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Der neue Nr. 1-Bestseller von Spaniens Superstar Javier Castillo – endlich auf Deutsch!
New York 2011. Zunächst war es nur ein Vermisstenfall. Dann findet man die fünfzehnjährige Allison in einer Kirche – tot an einem Kreuz. Zeitgleich erhält die Journalistin Miren Triggs das Polaroidfoto eines gefesselten und geknebelten Mädchens. Gina Pebbles, 2002, steht darunter. Schnell findet Miren heraus, dass Gina seit zehn Jahren vermisst wird. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Professor Jim Schmoer geht sie beiden Fällen nach und findet eine Spur, die zu einer streng religiösen Schule führt. Doch was ist mit dem Mädchen auf dem Foto passiert? Wer hat Miren das Bild geschickt? Und wie hängen die beiden Fälle zusammen?
Der zweite Fall für Investigativjournalistin Miren Triggs – atemberaubende Spannung vom »spanischen Stephen King« (ABC)
»Javier Castillo ist ohne Zweifel das große neue Phänomen in der europäischen Literatur.« Joël Dicker
»Der Meister des spanischen Thrillers, der alle Rekorde bricht.« Forbes
»Fesselt den Leser vom ersten Satz an.« El País
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2025
New York 2011. Zunächst ist es nur ein Vermisstenfall. Dann findet man die fünfzehnjährige Allison in einer Kirche – tot an einem Kreuz. Zeitgleich erhält die Journalistin Miren Triggs das Polaroidfoto eines gefesselten und geknebelten Mädchens. Gina Pebbles, 2002, steht darunter. Schnell findet Miren heraus, dass Gina seit neun Jahren vermisst wird. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Professor Jim Schmoer geht sie beiden Fällen nach und findet eine Spur, die zu einer streng religiösen Schule führt. Doch was ist mit dem Mädchen auf dem Foto passiert? Wer hat Miren das Bild geschickt? Und wie hängen die beiden Fälle zusammen?
Weitere Informationen zu Javier Castillo
sowie zu lieferbaren Titeln des Autors
finden Sie am Ende des Buches.
Javier Castillo
Thriller
Aus dem Spanischen
von Sybille Martin
Die spanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »El juego del alma« bei Penguin Random House Grupo Editorial, S.A.U., Barcelona.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Deutsche Erstveröffentlichung März 2025
Copyright © 2021 by Javier Castillo Pajares
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: Maria Heyens / Arcangel Images
© FinePic®, München
Redaktion: Susanne Kiesow
LS · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-32236-6V002
www.goldmann-verlag.de
Dieser Roman steht für alle Umarmungen,
die auf der Strecke geblieben sind,
für die Küsse, die verflogen sind,
für die Geschichten, die wir verloren haben.
Dies ist mein kleiner Beitrag
zum Kampf gegen die Angst
in einem Jahr,
als wir die Freiheit vermissten.
Wie kann ich mir anmaßen,
einen Teufel zu verurteilen,
an den du glaubst,
wenn ich doch selbst an ihn glaube.
Nach Mitternacht, 26. April 2011
Miren Triggs
Hab keine Angst,
denn alles hat ein Ende.
»Hilfe!«, rufe ich und halte mir den Bauch, aus dem Blut tropft. »Halt durch, Miren!«, flüstere ich verzweifelt. »Halt durch, verdammt!«
Denk nach, schnell. Denk nach. Ruf jemanden an. Bitte um Hilfe, Miren, bevor es zu spät ist.
Ich spüre, wie mit jedem Herzschlag Blut aus meinem Körper entweicht, als würde sich auf diesem unwegsamen Fluchtweg meine Seele erbrechen. Das ist das Ende.
Ich.
Sollte.
Nicht.
Weitergehen.
Auf der Straße sind nur die Schritte, die mir folgen. Sein verlängerter Schatten im Licht der Straßenlaternen wächst und verschwindet, immer wieder: groß, klein, riesig, verschluckt, gigantisch, flüchtig. Ich verliere ihn aus den Augen. Wo ist er?
»Hilfe!«, rufe ich über die verwaiste Straße, die mich aus der Finsternis anstarrt wie eine Komplizin meines Todes.
Du musst die Wahrheit erzählen, Miren. Komm schon, komm schon, komm schon! Du musst es schaffen.
Ich habe kein Handy dabei, und selbst wenn ich eines hätte, würde jegliche Hilfe zu spät kommen. Niemand wäre rechtzeitig da und würde mich retten, bevor er mich tötet. Wen auch immer ich jetzt anrufen und um Hilfe bitten würde, würde nur die Leiche einer fünfunddreißigjährigen Journalistin vorfinden, deren Seele seit jener kalten Nacht gefroren ist, als sie vergewaltigt wurde.
Der Schein von Straßenlaternen weckt immer den Schmerz von 1997 in mir, mein Weinen in einem Park, als ich von grinsenden Männern brutal gedemütigt wurde. Vielleicht sollte alles so enden, unter dem flackernden Licht einer Straßenlaterne am anderen Ende New Yorks.
Mühsam schleppe ich mich weiter. Bei jedem Schritt ein stechender Schmerz in den Rippen. Der lange, dunkle Weg führt nach Rockaway Beach, einen lang gestreckten, breiten Strand vor dem Jacob-Riis-Park, über den der Wind pfeift und der von den gefräßigen Wellen des Ozeans gegeißelt wird. Um diese Zeit ist er verwaist. Es ist dunkel, und der Schein des Vollmondes fällt traurig auf die Fußspuren im Sand. Auch die feinen Blutstropfen, die ich hinterlasse, wirken tiefschwarz. So kann Agent Miller wenigstens meinen letzten Weg rekonstruieren. Das sind die Gedanken eines Menschen, der ermordet wird: was bleibt, um den Mörder zu identifizieren. DNA-Reste unter den Fingernägeln, das Blut des Opfers im Auto. Sobald er mich getötet hat, wird er mich woanders hinbringen, und ich werde für immer von der Welt verschwunden sein. Nur meine Artikel, meine Geschichte und meine Ängste werden zurückbleiben.
Ich gelange ans Ende des Weges, biege nach links ab und zwänge mich durch ein Loch in der Betonmauer von Fort Tilden.
Was einst Militärgelände war, sind jetzt nichts weiter als ungastliche Ruinen an einem zungenförmigen Strand, der Queens vor der Gefräßigkeit des Atlantiks zu schützen versucht. Ähnlich wie Fort Tilden bin ich, die hartnäckige Journalistin der Manhattan Press, nur noch eine Ruine. Ein ängstliches kleines Mädchen ist aus mir geworden. Eine neue Version meiner Ängste. Ein schmutziger Lappen, mit dem die Welt ihre Schandtaten und Geheimnisse wegwischt. Eine Frau, die in den Händen eines Perversen stirbt.
Niemand hat mich um Hilfe gebeten. Ich musste ja unbedingt allein herkommen. Niemand hat mich aufgefordert, in diesem Fall herumzustochern, aber etwas in mir hat lautstark darauf gedrängt, nach Gina zu suchen. Ich weiß nicht, warum mir das nicht aufgefallen ist. Vermutlich musste ich mich wieder tot fühlen.
Das Polaroid. Damit hat alles angefangen. Dieses Foto von Gina. Wie konnte ich nur so naiv sein?
Ich suche verzweifelt nach einem Ausweg und bemühe mich trotz meines Keuchens, so leise wie möglich zu sein. Ich höre seine Schritte im stürmischen Wind. Ich spüre, wie die Böen mir den Sand auf die Haut peitschen, wie Querschläger in einer Schlacht zwischen Wind und Strand.
»Miren!«, schreit er wütend. »Miren! Komm raus, wo auch immer du dich versteckst!«
Wenn er mich findet, ist es zu Ende. Wenn ich hierbleibe, werde ich verbluten. Ich spüre Müdigkeit in mir aufsteigen. Die Zärtlichkeit der Nacht. Das Spiel der Seele in meiner Brust, das man angeblich spürt, wenn man viel Blut verloren hat. Ich drücke auf die Wunde, sie schmerzt, als würde man mir ein glühendes Eisen in die Haut brennen.
Ich schließe die Augen und beiße die Zähne zusammen, um gegen das Stechen in meiner Seite anzukämpfen, und plötzlich ist da wieder der hoffnungslose Gedanke.
Flieh!
Ich schaue mich um und sehe den Zaun zum Jacob-Riis-Park. Wenn ich es schaffe, ihn zu überwinden, könnte ich zu den Häusern in Rockaway laufen und um Hilfe bitten, aber der Stacheldraht würde mir die Haut zerfetzen und sich in meine Eingeweide bohren.
Ich spüre ihn näher kommen.
Nicht wegen seiner Wärme, sondern wegen seiner Kälte. Ich spüre seinen eiskalten, reglosen Körper nur wenige Schritte hinter mir, und wie er mich in meinem lächerlichen Versteck sardonisch angrinst. Ein Sohn Gottes, der sich die Lippen nach dem Opferlamm leckt.
»Miren!«, brüllt er, viel näher, als ich glaubte.
Und dann begehe ich den nächsten Fehler.
Genau in dem Moment, als er meinen Namen ruft, stehe ich auf und renne los, ich klammere mich ans Leben, obwohl alles zu Ende geht: Ich verblute, ich bin allein und spüre, dass ich immer schwächer werde.
Bei jedem Schritt denke ich an Ginas Foto, an ihr strahlendes Gesicht, an ihre Leidensgeschichte. Ich spüre sie so nah, als müsste ich nur die Hand ausstrecken, um das glatte Mädchengesicht auf dem Foto zu streicheln, das man für die Suche nach ihr verteilt hat. Warum habe ich es nicht kommen sehen?
Plötzlich ist alles anders. Ein paar Sekunden lang habe ich das Gefühl, dass er mir nicht mehr folgt. Ich kehre ins Leben zurück, ich schaffe es. Ich werde Ginas Geschichte erzählen. Ich muss es tun. Du wirst es schaffen, Miren.
Du bist gerettet.
In der Ferne sehe ich die nächtliche Skyline von New York. Wenn ich zwischen den Wolkenkratzern stehe, fühle ich mich klein, aber von Weitem wirken sie wie himmlisch strahlende Säulen aus Quarz.
Sein Schatten taucht wieder auf. Meine Kräfte schwinden, ich kann kaum noch gehen. Die Straße ist verwaist, der Vollmond aufmerksam. »Du bist tot, Miren«, scheint er zu sagen. »Das warst du immer.«
Bei jedem Schritt zerreißt es mich innerlich, jeder Schrei, den ich unterdrücke, verliert sich in absoluter Gleichgültigkeit. Nur das Rauschen des Meeres gesellt sich zu meinen kraftlosen Schritten und übertönt mein Keuchen.
»Miren, lauf nicht weg!«, schreit er.
Mühsam schleppe ich mich über den Strand, meine Füße versinken im Sand. Ich steige über eine verwitterte Holzabsperrung und gelange auf eine asphaltierte Straße, an der sich dunkle Häuser aneinanderreihen. Sie führt vom Strand nach Neponsit, einem Stadtviertel der Rockaway-Halbinsel.
Ich hämmere an die Tür des ersten Hauses und rufe um Hilfe, aber ich bin so erschöpft, dass ich kaum einen Ton herausbringe. Ich klopfe noch einmal, eher kraftlos, aber es scheint niemand da zu sein. Verzweifelt drehe ich mich um. Ich fürchte, dass er mich gleich eingeholt hat, aber er ist nirgendwo zu sehen. Meeresrauschen hüllt mich ein. Eine Welle setzt die Trümmer meiner Seele wieder zusammen. Bin ich gerettet?
Ich schleppe mich zum nächsten Haus mit einer Veranda aus runden Säulen und schmiedeeisernem Geländer, und als ich gegen die Holztür trommle, geht drinnen ein Licht an.
Meine Rettung.
»Hilfe!«, rufe ich mit neuer Hoffnung. »Rufen Sie die Polizei! Ich werde verfolgt …«
Die Gardine wird beiseitegeschoben, und im Fenster taucht das besorgte Gesicht einer weißhaarigen alten Frau auf. Wo habe ich sie schon mal gesehen?
»Bitte helfen Sie mir, Mrs!«
Sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und lächelt, was mich nicht beruhigt.
»Um Himmels willen, was ist denn passiert, mein Kind?«, sagt sie, als sie endlich die Tür geöffnet hat und im weißen Nachthemd vor mir steht. »Das sieht aber gar nicht gut aus, meine Liebe«, fügt sie warmherzig hinzu. »Ich rufe einen Krankenwagen.«
Ich starre auf meinen Bauch. Auf meinem T-Shirt hat sich ein großer Blutfleck ausgebreitet. Meine Hände sind blutverschmiert, die Tür auch.
Vielleicht findet Jim heraus, dass ich es so weit geschafft habe. Oder vielleicht besser nicht. So bleibt wenigstens einer von uns beiden am Leben.
»Ich … ich fühle mich nicht gut«, murmele ich.
Ich muss schlucken und schmecke Blut im Mund. Alles geht so schnell, dass mir nicht mal Zeit zum Schreien bleibt.
Als die Frau erschrocken aufblickt, sehe ich einen Schatten an der Tür, dann hält mir eine kalte, raue Hand den Mund zu, und ein starker Arm umklammert meinen Oberkörper.
Das ist das Ende.
Ich erkenne den Tod in den schwarzen Augen der alten Frau, in der Leere meiner Brust, in meinem letzten Atemzug, während er mir den Mund zuhält. Und ohne es zu wollen …
… erinnere ich mich an alles.
Fort Tilden
23. April 2011
Drei Tage zuvor
Ben Miller
Lauf, Schwester,
bevor die Monster kommen,
die man uns versprochen hat.
Agent Benjamin Miller stellte seinen Wagen, einen grauen Pontiac mit New Yorker Kennzeichen, auf einem mit Gestrüpp und wilder Vegetation gesäumten Weg auf dem Gelände von Fort Tilden ab, genau gegenüber von drei Streifenwagen mit eingeschalteten Scheinwerfern.
Der Anruf war am Abend eingegangen. Er wollte gerade das Hähnchen essen, das seine Frau zubereitet hatte. Lisa hatte besorgt aufgeschaut, als Ben seine Gabel auf den Teller fallen ließ und zum Handy griff. Beim Blick in sein ernstes Gesicht folgte der Sorge Bedauern, weil sie wusste, was solche Anrufe bedeuteten.
»Glaubt ihr, es ist Allison?«, hatte Miller gefragt, und kurz darauf hinzugefügt: »Verstehe. Wo? Fort Tilden?«
»Musst du jetzt noch los?«, hatte Lisa gefragt, als er hastig aufstand, obwohl sie die Antwort schon kannte.
Es störte sie, dass Bens Arbeit in ihrem Leben so viel Raum einnahm, dass sie einen Großteil seiner Gedanken beanspruchte. Aber sie lebten inzwischen schon so viele Jahre mit der Hoffnungslosigkeit wegen der vielen Vermisstenfälle, dass sie am Tisch sitzen geblieben war und einen Schluck Wasser getrunken hatte, während sie, wenn schon nicht eine Antwort, wenigstens eine Erklärung für den Grund seines überstürzten Aufbruchs erwartete.
»Es scheint ernst zu sein, Lisa«, hatte er gesagt. »Erinnerst du dich an Allison Hernández?«
»Das elfjährige Mädchen aus New Jersey?«
»Nein … aus Queens. Fünfzehn, langes dunkles Haar.«
»Ach ja. Das war doch erst letzte Woche, oder? Hat man sie gefunden?«
»Sie glauben, ja.«
»Tot?«, hatte Lisa mit neutraler Stimme gefragt.
Ben hatte nur wortlos seine Tasche geholt, sein graues Jackett von der Garderobe genommen und sich dann verabschiedet. Ein kleiner Prozentsatz seiner Fälle endete so: mit einem Anruf bei der Vermisstenstelle von Jugendlichen oder Wanderern, die im Flussbett des Hudson eine Leiche entdeckt hatten, die seit Tagen darin trieb, oder, wie vor Kurzem, zerteilt in einem Koffer lag. In diesem Fall hatten die Kollegen von der Spurensicherung nicht nur die Geschehnisse rekonstruieren müssen, sondern auch den Körper.
»Morgen ist …«, hatte Lisa ihn erinnert.
»Ich weiß. Ich werde rechtzeitig zu Hause sein«, hatte er traurig geantwortet.
Es war ein langer Weg von Grymes Hill auf Staten Island, wo er in einem weiß gestrichenen Holzhaus mit blauen Fensterläden und wunderschönem Garten wohnte, auch wenn der Zaun etwas hinfällig war. Um nach Fort Tilden zu gelangen, hatte er inmitten einer endlosen Flut aus roten Lichtern die Verrazano-Narrows-Bridge Richtung Brooklyn überqueren müssen, wobei er an Allisons Eltern dachte und überlegte, wie er ihnen die Nachricht überbringen sollte. In Brooklyn nahm er die Küstenstraße, den schnellsten Weg zur Halbinsel Rockaway. Als er die Brücke dorthin überquerte, fiel ihm auf, dass der Verkehr sichtlich abgenommen hatte und er durch eine Gegend fuhr, die weit entfernt war von der Hektik und dem Stress der City. Die Leere, die Weite und der Platz zwischen den Gebäuden hatten nichts von der erdrückenden Atmosphäre Manhattans. Von der Brücke aus betrachtet schien Rockaway einen anderen Rhythmus zu haben, als er es gewohnt war. Er gelangte auf ein karges Gelände, das sich hinter der Brücke auftat, und sah mehrere Wegweiser Richtung Fort Tilden. Als er nach rechts abbog, erblickte er auf dem Rockaway Boulevard zwei Polizisten neben ihrem Streifenwagen, genau dort, wo ein Weg in den Jacob-Riis-Park führte.
»Agent Miller, Abteilung Vermisste Personen«, sagte er durch das offene Wagenfenster. Es roch nach Meer, nach feuchter, salziger Luft. »Ich wurde wegen des Mädchens angerufen, das man hier in Fort Tilden gefunden hat. Könnte sich um einen meiner Fälle handeln.«
Die Officers sahen sich besorgt an.
»Wo wurde die Leiche gefunden?«, fügte Ben hinzu. »Sie müssen wissen, dass ich noch nie in dieser Gegend war. Könnte mir vielleicht einer den Weg erklären?«
Der Kleinere antwortete schließlich: »Es ist ganz hinten, hinter der Absperrung. Wir warten auf die Spurensicherung. Es ist schrecklich. So was habe ich noch nie gesehen.«
Agent Miller fuhr weiter und konnte schon bald das Blaulicht der Streifenwagen vor einem Betongebäude erkennen, das üppiger Vegetation anheimgefallen war. Als er langsamer fuhr, um den Unterboden seines Pontiac nicht zu beschädigen, gingen ihm die Worte des Polizisten durch den Kopf: »So was habe ich noch nie gesehen.«
Ein Officer brachte gerade das Absperrband am Außenspiegel seines Streifenwagens an, dessen Scheinwerfer auf das verfallene Gebäude voller Graffiti gerichtet waren. Ein Polizist mit einem Man Bun sprach mit zwei Jungs von ungefähr vierzehn Jahren, deren BMX-Räder neben dem Streifenwagen auf dem Boden lagen.
Bevor er ausstieg, nahm Miller die Akte, auf deren Deckel in roten Buchstaben »Allison Hernández« stand, vom Beifahrersitz. Er schlug sie auf und betrachtete kurz das Foto: Ein Mädchen mit kastanienbraunem, fast schwarzem Haar und spitzer Nase blickte fröhlich in die Kamera. Lesen musste er nichts. Er kannte ihre Geschichte auswendig, er wusste auch, welche Kleidung sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens getragen hatte: schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt mit Pepsi-Logo. Er legte die Akte zurück und zeigte dem Polizisten, der den Tatort bewachte, seine Marke.
»Wo?«, fragte Miller.
»Da drin. Passen Sie auf mit der rostigen Eisentür.«
»Haben die beiden sie gefunden?«, fügte er hinzu und zeigte auf die Jungs.
Der Officer nickte.
»Habt ihr die Eltern verständigt?«
»Sie sind unterwegs. Sie müssen uns aufs Kommissariat begleiten.«
»Zeigen Sie mir den Weg zu …?«
»Ich will sie lieber nicht noch einmal sehen, Agent. Ich habe eine Tochter in dem Alter.«
Ben Miller sah, dass die Hände des Mannes zitterten. Er war um die vierzig und sah aus, als hätte er schon viele Dienstjahre auf der Straße auf dem Buckel, trotzdem wirkte er betroffen. Eine Stadt mit neun Millionen Einwohnern zeigt sich meist ausgesprochen kreativ, wenn sie ihre Leichen preisgibt, weshalb sich die Kollegen des Polizeikorps schnell ein dickes Fell zulegen.
»Okay. Wo ist sie?«
»Dort drin, Scott und Carlos sind vor Ort. Zweiter Raum links.«
»Geben Sie mir Ihre Taschenlampe?«, fragte Miller und streckte die Hand aus.
Der Polizist zog sie aus seinem Gürtel, aber bevor er sie Miller geben konnte, tauchte ein hochgewachsener und perfekt gekämmter dunkelhaariger Kollege im Türrahmen auf.
»Agent Miller?«, rief er, was im Tosen einer Welle unterging, die sich weiter hinten brach. Der Atlantik war ungefähr zweihundert Meter entfernt, aber der Wind trug die Geräusche heran. »Wir glauben, dass es Allison ist. Wir warten auf die Spurensicherung, um Fingerabdrücke und DNA zu überprüfen.«
»Kann ich sie sehen?«, fragte Miller.
»Sind Sie religiös?«, fragte Carlos mit besorgter Miene zurück.
»Seit wann ist das wichtig?«
»Seit heute, Agent. Gott wird nicht glücklich darüber sein, was mit diesem Mädchen passiert ist.«
»Sie sind also gläubig?«
»Natürlich, Agent. Gott gab meiner Mutter die Kraft, die Wüste zu durchqueren und die Grenze zu überwinden, als sie mit mir schwanger war. Sie hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Gott hat es gut mit mir gemeint. Wenn ich nach Hause komme, werde ich meine Frau küssen, zu Gott beten und ihn um Vergebung bitten.«
Agent Miller entnahm seinen Worten, dass Carlos das Ganze sehr mitnahm. Er drehte sich um und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Es handelte sich um eine Art Lagerhalle, ziemlich verfallen und mit zahlreichen Öffnungen, die wohl mal Fenster gewesen waren. Geblieben waren nur die Rahmen, deren Rost im Scheinwerferlicht rötlich glänzte.
Carlos ging voraus und schaltete seine Taschenlampe ein, als er in die Dunkelheit trat. In ihrem Schein war ein Raum voller Schmierereien, Trümmer und kaputter Matratzen zu erkennen, aus denen die Sprungfedern herausragten.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte Carlos.
»Warum haben Sie gesagt, dass Sie Gott um Vergebung bitten werden?«, fragte Miller, der ihm folgte.
Carlos blieb kurz stehen, drehte sich um und sagte ernst: »Dafür, dass ich mich vor dem Kreuz nicht bekreuzige.«
Dieser Satz hallte noch in Bens Kopf nach, als Carlos nach links abbog und durch ein Loch verschwand, das früher mal eine Tür gewesen sein musste. Daneben lag ein verrosteter Einkaufswagen auf dem Boden. Miller passte auf, dass er nicht darüberstolperte. Als er den nächsten Raum betrat, fand er sich überraschenderweise in einer viel größeren Halle wieder, mit doppelt so hohen Decken. Das Licht des zunehmenden Mondes fiel durch die kaputten Fensterscheiben unterhalb der Decke. Die Halle kam Miller riesig vor, zumindest soweit er das im Schein von Carlos’ Taschenlampe erkennen konnte. Plötzlich sah er ganz hinten in einer Ecke eine weitere Taschenlampe. Ihr Lichtkegel wurde jäh auf ihn gerichtet und blendete ihn.
»Das ist Agent Miller von der Vermisstenstelle«, sagte Carlos zu seinem Kollegen Scott. Er war bereits in der Mitte der Halle angekommen und leuchtete Miller den Weg, damit er nicht über die unzähligen vergammelten Sessel stolperte, die in Zwölferreihen und mit Blick zur Wand im Raum standen.
»Was ist denn das hier?«, fragte Miller irritiert.
»Eine Art Kirche«, antwortete Carlos sichtlich betroffen. »Und sie …« Seine Stimme brach, als er die Taschenlampe auf ein imposantes rotes Kreuz an der Wand richtete, das der Agent bisher nicht gesehen hatte. »Sie ist eine Art Jesus.«
Agent Miller spürte, wie ihm flau im Magen wurde und seine Beine nachgaben, als würde der Boden unter ihm beben und er gleich in einen schwarzen Schlund stürzen, wie in seinen Angstträumen als Kind. Sein Herz verkrampfte sich, und seine Kehle war wie zugeschnürt beim Anblick von Allisons leblosem Körper an dem roten Holzkreuz. Sie hing mit nacktem Oberkörper und einem blutverschmierten weißen Tuch um die Hüften am Kreuz, die Füße übereinandergelegt und die Arme weit ausgestreckt. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Miller musste schwer schlucken, als er im Geiste Allisons heiteres Gesicht von dem Foto, das er sich gerade noch angesehen hatte, auf dieses Gesicht mit den geschlossenen Augen projizierte. Die Augenpartie war schwarz bemalt, eine Art Maske, was ihr den Ausdruck verlieh, nichts sehen zu wollen. Der Boden unter dem Kreuz war getränkt von Blut, es stammte aus einer Wunde an den Rippen. Ihr Kopf hing zur Seite, als schliefe sie für die Ewigkeit.
»Wer hat das getan?«, rief er fassungslos.
New York
23. April 2011
Drei Tage zuvor
Miren Triggs
Wenn du deine Seele verwettest,
kannst du gewinnen oder verlieren,
bist aber nie wieder du selbst.
Meine Verlegerin konnte nicht fassen, dass ich so überstürzt aus der Buchhandlung lief, um herauszufinden, wer mir den Umschlag mit dem seltsamen Foto hingelegt hatte. Sie war es bestimmt nicht gewohnt, dass ihre Autorinnen gleich nach dem Signieren davonrannten. Ich war selbst überrascht von meiner Reaktion. Kaum hatte ich michs versehen, stand ich keuchend vor der Tür, bekam vor Angst kaum noch Luft und suchte mit dem Blick nach bekannten Gesichtern unter den Regenschirmen. Ich war inzwischen einfach unberechenbar, selbst für mich.
Es war die letzte vertraglich vereinbarte Präsentation mit Signierstunde, nachdem ich über meine zwölfjährige Suche nach Kiera Templeton ein Buch geschrieben hatte. Das dreijährige Mädchen war 1998 während der Thanksgiving-Parade verschwunden, und ich hatte damals einen ausführlichen Artikel in der Manhattan Press veröffentlicht, der wichtigsten Tageszeitung der Vereinigten Staaten.
Über Kiera ein Buch zu schreiben, war nie meine Absicht gewesen, nicht einmal während meiner Suche nach ihr. Aber das Angebot des Verlags konnte ich nicht ablehnen. Eine Million Dollar für das Manuskript plus zwölf Buchvorstellungen. Ich hatte mich in der Redaktion freistellen lassen und mich in den ungewöhnlich langen Schreibprozess vertieft. Der überraschende Erfolg des Buches hatte mich regelrecht überrollt, ich war gefangen im Strudel aus Interviews und Präsentationen und verlor die Übersicht. Eigentlich war es meine Absicht gewesen, anschließend wieder in meinen Job zurückzukehren, aber der Vertrag und die damit einhergehenden Verpflichtungen hielten mich länger von meiner journalistischen Arbeit ab, als mir lieb war.
Bei den ersten elf Buchvorstellungen hatte ich getan, was von mir verlangt wurde: tapfer von den Besonderheiten der Geschichte berichten, herzlich auf die Leserinnen eingehen, die eine Widmung von mir wünschten, und den Buchhändlern höflich begegnen. Mein Buch wurde in den USA zum Bestseller, doch ich war unfähig, den Erfolg zu genießen. Ich glaube, ich war einfach nicht darauf gefasst gewesen und hatte es auch nicht angestrebt. Die halbe Welt hatte nach dem Mädchen im Schnee gesucht, ihr Verschwinden wurde zum Rätsel einer halben Generation, die unbedingt erfahren wollte, was mit Kiera geschehen war, und vor allem, ob sie gelitten hatte. Aber der Schmerz, den ich in unzähligen Buchseiten ausbreitete, war immer nur mein eigener. Vielleicht war das der Grund, warum ich nach zwölf derartigen Veranstaltungen genug hatte.
Nichts weckt mehr Aufmerksamkeit als ein leidender Mensch. Wir können unmöglich den Blick abwenden, das weiß die Presse ganz genau. Es waren so viele Menschen zu dieser letzten Buchvorstellung erschienen, dass mir schlicht entgangen war, wer aus dem Publikum den braunen Umschlag zu den Geschenken und Briefen auf den Tisch gelegt hatte.
Als ich ihn zur Hand nahm, glaubte ich, es sei ein Liebesbrief. Dass mit einem verliebten Leser die Fantasie durchgegangen wäre und er sich wegen der Zeilen, die ich ihm ins Buch geschrieben hatte, einbildete, ich sei die geeignete Partnerin für ihn. Nichts war weiter von der Realität entfernt. Ich war nicht mal mir selbst eine gute Gesellschaft.
Auf dem braunen Luftpolsterumschlag stand in krakeliger Schrift: WILLSTDUSPIELEN? Die Buchhändlerin, die mir half, die Geschenke und Briefe einzupacken, sagte: »Das ist bestimmt ein erotisches Angebot. Mach ihn auf, dann haben wir was zu lachen.«
Der Umschlag ließ ein seltsames Gefühl in mir aufsteigen, begleitet von den Akkorden eines tragischen Endes. Das krakelige WILLSTDUSPIELEN? hatte etwas Verstörendes, das sich in meiner Seele festsetzte.
»Vielleicht ein verrückter Fan. Angeblich haben alle Schriftsteller einen«, sagte die Buchhändlerin scherzhaft.
»Danach sieht die Schrift auch aus«, erwiderte ich ernst.
Tatsächlich hatten diese drei Worte eine enorme Sprengkraft. Ein Teil von mir wollte diesem Gefühl nicht nachgeben, und ich wünschte mir von ganzem Herzen, gute Absichten darin erkennen zu können. Während der gesamten Signierstunde war ich mit begeisterten Blicken und lobenden Worten beschenkt worden, und meine verwundete Seele hatte sich an diesen Lichtblick in einer düsteren Welt geklammert.
Ich riss den Umschlag auf und griff hinein. Ich fühlte nur etwas Kaltes, Glattes. Als ich es herauszog, erkannte ich, dass es ein unscharfes, schlecht fokussiertes Polaroidfoto war, dessen Motiv mir einen Stich versetzte: In einem Transporter saß ein geknebeltes blondes Mädchen und starrte in die Kamera. Darunter stand in derselben krakeligen Schrift wie auf dem Umschlag: GINAPEBBLES, 2002.
Ich spürte den Adrenalinkick bis in die Fingerspitzen, als ich mit dem Foto in der Hand die Straße nach demjenigen absuchte, der es mir hingelegt hatte. Doch mein Versuch wurde vom Regen vereitelt. Es fielen weiche Tropfen, sie wirkten wie Tränen. Ungefähr zwanzig Regenschirme versperrten mir die Sicht in beide Richtungen der Straße, und das katapultierte mich schlagartig wieder in diese Einsamkeit, die ich manchmal verspürte, selbst wenn ich von Menschen umgeben war.
Es ist schwer, sich in Gesellschaft wohlzufühlen, wenn die ganze Welt erhobenen Hauptes durchs Leben geht, aber unfähig ist, den Blick auf uns zu richten, die wir in unseren Albträumen gefangen sind.
»Was ist denn los, Miren?«, fragte meine Verlegerin Martha Wiley hinter mir.
Ich antwortete nicht.
In der Ferne sah ich einen Mann, der ein Mädchen in rotem Mantel an der Hand hatte. Ich erinnerte mich an sie. Sie hatte vor wenigen Minuten vor mir gestanden, und ihre Worte hallten noch in meinem Kopf nach: »Wenn ich groß bin, will ich sein wie du und alle vermissten Kinder finden.«
Ich lief ihnen hinterher, wobei ich nassen Körpern und Mänteln ausweichen musste. Ich spürte, wie mir der Regen in den Nacken lief, als wären die Tropfen winzige Eiswürfel, die auf meiner Haut schmolzen.
»Warten Sie mal!«, rief ich.
Ein paar Leute drehten sich nach mir um, aber nur kurz, bis sie erkannten, dass es nichts Wichtiges war. Ich kannte diese Gleichgültigkeit, mit der wir Menschen uns durch die Straßen bewegen. Hätte ich um Hilfe gerufen, wäre die Reaktion genauso ausgefallen. Jeder schmort in seinem eigenen Höllenfeuer, und nur wenige riskieren es, das Feuer der anderen zu löschen.
Dann sah ich, wie der Mann und das Mädchen unter dem schwarzen Regenschirm an der Straßenecke stehen blieben und ein Taxi anhielten.
»Haben Sie …?«, rief ich keuchend, als ich sie endlich eingeholt hatte.
Das Mädchen drehte sich erschrocken um. Der Mann sah mich besorgt an.
»Was ist los?«, fragte er stirnrunzelnd und legte seiner Tochter schützend den Arm um die Schultern.
Die Wagentür ging auf, den Regenschirm hatte er schon zugemacht.
Doch der Blick der Kleinen machte mich sprachlos. Ich sah die Angst in ihren Augen, die Verwirrung in ihrer Seele. Ihre Begeisterung von der Signierstunde war verschwunden und hatte etwas anderem Platz gemacht, auf das ich nicht stolz war.
»Haben Sie …?« Die Frage schien sich von selbst beantwortet zu haben. »Ich meine …«, korrigierte ich mich, während der Regen meine Hoffnung davonspülte. »Die Kleine hat ein Geschenk verdient, weil sie ein ganz besonderer Gast war«, sagte ich, um das Mädchen zu beruhigen. Sie dürfte acht oder neun Jahre alt sein. »Das ist für dich.« Ich hielt ihr den Kugelschreiber hin, mit dem ich die Bücher signiert hatte.
Der Vater starrte mich verblüfft an. Er schien zu spüren, dass mich etwas quälte. Ich war nicht gern so durchschaubar, aber manchmal schimmerte unweigerlich durch, wer ich wirklich war. Beide, Vater und Tochter, stiegen wortlos ins Taxi. Ich las es in ihren Augen. Ich spürte, was sie mir eigentlich sagen wollten: Du bist vielleicht ein schräger Vogel.
Der Mann schlug die Wagentür zu und nannte dem Taxifahrer die Adresse.
»Nimm den Kugelschreiber, meine Kleine«, sagte ich durchs offene Fenster, wohl wissend, dass meine Verzweiflung der Grund für die Angst in ihren Augen war. »Er ist für dich. Eines Tages wirst du eine große Journalistin sein.«
Das Mädchen streckte wortlos die Hand aus und nahm den Kugelschreiber.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wir müssen los«, sagte der Vater.
Ich zog meinen Arm zurück, und das Taxi fuhr Richtung Norden davon, die roten Rücklichter verloren sich zwischen anderen, ebenso wie meine Hoffnung, die Lösung gefunden zu haben. Es fühlte sich an, als würde mein Körper in Stücke gerissen.
Hinter mir erklang Martha Wileys Stimme wie ein Dolchstoß, wobei sie ihren grünen Regenschirm über mich hielt.
»Bist du verrückt geworden, Miren? Du kannst doch nicht einen solchen Eindruck bei der Buchhändlerin hinterlassen! Und erst recht nicht deine Leser verfolgen. Hast du den Verstand verloren? Das geht gar nicht. Du hättest …«
»Es … Es tut mir leid«, stammelte ich im Versuch, Martha zu besänftigen. »Aber das Foto …«
»Der Grund ist mir egal, aber es freut mich zu hören, dass es dir leidtut. Ich werde ein derartiges Benehmen nicht tolerieren, Miren. Ich kann verstehen, dass du schüchtern bist, und ich schätze es wirklich, dass du dich anstrengst und beim Signieren aus deiner … Komfortzone herauskommst. Aber wir müssen Bücher verkaufen. Und das hängt von deinem Image ab. Du darfst nicht theatralisch werden. Du darfst nicht verschroben wirken. Morgen haben wir zwei Interviews, eines davon bei Good Morning America, und du musst fröhlicher auftreten. Ich will dich lachen und scherzen sehen.«
»Interviews?« fragte ich verwirrt. »Ich muss in die Redaktion zurück.«
»Redaktion? Die Verkäufe gehen durch die Decke, Miren. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Rad zum Stillstand kommt.«
»Im Vertrag steht, dass ich zwölf Präsentationen absolvieren muss. Das war die letzte.«
»Die letzte? Bist du verrückt geworden? Das steht vielleicht im Vertrag, aber je mehr Buchvorstellungen und Medienpräsenz, desto mehr Bücher werden verkauft. Im Vertrag steht auch, dass die Autorin allen Marketingmaßnahmen zustimmt, die der Verlag im Jahr nach der Veröffentlichung unternimmt. Das Buch ist gerade erst erschienen. Die ganze Welt spricht davon. Alle wollen dich sehen.«
Ich ließ den Kopf hängen und starrte auf das Foto. Als sie diese Vertragsklauseln herunterbetete, hatte ich nicht mehr zugehört.
»Miren! Ich rede mit dir!«
»Ich muss in die Redaktion zurück. Ich habe mich … schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt«, sagte ich laut, aber nicht zu ihr.
»Bis zu deiner Rückkehr in die Redaktion bleibt noch genug Zeit, Miren.« Sie hatte die Stimme erhoben. »Jetzt ist nur wichtig, dass du dich auf das Interview morgen konzentrierst. Weißt du schon, was du anziehen wirst?«
Ich konnte meine Augen nicht von Gina Pebbles’ erschrockenem Blick auf dem Foto abwenden, auf dem sich feine Regentropfen ansammelten und gleich an den Rändern hinablaufen würden. Die Angst im Blick, der Knebel in ihrem Mund, die Haltung der auf dem Rücken gefesselten Arme, ihr blondes Haar.
»Ist es wegen dem Foto? Das ist ein böser Scherz. Einer deiner Fans wollte dich auf die Probe stellen, und das ist ihm auch gelungen. Vergiss es. Du gehst jetzt nach Hause, nimmst ein Bad und ruhst dich aus, ich hole dich morgen ab. Enttäusche mich nicht, Miren. Wir haben viel in dieses Buch investiert.«
Ich sah sie den Arm heben und kurz darauf ein Taxi anhalten.
»Steig ein, Miren. Ich entschuldige mich für dich bei der Buchhändlerin. Morgen um acht hole ich dich ab.«
Sie öffnete die Wagentür, und ich blickte auf. Vor mir stand Martha Wiley mit schwarzem Hosenanzug und grünem Regenschirm und zeigte mit ernster Miene auf das Taxi.
»Worauf wartest du?«, fragte sie verstimmt.
Ich war klitschnass. Der kalte Regen war so schmerzhaft wie die Vorstellung, in dieses Taxi zu steigen und am nächsten Tag geschminkt und gestylt vor dem ganzen Land über das Buch und Kiera Templeton zu sprechen. Ich seufzte resigniert und machte einen Schritt auf den Wagen zu. Als ich mich bereit erklärt hatte, über meine Suche nach Kiera ein Buch zu schreiben, hatte ich mir den ganzen Medienrummel nicht vorstellen können. Auch nicht, dass ich mich so weit von dem, was mich ausmachte, entfernen würde.
»Freut mich, dass du Vernunft annimmst«, sagte Martha abschließend. »Wir werden Millionen Exemplare verkaufen, Miren. Millionen! Außerdem habe ich eine gute Nachricht, von der ich dir noch nichts erzählt habe. Ich habe eine Einladung in Oprahs Sendung. Oprah Winfrey! Es gibt noch keinen Termin, aber das ist der Knüller. Wir werden triumphieren, Miren!«
Ich starrte wieder auf das Foto. So schwach. So verletzlich. So schutzlos. Ginas Blick war mein Blick. Ihre Augen flehten um Hilfe. Meine Seele verlangte danach, sie zu finden.
Dann sagte ich zu Martha: »Das war die letzte Buchvorstellung, Martha. Du kannst alles canceln, was du organisiert hast.«
Sie ließ vor lauter Überraschung fast den Regenschirm fallen.
»Hast du mir nicht zugehört?«, schimpfte sie empört. »Morgen um acht stehe ich vor deiner Tür. Red keinen Unsinn!«
»Es ist vorbei, Martha«, versicherte ich ihr.
»Wie bitte?«
»Wenn du mir was zu sagen hast, schick mir eine Mail.«
»Im Vertrag steht klipp und klar …«
»Der Vertrag interessiert mich einen Scheiß«, unterbrach ich sie ernst, und ich glaube, das ließ sie erst richtig explodieren.
»Wie kannst du es wagen?«
»Bye, Martha«, fiel ich ihr erneut ins Wort, weil ich gemerkt hatte, dass sie das nicht ausstehen konnte.
Dann wandte ich mich ab und ging im Regen davon.
»Miren! Komm sofort zurück und steig ins Taxi!«
Ich zitterte, aber nicht wegen der Situation, sondern wegen Gina. Wer auch immer mir den Umschlag mit diesem Foto hinterlegt hatte, hatte mir gleich zwei Gründe für diesen unverschämten Auftritt geliefert: meine eigene Rettung – und, wer weiß, vielleicht auch die Rettung von Gina. Ich hörte Martha rufen, sie klang wie ein plärrendes Baby.
»Du bist am Ende, Miren! Hörst du?« Und noch lauter, wenn das möglich war: »Vollkommen am Ende!«
Ich ging um die Ecke, und sie verschwand aus meinem Blickfeld.
Ich keuchte. Ich war nervös. Ich spürte, wie meine Finger vor lauter Besessenheit kribbelten. Ich blieb abrupt stehen. Erst kamen die Tränen. Dann die Unsicherheit.
»Wer hat dich entführt, Gina?«, fragte ich das Foto. »Wo bist du?«
Damals konnte ich nicht wissen, dass der Versuch, diese beiden simplen Fragen zu beantworten, zu einer Reihe von dramatischen Ereignissen führen sollte.
Manhattan
23. April 2011
Drei Tage zuvor
Jim Schmoer
Die Wahrheit findet immer einen Weg,
um alles zu zerstören.
Zur Überraschung der zweiundsiebzig jungen Menschen, die ihn verblüfft anstarrten, stieg Professor Schmoer auf den Tisch und las die Schlagzeilen des Tages vor.
»Einundachtzig Personen bei Protesten in Syrien durch Sicherheitskräfte getötet«, rief er und brachte damit einen Teil der Zuhörer zum Verstummen.
Wenige Minuten zuvor war er grußlos eingetreten und hatte sich mit zwei Tageszeitungen in der Hand an den Tisch gelehnt, aus denen er gewöhnlich zu jedem Seminarbeginn zitierte. An diesem Tag schien die Sonne, obwohl für den Nachmittag kräftiger Regen angesagt war. Der Frühlingsbeginn, so strahlend wie wechselhaft, hatte die Bäume austreiben und den Geist der aufgeregten jungen Menschen erblühen lassen, die aus allen Teilen des Landes zum »Immersive Saturday« an die Columbia University gekommen waren, einem eintägigen Schnupperkurs für Abiturienten. Manche hatten den Professor zwar eintreten sehen, aber einfach weitergeschwatzt. Noch glaubten sie, das Studium an der Columbia University würde ebenso ein Spaziergang werden wie auf der Highschool.
Jim Schmoer wusste, dass in den Köpfen von Erstsemestern noch die absurde Vorstellung vorherrschte, die schnöde Realität habe wenig mit der Wissenschaft zu tun. Was jedoch ein großer Irrtum war, besonders im Studiengang Journalistik, bei dem die Realität nicht nur in jedem Seminar behandelt wurde, sondern auch Auswirkungen auf Seminararbeiten und Professoren hatte. Die Realität war täglich präsent an den Kiosken des Landes, drang über Fernseh- und Radiosender in die Häuser und erteilte selbstverständlich auch in diesem Hörsaal Lektionen, denen man besser Aufmerksamkeit schenken sollte.
»Unter den Toten«, fuhr Jim Schmoer ungerührt fort, »sind auch zwei Kinder im Alter von sieben und drei Jahren, die Opfer eines Kreuzfeuers zwischen Polizei und Demonstranten wurden.«
Als sie das hörten, verstummten auch die Letzten.
»Sie hießen Amira und Jamal. Jamal wurde von einem Querschläger der Polizei getroffen, als er mit seiner Mutter die Straße überqueren wollte. Als seine Schwester Amira zu ihm lief, wurde sie von einem Pflasterstein am Kopf getroffen, den die Demonstranten als Munition gegen das Militär einsetzten. Beide waren sofort tot.«
Es herrschte Grabesstille. Jims Tonfall war so streng, dass die gesamte Zuhörerschaft erstarrt war. Mit diesen Ausführungen sollte er sich später zwei Mails von besorgten Eltern einhandeln, die sich über seinen Lehrstil und die daraus folgende Traumatisierung ihrer Kinder beschwerten und zudem ankündigten, dass sie sich noch einmal überlegen würden, ob sie ihre Kinder an dieser Uni einschreiben sollten.
»Gut. Da ich jetzt Ihre volle Aufmerksamkeit habe, will ich Ihnen eine Frage stellen: Wer hat die wichtigsten Tageszeitungen von heute gelesen?«
Nur vier Arme hoben sich. Diese Reaktion war Jim von seiner »Einführung in den Investigativjournalismus« gewohnt. Von Studienbeginn an veränderte sich die Situation praktisch mit jedem Semester, bis zum vierten, in dem er sich endlich mit wahrheitshungrigen zukünftigen Journalistinnen und Journalisten konfrontiert sah. Seine Aufgabe an diesem Tag war es eher, die jungen Leute dazu anzuregen, mit Leidenschaft zu recherchieren, und ihnen einzuimpfen, dass Wahrheitsfindung und Faktensuche die einzigen Waffen gegen Tyrannei waren. Sie in kleine Jagdhunde der Information zu verwandeln. Ihre Empörung darüber anzustacheln, dass gewisse Geschichten nie ans Licht kamen, weil sie nicht erzählt wurden. Bei den Studierenden im zweiten Semester, wenn das Thema »Politischer Journalismus« anstand, war es sein persönliches Ziel, sie dazu anzuregen, sämtliche Behauptungen aus den Pressestellen der Regierung infrage zu stellen. Er formte jeden Studierenden zu einem Sprengsatz, der imstande war, jede auf einer Lüge basierende Rede zu zerpflücken. Am liebsten waren ihm jedoch die Viertsemester, denen er das grundlegende Wesen des Investigativjournalismus und seine Widrigkeiten nahebrachte. Ein Thema zu wählen und es auszuweiden. Im gleißenden Licht der Präsentation von Unternehmen oder Politikern auch die Schattenseiten zu erkennen.
»Nun gut«, fuhr er fort. »Im heutigen Artikel der Manhattan Press über den Aufstand in Syrien und die traurige Zahl an Opfern durch die eigene Regierung werden diese beiden Kinder an keiner Stelle erwähnt. Was glaubt ihr, warum nicht?«
Ein junger Mann auf der linken Seite wagte sich vor. »Um krankhafte Sensationsgier zu vermeiden?«
Jim schüttelte den Kopf und zeigte auf eine junge Frau mit glattem Haar rechts neben ihm.
»Weil …, weil sie es nicht wussten?«, mutmaßte sie zögerlich.
Dem Professor huschte ein Grinsen übers Gesicht, und er zeigte auf einen anderen jungen Mann in der letzten Reihe, der gerade noch gelacht und gefeixt hatte.
»Ich …, ich weiß es nicht, Professor. Ich …«
»Okay«, sagte Jim und führte dann aus: »Es gibt eine ganz einfache Erklärung dafür, die ihr euch von jetzt an einschärfen solltet. Die beiden toten Kinder wurden aus dem einfachen Grund nicht erwähnt, weil ich sie mir gerade ausgedacht habe.« Damit wollte er ihnen eine Lektion fürs Leben erteilen. »Die Wahrheit ist das einzig Wichtige und das Einzige, was in einer seriösen Tageszeitung veröffentlicht werden darf. Die schlichte und reine Wahrheit. Deshalb ist mir wichtig, dass ihr kritisch seid. Die Welt braucht kritische Geister bezüglich aller Informationen. Wenn ich sage, dass zwei Kinder tot sind, macht ihr euch auf die Suche und überprüft, ob es wahr ist. Wenn ein Politiker sagt, dass ein Teil des Budgets der Stadtverwaltung dafür eingesetzt wird, Kinderspielplätze zu bauen, probiert ihr die verdammten Rutschen selbst aus. Ihr müsst alles überprüfen. Ihr müsst verifizieren, was gesagt wird. Denn wenn ihr es nicht tut, seid ihr keine Journalisten, sondern einfach nur die Komplizen von Betrügern.«
Das junge Publikum hielt vor Aufregung den Atem an. Jim überraschte diese Reaktion nicht. Er hielt diese Einführung vor allen zukünftigen Studierenden, obwohl er sich immer wünschte, dass jemand gleich zu Beginn den Schwindel aufdecken würde.
Als er mittags den Schnupperkurs beendete, klatschten die zweiundsiebzig Anwesenden. Einige verließen den Hörsaal mit dem festen Vorhaben, Journalistik zu studieren. Andere gingen in der Überzeugung, noch nicht bereit zu sein für einen Beruf, dessen oberste Maxime Kampfgeist zu sein schien.
Als er das Gebäude verließ, sah Jim Schmoer, dass Steve Carlson, der Dekan des Fachbereichs Journalistik, am Fuße der Jefferson-Statue auf ihn wartete.
»Wie lief es denn so, Jim?«, fragte er anstelle eines Grußes.
»Gut. Wie jedes Jahr. Ich wüsste gern, wen ich zu Semesterbeginn wiedersehe.«
»Gut, gut«, erwiderte der Dekan geistesabwesend.
»Was ist los, Steve? Ist was passiert?«, fragte Jim irritiert.
»Keine Sorge. Du weißt ja, wie sehr ich dich schätze. Ich finde deine Arbeit mit den Studierenden unentbehrlich, und deshalb will ich dich auch hier haben.«
»Wer war es diesmal?«
»Es gibt weitere Beschwerden.«
»Von meinen Studierenden?«
»O nein, die sind begeistert. Versteh mich nicht falsch.«
»Die Direktion?«
Steve zögerte kurz und nickte schließlich.
»Komm schon, Steve, das ist doch ein Scherz.«
»Es geht um deinen abendlichen Podcast.«
»Meinen Podcast? Das ist eine persönliche Angelegenheit und hat nichts mit der Fakultät zu tun. Du kannst nicht …«
»Du musst mit den Attacken aufhören. Deine Meinung stiftet Unruhe.«
»Du machst wirklich Scherze. Meine Güte, wir lehren Journalismus! Mein Programm verletzt also die Gefühle der Direktion?«
»Die unserer Geldgeber, Jim. Du kannst dich nicht mit aller Welt anlegen. Einige Themen, die du in deinem Podcast ansprichst, haben direkten Einfluss auf die Finanzierung der Hochschule.«
»Ich werde so tun, als hätte ich nicht gehört, was du gerade gesagt hast«, sagte Jim, um das Gespräch zu beenden.
»Jim … Ich bitte dich nicht darum, deinen Podcast einzustellen. Ich will damit nur sagen, dass du deine Botschaften etwas modifizieren sollst.«
Der Professor schüttelte den Kopf.
»Es ist dein Privatvergnügen, das du in deiner eigenen Wohnung aufnimmst, Jim. Ist es dir das wert? Gewinnst du damit etwas? Ist es dir wirklich egal, wenn im Ausschuss Beschwerden eingehen über deine Aussagen, die ansonsten niemand hört?«
»Um Himmels willen, mein Podcast ist bei unseren Studierenden eine der meistgehörten Sendungen. Er liefert Beispiele, und ich vermittle ihnen den wahren Geist des Journalismus.«
»Hör mir zu, Jim. Nimm meinen Rat an, und stell dieses Programm ein! Ich weiß, dass es dir wichtig ist, dich noch als Journalist zu fühlen, und dass dieser Podcast – oder wie auch immer du es nennst – deinen Kontakt zur Branche aufrechterhält, aber … Glaub mir, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen: Als Professor bist du besser. Deshalb arbeitest du auch bei keiner Zeitung mehr. Lass es einfach. Damit erreichst du nur, hier ebenfalls rausgeworfen zu werden.«
Jim erwiderte nichts, obwohl ihm ein Dutzend Beleidigungen durch den Kopf schossen. Das war ein Schlag unter die Gürtellinie.
Vor Jahren war er Chefredakteur der Daily News gewesen, wo man ihn für einen der besten Wirtschaftsanalytiker gehalten hatte. Als das Blatt im erbitterten Kampf um die schwindende Leserschaft der Printmedien in den Sensationsjournalismus abdriftete, hatte man ihm ohne Widerspruchsrecht gekündigt. Er kam meistens zu spät mit dem, was das Land lesen wollte, und je stärker das Internet den Rhythmus der Berichterstattung vorgab, desto weniger zeitgemäß war sein Ansatz, vor einer Veröffentlichung alles auf Herz und Nieren zu überprüfen.
»Dann bis Montag, Steve«, sagte er.
»Hör auf mich, Jim. Es ist nur zu deinem Besten«, erwiderte der Dekan anstelle eines Abschiedsgrußes.
Queens
23. April 2011
Drei Tage zuvor
Ben Miller
Dem Schmerz ist es egal,
ob du ihn erwartest oder nicht,
ob du ihn kürzlich gesehen oder
jahrelang nichts von ihm gehört hast.
Er steht einfach vor deiner Tür,
obwohl du keinen Besuch erwartest.
Es war dreiundzwanzig Uhr, als Ben Miller bei Familie Hernández klingelte, die in einem kleinen zweistöckigen Holzhaus mit Fliegengittertür und vergitterten Fenstern wohnte. Es brannte noch Licht, im Mülleimer steckten zwei schwarze Tüten, die obere war aufgerissen. Vermutlich geplündert von der Katze, die ihm um die Beine strich, während er darauf wartete, dass jemand öffnete. Der kleine Vorgarten sah aus wie ein Kartoffelacker, und unter der vergilbten, stark abgeblätterten Fassadenfarbe war das feuchte Holz zu erkennen.
Queens war eigentlich ein gutes Abbild dessen, was Amerika ausmachte: belebte Reichenviertel, in denen die betuchten Angestellten der City wohnten, einfache Arbeitersiedlungen mit einer großen Anzahl Einwanderer aus aller Welt und heruntergekommene Problemviertel mit hoher Kriminalitätsrate. Der Distrikt Elmhurst gehörte zur zweiten Kategorie, auch wenn die Bereiche nicht klar voneinander abgegrenzt waren. Das Nebeneinander der unterschiedlichen Lebensstandards glich einer Zeitbombe, manchmal reichte ein Straßendiebstahl, um eine Explosion auszulösen. Diese Konflikte wurden von vielen Bewohnern, die hier Tür an Tür wohnten, als unausweichliche Konsequenz der unterschiedlichen Einkommensverhältnisse hingenommen.
Endlich öffnete ein griesgrämiger Mann mit Spitzbart und weißem Unterhemd, den Ben noch nie gesehen hatte.
»Sind Óscar und Juana Hernández zu Hause?«
»Óscar!«, rief der Mann. »Hier fragt einer nach dir.«
Aus dem Haus erklang lautes Schimpfen auf Spanisch, was Miller nicht verstand. Der Kerl, der ihm geöffnet hatte, verschwand wieder und ließ Ben vor der Tür stehen. Wie beim ersten Mal, als er Allisons Eltern nach ihrer Vermisstenanzeige aufgesucht hatte, verspürte er eine Mischung aus Nervosität und Ärger.
Damals hatten sie ihn eher missmutig empfangen. Sie hatten das Verschwinden ihrer Tochter erst angezeigt, nachdem sie von einem Lehrer ihrer konfessionellen Highschool erfahren hatten, dass Allison seit drei Tagen im Unterricht fehlte. Juana und Óscar Hernández hatten das Schwänzen ihrer Tochter mit der Ausrede gerechtfertigt, dass sie so was nach einem Streit schon öfter getan hätte und wenige Tage später wieder aufgetaucht sei. Meist hatte sie bei ihrem Freund übernachtet. Obwohl alles darauf hinwies, dass sie nur abgehauen war, hatte Agent Miller das Standardprozedere bei Vermisstenfällen eingeleitet: Überprüfung der Überwachungskameras in der Umgebung, Befragung von Freunden, Aufsuchen der Orte, an denen Allison sich normalerweise aufhielt, einschließlich einer Kapelle außerhalb des Viertels, die sie laut einer Freundin öfter zum Beten aufsuchte. Außer einer langen Drogengeschichte und einer ebenso langen Liste an Jungs, mit denen sie zusammen gewesen war, hatte Miller nichts finden können.
Er hatte drei dieser Ex-Freunde befragt, und alle drei hatten Allisons sexuelle Freizügigkeit und die mangelnde Sorgfaltspflicht ihrer Eltern betont. Ein gewisser Ramiro Ortega hatte bestätigt, dass sie nach einem Streit im Elternhaus mehrere Tage bei ihm übernachtet und sie ununterbrochen gevögelt hätten. Als Agent Miller ihre Klassenkameradin Hannah befragte, bestätigte auch sie diese Geschichte, fügte jedoch hinzu, dass Allison im Grunde ein gutes Mädchen sei, sich jedoch in letzter Zeit verändert habe. Sie hätte seit einiger Zeit keinen Freund mehr und schien ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Ausgeglichen, gelassen, fast ein Engel. Der Agent erinnerte sich an Hannahs Worte: »Jetzt ist sie eine gute Schwester.«
Wie ein Geist stand Óscar Hernández plötzlich in der Tür und schnalzte ärgerlich mit der Zunge, als er zum vierten Mal in dieser Woche Agent Miller erblickte.
»Sie schon wieder?«
»Mr Hernández«, grüßte Miller ernst.
Aus dem Haus waberte eine Cannabiswolke. Óscar Hernández war bekannt dafür, keinen festen Job zu haben. Erst war er Mechaniker in einer Autowerkstatt gewesen, dann hatte er an einer Tankstelle gearbeitet und später einen Lieferwagen gefahren oder Malerarbeiten ausgeführt. Er war ein Arbeitstier, das ließ sich nicht leugnen, ein Überlebenskünstler, der nur wenig Zeit zu Hause verbrachte, aber nach seinem Freundeskreis zu urteilen war es gut möglich, dass er auch in andere Geschäfte verwickelt war.
»Hören Sie, Agent. Sie ist noch nicht zurück, aber wir rufen Sie bestimmt an, wenn sie wieder auftaucht. So ist Allison eben. Sie ist schon ziemlich selbstständig. Sparen Sie sich die Mühe. Wir kennen unsere Tochter. Sie ist ein Wildfang, aber sie wird zurückkommen. Wir alle hatten Zeiten, in denen wir unsere Eltern gehasst haben.«
Miller schoss das Bild der gekreuzigten Allison durch den Kopf, und er musste schlucken, bevor er sprechen konnte.
»Kann ich bitte reinkommen und mit Ihnen und Ihrer Frau reden?«
»Ist das wirklich nötig?«, fragte Hernández überrascht. »Wir schauen gerade fern. Es ist schon spät, und wir müssen morgen arbeiten.«
Miller antwortete mit einem Schweigen, das Allisons Vater sehr wohl verstand.
»Okay, kommen Sie rein«, sagte er und öffnete die Fliegengittertür.
Ben folgte Óscar ins Haus, während der sich in Ausflüchten erging.
»Sehen Sie, Agent, das Gras hier ist für den Eigenbedarf. Das ist legal. Mein Schwager raucht gern einen Joint und … na ja, das hier ist ein freies Land. God bless America.«
»Keine Sorge«, erwiderte Miller. »Ich suche nicht nach Drogen. Ich suche nach Menschen.«
»Juana, die Polizei ist schon wieder da. Wegen Allison«, sagte Hernández geringschätzig, als er ins Wohnzimmer trat.
Miller folgte ihm und stellte fest, dass es dort schlimmer aussah als am Tag der Vermisstenanzeige. Damals hatten sie ihm sogar erlaubt, einen Blick in Allisons Zimmer zu werfen, um sich zu vergewissern, dass es keine körperliche Auseinandersetzung gegeben hatte. Er hatte keine Hinweise darauf gefunden, wo sie sein könnte, aber festgestellt, dass die Familie nicht viel Wert auf Reinlichkeit legte. Sowohl die Tagesdecke auf dem Bett als auch die Wände wirkten schmuddelig. Der Schreibtisch, die Girlanden an der Gardinenstange sowie das Kruzifix über dem Bett waren völlig verstaubt. Es gab kaum Bücher oder Hefte, obwohl Ben ein paar Verse über die Liebe fand, die bewiesen, dass Allison eine schöne Handschrift hatte. Als er das Haus verließ, hatte er nichts in der Hand gehabt außer einer Liste ihrer Klassenkameraden und der Behauptung der Eltern, dass sie kein Tagebuch schreiben würde, das vielleicht Licht ins Dunkel gebracht hätte. Allisons Handy war ebenfalls verschwunden, aber von ihrer Kleidung im Schrank fehlte nichts. Den Eltern war lediglich peinlich, dass ihre Tochter schon wieder ohne ein Wort abgehauen war.
Im Wohnzimmer hing blauer Dunst in der Luft, im Fernsehen lief gerade Keeping Up with the Kardashians. Auf einem Sessel hing der Kerl mit dem Spitzbart, der Ben die Tür geöffnet hatte. Er rauchte eine selbst gedrehte Zigarette und ignorierte den Besucher.
»Das ist mein Schwager Alberto«, erklärte Hernández. »Er wohnt seit ein paar Monaten bei uns. Meine Frau Juana kennen Sie ja schon.«
Allisons Mutter starrte auf die Mattscheibe und blickte nur kurz auf, als Miller zu sprechen begann.
»Mr und Mrs Hernández, ich muss Sie darüber informieren, dass wir Allison gefunden haben.«
»Sehen Sie? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie wieder auftaucht. Wann kommt sie nach Hause? Hat sie was gesagt?«, fragte Óscar sichtlich verärgert. »Wenn sie wiederkommt, kann sie was erleben. Die Polizei Zeit verschwenden zu lassen! Sie wird eine ordentliche Strafe bekommen, das verspreche ich Ihnen.«
»Nein, sie wird nicht wiederkommen. Allison …« Es fiel Miller schwer weiterzusprechen. »Allison wird nicht mehr nach Hause kommen.«
»Hat sie das gesagt?«, empörte sich der Vater. »Wenn ihr Freund sie verlässt, kommt sie bestimmt wieder angekrochen und bettelt um Geld. Es ist immer das Gleiche. Wenn ihr die Dollars ausgehen, steht sie wieder vor der Tür. Dafür hat man Kinder in die Welt gesetzt. Damit sie dir die Haare vom Kopf fressen. ›Raben auf Beinen‹ nannte mein Vater mich und meinen Bruder immer. Wie recht er doch hatte.«
»Sie wurde an einem abgelegenen Ort von Rockaway tot aufgefunden«, sagte Miller so neutral wie möglich.
Er betrachtete das Foto der lächelnden Allison, das in einem kleinen Goldrahmen über einem Tisch mit überquellendem Aschenbecher hing. Er hatte es auch auf die Website www.missingkids.org hochgeladen, weil er davon überzeugt gewesen war, dass die Eltern keinen Finger rühren würden.
»Und wann kommt sie nach Hause?«, fragte die Mutter, die offensichtlich nicht zugehört hatte. »Sie drückt sich immer davor, den Müll rauszubringen. Wenn sie einmal was tun soll! Ihre Großmutter aus Monterrey ruft ständig an und fragt nach ihr, und ich muss sie immer enttäuschen und ihr sagen, dass ihre Enkelin ein Flittchen ist.« Kopfschüttelnd starrte Juana weiter auf die Mattscheibe.
»Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden, Mrs Hernández«, erklärte Miller, irritiert von dieser Reaktion. »Ihre Tochter ist tot aufgefunden worden. Wir versuchen aufzuklären, was passiert ist.«
»Können Sie das noch mal wiederholen?«, fragte Óscar mit gerunzelter Stirn.
Sein Schwager nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies in aller Seelenruhe den Rauch an die Decke, was Miller einigermaßen aus der Fassung brachte.
»Sagen Sie mir, wo sie ist, und ich werde dieser ungezogenen Göre den Marsch blasen«, fuhr Óscar fort. »Ich habe die Schnauze gestrichen voll.«
»Sie wurde ermordet. Sie lebt nicht mehr«, sagte Miller, damit sie ihn endlich verstanden. »Es tut mir sehr leid. Wir werden herausfinden, was passiert ist und wer der Mörder ist.«
»Mörder? Ermordet?«, wiederholte die Mutter ungläubig.
Nach einer endlosen Minute schien sie zu begreifen und schrie plötzlich so laut auf, dass Miller zusammenzuckte. Alberto sprang vom Sessel auf und war mit einem Satz bei seiner Schwester. Miller musste sich sehr zusammenreißen, während der Gesichtsausdruck des Vaters, der wie erstarrt seine Worte verarbeitete, zwischen Ungläubigkeit und Entsetzen schwankte.
»Mr Hernández, Sie wissen gar nicht, wie sehr ich den Tod Ihrer Tochter bedauere«, fuhr Miller fort, nachdem er den Kloß im Hals hinuntergeschluckt hatte, weil Óscars starrer Blick sich in seine Augen bohrte.
Ben sah ihm an, dass seine Gedanken zu irgendeiner Erinnerung wanderten, die ihm schließlich die Tränen in die Augen trieb. Vielleicht eine Umarmung in der Kindheit oder ein Kuss in der Wiege. Alle zerbrochenen Familien haben Erinnerungen an solche Momente, die sie heraufbeschwören, wenn sie nicht mehr zurückzuholen sind.
»Mein Mädchen … Mein kleines Mädchen …«, murmelte der Vater, ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Wenn ich etwas für Sie tun kann, brauchen Sie es mir nur zu sagen. Meine Arbeit ist mit dieser traurigen Nachricht leider beendet, aber ich wollte es Ihnen persönlich mitteilen. Allisons Tod wird jetzt vom New York City Police Department untersucht. Das bedeutet, dass ich nicht mehr Ihr Ansprechpartner bin und den ermittelnden Kollegen alles übergeben werde, was ich über den Fall weiß. Aber ich werde meine Mitarbeit anbieten, um so schnell wie möglich herauszufinden, was passiert ist. Den Namen des zuständigen Kollegen weiß ich noch nicht. Ich rate Ihnen dringend davon ab, sich an die Presse zu wenden. Trauern Sie besser im Privaten um Ihre Tochter.«
Diesen Vortrag hatte Miller schon oft gehalten. In den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr vierhundertsechzigtausend Minderjährige vermisst gemeldet, alle eins Komma sieben Minuten verschwindet ein Kind. In Spanien sind es zwanzigtausend, in Deutschland sechzehntausendfünfhundert pro Jahr. Und immer gibt es Angehörige, die verzweifelt den Notruf wählen und flehen: »Finden Sie bitte mein Kind!«, während die Person auf der anderen Seite der Leitung permanent wiederholt: »Bewahren Sie die Ruhe!« Am Ende gehen die meisten Fälle gut aus. Nur ein kleiner, aber schmerzhafter Prozentsatz endet mit dem Tod, wie bei Allison.
Das Schreien der Mutter wurde lauter, und sie brach zusammen. Ihr Bruder sank auf die Knie und umarmte sie, er flüsterte ihr etwas ins Ohr, während ihr Mann, der noch immer nicht ganz begriffen hatte, zu Boden starrte und aufschluchzte. Dann ging auch er zu seiner Frau und umarmte sie.
Es gibt nichts, was Eltern auf einen solchen Schlag vorbereitet. Erst recht nicht, wenn er so unverhofft kommt. Das Vertrauen darauf, dass dem Kind nichts Schlimmes passiert sein kann, ist ein zweischneidiges Schwert. All das Leid, das sie sich ersparen, wenn sie sich während der Suche keine allzu großen Sorgen machen, schlägt dann umso heftiger zu. Und es ist sehr schwer, aus dem tiefen Tal wieder herauszukommen. Schuldgefühle überlagern den Schmerz, die Erinnerungen und die Zuversicht.
Allisons Eltern weinten so herzzerreißend, dass sie wie Kinder wirkten, denen etwas weggenommen wurde. Angesichts der problematischen Geschichte dieser zerrütteten Familie hatte Miller eher den Eindruck gehabt, als hätten die Eltern ihre Tochter schon vor langer Zeit verloren.
Juana riss die Arme hoch. »Mein Mädchen! Was hat man dir angetan? Mein Gott, warum hast du sie nicht beschützt?«
Diese letzte Frage hallte in Millers Kopf nach, als er das Wohnzimmer verließ. Óscar kniete neben seiner Frau, beide waren am Boden zerstört. Mit dem Wehklagen im Rücken stand Miller unschlüssig im Flur und entdeckte, dass Allisons Zimmertür offen stand. Alles sah aus wie bei seinem ersten Besuch, außer einem kleinen, aber bizarren Unterschied, der ihm sofort ins Auge sprang.
»Wo ist das Kruzifix, das über dem Bett hing?«, fragte er laut.
New York
23. April 2011