor Angst, die sein Rückgrat hinabprickelte und sich heiß bis in die letzten Fasern ausbreitete. Er wusste, dass es Merut war, der hinter ihm niederkauerte. Meruts starke Hand, die sich über seine Kehle legte, sacht zudrückte, ihm den Atem stahl, sein Herz zum Hämmern zwang. Schweiß drängte aus jeder Pore. David konnte sich nicht wehren, nicht fliehen. Nackt kniete er auf diesen kalten Fliesen. Hoden und Schwanz waren eingeschnürt, was ihm eine gerade noch erträgliche Dauererektion bescherte, die in diesem Moment zu pochen begann – die aufgeregte Angst verstärkte die Erregung. Niemals hatte ER ihn auf diese Weise berührt. Merut hatte eine einzigartige Weise, sich ihm zu nähern und dennoch vermischten sich Erinnerungen an damals mit dem Geschehen der Gegenwart. Das Ergebnis war beherrschte Panik, die sich in Lust verwandelte, als Lippen seinen Hals liebkosten, Zähne an seinem Ohrläppchen, dem Nacken, den Schultern knabberten. Die Zärtlichkeiten währten kurz. Gerade lang genug, dass David nicht vor Angst ausrasten musste. Ohne Vorwarnung drückte Merut ihn im Nacken nach unten. David hatte einen Butt-Plug getragen, der ihm nun ruppig entrissen wurde. Das Sexspielzeug und reichlich Gleitgel garantierten, dass Merut ihn nicht verletzte, als dieser sich nun mit einer einzigen fließenden Bewegung tief in ihn rammte. David schrie auf, versuchte gegen seine Fesseln zu kämpfen. Von der Musik gefangen, ohne Sicht, gab es keine Möglichkeit mehr, in die eingebrannten Muster zu verfallen. Es gab keinen Raum für IHN. Für das, was ER David angetan hatte. Merut nahm ihn mit gewaltigen Stößen durch. Es war Befreiung. Ein Akt der Gnade und Liebe. Nichts anderes war von Bedeutung. Nicht einmal das Wissen, das heute Nacht ein weiteres Leben gestohlen, ein weiterer junger Mann entführt und zerbrochen werden würde. In diesem Moment zählte nur noch Merut und das, was er mit seinem starken Körper tun konnte, um David Vergessen, Lust und Freiheit zu schenken.

 

 

 

Niklas

Der alte Mann war mit Sicherheit über achtzig. Schrumpelige, braunfleckige Hände streckten sich Niklas entgegen, als er den schwarzen Samtvorhang teilte und ihn hinter sich sorgsam vor der Tür drapierte, durch die er gerade eingetreten war. Dieser Raum war winzig, bot exakt Platz für einen Tisch und eine gepolsterte Lederbank, auf der drei Personen bequem sitzen konnten. Den Tisch konnte man beiseite klappen, die Lederbank ausziehen und daraus eine angeblich recht bequeme Schlafstatt herrichten. Die Regeln besagten, dass man in diesen Räumlichkeiten tun und lassen konnte, was man wollte, sofern es gesetzeskonform und das Mobiliar unbeschädigt blieb. Sicherheitspersonal patrouillierte die Gänge und hatte ein Ohr darauf, falls jemand um Hilfe rief. Die beiden Damen, die für diesen Bereich zuständig waren, lieferten nicht bloß Getränke und Snacks, sondern auch Kondome und Sexspielzeug. Warum genau jemand viel Geld für ein zu klein geratenes Zimmerchen zahlte, wenn jeder Hotelraum komfortabler und günstiger war, blieb ein Geheimnis, das Niklas definitiv nicht ergründen wollte. Vielleicht war es die Anonymität, die ein Hotel nicht bot? Oder die Vorstellung, dass bloß ein paar Meter weiter die anderen Clubgäste tanzten und feierten?

Egal.

Was zählte war, wie schnell er von hier wieder verschwinden konnte.

Das runzlige Gesicht des Gastes war von Freude beherrscht. Er schüttelte Niklas‘ Hand, als wären sie gute Bekannte.

„Wie schön! Wie schön, dass du gekommen bist, mein Junge“, sagte er leise, heiser krächzend.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Niklas und strahlte bemüht.

„Ich habe eine Bitte. Lass sie mich erst vollständig erklären, bevor du darüber nachdenkst, ob du sie erfüllen magst. Ja? Keine jugendliche Spontanität, lass dir Zeit damit.“

Niklas brummte bestätigend, die Hände auf dem Rücken verschränkt, möglichst unauffällig gegen den Tisch gelehnt. Hoffentlich durfte er sich gleich hinsetzen. Seine Füße schmerzten, er war müde und er wollte gar nicht hören, was der alte Herr von ihm verlangen würde.

„Ich heiße Harald“, sagte der Alte. „Und dein Name …?“

„Niklas.“

„Sehr hübsch.“ Das Lächeln blieb schmallippig. Wahrscheinlich mochte er keine neumodischen Namen. Nun ja, Niklas fand dafür Harald wirklich dämlich, also waren sie sich auf irgendeiner Ebene durchaus einig. Es fiel ihm seltsam schwer, den Gast anzuschauen. Woran das lag, konnte er nicht sagen. Klar, altersfleckige, runzlige Haut war kein Schönheitsideal. Brillen mit flaschendicken Gläsern und Dreiviertelglatzen mit einigen strähnigen grauen Resthärchen auch nicht. Das hatte ihn noch nie gestört, also lag es wohl eher an der Gesamtsituation.

„Ich möchte, mein lieber Niklas, dass du dich gleich zwischen meine Beine setzt“, begann Harald und wies auf die Bank, die genügend Platz für solche Übungen bot. „Du sollst dich rücklings gegen mich lehnen. Sei unbesorgt, ich verlange nicht, dass du dafür nackt sein sollst und ich werde dich nicht ungebührlich anfassen. Lediglich umarmen.“

„Warum?“, fragte Niklas spontan. Ihm behagte die Aussicht nicht, diesem seltsamen Kerl nah zu kommen.

„Ich bin alt“, erwiderte Harald würdevoll. „In meinem Alter spielt Sex keine große Rolle mehr. Das Wollen ist noch da, keine Frage, das Können hingegen … das hat der Herrgott mir genommen. Dennoch könnte ich jederzeit in ein entsprechendes Etablissement gehen und mir ein entzückendes Mädchen kaufen. Eines, das mich streichelt und nett zu mir ist und mir Dinge darüber ins Ohr säuselt, dass ich es noch immer bringe und ein toller Hecht bin. Lügen … Dafür habe ich keine Zeit. Nein, mein Junge. Ich will wahre Unschuld im Arm halten, ohne sie zu verderben. Also setz dich zu mir und lehne dich einige Minuten gegen mich. Es wird dir nicht weh tun und ich gebe dir eine schöne Summe Geld dafür.“ Er griff in die Tasche seines eleganten, wenn auch etwas altmodisch geschnittenen dunkelgrauen Anzugs und legte einen Haufen Scheine auf den Tisch. Es dürften rund tausend Euro sein, die dort lagen. Erschrocken schnappte Niklas nach Luft.

„Das ist zu viel!“, rief er. „Ich kann nicht …“

„Du kannst.“ Harald lächelte wieder auf diese schmallippige Weise, die keine Zähne zeigte. „Ich habe keine Familie. Kinder hatte ich keine und meine Nichten und Neffen sind ein egoistisches Pack, mit dem ich nichts zu tun haben will. Schlimm genug, dass sie meinen Besitz erben, wenn ich demnächst gehe. Es bleibt mehr als genug, was sie sich in den Rachen stopfen können. Ich will ein wenig davon mit warmer Hand geben. Du bist jung, Jugend benötigst Geld. Sonst wärst du nicht hier, Niklas, hm? Du sparst sicherlich auf deine erste Wohnung, möchtest studieren …“

Er nickte unbehaglich. Natürlich sparte er auf seine erste Wohnung. Nach dem Studium wollte er entweder nach Frankfurt oder Berlin umsiedeln, wo Informatiker große Chancen auf einen Job hatten. Hier auf dem platten Land in der Peripherie einer weniger bedeutsamen Stadt war es zwar hübsch und übersichtlich, eine Zukunft besaß er nicht. Für seine Pläne brauchte er Geld. Was der alte Mann ihm anbot, würde ihn immens weiterbringen und er konnte verstehen, was Harald erzählte. Die Verbitterung, die Einsamkeit. Wie traurig musste das eigene Leben sein, wenn man einen Kellner mit tausend Euro bestach, damit dieser sich für einige Minuten umarmen ließ?

„Ich mach das“, sagte er leise. „Aber nicht für Geld.“

Harald lächelte und rückte ein Stück zurück, um ihm Platz zu schaffen. „Du willst einem Fremden etwas schenken, ohne dir einen Vorteil zu verschaffen? Oh Herr, der Idealismus der Jugend … Es ist ein Wunder.“

Schweigend setzte Niklas sich rücklings zu ihm und lehnte sich steif an. Harald legte ihm einen Arm um die Brust, locker, ohne ihn zu bedrängen oder einzuengen.

„Schließ die Augen, mein Junge“, flüsterte es heiser an seinem Ohr. „Stell dir vor, du lehnst dich gegen eine Wand. Und nimm dies hier. Ich will mit dir mein liebstes Musikstück teilen.“

Überrascht blinzelnd nahm Niklas das hochmoderne Smartphone zur Kenntnis, das plötzlich auf dem Tisch lag, und stöpselte sich einen der Kopfhörstecker ein, während Harald den anderen nahm. Danach lehnte er sich wieder zurück und schloss brav die Augen. Es war nicht unangenehm, endlich sitzen zu dürfen und die Umarmung bedeutete ihm nichts weiter, während sie einen vereinsamten alten Mann glücklich machte.

Seltsam. Harald roch gar nicht alt, da war lediglich ein Hauch von einem Shampoo oder Aftershave mit einem herb-männlichen Duft. In dem Arm, der Niklas umfangen hielt, steckte erstaunlich viel Kraft. Nun, er war offenkundig gesund und würde wohl nicht in naher Zukunft tot umfallen.

Musik erklang. Eine Geige, die eine unglaublich traurige Melodie spielte, unterstützt von einer Flöte. Hohe, eindringliche Töne. Es schmerzte beinahe, diesem Lied zu lauschen, so emotional berührend war das Stück – auf unangenehme Weise. Wenn das tatsächlich Haralds Lieblingsmelodie war, musste er selbstmordgefährdet sein. Niklas bewegte sich unruhig. Am liebsten würde er sich den Kopfhörer rausreißen, damit er nicht mehr länger zuhören musste.

„Sht“, zischte Harald und drückte ihn etwas nachdrücklicher an sich. Innerlich seufzend lehnte Niklas sich zurück. Er hatte ein Versprechen gegeben. Hoffentlich dauerte es jetzt nicht mehr lange, er wollte gerne zurück an die Arbeit. Andererseits war es durchaus nett, sitzen und nichts tun zu dürfen.

Minuten verstrichen. Wie lang war dieses Musikstück? Niklas spürte, wie er allmählich schläfrig wurde. Endlich ließ Harald ihn los und schaltete das Smartphone aus.

„Ich danke dir, mein Junge“, sagte er und zeigte einmal mehr das schmallippige Lächeln. „Du kannst nun gehen. Es war ein kostbares Erlebnis, dich halten zu dürfen, von dem ich für den Rest meiner Tage zehren werde. Dir wünsche ich alles Glück dieser Welt.“

Niklas fehlten die Worte. Er wollte ihm ebenfalls etwas Freundliches sagen. Ihm wünschen, dass er nette Mitmenschen treffen würde, die ihn vor der Einsamkeit retteten. Stattdessen lächelte er bloß und nickte, bevor er sich rückwärts aus dem Separee entfernte.

Erst als er draußen war, fiel ihm auf, dass die Geldscheine irgendwie in die Brusttasche seiner Uniformjacke gewandert waren. Stirnrunzelnd wandte er sich um, halb auf dem Weg, sie Harald in die Hand zu drücken. Er wollte ihm klarmachen, dass man ihn nicht kaufen konnte. Dieses Geschenk hatte er dem alten Mann nicht gemacht, um dafür abzukassieren und jeder Euro minderte und beschmutzte die Geste. Würdigte einen Akt der Menschlichkeit zu einer Dienstleistung herab. Er ließ es bleiben. Vermutlich würde der arme Kerl nicht einmal verstehen, worüber er sprach. Nun denn …

Zurück in der VIP-Lounge steuerte er sofort auf seine Chefin zu.

„Alles klar?“, fragte Frau Brauninger.

„Mir geht es gut und der Gast war zufrieden“, erwiderte Niklas. „Er hat mir ein immenses Trinkgeld aufgenötigt“, fuhr er fort. „Ich werde …“

„Bring es zu deinem Spind“, unterbrach sie ihn ruppig. „Was du im Separee verdienst, gehört dir allein, das teilst du mit niemandem. Bring es weg und beeil dich, damit du mich hier ablösen kannst.“

Er bedankte sich, leicht verstört von der Erkenntnis, dass er heute eine vierstellige Summe mit nach Hause nehmen konnte – und tunlichst darauf verzichten sollte, mit seinen Eltern darüber zu reden. Sein Vater würde ihm verbieten wollen, jemals wieder einen Fuß in diesen Club zu setzen und seine Mutter behutsam herumstochern, ob er sich missbraucht fühlte und deswegen professionelle Hilfe benötigte. Geliebt zu werden war wundervoll. Sich auf seine Familie blind verlassen zu dürfen, dass sie immer und unabdingbar für ihn kämpfen würde, eine echte Gnade, für die man gar nicht dankbar genug sein konnte.

Trotzdem wäre es manchmal schön, Urlaub nehmen zu können. Aus der Entfernung konnte man eine solche Gnade oft viel besser schätzen.

 

 

Merut

Keuchend befreite er David von Fesseln, Augenbinde und den Kopfhörern. Der Orgasmus war beinahe gewalttätig gewesen. Nach einem Befreiungsschlag wie diesen waren es seltsamerweise nie die Erinnerungen an damals, die ihn als Erstes überfielen. Die Reise ging noch weiter zurück, zu seiner Familie, die ihn für tot hielten, zu dem Glauben, der in ihm abgestorben war. Sein Vater hätte die Schmach nicht überlebt, dass sein Erstgeborener mit einem Mann Leben und Bett teilte. Der Merut von damals hatte gewusst, welchen Platz er in der Weltordnung besaß, woher er kam, wohin er gehen wollte. Die Fragen waren einfach, die Antworten schlicht gewesen. Der Merut von heute kannte weder Fragen noch die Antworten und nichts könnte ihm gleichgültiger sein. Wenn Gott tot war, galten die alten Regeln nicht mehr. Nicht für ihn.

Sanft zog er David in seine Arme. Zitternd und schluchzend schmiegte sich sein sonst so starker Gefährte an ihn, zu weit getrieben, um die Emotionen wie gewohnt kontrollieren zu können.

„Ich halte dich“, flüsterte er und küsste ihn. „Sieh mich an. Ich lasse dich nicht allein. Du und ich, wir leben im Licht.“

Die Dunkelheit hatte sie verächtlich ausgespuckt. Einst war die Finsternis ihr bester Freund und Verbündeter gewesen …

Mit einem routinierten Griff schloss Merut die Finger um Davids Eichel. Sie fühlte sich kalt an. Es wurde Zeit, auch diese Fesseln zu lösen und den wahnwitzig angeschwollenen Schwanz von der Verschnürung zu befreien, bevor das Gewebe Schaden nahm. Ein rascher Kuss, dann zog er seinen Gefährten auf die Beine und kauerte sich nun selbst demütig am Boden nieder. Auch er hatte einen Dildo im Hintereingang und er war durchaus dankbar, ihn endlich loszuwerden. Kein Plastik konnte ihm David ersetzen. Es war schlichtweg unmöglich, eine emotionale Bindung zu einem Butt-Plug aufzubauen, sofern man noch einigermaßen gesund funktionierte.

Sein Liebster entfernte das lästige Stück und streichelte über Meruts völlig vernarbten Rücken. David brauchte das Abtauchen, das Ausschalten der sinnlichen Wahrnehmung, um inneren Frieden zu finden. Merut benötigte den Schmerz. Sie waren ein eingespieltes Team, kannten ihre Bedürfnisse, wussten, wie sie zu erfüllen waren. Es hatte bloß bedingt etwas mit dem heiligen Grundsatz von Safe-Sane-Consensual zu tun, der für gewöhnliche BDSM-Paare galt. Sicherheit stand nicht an erster Stelle. Vernunft lag noch weiter hinten. Lediglich die Einvernehmlichkeit war gesetzt. Ein nein war immer und mit sofortiger Wirkung ein NEIN. Außerdem waren sie weder gewöhnlich noch lebten sie in einem BDSM-Gefälle, für das es einen dominanten und einen passiven Part brauchen würde. Sie waren beide passiv, aber in der Lage, eine aktive Rolle zu übernehmen. Das hatten sie lernen müssen, um sich gegenseitig aus der Hölle retten zu können.

Er erschauderte vor Glück, als David sich in ihn versenkte. Dank des Blutstaus war es ein beachtlicher Umfang, den Merut wegatmen musste. Gleich – gleich! Ja! Gemeinsam mit dem ersten Stoß, hart genug, um ihn beinahe stürzen zu lassen, ging der Stock auf seinen Rücken nieder. David bevorzugte Weide. So viel flexibler als ein Rohrstock und dadurch schwerer zu kontrollieren. Exquisiter Schmerz breitete sich in Schockwellen aus. Er begrüßte das Brennen. Die unmittelbar folgende Taubheit. Das anschließende Pochen. Hieb um Hieb prasselte wie ein Unwetter auf ihn nieder.

Am Rande seines Bewusstseins nahm Merut war, dass sein Gefährte zum Höhepunkt fand. Auch danach gingen die Schläge weiter, bis er Blut fließen spürte und jeden Treffer mit einem gequälten Stöhnen quittierte. Endlich brach er zusammen, unfähig sich noch länger hochzustützen und Widerstand zu leisten. In ihm summte es. Glühende Glücksseligkeit berauschte seinen Verstand, dämpfte seinen Körper. Endorphine. Es gab nichts Besseres.

Es brachte die unheilvolle Melodie zum Schweigen. Das Lied vom Untergang, es verstummte. Minutenlang. Nun war er es, der erbärmlich zitternd und schluchzend in Davids Armen lag. Gemeinsam klammerten sie sich aneinander fest, versuchten Frieden und Stille festzuhalten.

Morgen mussten sie sich erneut dem Kampf stellen. Die Welt drehte sich gnadenlos weiter und nahm sie beide dabei mit.

 

 

Niklas

Die Luft war eisig, klar und frisch. Sterne funkelten am Himmel, der erst in ein paar Stunden von der Sonne erhellt werden würde. Niklas liebte diese stille Zeit am frühen Morgen. Um vier Uhr war kaum jemand unterwegs und je weiter er sich vom Stadtzentrum entfernte, desto seltener wurden die Nachtschwärmer, die nach hoffentlich erfolgreicher Jagd nach Vergnügen und Ablenkung heimkehrten. Raureif knirschte unter seinen warmen Stiefeln, er war behaglich in seine dicke Jacke, Schal und Handschuhe eingemummelt. Nach stundenlangem Lärm, Musikgedröhne, zuckenden Lichtern und Dauerlächeln war er dankbar für die dämmrige Stille, die Straßenlaternen und menschenleere Straßen zu bieten hatten. Letzte Woche war er mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, weil er dachte, dass er danach so schnell wie möglich nach Hause in sein Bett wollte. Gestern und heute hatte er darauf verzichtet und war lediglich mit der Straßenbahn bis an den Stadtrand gefahren. Er brauchte den Marsch, auch wenn der rund fünf Kilometer lang war und ihn noch für eine ganze Stunde von seiner Matratze fernhalten würde. Es half ihm, wieder runterzukommen und zu sich zu finden. Dabei war es nicht anders als bekloppt zu nennen, dass er nach sechs Stunden Rennerei und mit schmerzenden Füßen freiwillig noch einen Nachtmarsch hinlegte. Na ja! Manchmal war er gerne bekloppt.

Dort vorne unter an der Straßenecke stand eine dunkle Gestalt, ähnlich vermummt wie er, und hantierte an einem Auto herum. Niklas ging auf Abstand, hielt den Kopf gesenkt und beschleunigte den Schritt.

„Entschuldigung?“ Eine kräftige, dunkle Männerstimme hielt ihn auf. „Haben Sie vielleicht einen Moment? Mir ist das Türschloss vereist und ich seh einfach nicht, was ich hier tue. Wenn Sie mir für eine Sekunde leuchten könnten?“

Niklas seufzte innerlich, dennoch erwiderte er: „Na klar.“ Selbstverständlich hatte er eine Sekunde Zeit, einem Mitmenschen behilflich zu sein. Er trat an das Auto heran und zückte sein Handy, um die Taschenlampen-App zu aktivieren.

Der Fremde packte ihn hart an den Armen. Niklas blieb Zeit für ein verblüfftes: „Hey!“ Dann flammte plötzlich gleisendes Licht in seinem Kopf auf und der Boden raste auf ihn zu.

Dunkelheit.

 

 

2.

 

Niklas

Kalt. Warum war es so wahnsinnig kalt? Und so dunkel … Er wusste nicht einmal, ob er die Augen offen oder geschlossen hatte. Niklas tastete um sich. Er lag nackt auf einer breiten Holzpritsche. Keine Decke. Kein Kissen. Keine Kleidung. Gar. Nichts. Er war definitiv nicht zu Hause. Auch ein Krankenhaus ließ sich spontan ausschließen, obwohl es ihm elend genug ging, dass er ärztliche Aufmerksamkeit begrüßen würde. Ihm war schlecht, in seinem Kopf pochte und hämmerte es wie wild, sein gesamter Körper schmerzte, ganz besonders der Nacken. Warum? Was war geschehen? Er konnte sich an nichts erinnern.

„Hallo?“, rief er matt. Seine Stimme klang furchtbar. „Hilfe. Ich brauche Hilfe.“ Sein jämmerliches Quieken erinnerte an eine Maus. Viel lauter war es vermutlich auch nicht. Wer sollte ihn da schon hören?

„Hallo!“ Er zuckte zusammen, als der energische Versuch eines Aufschreis die Schmerzen in seinem Schädel vervielfachten.

Niklas ließ sich zurück auf die Holzplatte sinken und krümmte sich so klein wie möglich zusammen. Es war bitterlich kalt. Wo war seine Jacke hin? Die war teuer gewesen. Mama hatte sie ihm gekauft. Und die Handschuhe hatte Becky für ihn gestrickt. Dieses Hobby hatte sie sich ausgerechnet in einem Feriencamp angeeignet, in dem sie vor vier Jahren den Sommer verbracht hatte. Seitdem beglückte sie jeden mit Socken, Handschuhen, Schals und Mützen. Mittlerweile sahen die Sachen schon ziemlich professionell aus. Er wäre sehr traurig, wenn er ihre Handschuhe verloren haben sollte. Die waren grün gewesen. Genau in der perfekten tannengrünen Schattierung, die er am liebsten mochte.

Eine Erinnerung tauchte auf. Er war durch die Dunkelheit gelaufen. Der Raureif hatte unter seinen Schritten geknirscht. Da war er auf dem Weg nach Hause gewesen. Nach seiner Schicht im Club. Dieser alte Mann hatte ihm viel zu viel Geld gegeben. War Niklas vielleicht überfallen worden? Wegen des Geldes? Er hatte es sowieso nicht haben wollen. Schließlich war er keine Hure, die man einfach kaufen konnte!

„Hallo?“, flüsterte er ein letztes Mal. Sein misshandelter Körper schauderte unentwegt vor Kälte. Er wollte nicht erfrieren! Eigentlich müsste er sich bewegen. Einen Fluchtweg finden. Bestimmt hatten die Diebe ihn in irgendeinem Keller eingesperrt, damit sie in Ruhe abhauen konnten. Das war insgesamt durchaus nett von ihnen. Draußen im Freien wäre er längst gestorben. Hier drinnen würde er sich wohl eher eine schlimme Erkältung einfangen. Womöglich sogar eine Lungenentzündung. Also war es blödsinnig von den Dieben, ihm seine Kleidung zu nehmen. Wobei er praktisch nie krank wurde. Becky hasste ihn dafür. Sie hustete und schniefte ständig und nahm jeden bösen Magen-Darm-Infekt mit, der in der Schule herumging.

Niklas stöhnte, als die Kopfschmerzen ohne Vorwarnung grell aufflammten. Er würde sich gleich bewegen und schauen, dass er aus diesem Keller entkommen konnte. Sobald die Schmerzen nachließen. In der Zwischenzeit könnte er durchaus die Augen schließen. Es gab sowieso nichts zu sehen.

 

 

Als er wieder zu sich kam, schien ein ganzes Menschenzeitalter vergangen zu sein. Und vielleicht war auch genau das geschehen. Er würde es nie erfahren, denn um ihn herum war nichts als Dunkelheit und Kälte. Vernichtender Durst stak in seiner Kehle und seine Blase stand kurz vor dem Platzen. Beides war quälend genug, um ihn von seiner Holzpritsche runterzutreiben, obwohl er sich nach wie vor elend fühlte. Sobald er unsicher auf den Füßen gelandet war, ging es erstaunlicherweise recht gut. Niklas tappte in winzigen Schritten voran, die Arme weit vorgestreckt, als wäre er Frankensteins Monster.

---ENDE DER LESEPROBE---