Das Mädchen im blauen Mantel - Monica Hesse - E-Book
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Das Mädchen im blauen Mantel E-Book

Monica Hesse

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Beschreibung

Schuld und Verrat, Mut und Widerstand

Amsterdam ist von den Nazis besetzt. Hanneke trauert dort um ihren Freund, der an der Front gefallen ist. Als kleinen Akt der Rebellion gegen die Deutschen beschafft sie Schwarzmarktgüter. So hält sie sich und ihre Eltern über Wasser. Doch eines Tages erhält sie einen sehr ungewöhnlichen Auftrag: Sie soll ein jüdisches Mädchen finden, das aus einem Geheimversteck verschwunden ist. Auf der Suche nach diesem Mädchen gerät Hanneke in ein Netz aus Lügen, Rätseln und Geheimnissen.

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Seitenzahl: 381

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Monica Hesse

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Girl in the Blue Coat« bei Little, Brown and Company in der Verlagsgruppe Hachette Book Group, Inc., New York. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Text © Monica Hesse 2016 Übersetzung: Cornelia Stoll Umschlaggestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie, unter Verwendung von Fotografien von Arcangel (Mark Owen, Gil Guelfucci), Shutterstock (Ph0neutria, moglimoglzahn) kk . Herstellung: CM Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-16807-0 V004www.cbj-verlag.de

Einleitung

 

Lange bevor Bas starb, stritten wir uns einmal spielerisch über die Frage, wessen Schuld es war, dass er sich in mich verliebt hatte. Du bist schuld, weil du so liebenswert bist, sagte er. Ich sagte, das sei falsch. Er mache es sich zu einfach, mir die Schuld zuzuschieben. Das sei unverantwortlich.

Ich erinnere mich noch genau an dieses Gespräch. Wir saßen im Wohnzimmer seiner Eltern und hörten Musik aus dem neuen Radio der Familie. Ich hörte ihn für eine Geometriearbeit ab, die wir beide ziemlich unwichtig fanden. Im Radio sang die amerikanische Sängerin Judy Garland »You made me love you«. Das war der Auslöser für unser Gespräch. Bas sagte, ich hätte ihn in mich verliebt gemacht. Ich neckte ihn, weil er nicht merken sollte, wie heftig mein Herz schlug, als er die Worte »verliebt« und »in dich« im selben Satz nannte.

Dann sagte er, ich sei auch schuld daran, dass er mich küssen wolle. Und ich sagte, es sei seine Schuld, wenn ich es zuließe. Dann kam sein großer Bruder ins Zimmer und sagte, es sei unsere Schuld, wenn ihm von unserem Gerede schlecht würde.

Erst später, auf dem Nachhauseweg – als ich noch nach Hause gehen konnte, ohne befürchten zu müssen, von Soldaten wegen Überschreitung der Sperrstunde angehalten oder verhaftet zu werden –, merkte ich, dass ich ihm gar nicht geantwortet hatte. Er hatte mir zum ersten Mal gesagt, dass er mich liebte, und ich hatte nicht daran gedacht, zu sagen, dass ich ihn auch liebte.

Das war ein Fehler. Hätte ich damals gewusst, was geschehen würde und was ich über Liebe und Krieg lernen sollte, hätte ich bestimmt nicht vergessen, es ihm zu sagen.

Das ist meine Schuld.

JANUAR 1943

KAPITEL 1

Dienstag

»Hallo, Kleine. Was hast du da? Ist das für mich?«

Ich halte an, weil der Soldat ein junges, hübsches Gesicht hat und weil in seiner Stimme ein Zwinkern mitschwingt und weil er mich garantiert zum Lachen brächte, würden wir nachmittags im Kino sitzen.

Das ist gelogen.

Ich halte an, weil der Soldat ein nützlicher Kontakt sein könnte, weil er vielleicht Dinge beschaffen kann, die nicht mehr zu kriegen sind, weil er garantiert haufenweise köstliche Schokoladentafeln und Strümpfe ohne Laufmaschen zu Hause hat.

Auch das ist nicht die Wahrheit.

Aber manchmal ist mir die Wahrheit egal, weil ich mir dann leichter einbilden kann, ich würde aus Vernunftgründen entscheiden. Weil ich mir dann leichter einbilden kann, ich hätte die Freiheit, zu entscheiden.

Ich halte an, weil der Soldat eine grüne Uniform trägt. Nur deshalb halte ich an. Weil seine Uniform grün ist, und weil das bedeutet, dass ich gar keine andere Wahl habe.

»Das sind viele Päckchen für so ein hübsches Mädchen.«

Er spricht mit leichtem Akzent, aber ich bin überrascht, wie gut sein Niederländisch ist. Viele von der Grünen Polizei sprechen überhaupt kein Niederländisch und ärgern sich, wenn wir kein Deutsch verstehen. Als hätten wir nichts Besseres zu tun gehabt, als uns unser ganzes Leben lang auf den Tag vorzubereiten, an dem sie unser Land besetzen würden.

Ich halte an, steige aber nicht vom Rad. »Die Anzahl der Päckchen stimmt genau.«

»Was hast du da drin?« Er beugt sich über die Lenkstange und wühlt seelenruhig in dem Korb, der daran befestigt ist.

»Sie wollen sie sehen? Sie wollen alle Päckchen aufmachen?«

Ich kichere und schlage meine Augen nieder, damit er nicht sieht, wie viel Routine in meiner Entgegnung steckt. Mein Kleid ist über die Knie gerutscht. Der Soldat bemerkt es. Das Kleid ist marineblau und sitzt viel zu eng und der Saum ist ausgefranst, es ist uralt, aus der Zeit vor dem Krieg. Ich verlagere ein wenig das Gewicht, der Saum rutscht noch höher, bis halb über meine Schenkel, die von einer Gänsehaut überzogen sind.

Die Begegnung wäre mir unangenehmer, wenn er älter wäre, wenn er Falten hätte oder schlechte Zähne oder einen Hängebauch. Es wäre unangenehmer, aber ich würde ebenso mit ihm flirten. Ich habe das schon unzählige Male gemacht.

Er beugt sich weiter vor. Hinter ihm liegt die trübe, nach Fisch stinkende Herrengracht. Ich könnte ihn in den Kanal stoßen und auf meinem klapperigen Gebrauchtfahrrad davonfahren und wäre schon halb zu Hause, bevor er wieder herausgekraxelt wäre. Ich mache ein Spiel daraus, mir so etwas auszumalen, wenn ich von einem Grünen Polizisten angehalten werde. Wie kann ich dich bestrafen, und wie weit komme ich, bevor du mich kriegst?

»Das hier ist ein Buch für meine Mutter.« Ich zeige auf ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen. »Und das sind die Kartoffeln fürs Abendessen. Und das ist der Pullover, den ich vom Flicken geholt habe.«

»Hoe heet je?« Er will wissen, wie ich heiße, und er fragt es auf eine lässige, beiläufige Art – so wie ein junger Draufgänger auf einem Fest ein unerfahrenes Mädchen ansprechen würde. Das ist gut, denn es ist besser, er interessiert sich für mich als für die Päckchen in meinem Fahrradkorb.

»Hanneke Bakker.« Ich würde ihn lieber anlügen, aber da wir jetzt alle Ausweispapiere dabeihaben müssen, wäre das zwecklos. »Und wie heißen Sie, Soldat?«

Er reckt seine Brust, als ich ihn mit »Soldat« anspreche. Die Jungen unter ihnen sind noch verliebt in ihre Uniform. Ein Goldkettchen blitzt an seinem Hals auf.

»Und was haben Sie da für einen Anhänger?«, frage ich.

Sein Lächeln stockt, und er greift hastig an die Kette, die von seinem Kragen halb verdeckt wird. An der Kette hängt ein goldenes, herzförmiges Medaillon. Wahrscheinlich mit der Fotografie eines rotbackigen deutschen Mädels, das ihm in Berlin die Treue geschworen hat. Es war ein Risiko, ihn danach zu fragen, aber wenn ich richtig getippt habe, funktioniert es immer.

»Ist das eine Fotografie Ihrer Mutter? Sie muss Sie abgöttisch lieben, wenn sie Ihnen so eine hübsche Kette geschenkt hat.«

Das Gesicht des Soldaten läuft rot an und er stopft die Kette wieder unter seinen gestärkten Kragen.

»Oder von Ihrer Schwester?«, frage ich weiter. »Oder Ihrem Schoßhündchen?« Es ist eine Gratwanderung, genau das richtige Maß an Naivität zu treffen. Es muss so unschuldig klingen, dass er keinen Grund sieht, mir böse zu sein, aber gleichzeitig so abweisend, dass er mich lieber loswerden will, als mich wegen der Päckchen zu verhören. »Ich habe Sie noch nie gesehen. Sind Sie jeden Tag hier auf Posten?«, frage ich.

»Ich habe keine Zeit für dumme Mädchen wie dich. Geh nach Hause, Hanneke.«

Ich strample davon, die Lenker zittern kaum merklich. Ich habe nicht gelogen. Die oberen drei Päckchen enthalten tatsächlich ein Buch, einen Pullover und ein paar Kartoffeln. Doch unter den Kartoffeln liegen Würste im Gegenwert von vier Lebensmittelmarken, sie gehörten einem Verstorbenen. Und darunter sind Lippenstifte und Salben, ebenfalls aus der Ration eines Toten, und darunter Zigaretten und Alkohol, von dem Geld gekauft, das mir mein Chef, Herr Kreuk, für diesen Zweck heute Morgen ausgehändigt hat. Nichts davon gehört mir.

Die meisten Leute würden sagen, ich bin Schwarzmarkthändlerin und tausche illegal Waren. Ich bezeichne mich aber lieber als »Finderin«. Ich suche und finde Sachen. Ich finde eine Extraration Kartoffeln, Fleisch und Speck. Am Anfang fand ich Zucker oder Schokolade, aber das ist in letzter Zeit schwierig geworden, das passiert nur noch ab und zu. Ich finde Tee. Ich finde Speck. Wegen Leuten wie mir bleiben die reichen Holländer dick und rund. Ich finde Sachen, auf die man hier schon lange verzichten muss, außer man weiß, wo man suchen muss.

Meine letzte Frage, ob diese Straße sein neuer Posten ist, hat er nicht beantwortet – schade. Wenn er nämlich jetzt immer hier steht, muss ich überlegen, ob ich nett zu ihm bin oder lieber meine Route ändere.

Meine erste Station an diesem Morgen ist Fräulein Akkerman, die mit ihren Großeltern in einem alten Haus beim Museum wohnt. Fräulein Akkerman bekommt die Salben und den Lippenstift. Letzte Woche war es Parfüm. Ich kenne wenige Frauen, denen solche Dinge noch wichtig sind, aber sie hat mir einmal erzählt, sie hofft, dass ihr Freund ihr vor ihrem nächsten Geburtstag einen Antrag macht. Menschen geben für abwegigere Gründe Geld aus.

Sie öffnet mir die Tür mit aufgesteckten, noch feuchten Haaren. Wahrscheinlich ist sie heute Abend mit Theo verabredet.

»Hanneke! Komm herein, ich hole nur schnell mein Portemonnaie.« Sie findet immer einen Grund, mich hereinzubitten. Ich glaube, es ist ihr langweilig den ganzen Tag allein mit den Großeltern, die immer so laut sprechen und nach Kohlsuppe riechen.

Im Haus ist es muffig und düster. Der Großvater von Fräulein Akkerman sitzt in der angrenzenden Küche am Frühstückstisch.

»Wer ist an der Tür?«, brüllt er.

»Eine Lieferung, Opa«, ruft Fräulein Akkerman zurück.

»Wer?«

»Für mich.« Sie dreht sich wieder zu mir um und senkt ihre Stimme. »Hanneke, du musst mir helfen. Heute Abend kommt Theo. Er will meine Großeltern fragen, ob ich bei ihm einziehen darf. Ich weiß noch nicht, was ich anziehen soll. Bleib, wo du bist, ich zeige dir, welche Kleider zur Auswahl stehen.«

Wieso sollte ein Kleid ihre Großeltern dazu bewegen können, damit einverstanden zu sein, dass sie vor der Ehe mit ihrem Freund zusammenzieht? Andererseits wäre dies nicht das erste Mal, dass ein junges Paar in diesem Krieg auf die Tradition pfeift.

Als Fräulein Akkerman wieder in die Diele kommt, heuchle ich großes Interesse an ihren Kleidern, obwohl ich in Wirklichkeit die Wanduhr im Auge habe. Ich habe keine Zeit, mit meinen Kunden privat zu verkehren. Nachdem ich ihr zu dem grauen Kleid geraten habe, zeige ich auf das Päckchen, das ich schon die ganze Zeit in der Hand halte. »Das ist für Sie. Würden Sie bitte nachsehen, ob alles richtig ist?«

»Bestimmt ist alles richtig. Möchtest du zum Kaffee bleiben?«

Ich frage sie nicht, ob es echter Kaffee ist. Ihre einzige Chance, an echten Kaffee zu kommen, wäre über mich, und da ich ihr keinen gebracht habe, meint sie mit Kaffee gemahlene Eicheln oder Wurzeln. Ersatzkaffee.

Der andere Grund, warum ich nicht bleibe, ist derselbe, aus dem ich ihrer wiederholten Aufforderung, sie »Irene« zu nennen, nicht nachkomme. Ich möchte nicht, dass sie unsere Beziehung mit Freundschaft verwechselt. Ich möchte nicht, dass sie glaubt, es würde nichts ausmachen, wenn sie irgendwann einmal nicht zahlen kann.

»Ich kann nicht. Ich muss vor dem Mittagessen noch eine andere Lieferung erledigen.«

»Wirklich? Du könntest doch hier essen – ich mache das Essen sowieso gleich fertig – und dann könnten wir meine Frisur für heute Abend überlegen.«

Ich habe eine eigenartige Beziehung zu meinen Kunden. Sie glauben, wir seien Kameraden. Sie glauben, wir seien durch unser Geheimnis, durch unsere gemeinsame illegale Aktion miteinander verbunden. »Ich esse immer mit meinen Eltern zu Mittag.«

»Natürlich, Hanneke.« Sie ist verlegen, weil sie mich so gedrängt hat. »Dann bis zum nächsten Mal.«

Draußen ist es trüb und bedeckt, Winter in Amsterdam. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die engen, verwinkelten Straßen. Amsterdam ist eine Stadt aus Kanälen. Holland liegt sehr tief, sogar unter dem Meeresspiegel. Die Bauern, die das Land vor Jahrhunderten urbar machten, schufen ein ausgedehntes System von Wasserwegen, damit die Bevölkerung nicht in der Nordsee untergeht. Mein alter Geschichtslehrer hat zu diesem Teil unserer Vergangenheit immer einen beliebten Spruch zitiert: »Gott hat die Welt erschaffen, aber die Holländer haben die Niederlande erschaffen.« Er sagte das, als ob wir stolz darauf sein könnten, für mich drückte dieser Spruch aber auch eine Warnung aus: »Verlasse dich nicht darauf, dass jemand uns retten wird. Wir sind ganz auf uns gestellt.«

Zu Beginn der Besatzungszeit vor zweieinhalb Jahren bombardierten die Deutschen siebenundfünfzig Kilometer weiter südlich die Stadt Rotterdam, töteten neunhundert Zivilisten und zerstörten große Teile der Stadt. Zwei Tage danach marschierten die Deutschen in Amsterdam ein. Wir müssen nun mit ihrer Anwesenheit leben, aber wir konnten unsere Stadt vor der Zerstörung bewahren. Das war ein schlechter Handel – wie alles heutzutage, außer man weiß – wie ich –, wie man Gewinn daraus schlägt.

Meine nächste Kundin ist Frau Janssen. Sie wohnt nicht weit in einem großen blauen Haus, in dem sie mit Mann und drei Söhnen gelebt hat, bis ein Sohn nach London zog, ein anderer nach Amerika auswanderte und der dritte, der jüngste, an die Front ging, wo zweitausend holländische Soldaten getötet wurden, die vergeblich versuchten, unsere Grenzen zu schützen. Holland fiel innerhalb von fünf Tagen. Wir sprechen nicht mehr viel über Jan.

Ich frage mich aber, ob er während des Einmarschs in Bas’ Nähe war.

Dies und vieles andere frage ich mich, weil ich die letzten Minuten des Jungen, den ich liebte, rekonstruieren möchte. War er bei Bas oder starb Bas allein?

Der Mann von Frau Janssen verschwand im vergangenen Monat, kurz bevor sie meine Kundin wurde. Ich habe sie nie nach ihm gefragt. Vielleicht hatte er dem Verzet, dem Widerstand, angehört oder er war gerade am falschen Ort zur falschen Zeit gewesen oder er war gar nicht tot, sondern trank Tee mit seinem ältesten Sohn in England, egal, das geht mich nichts an. Ich habe Frau Janssen noch nicht viel verkauft. Ihren Jan kannte ich ein wenig. Er war ein Nachzüglerkind, das zwanzig Jahre nach seinen großen Brüdern zur Welt kam, da waren die Janssens schon alt und grau. Jan war ein netter Junge.

Hier und jetzt entscheide ich, dass Jan in Bas’ Nähe war, als die Deutschen unser Land überfielen. Hier und jetzt bin ich überzeugt, dass Bas nicht einsam starb. Solche optimistischen Gedanken erlaube ich mir fast nie.

Frau Janssen erwartet mich schon unter der Tür. Das ärgert mich, denn ein deutscher Soldat, der nach verdächtigen Dingen Ausschau halten soll, fände es bestimmt komisch, wenn eine alte Frau auf ein fremdes Mädchen mit voll bepacktem Fahrrad wartet.

»Guten Morgen, Frau Janssen. Sie müssen nicht hier draußen auf mich warten. Wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut!«, ruft sie, als lese sie einen Text ab, und fasst nervös an eine Locke, die sich aus ihrem Dutt gelöst hat. Sie trägt immer einen Dutt und die Brille rutscht ihr immer auf die Nasespitze. Ihre Kleider erinnern mich an einen Vorhang oder ein Sofa. »Komm doch herein!«

»Ich konnte nicht so viele Würste beschaffen, wie Sie bestellt haben, aber ein paar habe ich bekommen«, informiere ich sie, nachdem ich mein Fahrrad abgestellt und die Tür hinter mir geschlossen habe. Sie geht langsam vor mir her. Seit einiger Zeit benutzt sie einen Gehstock und verlässt kaum noch das Haus. Sie hat mir erzählt, dass sie den Stock hat, seitdem Jan gestorben ist. Ich weiß nicht, ob sie ein körperliches Leiden hat oder ob der Kummer sie so gebrochen hat.

Das Wohnzimmer sieht geräumiger aus als sonst, und ich brauche eine Weile, bis ich draufkomme, was anders ist. Normalerweise steht zwischen dem Geschirrschrank und dem Sessel ein Ausklappbett. Es sieht aus wie ein Bücherschrank, aber wenn Gäste da sind, kann es zum Schlafen ausgeklappt werden. Ich vermute, Herr Janssen hat es gebaut, wie alles in diesem Haus. Mama und ich sind früher oft an seinem Laden vorbeigegangen und haben die ausgestellten Möbel im Schaufenster bewundert, aber wir konnten uns nie so etwas leisten. Ich wundere mich, wo das Klappbett ist. Wenn Frau Janssen so bald nach dem Verschwinden ihres Mannes das Bett verkauft hat, muss sie Geldsorgen haben, aber das geht mich nichts an, solange sie mich bezahlen kann.

»Kaffee, Hanneke?« Frau Janssen verschwindet in der Küche, ich folge ihr. Ich möchte ihre Einladung zum Kaffee eigentlich ausschlagen, aber sie hat bereits zwei Tassen gedeckt, von ihrem guten Geschirr, dem berühmten blau-weißen Delfter Porzellan.

»Ich habe die Wurst dabei, wenn Sie wollen –«

»Später«, unterbricht sie mich. »Zuerst wollen wir Kaffee trinken und eine Stroopwafel essen und uns unterhalten.«

Neben ihr steht eine staubbedeckte Dose, der ein erdiger Duft entströmt. Echte Kaffeebohnen. Ich frage mich, wie lange sie sie schon aufgespart hat. Auch die Stroopwafelen. Die Leute kaufen sich für ihre Lebensmittelmarken keine Süßigkeiten, sondern Brot. Und sie verköstigen damit auch keine Liefermädchen vom Schwarzmarkt. Doch Frau Janssen schenkt mir Kaffee in die Porzellantasse und deckt sie mit einer Stroopwafel ab, sodass die Doppelwaffel im Kaffeedampf langsam weich wird und der Sirup an den Seiten herausquillt.

»Setz dich, Hanneke.«

»Ich habe keinen Hunger«, sage ich, obwohl mich das Knurren meines Magens Lügen straft.

Ich habe Hunger, aber diese Stroopwafelen machen mich nervös. Auch die Art, wie Frau Janssen mich zum Sitzen drängt, und überhaupt das Ungewöhnliche dieser Situation. Hat sie die Grüne Polizei verständigt und ihnen einen Schwarzmarkthändler versprochen? Eine Frau, die so verzweifelt ist, dass sie das Klappbett ihres Mannes verkauft, ist vielleicht zu allem fähig.

»Nur eine Minute?«, bittet sie.

»Tut mir leid, aber ich habe noch jede Menge zu tun.«

Sie betrachtet den wunderschön gedeckten Tisch. »Jan, mein Jüngster. Das hat er am liebsten gegessen. Ich habe immer welche da gehabt, wenn er von der Schule kam. Ihr wart befreundet?« Sie lächelt mich voller Hoffnung an.

Ich seufze. Sie ist nicht gefährlich, sie ist nur einsam. Sie vermisst ihren Sohn, und sie möchte eine ehemalige Klassenkameradin mit der Süßigkeit verwöhnen, die er immer nach der Schule bekommen hatte. Das ist ganz gegen meine Regeln und ihre flehende Stimme ist mir unangenehm. Aber draußen ist es kalt und der Kaffee ist heiß, und obwohl ich Frau Janssen von meiner vielen Arbeit erzählt habe, habe ich noch ein Stündchen Zeit, bevor meine Eltern mich zum Mittagsessen erwarten. Ich lege das Päckchen mit der Wurst auf den Tisch, streiche mir die Haare glatt und versuche, mich daran zu erinnern, wie man sich bei einer Einladung benimmt. Früher habe ich das gewusst. Wenn ich mit Bas zusammen lernte, schenkte seine Mutter mir in der Küche immer heißen Kakao ein und fand ständig einen Anlass, nach dem Rechten zu sehen, damit wir uns nicht küssten.

»Ich habe schon lang keine Stroopwafel mehr gegessen«, sage ich schließlich, meine eingerosteten Konversationskenntnisse erprobend. »Mein Lieblingsgebäck war immer Banketstaaf.«

»Mit Mandelfüllung?«

»Hmm.«

Der Kaffee ist heiß und stark, ein wohltuendes Betäubungsmittel. Er verbrennt meine Kehle, aber ich trinke und trinke und merke erst, wie viel ich getrunken habe, als ich die Tasse wieder abstelle und sehe, dass sie halb leer ist. Frau Janssen gießt sie sofort wieder voll.

»Der Kaffee ist gut«, sage ich.

»Ich brauche deine Hilfe.«

Aha. Der Grund der Kaffeeeinladung.

Sie schenkt mir etwas und möchte jetzt eine Gegenleistung. Sie hätte mir keinen Honig ums Maul schmieren müssen. Ich arbeite für Geld, nicht für Freundlichkeit.

»Ich brauche deine Hilfe, um etwas zu finden.«

»Was brauchen Sie? Mehr Fleisch? Oder Kerosin?«

»Ich brauche deine Hilfe, um jemanden zu finden.«

Die Tasse bleibt auf dem halben Weg zu meinem Mund stehen, und einen Augenblick lang weiß ich nicht mehr, ob ich sie zum Mund führen oder absetzen wollte.

»Ich brauche deine Hilfe, um jemanden zu finden«, wiederholt sie, da ich immer noch nicht reagiere.

»Ich verstehe nicht.«

»Jemand, der mir viel bedeutet.« Sie sieht nach hinten, und ich folge ihrem Blick, der an einem Familienfoto neben der Tür zur Speisekammer hängen bleibt.

»Frau Janssen.« Ich suche nach den richtigen Worten, um ihr eine höfliche Antwort zu geben. Ihr Mann ist fort, das müsste ich ihr sagen. Ihr Sohn ist tot.Ihre anderen Söhne werden nicht zurückkommen. Ich suche keine Gespenster. Ich besitze keine Bezugsscheine, die ein totes Kind ersetzen.

»Frau Janssen, ich suche keine Menschen. Ich suche Sachen. Lebensmittel, Kleidung.«

»Du musst jemanden für mich finden –«

»Einen Menschen. Das sagten Sie bereits. Aber wenn Sie jemanden suchen, müssen Sie zur Polizei gehen. Die sind zuständig für solche Sachen.«

»Ich komme damit zu dir.« Sie beugt sich vor. »Nicht zur Polizei. Ich brauche dich. Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«

In der Ferne läuten die Glocken der Westerkerk, es ist halb zwölf. Zeit für mich, aufzubrechen. »Ich muss jetzt gehen.« Ich schiebe meinen Stuhl nach hinten. »Meine Mutter wartet mit dem Mittagessen. Zahlen Sie jetzt für die Wurst oder wollen Sie bei Herrn Kreuk anschreiben lassen?«

Sie erhebt sich ebenfalls, begleitet mich aber nicht zur Tür, sondern packt meine Hand. »Nur einen Blick, Hanneke. Bitte. Nur einen Blick, bevor du gehst.«

Weil ich nicht so abgebrüht bin, als dass ich meine Hand dem Griff einer alten Frau entwinden könnte, folge ich ihr zur Speisekammer und bleibe pflichtbewusst vor dem Bild ihrer Söhne stehen. Sie stehen nebeneinander in einer Reihe, die gleichen großen Ohren, der gleiche kräftige Nacken. Aber Frau Janssen bleibt nicht vor der Fotografie stehen, sondern öffnet die Tür zur Speisekammer. »Hier entlang«, bedeutet sie mir.

Verdorie. Verdammt. Sie ist noch verrückter, als ich gedacht habe. Sollen wir zwischen ihren Einmachgläsern in der Dunkelheit sitzen und Kontakt mit den Toten aufnehmen? Vielleicht bewahrt sie hier seine Kleider auf, in Mottenkugeln verpackt.

Drinnen sieht es aus wie in jeder anderen Speisekammer: ein kleiner Raum mit Gewürzen und eingelegten Lebensmitteln in den Wandregalen, nur weniger als vor dem Krieg.

»Es tut mir leid, Frau Janssen, aber ich weiß nicht –«

»Warte.« Sie fasst an das eine Ende des Gewürzregals und schiebt einen kleinen Riegel zurück, den ich vorher nicht bemerkt habe.

»Was machen Sie da?«

»Warte kurz.« Sie macht an dem Riegel herum, und plötzlich bewegt sich das ganze Regal nach vorn und gibt den Blick auf einen hinter der Speisekammer verborgenen, kleinen Raum frei. Er ist schmal und lang, so hoch, dass man darin stehen kann, aber zu dunkel, um viel zu erkennen.

»Was ist das?«, flüstere ich.

»Das hat Hendrik für mich gebaut«, sagt sie. »Als die Kinder noch klein waren. Das Kämmerchen war aber zu nichts nutze, es war zu schmal und die Decke zu schräg. Deshalb bat ich ihn, einen Teil davon als Speisekammer abzutrennen. Den hinteren Teil wollte ich als Abstellraum nutzen.«

Meine Augen gewöhnen sich allmählich an die Dunkelheit. Wir befinden uns in dem Hohlraum unterhalb der Treppe. Die Decke fällt schräg ab und endet im hinteren Teil knapp über dem Boden. Weiter vorne, ungefähr auf Augenhöhe, steht ein Regal mit einer halb niedergebrannten Kerze, einem Kamm und einer Kinozeitschrift, deren Titel ich wiedererkenne. Den größten Teil des Raums nimmt Frau Janssens verschwundenes Schrankbett ein. Es ist aufgeklappt, als erwarte es einen Gast. Auf dem Bett liegen eine Decke mit Sternenmuster und ein Kissen. Es gibt keine Fenster. Wenn die Geheimtür zu ist, fällt höchstens ein schmaler Lichtstrahl darunter durch.

»Siehst du?« Sie ergreift wieder meine Hand. »Deshalb kann ich nicht zur Polizei gehen. Die Polizei kann niemanden suchen, der offiziell gar nicht existiert.«

»Die verschwundene Person.«

»Das verschwundene Mädchen ist eine Jüdin«, sagt Frau Janssen. »Ich brauche deine Hilfe, um sie zu finden, bevor die Nazis sie finden.«

KAPITEL 2

Frau Janssen wartet immer noch auf meine Antwort. In dem dunklen Raum ist die Luft abgestanden und es riecht schwach nach alten Kartoffeln.

»Hanneke?«

»Sie haben jemanden versteckt?« Das Wort will kaum über meine Lippen. Sie verriegelt die Geheimtür, schließt die Tür zur Speisekammer und führt mich wieder an den Esstisch. Ich weiß nicht, was größer ist, mein Schrecken oder meine Angst. Ich weiß, dass es so etwas gibt. Dass manche der verschwundenen Juden wie Winterwäsche in die Keller anderer Leute gepackt werden, um sie vor der Umsiedlung ins Arbeitslager zu bewahren. Aber das ist so gefährlich, dass niemand offen darüber sprechen würde.

Frau Janssen beantwortet meine Frage mit einem Nicken.

»Hier drin? Sie haben hier jemanden versteckt? Seit wann?«

»Wo soll ich anfangen?« Sie nimmt ihre Serviette und verdreht sie zwischen den Händen.

Ich will überhaupt nicht, dass sie anfängt. Vor zehn Minuten habe ich mir noch Sorgen gemacht, dass sie die Polizei rufen und mich verhaften lassen könnte. Jetzt weiß ich, dass sie diejenige ist, die verhaftet werden könnte. Auf das Verstecken eines Juden steht Gefängnis, eine kalte, feuchte Zelle in Scheveningen. Ich habe gehört, dass die Leute dort über Monate verschwinden, ohne eine Anhörung oder ein Verfahren. Die Strafe für den Onderduiker, die Person, die untergetaucht ist, ist die sofortige Deportation.

»Schon gut«, sage ich hastig. »Schon gut. Ich muss es gar nicht wissen. Ich gehe jetzt einfach.«

»Bitte nimm doch wieder Platz«, fleht sie. »Ich habe den ganzen Morgen auf dich gewartet.« Sie hält die Kaffeekanne hoch. »Noch etwas Kaffee? Du kannst haben, so viel du willst. Bitte setz dich. Wenn du mir nicht hilfst, muss ich jemand anderen finden.«

Ich bin hin- und hergerissen. Ich möchte ihren Bestechungskaffee nicht. Aber ich bleibe wie angewurzelt stehen. Bevor ich gehe, muss ich mehr von dieser Geschichte erfahren. Wenn Frau Janssen jemand anderen um Hilfe bittet, bringt sie sich und womöglich auch mich in Gefahr.

»Erzählen Sie, was geschehen ist«, sage ich endlich.

»Der Geschäftspartner meines Mannes war ein guter Mann«, beginnt Frau Janssen, und die Worte sprudeln nur so aus ihr hervor. »Herr Roodveldt, David. Er hat zehn Jahre lang mit Hendrik zusammengearbeitet. Er hatte eine Frau, sie hieß Rose, sie war sehr schüchtern – weil sie lispelte, war sie sehr gehemmt –, aber sie konnte wunderbar stricken. Die beiden hatten zwei Töchter. Lea, die verhätschelte jüngste, war gerade zwölf geworden. Und die ältere. Fünfzehn, unabhängig, immer mit ihren Freundinnen unterwegs. Mirjam.« Ihre Stimme stockt, als sie den Namen ausspricht. Sie schluckt, bevor sie weiterspricht.

»Die Roodveldts waren Juden. Keine praktizierenden Juden, deshalb dachten sie am Anfang, sie seien nicht in Gefahr. Was natürlich nicht so war. David erzählte Hendrik, sie hätten eine Lösung gefunden. Eine Bekannte auf dem Land würde sie bei sich aufnehmen. Das zerschlug sich aber, als die Frau ihnen aus Angst wieder absagte. Im Juli dann, nach der großen Razzia, als so viele Juden verhaftet wurden, kam David zu Hendrik und sagte, er brauche seine Unterstützung, um ein Versteck für sich und seine Familie zu finden.«

»Und Hendrik hat sie dann hierhergebracht?«

»Nein. Er wollte mich nicht in Gefahr bringen. Er brachte sie in seinen Möbelladen. Er baute für die Roodveldts eine Geheimkammer hinter einer eingezogenen Wand im Holzlager. Ich wusste nichts davon.«

»Sie wussten es nicht?« Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Eltern ein solches Geheimnis voreinander verbergen würden.

»Ich merkte, dass Hendrik sich häufiger in der Firma aufhielt. Ich dachte, er müsste länger arbeiten, weil David ihm nicht mehr helfen konnte. Ich dachte, die Roodveldts seien auf dem Land und in Sicherheit. Ich wusste nicht, dass alle hier waren, in dem Versteck.«

»Wann hat er es Ihnen erzählt?«

»Überhaupt nicht. Im vergangenen Monat – ich war allein zu Hause – hörte ich ein Klopfen an meiner Tür. Ein verzweifeltes Klopfen. Es war bereits Ausgangssperre. Ich dachte, Hendrik hätte seinen Schlüssel vergessen, aber als ich aufmachte, stand da ein Mädchen, ein bleiches Mädchen in einem blauen Mantel. Sie war so groß geworden. Ich hatte sie schon ein paar Jahre lang nicht mehr gesehen und hätte sie nicht erkannt, wenn sie sich nicht vorgestellt hätte. Sie erzählte mir, dass mein Mann sie versteckt hätte, aber dass sie jetzt ein neues, sicheres Versteck bräuchte. Sie sagte, alle anderen seien tot.«

»Mirjam Roodveldt.«

Frau Janssen nickt. »Sie zitterte vor Angst. Sie erzählte, dass die Nazis in der vergangenen Nacht in die Fabrik gekommen und schnurstracks ins Holzlager gegangen waren. Jemand hatte Hendrik denunziert, ein Angestellter oder ein Kunde. Hendrik wollte den Nazis das Versteck nicht zeigen. Er tat, als hätte er keine Ahnung, wovon sie sprachen. Dann bedrohten die Offiziere ihn. Und David hörte das und wollte helfen. Aber die Offiziere hatten Gewehre.«

Sie schluckt. »Als die Schießerei vorbei war, war Hendrik tot und David und Rose und Lea auch. Nur Mirjam konnte fliehen.«

Es muss ein furchtbares Chaos gewesen sein. Ich habe schon von Leuten gehört, die ins Gefängnis gesperrt und verschleppt wurden und nie mehr aufgetaucht sind. Aber vier Menschen, darunter eine Frau und ein Kind, kaltblütig erschossen?

»Wie konnte Mirjam entkommen?«, frage ich. Sie hatten alle anderen getötet. Wie konnte ein junges Mädchen vor bewaffneten Nazis fliehen?

»Die Toilette. Vorne im Laden gibt es eine Toilette. Die Roodveldts konnten sie benutzen, wenn der Laden geschlossen war. Mirjam war gerade dort, um sich bettfertig zu machen, als die Nazis kamen. Als sie die Schüsse hörte, rannte sie zur Ladentür hinaus und zum nächsten sicheren Ort, der ihr einfiel. Mein Haus. Das war vor drei Wochen. Bis gestern Abend habe ich sie hier versteckt.«

»Und was ist gestern Abend passiert?«

Frau Janssen greift in die Tasche ihrer Weste und zieht ein gefaltetes Blatt Papier hervor. »Ich habe alles aufgeschrieben, damit ich dir den genauen zeitlichen Ablauf erzählen kann.«

Sie fährt mit ihrem Zeigefinger über die erste Zeile. »Gestern um zwölf war sie noch hier, da habe ich ihr Brot und eine Ausgabe von Het Parool gebracht. Sie hat sich sehr für die Nachrichten aus dem Untergrund interessiert, hat sie immer wieder gelesen und sogar die Kleinanzeigen auswendig gelernt.«

»Und Sie wissen genau, dass es zwölf Uhr mittags war?«

»Ich habe die Glocken der Westerkerk gehört und draußen sind die Leute in ihre Mittagspause gegangen.« Sie schaut wieder auf das Papier, um weiter vorzulesen. »Um Viertel nach vier war sie noch hier, da ging ich zu ihr, um ihr zu sagen, dass Christoffel, mein Laufbursche, gleich etwas vorbeibringen würde und sie ganz still sein müsse. Sie war um halb sechs noch hier, da habe ich sie gefragt, ob sie Abendessen haben wolle, aber sie sagte, sie habe Kopfschmerzen und wolle sich gleich hinlegen. Kurz darauf kam meine Nachbarin Frau Veenstra vorbei und bat mich zu sich. Ihr Sohn Koos war nicht nach Hause gekommen und sie machte sich Sorgen. Ich war ungefähr eine Stunde bei ihr, dann kam Koos die Straße entlang. Sein Fahrrad war kaputt und er hatte es fünfundzwanzig Kilometer weit schieben müssen. Ich ging wieder nach Hause und rief Mirjam, weil ich sie fragen wollte, ob es ihr besser gehe. Sie antwortete nicht. Ich nahm an, dass sie eingeschlafen war. Nach einer Weile öffnete ich die Tür, um nachzusehen, ob ich etwas für sie tun könnte.«

»Sie war weg?«

»Verschwunden. Ihr Bett war leer. Ihr Mantel war weg. Ihre Schuhe waren weg. Sie war weg.«

»Wie spät war es da?«

»Ungefähr zehn. Während der Ausgangssperre. Irgendwann zwischen halb sechs, als sie sich hinlegen wollte, und zehn ist Mirjam verschwunden, und ich habe keine Erklärung dafür.«

Sie ist mit ihrer Geschichte zu Ende, faltet das Papier zusammen und möchte es wieder einstecken, aber dann gibt sie es mir. Neben dem Herd liegen Zündhölzer. Ich nehme eins, streiche es an und verbrenne die detektivischen Aufzeichnungen von Frau Janssen, bis nur noch ein Aschehäufchen übrig ist.

»Was machst du da?«, fragt sie.

»Was haben Sie sich gedacht? Sie wollen doch nicht einen schriftlichen Bericht über das Mädchen, das Sie illegal versteckt haben, aufbewahren?«

Sie massiert ihre Stirn. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich kenne mich mit so etwas nicht aus. Deshalb brauche ich deine Hilfe, Hanneke.«

Wieder läuten die Glocken der Westerkerk. Wieder ist eine Viertelstunde verstrichen. Vorher habe ich die Zeit als Ausrede gebraucht, aber jetzt wird es wirklich spät. Ich verschränke meine Arme über der Brust. »Sie waren eine Stunde bei der Nachbarin. Könnte Mirjam nicht in dieser Zeit hinausgeschlüpft sein?«

»Frau Veenstra wohnt genau gegenüber. Wir saßen auf den Stufen vor ihrem Haus, genau mit Blick auf meine Haustür, gestern war es ziemlich mild. Ich hätte Mirjam sehen müssen, wenn sie zur Haustür hinausgegangen wäre.«

»Gibt es auch eine Hintertür?« Ich sollte ihr mit solchen Fragen keine falschen Hoffnungen machen, da ich nicht vorhabe, ihr zu helfen. Aber die Situation, die sie geschildert hat, klingt wirklich sehr merkwürdig und ist kaum zu glauben. Ich habe den Eindruck, dass sie etwas durcheinanderbringt.

»Die Hintertür schließt nicht richtig – seit Jahren schon. Ich war deshalb oft böse auf Hendrik. Ein Möbeltischler, der nicht einmal Zeit findet, seine eigene Tür zu reparieren. Letztes Jahr hatte ich die Nase voll und habe selbst einen Riegel angebracht. Nachdem ich Mirjams Verschwinden entdeckte, habe ich sofort nachgesehen. Die Tür war immer noch verriegelt. Sie hätte nicht durch die Hintertür hinausgehen und die Tür anschließend wieder von innen verriegeln können.«

»Ein Fenster vielleicht?« Das erscheint auch mir unwahrscheinlich. In dieser wohlhabenden Wohngegend würden aus dem Fenster kletternde Mädchen auffallen.

»Nein, kein Fenster. Verstehst du, sie hatte keine Möglichkeit wegzugehen. Und auch keinen Grund. Dies war der letzte sichere Ort für sie. Aber sie kann auch nicht verraten worden sein, denn wenn die Nazis sie geholt hätten, hätten sie mich ebenfalls mitgenommen.«

Es muss eine logische Erklärung geben. Vielleicht hat sich Frau Janssen für ein paar Minuten ihrer Nachbarin zugewandt und nicht gesehen, wie das Mädchen weggegangen ist. Oder sie hat die Zeiten durcheinandergebracht, und das Mädchen ist gegangen, als Frau Janssen ein Nickerchen gemacht hat.

Es spielt eigentlich keine Rolle, ich kann ihr sowieso nicht helfen, egal wie traurig ihre Geschichte ist. Es ist zu gefährlich. Das Überleben geht vor. Das ist meine Devise. Nach dem Tod von Bas könnte das mein Lebensmotto werden. Das Überleben geht vor, Hauptsache, überleben. Früher war ich eher sorglos, aber man sieht, wohin das geführt hat. Jetzt fahre ich Schwarzmarktartikel aus, aber nur, weil ich damit mich und meine Familie durchbringen kann. Ich flirte mit deutschen Soldaten, aber nur, weil ich dadurch meine Haut rette. Ein verschwundenes Mädchen zu suchen, bringt mir überhaupt nichts.

Draußen geht quietschend die Haustür auf und die Stimme eines jungen Mannes ruft: »Hallo?« Weiter weg bellt ein Hund. Wer ist da? Die Gestapo? Die NSB? Wir hassen die Gestapo und die Grüne Polizei, am meisten aber hassen wir die Nationaal-Socialistische Beweging. Die holländischen Nazis, die ihr eigenes Volk verraten haben.

Frau Janssen reißt erschrocken die Augen auf, aber dann weiß sie, wem die Stimme gehört. »Christoffel, ich bin in der Küche«, ruft sie. »Ich habe ganz vergessen, dass er heute noch mal vorbeikommt«, flüstert sie mir zu.

»Nimm deine Tasse. Benimm dich ganz normal.«

Christoffel, der Laufbursche, hat blonde Locken und große blaue Augen und die empfindliche Haut eines Jungen, der sich noch nicht lange rasieren muss.

»Frau Janssen?« Er hält verlegen seine Kappe zwischen den Händen, es ist ihm unangenehm, dass er uns unterbrochen hat. »Ich komme wegen des Klappbetts. Um diese Zeit, haben Sie doch gesagt?«

»Ja, natürlich.« Sie will sich erheben, aber Christoffel gibt ihr ein Zeichen, dass sie sitzen bleiben soll.

»Ich schaffe das auch allein. Ich habe einen Karren dabei, und draußen wartet ein Freund, der mir hilft.« Er zeigt mit dem Kinn zum Fenster, wo ein großer, kräftiger Junge steht und zu uns hereinwinkt.

Als Christoffel wieder nach draußen gegangen ist, sieht Frau Janssen meine erschrockene Miene und beruhigt mich. »Nicht dieses Bett. Nicht das von Mirjam. Er holt das Bett aus Hendriks Büro. Ich betrete es kaum noch. Ich habe Christoffel gefragt, ob er einen Käufer dafür findet. Das Geld wollte ich nutzen, um Mirjam zu unterstützen.«

»Und jetzt?«

»Jetzt werde ich das Geld nutzen, um dich für deine Hilfe zu bezahlen.« Ich protestiere kopfschüttelnd, aber sie unterbricht mich. »Du musst sie finden, Hanneke. Ich werde meine großen Söhne vielleicht nie mehr wiedersehen. Mein jüngster Sohn ist tot, mein Mann ist gestorben, als er Mirjams Familie helfen wollte, und ihre Familie ist gestorben, als sie ihm helfen wollte. Ich habe jetzt niemanden mehr und sie auch nicht. Mirjam und ich müssen wie eine Familie füreinander da sein. Ich darf sie nicht verlieren. Bitte hilf mir.«

Das Quietschen von Christoffels Karren, auf den er und sein Freund das andere Schrankbett geschnallt haben, erspart mir eine Antwort. Es hat mehr Verzierungen als das Bett in der Speisekammer, das Holz ist glatt und glänzend und riecht schwach nach zitronigem Möbelöl. »Frau Janssen? Ich gehe jetzt«, sagt er.

»Warte«, sage ich zu ihm. »Frau Janssen, vielleicht müssen Sie das Bett jetzt doch nicht verkaufen. Schlafen Sie noch einmal eine Nacht darüber.« Auf diese Weise möchte ich ihr signalisieren, dass ich ihren Vorschlag nicht annehmen kann.

»Nein, ich verkaufe es«, sagt sie bestimmt. »Ich muss. Christoffel, was schulde ich dir für das Abholen?«

»Nichts, Frau Janssen, das habe ich gern gemacht.«

»Ich bestehe darauf.« Sie nimmt ihre Handtasche und zählt aus einem kleinen Geldbeutel Münzen auf den Tisch. »Oh je, ich dachte, ich hätte –«

»Das ist wirklich nicht nötig«, bekräftigt Christoffel. Er errötet und schaut mich hilfesuchend an.

»Frau Janssen«, sage ich leise, »Christoffel hat noch anderes zu erledigen. Warum lassen wir ihn nicht einfach gehen?«

Sie lässt von ihrem Geldbeutel ab und klappt ihn beschämt zu. Als Christoffel gegangen ist, sinkt sie auf ihren Stuhl. Sie sieht müde und alt aus. »Wirst du mir helfen?«, fragt sie.

Ich trinke den restlichen, kalten Kaffee. Was stellt sie sich vor, was ich tun kann? Ich wüsste nicht einmal, wo ich anfangen sollte. Selbst wenn Mirjam es fertiggebracht hatte, zu fliehen, wie weit würde ein fünfzehnjähriges Mädchen mit einem gelben Judenstern auf dem Mantel kommen? Ich brauche das Geld von Frau Janssen nicht, um zu wissen, was mit einem Mädchen wie Mirjam geschehen wird oder schon geschehen ist: Sie wird aufgegriffen und in ein Arbeitslager nach Deutschland oder Polen gebracht werden, die Art von Lager, aus der bisher noch nie jemand zurückgekommen ist. Aber wie ist sie überhaupt hier rausgekommen?

Es muss eine logische Erklärung dafür geben, denke ich wieder. Leute lösen sich nicht einfach in Luft auf.

Aber das ist eine Lüge. In dieser Besatzungszeit lösen sich jeden Tag Leute in Luft auf. Hunderte von Menschen, die aus ihren Wohnungen vertrieben werden.

Sie kann unmöglich erwarten, dass ich einen von ihnen finde.

KAPITEL 3

Mamas Lippen sind ein dünner, harter Strich, als ich nach Hause komme. »Du kommst spät«, begrüßt sie mich unter der Tür. Wahrscheinlich hat sie am Fenster gelauert.

»Es ist zwölf Uhr fünfzehn.«

»Es ist zwölf Uhr neunzehn.«

»Vier Minuten, Mama!«

Unsere Wohnung riecht nach gebratenen Pastinaken mit Würstchen, die habe ich gestern mitgebracht. Die Wohnung ist klein. Eine Stube, eine Küche, eine Toilette und zwei winzige Schlafzimmer im zweiten Stock eines fünfstöckigen Mietshauses. Gemütlich.

Papa sitzt in seinem Sessel und liest ein Buch. Er benutzt dabei den selbst gebauten Buchständer, der das Buch flach drückt, wenn er mit seinem guten Arm die Seiten umblättert. Sein verkrüppelter rechter Arm liegt auf seinem Schoß.

»Hannie.« Er spricht mich mit meinem Kosenamen an, als ich mich zu ihm hinunterbeuge und ihm einen Kuss gebe.

Die Verletzung stammt von vor meiner Geburt, im Ersten Weltkrieg. Er lebte damals auf der flandrischen Seite des Dodendraat, des Grenzhochspannungszauns, der das von den Deutschen besetzte Belgien von Holland trennte. Meine Mutter lebte auf der holländischen Seite. Er wollte über den Zaun springen, um sie zu beeindrucken. Ich wollte ihm diesen Teil der Geschichte nicht glauben, als er sie mir das erste Mal erzählte. Doch dann zeigte er mir ein Buch. Die Menschen hatten den Todeszaun auf alle möglichen und unmöglichen Arten überwunden, sie hatten große Leitern benutzt oder ihre Kleidung mit Porzellanplättchen besetzt, um sich vor der Elektrizität zu schützen. Als er damals hinüberwollte, streifte sein Schuh den Zaun und er stürzte zu Boden. Und so ist mein Vater nach Holland emigriert.

Seine ganze rechte Körperseite bis zu den Füßen und ein Teil seines Gesichts sind seitdem gelähmt und deshalb spricht er auch so langsam und schleppend. Als Kind war mir das peinlich, aber jetzt fällt es mir kaum noch auf.

Papa zieht mich sanft näher und flüstert mir ins Ohr. »Deine Mutter hat Angst, weil sie Herrn Bierman holen wollten. Sei lieb zu ihr.«

Herr Bierman betreibt den Gemüseladen auf der anderen Straßenseite. Juden ist es schon seit Monaten nicht mehr erlaubt, Geschäfte zu betreiben, aber da seine Frau Christin ist, hat er ihr den Laden überschrieben. Sie haben keine Kinder, nur eine kokette weiße Katze, die Schnee heißt.

»Wer wollte ihn holen?«, frage ich. »Die NSB – Bullen?«

Papa legt einen Finger an die Lippen und zeigt zur Zimmerdecke. »Psst.« Der Nachbar über uns ist NSB – Mitglied. Seine Frau hat mir früher Zöpfe geflochten und an Sinterklaas Spekulatius für mich gebacken. Hinter mir klappert Mama mit dem Tablett und deckt unseren kleinen Esstisch. Ich küsse Papa auf die andere Wange und setze mich an den Tisch.

»Warum kommst du so spät, Hannie?«, fragt Mama.

»Damit du endlich lernst, dich nicht wegen vier Minuten Verspätung aufzuregen.«

»Aber du kommst nie zu spät.«

Ich bin auch noch nie gebeten worden, ein verschwundenes Mädchen zu suchen, denke ich. Unwillkürlich sehe ich Frau Janssen vor mir, die besorgt vor der leeren Speisekammer steht.

Mama schöpft einen Löffel Pastinaken auf meinen Teller. Unser Essen ist besser als das vieler anderer Leute. Würden Papa und Mama mehr aus dem Haus gehen, würden sie wahrscheinlich fragen, wie und woher ich so viele Lebensmittel bekomme.

»Es ist nichts passiert.« Die Pfefferwurst wärmt mich von innen. »Ein deutscher Polizist hat mich angehalten.« Das ist die Wahrheit. Ich habe nur nicht erwähnt, dass das schon morgens war, bevor ich von Mirjam erfahren habe.

»Du hast ihn hoffentlich nicht provoziert«, sagt Mama spitz. Ich bin nicht die Einzige in der Familie, die der Krieg verändert hat. Früher hat Mama in unserer Wohnung Musik unterrichtet und aus unseren Fenstern klangen Akkorde von Chopin. Heute hat niemand mehr Geld für Klavierstunden, auch nicht für Übersetzungen, was Papa früher gemacht hat.

»Er hat Holländisch gesprochen«, erzähle ich, um auf ihre Frage nicht eingehen zu müssen. »Fast fließend.«

Papa schnaubt. »Nach dem letzten Krieg haben wir sie gemästet, und jetzt sind sie zurückgekommen, um uns auszuhungern.« Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Deutschen so arm, dass viele Familien ihre Kinder nach Holland schickten, um sie mit holländischem Käse und holländischer Milch aufpäppeln zu lassen. Ohne uns wären sie gestorben. Jetzt sind die Kinder groß geworden und manche von ihnen sind als Soldaten wiedergekommen.

»Wann musst du wieder zur Arbeit?«, fragt Mutter.

»Zwanzig Minuten habe ich noch Zeit.«

Offiziell arbeite ich als Empfangsdame für einen Bestattungsunternehmer. Das ist nicht mein Wunschberuf, aber ich hatte nicht viele Möglichkeiten. Niemand wollte ein junges Mädchen ohne Arbeitserfahrung oder Schreibmaschinenkenntnisse einstellen. Auch Herr Kreuk hätte mich nicht eingestellt, hätte ich ihm eine Wahl gelassen. Ich war schon von sieben oder acht Geschäften abgelehnt worden, als ich das Schild »Aushilfe gesucht« in seinem Schaufenster sah. Ich weigerte mich zu gehen, bis er mir die Stelle gab.

Herr Kreuk ist ein guter Mensch. Er bezahlt mich anständig. Und er hat mir die andere, geheime Arbeit gegeben, die sich noch mehr lohnt.

Die Deutschen geben in Holland, wahrscheinlich auch im übrigen Europa, monatliche Bezugsscheine aus, die Marken für Lebensmittel, Kleidung, Benzin und Gummi enthalten. Aus der Zeitung erfahren die Menschen, was sie dafür kaufen können: fünfhundert Gramm Zucker, zwei Liter Milch, zwei Kilo Kartoffeln. An diesem Punkt setzt die Arbeit von Herrn Kreuk ein. Herr Kreuk verwendet die Bezugsscheine von Verstorbenen, um Vorräte anzuhäufen, die er dann zu einem höheren Preis weiterverkauft. Jedenfalls glaube ich, dass es so funktioniert. Ich stelle keine Fragen. Ich weiß nur, dass Herr Kreuk vor ein paar Monaten mit einem Stapel Bezugsscheine zu mir kam und mich bat, für ihn einige Einkäufe zu erledigen.

Ich hatte zuerst fürchterliche Angst, aber noch mehr Angst hatte ich, meine Arbeit zu verlieren. Nach einer Weile machte ich das richtig gut und nach noch einer Weile kam ich mir sogar edel dabei vor. Die Nazis haben uns die Marken überhaupt erst aufgezwungen, und wenn ich dieses System untergrabe, untergrabe ich auch die Nazis. Überteuerter Schinken, das ist meine einzige Möglichkeit, mich an denen zu rächen, die Bas getötet haben, aber an dieser kleinen Befriedigung halte ich fest.

Was wir machen, ist eigentlich illegal. Kriegsgewinnler werden solche Leute genannt. Aber Herr Kreuk ist nicht reich und ich schon gar nicht. Ich finde, wir versuchen nur, in einem Land, in dem jeder Sinn verloren gegangen ist, ein sinnloses System neu zu organisieren.

»Hannie.« Anscheinend hat Mama etwas zu mir gesagt. »Ich habe dich gefragt, was du zu dem Grünen Polizisten gesagt hast.«

Macht ihr das immer noch Sorgen? Wenn sie wüsste, wie oft ich jede Woche auf Soldaten treffe. »Ich habe ihm gesagt, dass er aus meinem Land verschwinden und nie mehr wiederkommen soll. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass er sich lieber an Tulpenzwiebeln austoben soll.«

Mama schlägt entsetzt die Hand vor den Mund. »Hannie!«

Ich seufze. »Ich habe gemacht, was ich immer mache, Mama. Ich habe mich, so schnell es ging, aus dem Staub gemacht.«

Aber Mama achtet nicht mehr auf mich. »Johan.« Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern und sie packt Vater an seinem guten Arm. »Johan, sie sind wieder da. Hör doch.«

Ich höre es auch. Auf der anderen Straßenseite ertönt Geschrei. Ich renne zum Fenster und schaue hinter dem Vorhang hinaus. »Hannie«, warnt Mama, aber als ich nicht reagiere, gibt sie es auf. Drei NSB – Männer in pechschwarzer Uniform donnern an die Haustür der Biermans und befehlen Herrn Bierman herauszukommen.

Seine Frau kommt an die Tür. Ihre Hände zittern so stark, dass ich es sogar aus der Entfernung sehen kann.

»Ihr Mann sollte sich letzte Woche zur Deportation melden«, sagt einer der Männer, dem Aussehen nach der älteste. Unsere Straße ist ziemlich schmal und er spricht nicht leise. Ich verstehe fast jedes Wort.

»Er – er ist nicht da«, sagt Frau Bierman. »Ich weiß nicht, wo er ist. Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen.«

»Frau Bierman.«

»Ich schwöre. Ich habe ihn nicht gesehen. Ich bin vom Einkaufen gekommen und er war weg. Ich habe das ganze Haus nach ihm abgesucht.«

»Weg da«, befiehlt der Offizier, und als sie nicht reagiert, schiebt er sie zur Seite. Mama ist neben mich getreten. Sie packt mich so fest am Arm, dass ich ihre Fingernägel durch meinen Pullover spüre. Bitte, lass Herrn Bierman wirklich fort sein, flehe ich. Bitte lass ihn fortgegangen sein, als Frau Bierman einkaufen war.

Mama bewegt stumm ihre Lippen, ich glaube, sie betet, obwohl wir das schon lange nicht mehr machen. Die Soldaten tauchen wieder an der Haustür auf, sie zerren einen Mann mit sich. Es ist Herr Bierman, er blutet aus der Nase und sein rechtes Auge ist aufgeschlagen und geschwollen.

»Gute Neuigkeiten, Frau Bierman«, sagt der Soldat. »Wir haben Ihren Mann doch noch gefunden.«

»Lotte!«, ruft Herr Bierman, als die Soldaten ihn auf einen wartenden Laster stoßen.

»Pieter«, sagt sie.

»Sie sollte ich auch gleich mitnehmen, dann können Sie ihm Gesellschaft leisten«, sagt der Offizier. »Aber ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich eine brave Christin bestrafe, die so dumm ist, dass sie nicht einmal weiß, wo ihr Mann steckt.« Er dreht mir den Rücken zu, ich sehe sein Gesicht nicht, aber ich höre den Hohn in seiner Stimme.

»Lotte, es ist gut«, ruft Herr Bierman vom Lastwagen herab. »Ich bin bald wieder zu Hause.«

Sie weint immer noch nicht. Sie sieht ihn nur an und schüttelt den Kopf hin und her, als wollte sie sagen: Nein, nein, du wirst nicht bald wieder zu Hause sein.

Der Laster entfernt sich. Frau Bierman steht immer noch unter der Tür. Es gehört sich nicht, sie zu beobachten, aber ich kann meine Augen nicht von ihr abwenden. Auch Frau Bierman hat mir früher am Sinterklaas-Tag Geschenke gemacht. Und wenn ich in ihren Laden gekommen bin, durfte ich Erdbeeren naschen, auch wenn wir keine gekauft haben.

Mama reißt mich vom Fenster fort. Sie packt meinen Ärmel und zieht mich zum Tisch. »Iss auf«, sagt sie steif. »Das geht uns nichts an. Wir können nichts dagegen tun.«

Ich schüttele ihre Hand ab und möchte widersprechen, möchte sie daran erinnern, wie nett die Biermans immer gewesen sind. Aber sie hat recht. Ich kann nichts tun, um wiedergutzumachen, was gerade geschehen ist.

Wir beenden schweigend unsere Mahlzeit. Mama versucht ein paarmal, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber es will ihr nicht gelingen. Das Essen schmeckt nicht mehr. Als ich nichts mehr herunterbringe, entschuldige ich mich und sage, ich müsste noch ein paar Dinge erledigen, bevor ich wieder zur Arbeit gehe.

»Aber sei pünktlich. Das ist eine gute Arbeit«, mahnt Mama. Sie liebt meine Arbeit. Sie weiß, dass ich als Einzige in der Familie ein regelmäßiges Einkommen habe. »Gib Herrn Kreuk keinen Anlass, seine Entscheidung zu bereuen.«

»Das tut er nicht.«

Ich möchte nur eine Minute für mich sein, ohne meine Eltern, ohne meine Arbeit – eine Minute, in der ich die übrige Welt aussperren kann. In meinem Zimmer ziehe ich die Fensterläden zu und öffne die unterste Schublade meines Schreibtischs. Ich taste nach hinten und finde es: das verblichene Tagebuch, das ich zum Geburtstag geschenkt bekam, als ich neun wurde. Eine Woche lang schrieb ich brav hinein, schrieb über Freundinnen, die ich mochte, und über Lehrer, die gemein zu mir gewesen waren. Dann geriet es fünf Jahre lang in Vergessenheit, bis ich Bas kennenlernte und das Tagebuch zu einem Album umfunktionierte.

Hier ist das Schulfoto, das er mir schenkte und mich dabei beiläufig um ein Foto von mir bat. Hier ist der Zettel, den er mir heimlich in ein Schulbuch steckte, darauf hatte er geschrieben, dass mein grüner Pulli gut zu meinen Augen passe. Er hatte ihn mit B unterschrieben, und so hatte ich zum ersten Mal erfahren, dass er lieber Bas als Sebastian genannt werden wollte. Ein Spitzname aus dem mittleren Teil seines richtigen Namens, wie es bei holländischen Jungs üblich ist.