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Der internationale Nr. 1-Bestseller und Netflix-Erfolg – endlich auf Deutsch!
New York 1998. Während der Thanksgiving-Parade verschwindet die 3-jährige Kiera Templeton. Die Polizei findet keine Spur und stellt die Ermittlungen schließlich ein. Nur die Journalistin Miren Triggs sucht unermüdlich weiter, als alle anderen längst das Interesse an der Geschichte verloren haben. Fünf Jahre später, an Kieras 8. Geburtstag, taucht ein Video auf. Erst ist nur Schneegestöber zu sehen, dann erkennt man ein Zimmer. Ein Mädchen spielt mit einem Puppenhaus. Es ist eindeutig Kiera. Doch wo steckt sie? Jahr für Jahr folgt ein weiteres Video, das Kiera in dem Zimmer mit dem Puppenhaus zeigt – bis zu ihrem 15. Geburtstag. Diesmal ist das Zimmer leer …
Der erste Fall für Investigativjournalistin Miren Triggs – atemberaubende Spannung vom »Meister des spanischen Thrillers, der alle Rekorde bricht« (Forbes)
»Javier Castillo ist ohne Zweifel das große neue Phänomen in der europäischen Literatur.« Joël Dicker
»Der spanische Stephen King.« ABC
»Fesselt den Leser vom ersten Satz an.« El País
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2024
Wo ist Kiera Templeton? Seit der großen Thanksgiving-Parade in New York ist die Dreijährige spurlos verschwunden, und das ganze Land fiebert bei der Suche nach ihr mit. Doch die Polizei tappt im Dunklen und stellt die Ermittlungen schließlich ein. Kiera droht in Vergessenheit zu geraten. Nur die junge Journalistin Miren Triggs lässt nicht locker und recherchiert sämtliche Hintergründe des Falls. Fünf Jahre später, an Kieras achtem Geburtstag, erhält sie einen entscheidenden Hinweis: ein Video, auf dem ein Mädchen zu sehen ist, das mit einem Puppenhaus spielt. Ist das wirklich Kiera? Und wo steckt sie? Miren sucht fieberhaft weiter, muss jedoch mehrere Jahre warten, bis das nächste Video auftaucht. So geht es bis zu Kieras fünfzehntem Geburtstag. Wieder kommt ein Video, wieder zeigt es das Zimmer mit dem Puppenhaus. Doch Kiera ist nicht zu sehen …
Javier Castillo, geboren in Málaga, hat Wirtschaft und Management studiert und ist einer der meistverkauften spanischen Autoren. Seine Romane stehen regelmäßig an der Spitze der Bestsellerliste und erscheinen in über 60 Ländern weltweit. »Das Mädchen im Schnee«, sein bisher größter Erfolg, hat sich allein in Spanien über zwei Millionen Mal verkauft und wurde von Netflix verfilmt.
Javier Castillo
Thriller
Aus dem Spanischen
von Sybille Martin
Die spanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »La chica de nieve« bei Penguin Random House Grupo Editorial, S.A.U., Barcelona.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2024
Copyright © 2020 by Javier Castillo Pajares
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: © Buffy Searl / Trevillion Images; © FinePic®, München
Redaktion: Susanne Kiesow
LS · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-32237-3V001
www.goldmann-verlag.de
Für dich, Großmutter,
auch wenn du es nie liest,
kannst du es bestimmt spüren.
Und für dich, Mama,
weil du das Beispiel für alles bist,
was mich ausmacht.
Vielleicht gibt es
da draußen noch jemanden,
der nicht wissen will,
dass selbst die schönste Rose
Dornen hat.
New York
26. November 1998
Das Schlimmste geschieht häufig,
wenn du nicht darauf gefasst bist.
Grace wandte kurz den Blick von der majestätischen Thanksgiving-Parade ab, um zu ihrer Tochter hochzuschauen, die strahlend vor Glück auf den Schultern ihres Vaters saß. Sie sah, wie sie mit den Beinen herumzappelte und dass ihr Mann sie an den Oberschenkeln festhielt, was ihr kurze Zeit später zu nachlässig erschien. Der lächelnde Santa Claus kam in seiner riesigen Kutsche näher. Kiera zeigte kreischend auf die Gespenster und Elfen, die gigantischen Ballons der Gingerbread Men und anderer Comicfiguren, die der Kutsche vorangingen. Es regnete. Feiner Nieselregen benetzte Regenjacken und Schirme, vielleicht waren diese Tropfen auch Vorboten der Tränen.
»Da!«, rief das Mädchen. »Da!«
Aaron und Grace folgten mit dem Blick Kieras Finger und sahen einen weißen Luftballon in den Himmel aufsteigen, der zwischen den New Yorker Wolkenkratzern immer kleiner wurde. Dann schaute sie aufgeregt zu ihrer Mutter hinunter. Grace wusste sofort, dass sie ihr den Wunsch nicht abschlagen konnte.
Nach kurzem Umschauen entdeckte Grace an einer Straßenecke eine Frau im Mary-Poppins-Kostüm mit einem Bündel weißer Luftballons, die sie den vorbeikommenden Kindern schenkte.
»Willst du einen Luftballon?«, fragte sie Kiera, obwohl sie die Antwort schon kannte.
Das Mädchen konnte vor Begeisterung nichts sagen, ihre Augen waren weit aufgerissen vor lauter Glück, sie nickte strahlend, und auf ihren Wangen bildeten sich zwei Grübchen.
»Aber Santa Claus ist gleich da! Wir werden ihn verpassen!«, protestierte Aaron.
Als Kiera auflachte und ihre Zahnlücke sichtbar wurde, vertieften sich auch die Grübchen. Zu Hause wartete eine Karottentorte, weil sie am nächsten Tag Geburtstag hatte, und vielleicht willigte Aaron aus diesem Grund ein.
»Okay«, gab er nach. »Wo bekommt man diese Luftballons?«
»Sie werden dort hinten von Mary Poppins verteilt«, antwortete Grace nervös. Die Menschen begannen zu drängeln, und die bisherige Ruhe löste sich auf wie die Butter in der Füllung des Truthahns, den sie am Abend essen wollten.
»Kiera, bleib du bei Mama, ihr haltet hier die Stellung.«
»Nein! Ich will zu Mary Poppins.«
Aaron seufzte, und Grace lächelte, weil sie wusste, dass er nachgeben würde.
»Hoffentlich wird der kleine Michael nicht auch so dickköpfig«, sagte Aaron und strich seiner Frau über den leicht gewölbten Bauch. Grace war im fünften Monat schwanger, was sie anfangs für zu früh gehalten hatte, weil Kiera noch so klein war, aber jetzt freute sie sich auch.
»Kiera kommt nach ihrem Vater«, erwiderte Grace lachend. »Das kannst du nicht abstreiten.«
»Ist gut, kleine Nervensäge. Holen wir uns also einen Luftballon!«
Mit Kiera auf den Schultern bahnte sich Aaron einen Weg durch die immer dichtere Menschenmenge zu Mary Poppins. Nach wenigen Schritten drehte er sich um und rief Grace zu: »Alles okay bei dir?«
»Ja. Beeilt euch, er ist gleich da!«
Kiera lächelte ihre Mutter an, ihr Gesicht strahlte vor Begeisterung. Ein tröstliches Bild für Grace, wenn sie sich Jahre später einzureden versuchte, dass die Leere nicht so schwarz, der Schmerz nicht so groß und der Kummer nicht so quälend seien: Auf dem letzten Bild von Kiera, an das sie sich erinnerte, strahlte sie.
Als sie bei Mary Poppins angelangten, setzte Aaron Kiera ab, was er sich nie verzeihen sollte. Er dachte, so könnte sie Mary Poppins selbst um einen Luftballon bitten. Man handelt oft in guter Absicht, auch wenn das die schlimmsten Konsequenzen haben kann. In die Kapellenmusik mischten sich Jubelrufe aus dem Publikum, Hunderte Arme und Beine wogten hin und her, und Kiera klammerte sich ängstlich an die Hand ihres Vaters. Die andere Hand streckte sie der Frau mit den Luftballons entgegen, deren Worte sich Aaron für immer ins Gedächtnis einbrannten.
»Möchte dieses hübsche Mädchen was Süßes?«
Kiera lachte. Und gab dann einen Laut von sich, den Aaron später als ein Glucksen zwischen Auflachen und einem Lachanfall verortete.
Es war das letzte Mal, dass er sie lachen hörte.
Genau in dem Moment, als Kiera die Schnur des Luftballons ergriff, den ihr Mary Poppins hinhielt, ging ein roter Konfettiregen nieder, und alle Kinder kreischten begeistert auf, woraufhin das Drängeln und Schubsen zunahm und Eltern wie Touristen nervös machte.
Und dann geschah das Unvermeidliche. Obwohl Aaron später dachte, dass er vieles hätte anders machen können in diesen zwei Minuten, in denen es passierte. Er hätte den Luftballon besser selbst entgegennehmen sollen oder die Kleine gleich bei Grace lassen oder vielleicht von rechts auf die Frau zugehen statt von links.
Aaron wurde angerempelt, er trat einen Schritt zurück und stolperte über eine dreißig Zentimeter hohe Absperrung, die auf der 36. Straße Ecke Broadway einen Baum schützte. In dem Moment spürte er zum letzten Mal Kieras warme, weiche Hand, die sich an seine Finger klammerte. Beider Hände lösten sich voneinander, und Aaron konnte nicht wissen, dass es für immer sein würde. Es hätte bei einem schlichten Sturz bleiben können, wenn nach ihm nicht noch mehr Menschen ins Wanken geraten wären und wenn sein Aufstehen, was ihn normalerweise eine Sekunde gekostet hätte, nicht eine lange Minute gedauert hätte, weil die Menschen, die dem Umzug auswichen, ihm auf Hände und Schienbeine traten.
Vom Boden aus schrie Aaron: »Kiera! Bleib, wo du bist!«
Und gleich darauf glaubte Aaron sie »Papa!« rufen zu hören.
Als Aaron nach längerem Ringen und Kämpfen endlich wieder stand, musste er feststellen, dass Kiera nicht mehr bei Mary Poppins war. Auch die anderen Menschen, die gestürzt waren, rappelten sich wieder auf und versuchten, sich Platz zu verschaffen, als Aaron erneut rief: »Kiera! Kiera!«
Die Leute starrten ihn befremdet an. Er lief zu der Frau im Mary-Poppins-Kostüm.
»Meine Tochter, haben Sie meine Tochter gesehen?«
»Das Mädchen mit dem weißen Regenmantel?«
»Ja, wo ist sie?«
»Ich habe ihr den Luftballon gegeben, und dann wurde ich von der Menge abgedrängt. Dabei habe ich sie aus den Augen verloren. Ist sie nicht bei Ihnen?«
»Kiera!«, rief Aaron wieder. Er drehte sich um die eigene Achse und suchte sie zwischen Hunderten von Beinen. »Kiera!«
Und dann geschah es. Das Schlimmste, was in diesem Moment hätte passieren können und was jemand aus der Vogelperspektive sofort hätte aufklären können: Aaron sah einen weißen Luftballon in den Himmel steigen. Das war das Schlimmste, was passieren konnte.
Mühsam kämpfte er sich durch die Menschenmassen, die ihm den Weg versperrten, zu der Stelle durch, wo der Luftballon aufgestiegen war, und rief immer wieder: »Kiera! Meine Tochter!«
Mary Poppins begann ebenfalls zu rufen: »Ein Mädchen wird vermisst!«
Als Aaron schließlich an besagter Stelle eintraf, genau vor dem Eingang einer Bankfiliale, schauten ein Mann und seine Tochter mit Zöpfen lachend dem Luftballon hinterher.
»Haben Sie ein Mädchen in einem weißen Regenmantel gesehen?«, fragte Aaron die beiden verzweifelt.
Der Mann sah ihn besorgt an und schüttelte den Kopf.
Aaron suchte weiter. Er lief zur nächsten Straßenecke und schubste alle weg, die ihm in die Quere kamen. Er war verzweifelt. Um ihn herum drängten sich Tausende Menschen, Arme und Köpfe verstellten ihm die Sicht, und er fühlte sich derart verloren und hilflos, dass ihm sein Herz aus der Brust zu springen drohte. Die Trompeten aus dem Gefolge von Santa Claus drangen schrill in seine Ohren, wie ein spitzer Schrei, in dem sein eigenes Rufen unterging. Die Leute drängelten, Santa Claus lachte schallend, und alle Welt wollte seiner Kutsche nahe sein.
»Kiera!«
Er kämpfte sich zu seiner Frau durch, die zerstreut den großen Gingerbread-Ballons hinterherblickte, die überdimensional in der Luft schwebten.
»Grace! Ich kann Kiera nicht finden!«, keuchte er.
»Was?«
»Ich kann Kiera nicht finden. Ich habe sie abgesetzt und sie … Ich habe sie verloren.« Aarons Stimme bebte. »Ich kann sie nirgendwo finden.«
»Was sagst du da?«
»Ich kann sie nirgendwo finden.«
Grace brauchte einen Augenblick, bis ihre Stimmung erst in Verwirrung und dann in Panik umschlug, und rief schließlich: »Kiera!«
Beide machten sich laut rufend auf die Suche nach ihrer Tochter, und ein paar Leute schlossen sich ihnen an. Der Umzug ging ungerührt weiter, Santa Claus lachte und winkte den Kindern, die auf den Schultern ihrer Väter saßen, bis die Kutsche am Herald Square zum Stehen kam und er offiziell die Weihnachtszeit verkündete.
Für Grace und Aaron hingegen, die Stimme und Seele auf der Suche nach ihrer Tochter verloren, sollte sich erst eine Stunde später alles für immer verändern.
Miren Triggs
1998
Das Unglück sucht sich immer diejenigen,
die es ertragen können.
Die Rache hingegen diejenigen,
die es nicht können.
Von Kiera Templetons Verschwinden hörte ich zum ersten Mal während meines Studiums an der Columbia University. Ich griff am Eingang der Fakultät für Journalistik zu einem Exemplar der Manhattan Press, die für die Studierenden dort auslag, um uns zu großen Träumen anzuregen und von den Besten zu lernen. Ich war früh aufgestanden, weil ich wieder diesen Albtraum gehabt hatte, in dem ich durch die verwaisten Straßen New Yorks vor meinem eigenen Schatten floh, und hatte mit diesem unheimlichen Bild im Kopf noch vor Sonnenaufgang geduscht und mich angezogen. Zu dieser frühen Stunde waren die Flure der Fakultät menschenleer. Was mir auch lieber war. Ich hasste es, von unbekannten Menschen umgeben zu sein, ich verabscheute ihre Blicke und ihr Tuscheln hinter meinem Rücken, wenn ich in den Hörsaal ging. Dabei war aus Miren »Das ist die, die …« geworden, oder manchmal auch »Pst, sei still, sie kann uns hören …«
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie recht hatten, dass ich keinen Namen mehr hatte, sondern nur noch das Gespenst aus dieser Nacht war. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete und mir forschend in die Augen sah, fragte ich mich immer: Bist du noch da, Miren?
Dieser Tag war besonders eigenartig. Seit der Thanksgiving-Parade, nach der am nächsten Morgen das Gesicht der kleinen Kiera Templeton auf dem Titelbild der meistgelesenen Tageszeitung des Landes prangte, war eine Woche vergangen.
Die Schlagzeile der Manhattan Press vom 1. Dezember 1998 lautete schlicht: Haben Sie Kiera Templeton gesehen? Darunter die Bildunterschrift: Weitere Informationen auf Seite 12. Auf dem Foto wirkte Kieras Blick überrascht, ihre grünen Augen verloren sich irgendwo hinter der Kamera, und dieses Bild brannte sich für immer in das Gedächtnis einer ganzen Nation ein. Ihr Gesicht erinnerte mich an mein eigenes als kleines Mädchen, ihr Blick an meinen als erwachsene Frau. So verletzlich, so zerbrechlich, so … gebrochen.
Die 72. Thanksgiving-Parade 1998 blieb ganz Amerika aus zwei Gründen in Erinnerung. Erstens, weil sie als die beste der Geschichte gilt, mit vierzehn Orchestern, Auftritten von *NSYNC, den Backstreet Boys und Martina McBride, Flashmobs von Hunderten Cheerleaderinnen einschließlich des gesamten Sesamstraßenpersonals und einem endlosen Gefolge an Clowns in Feuerwehruniform. Im Jahr davor hatte es große Probleme mit dem Wind gegeben. Einige der riesigen Ballons hatten Menschen verletzt und Schäden verursacht, dazu hatte es einen Vorfall mit dem Luftkissen von Barney, dem rosafarbenen Dinosaurier, gegeben, in den mehrere Besucher hineinstechen mussten, um ihn unter Kontrolle zu bringen und wieder auf den Boden zu holen. Der Imageschaden war gewaltig, weshalb die Organisatoren alles daransetzten, um den katastrophalen Ansehensverlust wettzumachen, den die Veranstaltung dadurch erlitten hatte. Kein Vater wollte seine Kinder zu einer Parade mitnehmen, auf der die Kleinen vom Barney-Ballon oder Babe, dem fünfstöckigen Schweinchen, verletzt wurden. Das Organisationskomitee hatte sich fest vorgenommen, jedwede mögliche Gefahr auszuschließen. Bei der Parade 1998 sollte alles reibungslos vonstattengehen. Es wurden Beschränkungen für Höhe und Ausmaße der Ballons eingeführt, der majestätische »Crazy Bird« Woody the Woodpicker verschwand gleich für immer. Die Hilfskräfte für die Figurenballons mussten Lehrgänge absolvieren. Der Umzug war derart gelungen, dass sich noch zwanzig Jahre später das ganze Land an das riesige, blau gekleidete Gefolge erinnerte, das Santa Claus zum Herald Square geleitete. Alles war perfekt. Die Parade war ein Riesenerfolg, abgesehen davon, dass an diesem Tag die dreijährige Kiera Templeton in der Menschenmenge verschwand, als hätte es sie nie gegeben. Der zweite Grund, warum man die Parade in Erinnerung behielt.
Mein Professor für investigativen Journalismus, Jim Schmoer, kam zu spät zum Seminar. Damals war er auch Chefredakteur der Wall Street Daily, einer Tageszeitung mit Schwerpunkt Wirtschaft und Finanzen, die aber auch gesellschaftliche Themen aufgriff, und hatte offensichtlich etwas im Stadtarchiv herausgesucht. Er stellte sich vor die Studierenden und hielt mit einer Geste, die ich als ungehalten einstufte, die aktuelle Ausgabe der Manhattan Press in die Höhe.
»Was glaubt ihr, warum sie das machen? Was glaubt ihr, warum die ein Foto von Kiera Templeton mit einer so knappen Bildunterschrift auf die Titelseite setzen?«
Sarah Marks, eine fleißige Kommilitonin zwei Reihen vor mir, antwortete: »Damit wir sie identifizieren können, wenn wir sie sehen. Es könnte helfen, sie zu finden. Wenn sie jemand sieht und erkennt, kann er Alarm schlagen.«
Professor Schmoer schüttelte den Kopf und zeigte auf mich. »Was glauben Sie, Miss Triggs?«
»Es ist traurig, aber sie tun es, um die Auflage zu steigern«, sagte ich, ohne zu zögern.
»Fahren Sie fort.«
»Ich habe in der Notiz gelesen, dass sie vor einer Woche an der Ecke Herald Square verschwunden ist. Es wurde sofort Alarm geschlagen, und gleich nach Ende der Parade hat die ganze Stadt nach ihr gesucht. In dem Artikel heißt es, ihr Bild sei noch am selben Tag in den Fernsehnachrichten gezeigt worden, und die Morgennachrichten von CBS haben ebenfalls mit ihrem Foto aufgemacht. Zwei Tage später hing ihr Bild an sämtlichen Laternenpfählen Manhattans. Dass man sie jetzt, eine Woche später, wieder auf das Titelbild gesetzt hat, soll nicht helfen, sie zu finden, sondern zeigt, dass die Manhattan Press auf den Karren der Sensationsmache aufspringen will, der sich gerade in Bewegung setzt.«
Professor Schmoer reagierte etwas verzögert. »Aber haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen? Haben Sie die Nachrichten an jenem Abend oder am nächsten Morgen gesehen?«
»Nein, Herr Professor. Ich habe keinen Fernseher und wohne im Norden, in Harlem. Dort werden Flugblätter mit Fotos von Reichenkindern normalerweise nicht verteilt.«
»Dann hat die Zeitung ihr Ziel also nicht erreicht? Hat Ihnen das Bild nicht geholfen, sie zu erkennen? Glauben Sie nicht, dass sie es getan haben, um die Chancen, sie zu finden, zu verbessern?«
»Nein, Professor. Nun ja, vielleicht teilweise, aber eigentlich nein.«
»Fahren Sie fort«, sagte er, wohl wissend, dass ich bereits zu der Schlussfolgerung gelangt war, die er erwartete.
»Sie erwähnen, dass das Foto bereits in den CBS-Nachrichten gezeigt wurde, weil sie dem Vorwurf entgehen wollen, aus der Suche Profit zu schlagen, obwohl sie genau das tun.«
»Aber jetzt kennen Sie ja das Gesicht von Kiera Templeton, jetzt können Sie sich der Suche anschließen.«
»Ja, aber das war nicht die eigentliche Absicht. Ihre Absicht war, die Auflage zu steigern. Die Morgennachrichten von CBS wollten vielleicht noch helfen. Jetzt wirkt es, als wollten alle den Fall ausschlachten und Profit aus einer Sache schlagen, die sehr viele Menschen interessiert.«
Professor Schmoer ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten und begann zu klatschen, worauf ich nicht gefasst war.
»Genau das ist passiert, Miss Triggs«, sagte er und nickte zustimmend. »Und ich möchte, dass ihr genauso denkt. Was verbirgt sich hinter einer Geschichte, die auf der Titelseite landet? Warum ist das Verschwinden der einen Person wichtiger als das einer anderen? Warum sucht jetzt das ganze Land nach Kiera Templeton?« Er machte eine Pause und stellte dann klar: »Alle Welt hat sich der Suche nach Kiera Templeton angeschlossen, weil es sich rentiert.«
Es war eine vereinfachte Betrachtung der Angelegenheit, das will ich nicht leugnen, aber es führte dazu, dass ich mich mit dem Fall der verschwundenen Kiera zu beschäftigen begann.
»Das Traurige daran ist – und das werdet ihr schon bald herausfinden –, dass die Medien sich aus reinem Eigennutz der Suche anschließen. Wenn ihr glaubt, dass eine Nachricht veröffentlicht wurde, weil sie ungerecht oder traurig ist, wird der Herausgeber der Zeitung in Wirklichkeit nur die eine Frage gestellt haben: Erhöht sie die Auflage? Diese Welt funktioniert auf der Basis von Interessen. Aus diesem Grund bitten Betroffene die Medien um Hilfe. Schließlich bekommt ein veröffentlichter Fall mehr polizeiliche Aufmerksamkeit als ein anonymer. Das ist eine Tatsache. Ein amtierender Politiker muss die öffentliche Meinung für sich gewinnen, das ist das Einzige, was ihn interessiert. Alle sind daran interessiert, die Sache am Laufen zu halten, einige, um Geld zu verdienen, andere, um nicht die Hoffnung zu verlieren.«
Ich schwieg empört. Nun ja, ich glaube, allen Anwesenden ging es genauso. Es war entmutigend. Als wäre Kieras Verschwinden Schnee von gestern, begann Professor Schmoer einen Artikel zu kommentieren, in dem es darum ging, dass der Bürgermeister möglicherweise in die Veruntreuung öffentlicher Gelder für ein Parkhaus verwickelt war, das am Ufer des Hudson errichtet werden sollte. Er beendete das Seminar mit den Untersuchungen über eine neue Droge, die sich in den Vorstädten ausbreitete und unter den Ärmsten der Stadtbevölkerung großen Schaden anrichtete. In diesem Seminar wurde uns die Wirklichkeit um die Ohren gehauen. Du gehst zuversichtlich hinein und hinterher niedergeschlagen wieder hinaus, weil du alles infrage stellst. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hatte er sein Ziel erreicht.
Bevor Professor Schmoer uns nach derartigen Lektionen verabschiedete, pflegte er uns ein Thema vorzugeben, über das wir Nachforschungen anstellen sollten. Beim letzten Mal ging es um den sexuellen Missbrauch seiner Sekretärin durch einen Politiker. Diese Woche hingegen schrieb er an die Tafel: Freie Themenwahl.
»Was soll das heißen?«, fragte ein Student aus der ersten Reihe.
»Dass ihr zu einem Thema aus der heutigen Presse, das euch am meisten interessiert, recherchieren sollt.«
Diese Art Aufgabe sollte dazu dienen herauszufinden, welche Thematik uns beim Recherchieren am meisten lag: Politik und Korruption, Sozialwesen, Umweltschutz oder Unternehmensverflechtungen. Eine der aktuellen Schlagzeilen handelte von der möglichen Giftverklappung in den Hudson, weil an einer Stelle Hunderte toter Fische angeschwemmt worden waren. Dieses Thema dürfte leicht zu bewältigen sein, das war allen, mich eingeschlossen, sofort klar. Man musste nur eine Wasserprobe entnehmen und sie in einem Labor der Fakultät analysieren lassen, um herauszufinden, welche Chemikalie das Wasser mit einem Teppich toter Fische überzogen hatte. Dann musste man nur noch nachforschen, welche Chemiewerke flussaufwärts ansässig waren und welche Rückstände aus deren Produktion in der Brühe vorkamen, und voilà. Kinderleicht.
Beim Verlassen des Raumes kam Christine Marks, meine Sitznachbarin im letzten Semester und Magnet aller männlichen Blicke, mit ernster Miene zu mir. Früher waren wir gute Freundinnen gewesen, jetzt wurde mir schlecht, wenn ich sie nur sah.
»Miren, kommst du nachher mit, um eine Wasserprobe zu nehmen? Die anderen meinen, wir sollten heute Nachmittag am Anleger 12 ein paar Reagenzgläser füllen und hinterher ein Bier trinken gehen. Fertig. Ich glaube, es sind auch ein paar tolle Jungs dabei.«
»Ich glaube, diesmal muss ich passen.«
»Schon wieder?«
»Ich habe keinen Bock darauf, Punkt.«
Christine runzelte die Stirn, doch dann setzte sie ihre wohlbekannte kummervolle Miene auf.
»Miren … bitte … Ich denke, es ist schon genug Zeit vergangen … na ja, seitdem.«
Ich wusste genau, worauf sie anspielte, und auch, dass sie es nicht aussprechen würde. Seit letztem Jahr hatten wir uns voneinander distanziert. Vielleicht sollte ich sagen, dass ich zu aller Welt auf Distanz ging und lieber allein war und mich auf mein Studium konzentrierte.
»Das hat nichts mit dem zu tun, was passiert ist. Und rede bitte nicht mit mir, als hättest du Mitleid mit mir. Ich habe es satt, dass mich alle mit diesem Blick ansehen. Mir geht’s gut. Basta.«
»Miren …«, jammerte sie, als wäre ich dämlich. Ich bin davon überzeugt, dass sie mit Kindern genauso sprach. »Ich wollte nicht …«
»Ist mir egal, okay? Außerdem werde ich nicht über diese Verklappung recherchieren. Das interessiert mich überhaupt nicht. Wenn wir schon mal selbst das Thema wählen können, mache ich lieber was anderes.«
Christine wirkte genervt, sprach es aber nicht aus. Sie war auch feige.
»Und was?«
»Ich werde über Kiera Templetons Verschwinden recherchieren.«
»Das vermisste Mädchen? Bist du sicher? In diesen Fällen ist es sehr schwer, was zu finden. Nächste Woche wirst du weder Material noch sonst was haben, was du Professor Schmoer präsentieren kannst.«
»Ja und?«, erwiderte ich. »Dann hat in dem Fall wenigstens mal jemand recherchiert, der nicht aufs Geld schielt. Diese Familie hat es verdient, dass sich jemand wirklich für ihre Tochter interessiert und nicht nur daran denkt, den eigenen Arsch zu retten.«
»Niemanden interessiert dieses Mädchen, Miren. Du hast es selbst gesagt. Diese Recherche soll die Note verbessern und nicht verschlechtern. Lass die Chance zu punkten doch nicht ungenutzt.«
»Bestens für dich, oder?«
»Miren, sei nicht dumm.«
»Vielleicht war ich das schon immer«, konterte ich im Versuch, das Gespräch zu beenden.
Und dabei hätte es bleiben können. Es hätte die vergebliche Recherche einer unwichtigen Journalistikstudentin werden können. Ich hätte bei dieser Seminararbeit im Fach Urheberrecht durchfallen können, aber das Schicksal wollte es, dass ich etwas Wichtiges herausfand, das für immer den Verlauf der Suche nach der kleinen Kiera Templeton verändern würde.
New York
26. November 1998
Selbst aus dem tiefsten,
finstersten Brunnen
lässt sich noch etwas herausholen.
Wenige Minuten nach Kieras Verschwinden wählte Grace auf Aarons Handy den Notruf und erklärte aufgelöst, dass sie ihre Tochter nicht finden könnten. Während mehrere Zeugen Grace und Aaron verzweifelt nach ihrer Tochter rufen hörten, traf auch schon die Polizei ein.
»Sind Sie die Eltern?«, fragte der Officer, der sich als Erster einen Weg durch die Menschenmenge bis zum Herald Square Ecke Broadway gebahnt hatte.
Aaron, Grace und die Polizisten wurden von mehreren Dutzend Besuchern umringt, die miterlebten, wie zwei Menschen, die das Wichtigste in ihrem Leben verloren hatten, zusammenbrachen.
»Bitte helfen Sie uns, sie zu finden. Bitte«, flehte Grace, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Jemand muss sie mitgenommen haben. Sie geht nicht einfach mit Fremden mit.«
»Beruhigen Sie sich. Wir werden sie finden.«
»Sie ist noch sehr klein. Und sie ist allein. Sie müssen uns helfen, bitte. Und wenn jemand …? Oh, mein Gott … Und wenn jemand sie entführt hat?«
»Beruhigen Sie sich. Sie sitzt bestimmt verängstigt in irgendeiner Ecke. Hier sind im Augenblick zu viele Menschen. Wir geben den Kollegen Bescheid und lösen Alarm aus. Wir werden sie finden, das verspreche ich Ihnen.«
»Wann genau ist es passiert? Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte ein anderer Officer.
Grace schaute schweigend um sich, sah in lauter besorgte Gesichter. Um keine Zeit zu verlieren, antwortete Aaron.
»Vor höchstens zehn Minuten. Hier, genau hier. Sie saß auf meinen Schultern, und wir wollten einen Luftballon holen … Ich habe sie abgesetzt … und dann aus den Augen verloren.«
»Wie alt ist Ihre Tochter? Können Sie uns eine Beschreibung geben, die uns weiterhilft? Was hatte sie an?«
»Sie ist drei Jahre alt, na ja, morgen wird sie drei. Sie hat … dunkles Haar … und trägt einen Zopf, nein, zwei Zöpfe. Und eine Jeans, einen weißen Regenmantel … und ein … weißes … Sweatshirt.«
»Es ist hellrosa, Aaron. Um Himmels willen!«, unterbrach ihn Grace.
»Bist du sicher?«
Grace atmete schwer. Sie war im Begriff, in Ohnmacht zu fallen.
»Es war ein helles Sweatshirt«, betonte Aaron.
»Wenn es vor zehn Minuten passiert ist, muss sie noch in der Nähe sein. Bei den vielen Leuten kommt man nur schwer von hier weg.«
Einer der Officer griff zu seinem Funkgerät und gab eine Warnung raus.
»Achtung, an alle Einheiten: 10 – 65. Ich wiederhole: 10 – 65. Vermisst wird ein dreijähriges Mädchen, dunkle Haare mit Jeans und einem hellen Sweatshirt. In der näheren Umgebung von Herald Square Ecke Broadway.« Er unterbrach sich und fragte Grace, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte: »Wie heißt Ihre Tochter? Wir finden sie, das versichere ich Ihnen.«
»Kiera. Kiera Templeton«, antwortete Aaron anstelle der wankenden Grace. Sie klammerte sich an ihn, und es fiel ihm sichtlich schwer, sie zu stützen.
»Ihr Name ist Kiera Templeton«, fuhr der Officer fort. »Ich wiederhole: 10 – 65. Dreijähriges Mädchen, dunkle Haare …«
Grace hörte die neuerliche Beschreibung ihrer Tochter nicht mehr. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, sie stand kurz vor einem Zusammenbruch, ihre Beine gaben nach. Sie schloss die Augen und sackte in Aarons Armen in sich zusammen, was die Leute um sie herum aufschreien ließ.
»Nein, Grace … jetzt nicht …«, flüsterte er. »Bitte, nicht jetzt …«
Aaron setzte sie vorsichtig auf den Boden.
»Es ist nichts weiter … Schatz, entspann dich …«, flüsterte er seiner Frau ins Ohr. »Es ist gleich vorbei …«
Grace lag mit verlorenem Blick auf dem Boden, zwei Polizisten knieten sich neben sie und versuchten zu helfen. Eine Frau kam näher, und gleich darauf war Aaron von Menschen umringt, die wissen wollten, was los war.
»Es ist nur eine Panikattacke! Bitte … gehen Sie zurück. Platz. Sie braucht Platz.«
»Ist das schon öfter passiert?«, fragte einer der Officer. Ein anderer orderte per Funk einen Rettungswagen. Die Straße war voller Menschen, die in alle Richtungen drängten. In der Ferne lächelte Santa Claus aus seiner Kutsche ins Publikum. Irgendwo in diesen Menschenmassen konnte Kiera zusammengekauert in einer Ecke sitzen und sich ängstlich fragen, wo ihre Eltern geblieben waren.
»Ein paarmal. Aber seit einem Monat nicht mehr. Es ist gleich vorbei, aber bitte, finden Sie Kiera. Helfen Sie uns, unsere Tochter zu finden!«
Grace, die bewusstlos auf dem Boden lag, begann zu zucken, und die Gaffer schrien überrascht auf.
»Das ist nichts weiter. Ist gleich vorbei, Schatz …«, flüsterte Aaron ihr ins Ohr. »Wir werden Kiera finden. Atme … ich weiß nicht, ob du mich hören kannst … Konzentrier dich aufs Atmen, es ist gleich vorbei.«
Grace’ Körper begann zu krampfen, sie verdrehte die Augen, und Aaron wünschte nur, sie möge sich nicht wehtun.
Der Kreis um sie herum wurde dichter, und die Stimmen derjenigen, die Ratschläge erteilten, mischten sich unter die Funksprüche der Polizisten. Plötzlich wich die Menge auseinander, und es kamen zwei Rettungskräfte mit einer Bahre und einem Notfallkoffer angelaufen. Zwei Polizisten folgten ihnen und drängten die Massen zurück, die immer näher zu kommen schienen.
Aaron trat zur Seite, um das Rettungsteam seine Arbeit machen zu lassen, und schlug die Hände vor den Mund. Er war überfordert. Seine Tochter war verschwunden, und seine Frau hatte eine Panikattacke. Eine Träne lief ihm über die Wange. Eigentlich ließ er sich nicht so leicht gehen und pflegte in der Öffentlichkeit auch keine Gefühle zu zeigen, aber in dem Moment musste er sich sehr zusammenreißen. Nur eine Träne.
»Wie heißt sie?«, rief die Notärztin.
»Grace«, antwortete Aaron.
»Ist es das erste Mal?«
»Nein … das hat sie manchmal. Sie ist in Behandlung, aber …« Ein Kloß im Hals hinderte ihn am Weitersprechen.
»Grace … meine Liebe. Hören Sie …«, sagte die Notärztin mit sanfter Stimme. »Ist gleich vorbei … ist schon vorbei.« Sie wandte sich wieder an Aaron und fragte: »Ist sie auf irgendein Medikament allergisch?«
»Nein«, antwortete er irritiert. Aaron wusste nicht, worauf er zuerst achten sollte. Das alles überstieg seine Kräfte, er lief hin und her, starrte zu Boden und in die Ferne, suchte zwischen den Beinen der Leute verzweifelt nach Kiera.
»Kiera!«, brüllte er wieder. »Kiera!«
Einer der Officer zog ihn beiseite.
»Um Ihre Tochter zu finden, brauchen wir Ihre Hilfe, Mister. Ihre Frau wird versorgt. Das Rettungsteam kümmert sich um sie. In welches Krankenhaus soll man sie bringen? Sie müssen hierbleiben.«
»Krankenhaus? Nein, nein. In fünf Minuten ist es vorbei. Es ist nichts weiter.«
Der Sanitäter trat zu Aaron und dem Officer und sagte: »Es wird besser sein, wenn wir sie an einen ruhigeren Ort bringen. Unser Wagen steht an der nächsten Kreuzung, dort kann sie sich erholen. Was halten Sie davon, wenn wir dort auf Sie warten? Wir fahren nur im Fall einer Komplikation ins Krankenhaus. Keine Sorge, es ist nur eine Panikattacke. Sie wird in ein paar Minuten vorüber sein, und dann braucht sie Ruhe.«
Plötzlich sagte einer der Officer überrascht in sein Funkgerät: »Zentrale, können Sie das noch mal wiederholen?«
Die Stimme aus dem Funkgerät war für Aaron unverständlich, weil er etwas abseitsstand, aber der Gesichtsausdruck des Polizisten war ihm nicht entgangen.
»Was ist los?«, rief er. »Was ist los? Ist es Kiera? Haben Sie sie gefunden?«
Der Officer lauschte aufmerksam der Meldung und sah, wie Aaron auf ihn zustürzte.
»Mr Templeton, beruhigen Sie sich, okay?«
»Was ist los?«
»Sie haben etwas gefunden.«
27. November 2003
Fünf Jahre nach Kieras Verschwinden
Nur wer nie aufhört zu suchen,
findet sich selbst.
An der Kreuzung 77. Straße und Central Park West in New York drängelten sich am 27. November um neun Uhr morgens Hunderte von Hilfskräften und Freiwilligen um die aufblasbaren Figuren, die gleich aufsteigen sollten. Alle, die die riesigen Ballons durch die Straßen bis zum Macy’s am Herald Square tragen sollten, wurden in Gruppen eingeteilt und waren entsprechend der Figur gekleidet: Die Begleiter von Babe, dem tapferen Schweinchen, trugen rosafarbene Sweatshirts, die vom charismatischen Mister Monopoly elegante schwarze Anzüge und die des legendären Toy Soldier blaue Overalls. Auf dem Herald Square hatte der Morgen mit einem prächtigen Flashmob von America Sings! in bunten Sweatshirts begonnen, gefolgt von den Auftritten einiger der besten Künstlerinnen und Künstler des Landes.
Die Stadt war ein gigantisches Fest, die Leute auf der Straße lächelten, und die begeisterten Kinder suchten sich die besten Plätze, um die Parade zu verfolgen. Donald Trump flog höchstpersönlich mit dem Helikopter über Manhattan, um auf NBC Luftaufnahmen von der Parade zeigen zu können.
Das Verschwinden von Kiera Templeton war in der Öffentlichkeit zwar in Vergessenheit geraten, nicht aber im Unterbewusstsein der Stadtbewohner. Eltern hielten ihre Kinder fest an den Händen und trafen nie gekannte Vorkehrungen. Sie mieden die Hotspots der Parade, jene Bereiche, in denen sich die größten Menschenansammlungen bildeten. Die Kreuzung Times Square, die Zone vor dem Macy’s und selbst die untersten Bereiche des Broadways wurden nur von Touristen und Gästen der Peripherie frequentiert. Familien mit Kindern versammelten sich am Ausgangspunkt des Umzuges parallel zum Central Park West, einer weniger gefährlichen Gegend mit breiten Gehwegen und großen Flächen, auf denen man sich ohne Engpässe bewegen konnte.
Um 09:53 Uhr, als gerade der Ballon von Bibo aus der Sesamstraße vor Hunderten jubelnden und lachenden Zuschauern emporstieg, lief ein Betrunkener mitten auf die Straße und schrie aufgebracht und mit Tränen in den Augen: »Passen Sie auf Ihre Kinder auf! Passen Sie auf Ihre Kinder auf, oder diese Stadt verschlingt sie! Sie verschlingt sie wie alles Gute, was auf ihren Straßen unterwegs ist! In dieser Stadt wird nichts geliebt. Denn wenn sie etwas entdeckt, nimmt sie es Ihnen weg, wie sie alles wegnimmt, was sie sieht!«
Einige der Eltern wandten ihren Blick von dem großen gelben Vogel ab und starrten den Betrunkenen an, der einen fleckigen Anzug ohne Krawatte trug. Der Mann hatte einen dichten, ungepflegten Bart und zerzaustes Haar. Aus seiner aufgeplatzten Lippe tropfte Blut auf den Hemdkragen, und in seinen Augen standen Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und trug an einem Fuß nur eine weiße, verdreckte Socke.
Ein paar freiwillige Helfer wollten den Mann beruhigen.
»Hey, mein Freund! Ist es nicht ein bisschen zu früh für diesen Zustand?«, sagte einer von ihnen, als sie versuchten, ihn wegzuführen.
»Es ist Thanksgiving, schämen Sie sich nicht?«, sagte ein anderer. »Verschwinden Sie von hier, bevor man Sie festnimmt. Was sollen die Kinder von Ihnen denken?«
»Schämen würde ich mich … daran teilzunehmen. Diese … Maschinerie, die Kinder verschlingt … zu füttern«, schrie er.
»Moment mal.« Einer der Männer hatte ihn erkannt. »Sie sind doch … der Vater dieses Mädchens …«
»Sprich bloß nicht ihren Namen aus, du Penner.«
»Ja! Sie sind es … Vielleicht sollten Sie nicht herkommen«, sagte er schon verständnisvoller.
Aaron ließ den Kopf hängen. Er hatte die ganze Nacht in unzähligen Kneipen der Umgebung verbracht und getrunken, bis alle geschlossen hatten. Dann hatte er sich in einem Deli eine Flasche Gin besorgt, die ihm der pakistanische Händler nur aus Mitleid verkaufte. Ein Drittel der Flasche hatte er in einem Zug getrunken und sich gleich darauf erbrochen. Dann hatte er sich hingesetzt und geweint. Bis zur Thanksgiving-Parade und dem fünften Jahrestag von Kieras Verschwinden blieben noch ein paar Stunden.
Am Vortag war er wie in den vergangenen Jahren weinend aufgewacht. Aaron hatte nie getrunken, bevor er seine Tochter verloren hatte. Er war ein anständiger Mann gewesen, der sich gesund ernährt und nur gelegentlich ein Glas Weißwein getrunken hatte, wenn sie in ihrem Haus in Brooklyn Besuch bekamen. Seit Kieras Verschwinden und der folgenden Tragödie hatte er sich jedes Jahr vor der Parade betrunken. Der Unterschied zwischen dem Aaron Templeton aus dem Jahr 1998 zu dem im jetzigen Jahr war groß, es war schlicht nicht zu übersehen, dass ihm das Leben ziemlich übel mitgespielt hatte.
Ein Officer hatte das Ganze beobachtet und kam näher.
»Mister, Sie müssen weg von hier«, sagte er, während er Aaron am Arm packte und ihn hinter die Absperrung führte. »Hier dürfen sich nur am Umzug Beteiligte aufhalten.«
»Fass mich nicht an!«, schrie Aaron.
»Mister … bitte … Ich will Sie nicht festnehmen müssen. Hier sind so viele Kinder, die Sie sehen können.«
Aaron starrte zu den Zuschauern auf dem Gehweg hinüber und wurde gewahr, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Der riesige Schatten des gelben Vogels oder der Spiderman-Ballon, der weiter hinten gerade abhob, waren unwichtig. Er ließ den Kopf hängen. Wieder einmal. Er war am Ende. Getroffen und abgestürzt. Er konnte den schweren Schicksalsschlag nicht verwinden, und vielleicht sollte er in sein neues Apartment in New Jersey zurückkehren, um seinen Rausch auszuschlafen. Aber der Officer zerrte ihn am Arm weg, und das wollte er nicht mit sich machen lassen.
Aaron wand sich und schlug dem Polizisten mit der Faust ins Gesicht, womit er ihn vor den Augen von Hunderten von Kindern und ihren Eltern niederstreckte, die daraufhin zu pfeifen begannen.
»Was für eine Schande!«, rief ein Mann.
»Hau ab, du Spinner!«, schrie ein anderer.
Eine Wasserflasche traf ihn mitten ins Gesicht, und er schaute sich verwirrt um, ohne zu begreifen, woher sie gekommen war.
Es blieb ihm keine Zeit, über den Grund der Pfiffe nachzudenken und warum sich die Leute an seiner Anwesenheit störten, weil zwei Polizisten auf ihn zugelaufen kamen und ihn schnell überwältigten. Er landete mit dem Gesicht auf dem Asphalt. In Sekundenschnelle waren seine Hände auf dem Rücken fixiert, und die Kabelbinder schnürten ihm die Blutzufuhr ab. So schnell konnte sein Gehirn den Schmerz nicht verarbeiten, aber er spürte, wie die Polizisten und ein Freiwilliger ihn hochzogen, begleitet vom lauten Klatschen der Schaulustigen, in dem die Schreie dieses am Abgrund stehenden Vaters untergingen.
Im Streifenwagen schlief er ein.
Als er eine Stunde später aufwachte, saß er mit auf dem Rücken gefesselten Händen in der Sektion West des New York City Police Departments neben einem älteren Mann, der ihn freundlich, aber traurig anblickte. Aarons Gesicht schmerzte, und als er es verzog, platzte das getrocknete Blut auf, und der Schmerz strahlte in alle Richtungen aus. Das war keine gute Idee gewesen.
»Kein guter Tag?«, fragte der Mann.
»Kein gutes … Leben«, erwiderte Aaron, dem übel war.
»Na ja, das Leben ist schlecht, wenn du nichts tust, um es zu ändern.«
Aaron sah ihn an und nickte. Dann schoss ihm durch den Kopf, dass der Mann nicht wie ein Krimineller aussah, obwohl seine Hände ebenfalls auf dem Rücken gefesselt waren. Er dachte, vielleicht war der Mann nur wegen zu vieler Bußgelder hier.
Eine Frau mit kastanienbraunem Haar kam auf sie zu.
»Mr Rodríguez, richtig?«, fragte sie den Mann und zog ein Blatt aus der Akte.
»Ja«, antwortete er.
»Gleich kommt mein Kollege von der Mordkommission und wird Ihnen ein paar Fragen stellen. Sollen wir Ihren Anwalt anrufen?«
Überrascht starrte Aaron den Mann an.
»Ist nicht nötig. Es ist alles gesagt«, antwortete der gelassen.
»Na schön, wie Sie wollen. Aber Sie müssen wissen, dass Sie bei Ihrer Aussage das Recht auf einen Pflichtverteidiger haben.«
»Ich habe ein ruhiges Gewissen. Und nichts zu verbergen.« Er lächelte.
»In Ordnung«, erwiderte die Polizistin. »In ein paar Minuten holt der Kollege Sie ab. Und Sie … sind … Templeton, Aaron. Kommen Sie bitte mit?«
Aaron stand schwerfällig auf und verabschiedete sich von Mr Rodríguez mit einem Kopfnicken. Er folgte der vorauseilenden Polizistin in eine Art Warteraum.
»Hier sind Ihre Sachen. Rufen Sie jemanden an, der Sie abholt.«
»Das war’s schon?«, fragte Aaron verwirrt.
»Nun ja … Der Kollege, den Sie geschlagen haben, hatte Mitleid mit Ihnen. Er kennt Sie, wissen Sie? Er hat Sie im Fernsehen gesehen, als das mit Ihrer Tochter passiert ist. Er meint, Sie hätten schon genug gelitten, und heute sei schließlich Thanksgiving. Deshalb hat er keine Anzeige erstattet und in seinen Bericht geschrieben, dass er Sie wegen Ruhestörung festgenommen hat. Ein eher geringfügiger Verstoß.«
»Dann … kann ich jetzt nach Hause?«
»Nicht so schnell. Sie können nur nach Hause, wenn jemand Sie abholt. Wir können Sie in diesem … Zustand nicht einfach so gehen lassen. Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Rausch im Warteraum ausschlafen, was ich Ihnen aber an einem Tag wie heute nicht empfehlen kann. Gehen Sie nach Hause, schlafen Sie sich aus und essen Sie mit der Familie. Es wartet bestimmt ein gutes Abendessen auf Sie.«
Aaron seufzte und schaute wieder zu Mr Rodríguez hinüber.
»Darf ich Sie fragen, was er getan hat?«
»Wer was getan hat?«
Aaron wies mit dem Kopf auf den Mann.
»Er scheint ein guter Kerl zu sein.«
»Oh, Gott. Ja, das ist er. Er hat letzte Nacht vier Männer erschossen, die seine Tochter vergewaltigt haben.«
Aaron musste schlucken und sah wieder Mr Rodríguez an, diesmal voller Bewunderung.
»Er wird bestimmt sein restliches Leben im Gefängnis verbringen, aber ich gebe ihm keine Schuld. Ich an seiner Stelle … Ich weiß nicht, was ich getan hätte.«
»Aber Sie sind Polizistin. Sie stecken die Bösen ins Gefängnis.«
»Deshalb sage ich es ja. Ich traue diesem System nicht mehr. Die Männer, die er getötet hat, wurden schon mehrfach wegen Sexualdelikten angezeigt und … wissen Sie was? Sie sind immer auf freiem Fuß geblieben. Mein Vertrauen in das System schwindet mehr und mehr. Deshalb arbeite ich im Kommissariat und schreibe Berichte, anstatt auf der Straße mein Leben aufs Spiel zu setzen. Hier ist es besser, mein Freund.«
Aaron nickte. Die Polizistin nahm sein Lederportemonnaie, seinen Schlüssel mit Pluto-Anhänger und sein Nokia-Handy aus einer Plastikschale und legte alles auf den Tresen. Aaron steckte Portemonnaie und Schlüssel ein und schaltete sein Handy an. Er hatte zwölf entgangene Anrufe von Grace und begann, eine Nachricht zu schreiben, die er aber wieder löschte. Besser, er rief an, um so schnell wie möglich hier wegzukommen.
Kurz darauf erklang eine weibliche Stimme.
»Aaron?«
»Miren, kannst du mich abholen? Ich habe ein kleines Problem.«
»Was …?«
»Bitte.«
Miren seufzte.
»Ich bin in der Redaktion. Ist es dringend? Wo bist du?«
»Auf dem Kommissariat.«
Miren Triggs
1998
Man ist das, was man liebt,
aber auch fürchtet.
Nach der Uni beschloss ich, einen Blick auf alles, was bisher über Kiera Templetons Verschwinden erschienen war, zu werfen. Es war erst eine Woche vergangen, aber die Artikel, Nachrichten und Gerüchte nahmen stetig zu. Ich ging ins Archiv der Unibibliothek und bat die Angestellte, unter dem Stichwort Kiera Templeton eine Suche nach allen Artikeln seit dem Tag ihres Verschwindens zu starten.
Ich erinnere mich an das Gesicht der jungen Frau und ihre Antwort: »Die Publikationen der letzten Woche sind noch nicht erfasst. Wir sind erst im Jahr 1991.«
»1991? Wir haben 1998«, erwiderte ich. »Wir befinden uns mitten im Technologiezeitalter, und du sagst mir, dass ihr sieben Jahre hinterherhinkt?«
»So ist es. Es ist alles noch ganz neu. Du kannst sie aber auch analog haben. So viele sind es nicht.«
Ich seufzte. Wie lange würde es dauern, bis ich die Artikel fand, die über Kieras Verschwinden erschienen waren?
»Kann ich die Tageszeitungen der letzten Woche haben?«
»Welche? Manhattan Press, Washington Post …«
»Alle.«
»Alle?«
»Alle nationalen und die lokalen aus dem Staat New York.«
Die Frau sah mich irritiert an und seufzte.
Ich setzte mich an einen Tisch, und sie verschwand durch eine Seitentür. Das Warten erschien mir wie eine kleine Ewigkeit, und unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu jener Nacht. Um nicht zu grübeln, stand ich wieder auf, spazierte durch die Gänge und murmelte Titel von spanischsprachigen Autoren vor mich hin.
Als ich das Rollen von Rädern hinter mir hörte, drehte ich mich um und sah in das lächelnde Gesicht der jungen Frau. Auf dem Wägelchen lagen über hundert Tageszeitungen.
»Das alles?«, fragte ich überrascht. Ich hatte mir den Stapel kleiner vorgestellt.
»Du wolltest doch alle Zeitungen der letzten Woche, oder? Nur nationale und lokale aus dem Staat New York. Ich weiß ja nicht, was du für eine Arbeit schreiben musst, aber reichen nicht vielleicht die nationalen?«
»Alles bestens. Danke.«
Die Frau schob das voll beladene Wägelchen zu einem Tisch am Fenster und verschwand wieder hinter ihrem Tresen. Ich schnappte mir das erste Exemplar und blätterte es rasch durch, wobei meine Augen von einer Schlagzeile zur nächsten flogen wie Raubvögel auf der Suche nach Beute.
Bei Recherchen gibt es verschiedene Herangehensweisen, um nach Belegen zu suchen, und welche du wählst, hängt zumeist von deiner Fakultät und der Sache ab, in der du recherchieren willst. In manchen Fällen ist es besser, Polizeiberichte einzusehen, für andere wiederum, Stadtarchive oder öffentliche Register zu durchforsten. Manchmal bekommst du den entscheidenden, möglicherweise relevanten Hinweis von einem Zeugen oder Informanten. Im Falle Kiera Templeton musste ich bei null anfangen. Es war noch zu früh, um die Polizeiakte anzufordern, außerdem würde das FBI keine Informationen an eine Journalistikstudentin im letzten Semester herausgeben. FBI-Beamte arbeiteten nur mit Journalisten der wichtigsten Medien zusammen, und auch nur dann, wenn sie glaubten, dass sie ihnen bei ihren Ermittlungen helfen könnten. Das war schon ein paarmal geschehen. Manchmal braucht die Polizei die Augen von Millionen Menschen, weshalb sie den Medien vertrauliche Informationen zukommen lässt, um mithilfe der Bevölkerung einen Mörder zu identifizieren oder ein Opfer zu finden. Für einen aufsehenerregenden Fall wie den von Kiera konnte die Veröffentlichung von Details dazu beitragen, die Suche zu intensivieren und sofort zu agieren, sollte ein wichtiger Hinweis eingehen.
Ich begann mit den Zeitungen vom 27. November, dem Tag nach Thanksgiving. Nach der Durchsicht verschiedener Artikel mit Fotos von der Parade und Schlagzeilen über den offiziellen Beginn der Weihnachtszeit fand ich die erste Notiz über Kieras Verschwinden. Auf Seite sechzehn der New York Daily News war in einem gerahmten Kästchen ein Foto von Kiera abgedruckt, dasselbe, das die Manhattan Press später auf ihrer Titelseite gebracht hatte. Darin wurde nüchtern ausgeführt, dass am Tag zuvor die Suche nach der dreijährigen Kiera begonnen hatte. Laut dem Artikel trug sie eine Jeans, ein weißes oder hellrosa Sweatshirt und einen weißen Regenmantel. Mehr nicht. Weder der Zeitpunkt des Verschwindens noch der Ort, an dem sie zum letzten Mal gesehen wurde.
Es wunderte mich nicht, erst in den Zeitungen des Folgetages einen längeren Artikel zu finden. Eine andere Tageszeitung, diesmal die New York Post, hatte Kieras Verschwinden eine halbe Seite gewidmet. Den Artikel geschrieben hatte ein gewisser Tom Walsh.
Zweiter Tag der Suche nach Kiera Templeton, verschwunden während der Thanksgiving-Parade. Das dreijährige Mädchen verschwand vor zwei Tagen spurlos in der Menschenmenge. Die verzweifelten Eltern bitten die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche.
Darunter befand sich ein Bild von Aaron und Grace Templeton mit verweinten Augen, die ein Foto ihrer Tochter hochhielten. Auf diesem Bild habe ich die beiden zum ersten Mal gesehen.
Ich fand weitere Artikel und sortierte die Seiten aus, auf denen Kiera oder die Parade erwähnt wurden, wobei ich mich bis zum Titelbild der Manhattan Press am Datum orientierte.
Als ich auf die Uhr sah, erschrak ich, dass es schon kurz vor neun war. Die Bibliothek, die um diese Jahreszeit wegen der Zwischenprüfungen bis Mitternacht geöffnet hatte, war menschenleer.
Ich hätte mich nicht so lange aufhalten sollen. Also stopfte ich die aussortierten Artikel schnell in meinen Rucksack und schob das Wägelchen zum Tresen. Die Angestellte maulte, als sie die zerfledderten Zeitungen sah.
Ich ging in die schwarze New Yorker Nacht hinaus und sah mich um, aber in diesem Teil der Stadt war keine Menschenseele mehr auf der Straße. Gegenüber standen zwei Silhouetten rauchend vor einer Kneipentür. Ich ging wieder zurück in die Bibliothek, und die junge Frau grinste mich schief an.
»Kann ich das Telefon benutzen?«, fragte ich. »Ich habe kein Geld fürs Taxi dabei … Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so spät wird.«
»Es ist erst neun. Auf der Straße sind immer noch Leute unterwegs.«
»Kann ich das Telefon benutzen oder nicht?«
»Ja klar«, sagte sie dann und schob es mir rüber.
Ich hatte ganz in der Nähe eine Mietwohnung, mitten in Harlem, in einem roten Backsteinbau in der 115. Straße, knapp zehn Minuten zu Fuß von der Fakultät im Osten des Morningside Parks entfernt. Meine Wohnung lag aber auf der westlichen Seite. Ich musste nur ein paar Straßen entlang und durch den Park gehen. Das Problem war, dass Harlem sich zu jener Zeit in ein Problemviertel verwandelte. Es gab viele Wohnanlagen und Sozialprojekte, die oberhalb des Central Parks Banden von Kleinkriminellen, Drogenabhängigen und Räubern angezogen hatten. Tagsüber gab es kaum Überfälle oder Einbrüche, aber nachts sah das ganz anders aus.
Ich wählte die einzige Nummer, die um diese Zeit zu erreichen war.
»Ja«, sagte eine männliche Stimme.
»Hast du Lust, dich mit mir zu treffen?«, fragte ich. »Ich bin in der Fakultätsbibliothek.«
»Miren?«
»Es ist heute etwas später geworden bei mir. Hast du Lust oder nicht?«
»Okay. In fünfzehn Minuten bin ich bei dir.«
»Ich warte drinnen auf dich.«
Ich legte auf und vertrieb mir die Zeit damit, zu beobachten, wie die Angestellte das von mir hinterlassene Chaos wieder in Ordnung brachte. Kurze Zeit später stand Professor Schmoer im Türrahmen. Er trug seine runde Hornbrille und ein Jackett mit Ellenbogenschonern und machte mir ein Zeichen rauszukommen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er mich anstelle eines Grußes auf der Straße.
»Es ist nur etwas spät geworden.«
»Ich begleite dich nach Hause, okay? Bleiben kann ich aber nicht.« Er machte sich auf den Weg nach Osten. »Es gibt ein Problem in der Redaktion. Der Herausgeber will auf der Titelseite etwas über Kiera Templeton bringen, was auch immer, und ich habe das ungute Gefühl, dass nach dem heutigen Artikel in der Manhattan Press morgen alle Zeitungen etwas darüber veröffentlichen werden. Das wird eine Schlammschlacht um das Verschwinden der Kleinen, und es kotzt mich wirklich an, mich daran beteiligen zu müssen.«
Ich beschleunigte den Schritt und holte ihn ein.
»Und was werdet ihr bringen?«, hakte ich neugierig nach.
»Den Notruf der Mutter. Wir haben eine Kopie des Mitschnitts.«
»Uff. Ganz schlecht«, kommentierte ich stirnrunzelnd. »Das klingt mir für die Daily News doch sehr nach Sensationshascherei. Seid ihr nicht eigentlich ein Wirtschaftsblatt?«
»Ich weiß. Deshalb kotzt mich ja auch an, was sie vorhaben.«
Ich konzentrierte mich auf unsere Schritte und darauf, wie unsere Schatten vom Laternenlicht verschluckt und dann wieder länger wurden.
»Kannst du das nicht selbst entscheiden? Oder vielleicht über was anderes schreiben? Du bist doch der Chefredakteur.«
»Auflage, Miren. Die Auflage ist alles«, erwiderte er gereizt. »Du hast es heute selbst gesagt. Aber vielleicht hast du noch nicht ganz begriffen, wie stark sie alles dominiert. Sie ist das einzig Wichtige.«
»Wirklich?«
»Die heutige Ausgabe der Manhattan Press war ein Kassenschlager. Sie haben das Zehnfache von gestern verkauft, Miren. Die anderen Blätter sind liegen geblieben. Dieser Schachzug ist ihnen wahrlich gelungen.«
»Das Zehnfache?«
»Wir wissen nicht, was sie morgen bringen, aber so läuft das eben. Die Suche nach diesem Mädchen wird, ob wir es wollen oder nicht, in den nächsten Monaten in allen Zeitungen zum großen Rätselraten führen, wenn sie vorher nicht wiederauftaucht. Es gibt sogar Medien, denen es am liebsten wäre, wenn sie nie wiederauftaucht, um möglichst lange darauf herumkauen zu können. Wenn die Leute die Sache vergessen haben, folgen die Huldigungen, die alle Welt ignorieren wird, und nur für den Fall, dass Kiera tot oder lebendig auf dem Times Square gefunden wird, ist das Thema wieder in den Schlagzeilen.«
Er wirkte so niedergeschlagen, dass ich nicht wagte, etwas darauf zu erwidern.
Wir kamen zur Statue von Carl Schurz, und ich bat ihn, den Park zu umrunden, auch wenn es die doppelte Wegstrecke bedeutete. Er war, ohne zu zögern, damit einverstanden.
Von dem Moment an ging er schweigend neben mir. Er war fünfzehn Jahre älter als ich und wusste, dass ich nicht viel Worte machte. Vielleicht irrte ich mich auch. Vielleicht wartete er darauf, dass ich von selbst erklärte, warum ich den Park nicht durchqueren wollte, aber das war etwas, worüber ich nicht sprechen konnte. Nachdem wir die Manhattan Avenue hinter uns gelassen hatten und vor meiner Haustür stehen blieben, sagte ich: »Danke, Professor.«
»Dafür nicht, Miren. Du weißt ja, dass ich gern helfe …«
Ich umarmte ihn vor lauter Dankbarkeit. Es war wohltuend, sich beschützt zu fühlen.
Sofort schob er mich von sich, und ich fühlte mich beschissen.
»Das ist … Das ist nicht gut, Miren. Ich kann nicht. Ich muss in die Redaktion zurück.«
»Das war doch nur … eine Umarmung, Jim«, erwiderte ich verstimmt. »Warum flippst du gleich so aus?«
»Miren, du weißt doch, dass ich … nicht kann. Ich muss jetzt gehen. Das sollte nicht geschehen. Wenn man uns sieht …«
»Verzeihung, ich …«, sagte ich. »Ich dachte, wir seien … Freunde.«
»Das ist es nicht, Miren … Ich muss jetzt zurück in die Redaktion. Wirklich.«
Er wirkte nervös, und ich wartete darauf, dass er weitersprach.
»Es ist der Notruf von Kiera Templetons Mutter«, sagte er schließlich.
»Kannst du mir etwas mehr sagen? Ich habe nämlich beschlossen, für die Ausgabe dieser Woche in der Sache Kiera zu recherchieren.«
»Du recherchierst nicht über die Verklappung?«, fragte er überrascht. »Ich dachte, du willst bestehen.«
Ich war dankbar, dass er die Umarmung nicht mehr erwähnte.
»Das will ich auch, aber nicht zu dem Preis. Das Thema machen alle. Kiera verdient es, dass man ihren Fall mit einem anderen Blick betrachtet als nur mit dem voller Dollarzeichen.«
Professor Schmoer nickte zustimmend.
»Okay. Ich erzähle dir aber nur eine Sache.«
»Schieß los.«
»Bei dem Notruf scheinen die Eltern …«
»Was ist mit ihnen?«
»Sie scheinen etwas zu verheimlichen.«
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