Das Mädchen Jannie - Petra Hammesfahr - E-Book
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Das Mädchen Jannie E-Book

Petra Hammesfahr

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Beschreibung

Vom Großvater an Miro verkauft, zieht die elternlose Jannie mit einigen Frauen bettelnd über Land. Sie weiß nicht, ob sie zehn oder schon elf Jahre alt ist, aber sie weiß von Kindern, die in feinen Häusern arbeiten müssen, weil sie für den Straßenstrich zu jung sind. Während Kommissar Klinkhammer sich bemüht, Licht ins Dunkel um sieben verscharrte Kinderleichen zu bringen, gelingt Jannie die Flucht. Sie wird von Dieter auf seinem einsamen Hof aufgenommen und kümmert sich liebevoll um dessen Mutter. Die alte Frau liegt gelähmt und stumm im Bett, mit Augenzwinkern versucht sie Jannie begreiflich zu machen, in welcher Gefahr sie schwebt. Doch Jannie kennt keine Morsezeichen …

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Seitenzahl: 858

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Der Roman

Bis zu dem Tag, an dem eine Frau ihr den zweijährigen, kranken Jakob abnimmt, bestimmt Miro über Jannies Leben. Miro ist das Oberhaupt einer kleinen Gruppe von Bettlern, und Jannie fürchtet nichts so sehr wie seine verheerenden Wutausbrüche. In Panik ergreift sie ohne Jakob die Flucht und erreicht den einsam gelegenen Hof von Dieter Leuken.

Dieter nimmt sich ihrer an und verwöhnt sie. Zum ersten Mal kann Jannie sich satt essen, bekommt ein richtiges Bett und neue Kleider. Im Gegenzug kümmert sie sich liebevoll um Dieters Mutter, die seit einem Schlaganfall stumm im Bett liegt. Vergebens versucht die hilflose alte Frau dem Kind durch Blinzeln begreiflich zu machen, was Dieter tatsächlich vorhat.

Währenddessen unterstützt Kommissar Klinkhammer das BKA bei den Ermittlungen gegen eine rumänische Bande, die eine besondere Ware anbietet: Kinder. Gleichzeitig steht er der Kölner Kripo bei einem mysteriösen Leichenfund zur Seite. Klinkhammer ahnt nicht, welche Fäden bei ihm zusammenlaufen. So könnte das etwa zehnjährige Mädchen, das vor ein paar Tagen bettelnd vor seiner Tür stand und nun verschwunden ist, zur Aufklärung beitragen. Wenn Jannie rechtzeitig gefunden würde …

Die Autorin

Petra Hammesfahr wurde mit ihrem Bestseller »Der stille Herr Genardy« bekannt. Seitdem erobern ihre Spannungsromane die Bestsellerlisten, werden mit Preisen ausgezeichnet und erfolgreich verfilmt, wie auch »Die Sünderin«. Der Roman wurde unter dem Titel »The Sinner« mit Jessica Biel in der Hauptrolle als erfolgreiche Netflix-Serie produziert.

PETRA

HAMMESFAHR

Das Mädchen

Jannie

ROMAN

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Copyright © 2019 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Cathérine Fischer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Ioana Catalina E,

IndustryAndTravel/Shutterstock; skynesher/iStock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-25235-9V001

www.diana-verlag.de

TEIL 1

Werdegang eines Mörders

Mitte Oktober

Es war so einfach, viel einfacher als jedes Szenario, das er jemals in Gedanken durchgespielt hatte. Entlang des Straßenstücks zwischen dem Autobahnanschluss und der Unterführung hielten sich drei junge Frauen auf. Letzten Freitag um die Zeit hatte er fünf gezählt. Nutten, so wurden sie von den meisten betitelt. Den Ausdruck empfand er als abwertend. Prostituierte klang ihm zu sperrig und zu hochtrabend. Bordsteinschwalben, manche im Dorf nannten sie noch so antiquiert, obwohl es an der Landstraße keine Bordsteine gab, nur den schmalen Randstreifen, auf dem die Frauen in ihren High Heels hin und her trippelten in der Hoffnung auf Kundschaft.

Für ihn waren sie Strichmädchen, weil sie alle so dünn und noch so jung waren. Vermutlich hatte keine von ihnen die zwanzig überschritten. Die erste sah er bei der Unterführung stehen. Wenn er sie angesprochen hätte, hätte die zweite sein Auto gesehen, und nicht nur sie. Die zweite lief nämlich gerade zu einem weißen Lieferwagen, wie ihn Handwerker benutzten, der nur knapp hundert Meter weiter in den Wirtschaftsweg zwischen dem Biotop und einem abgeernteten Rübenacker gesteuert worden war.

Den Lieferwagen hatte er schon zu oft in diesem Straßenabschnitt gesehen, um noch davon auszugehen, es säße ein interessierter Kunde drin. Das war der Zuhälter, der die Strichmädchen mehrmals täglich kontrollierte. Vielleicht befand sich hinten in dem Fahrzeug auch eine Waschgelegenheit. Irgendwo mussten die sich zwischendurch doch mal frisch machen, wenigstens die Zähne putzen. Mehr als eine Schüssel und ein Kanister mit Wasser dürfte ihnen aber nicht zur Verfügung stehen.

Im Grunde war es eklig, für ihn jedoch optimal wegen der Spuren. Um erwischt zu werden, musste man heutzutage gar nicht unbedingt in Verdacht geraten. Die Polizei machte mittlerweile Massengentests, wenn sie mit ihren Ermittlungen nicht weiterkam. Und sie würden garantiert auch dann alle Register ziehen, wenn es eines der Strichmädchen erwischte, allein schon um zu beweisen, dass in einem Rechtsstaat eine vom Straßenstrich denselben Stellenwert hatte wie ein Mädchen aus dem Ort.

Da müsste jeder Mann zwischen sechzehn und siebzig eine Speichelprobe abgeben. Wer sich weigerte, machte sich verdächtig und wurde ganz genau unter die Lupe genommen. Aber bei einer, die häufig wechselnde Kontakte hatte, konnte man DNA und Fasern vergessen. Er hatte genug darüber gelesen, Fernsehdokumentationen zum Thema aufgezeichnet, sich mehrfach angesehen und mit verschiedenen Szenarien abgeglichen. Deshalb wusste er, worauf man bei welcher Variante achten musste.

Wenn man eine Leiche irgendwo ablegte und sie bald entdeckt wurde, überließ man den Ermittlern das wichtigste Beweisstück überhaupt. Vergrub man das Opfer und es wurde erst nach längerer Zeit gefunden, sah die Sache schon besser aus, falls man nicht zum persönlichen Umfeld gehörte und erkennungsdienstlich noch nicht erfasst worden war.

Wenn es keine Leiche gab, weil man sie gründlich beseitigt hatte, gab es andere Spuren, die einem zum Verhängnis werden konnten. Blut am Tatort zum Beispiel. Man mochte es noch so gründlich wegschrubben, die machten es wieder sichtbar. Wenn das Opfer von der Bildfläche verschwunden war und die Polizei zuerst beweisen musste, dass überhaupt ein Mord geschehen war, suchten sie nach Blut. Und wenn man dafür gesorgt hatte, dass keine Blutspuren zurückblieben, waren sie aufgeschmissen.

In Sachen Spurenvernichtung oder -vermeidung machte ihm keiner etwas vor. Um den Tatort zu schützen, brauchte man zwei große, reißfeste Plastikplanen. Auf dem Boden ausgebreitet, verhinderten sie, dass sich Blut in Kachelfugen oder Bodenritzen verewigte. Später konnte man die Leiche darin einwickeln und schützte so auch das Transportmittel. Während der Tat trug man Kleidung, die danach vernichtet wurde, am besten verbrannt. Für die letzte Grundreinigung nahm man einen Hochdruckreiniger. Wenn man sich länger mit dem Opfer beschäftigen und es zwischendurch ruhigstellen wollte, brauchte man Klebeband und Kabelbinder. Beides konnte man in jedem Baumarkt kaufen. Wenn man bar zahlte, ließ sich das nicht zurückverfolgen.

So weit konnte man einen Mord vorausplanen und steuern. Es blieb im Vorfeld nur ein Unsicherheitsfaktor. Zeugen. Wie das zweite Strichmädchen und der Zuhälter im Lieferwagen, der durch die herabgelassene Seitenscheibe etwas entgegennahm, wahrscheinlich die Einnahmen der letzten Stunden. Im Gegenzug reichte er eine Tüte heraus, vermutlich etwas zu essen.

Er sah es im Vorbeifahren. Dann schrumpfte der Lieferwagen im Rückspiegel zu einem hellen Fleck in der Landschaft und verschwand Sekunden später völlig aus seinem Blickfeld, weil er eine Kuppe passierte.

Und dann sah er die dritte Frau vor sich. Sie stieg am Rand der Gegenfahrbahn gerade aus einem älteren, blauen Nissan, der sofort wieder abfuhr. Am Steuer saß ein Fettsack mit einem genüsslichen Grinsen auf dem Gesicht. Zumindest bildete er sich ein, so ein Grinsen zu sehen. Die Frau bückte sich, hantierte an einem Schuh oder dem Saum ihrer Hose. Giftgrüne Leggins, dazu trug sie ein feuerrotes, knappes Jäckchen und lila Plateaupumps.

Sexy sah das nicht aus, nur bunt. Aber er wollte auch keinen Sex mit ihr. Er wollte töten, seine Wut ausleben, Macht kosten. Herr sein über Leben und Tod. Langsam ein Lebenslicht ausblasen und zusehen, wie es erlosch. Wie die Augen brachen. Hieß es doch immer. Und was sollte man sich unter brechenden Augen vorstellen? Lief da plötzlich ein Riss durch die Pupille? Oder waren tote Augen bei Menschen nur genauso trüb wie bei Tieren? Er hatte noch keine Leiche mit offenen Augen gesehen und wusste es nicht. Natürlich wollte er auch hören, wie sie um Gnade bettelte, um ihr Leben flehte, alles Mögliche und Unmögliche versprach, damit er sie gehen ließ.

Der blaue Nissan war hinter der Kuppe verschwunden. So weit er die Straße überblicken konnte, waren beide Richtungen frei. Er hatte die Geschwindigkeit schon vorher gedrosselt. Nun zog er auf die Gegenfahrbahn hinüber und brachte seinen Wagen beinahe punktgenau neben der Frau zum Stehen.

Das gewagte Manöver schien sie zu überraschen. Wahrscheinlich hatte sie nicht auf den Verkehr geachtet und ihn nicht kommen sehen. Für einen Moment wirkte sie zu Tode erschrocken. Sie war immer noch mit ihren Pumps oder dem Saum ihrer Leggins beschäftigt und schoss förmlich in die Höhe, entspannte sich jedoch rasch wieder.

Er ließ die Scheibe an der Beifahrerseite herunter. Sie beugte sich zu ihm herein, streifte die Aldi-Tüte im Fond mit einem raschen Blick und lächelte professionell. Aus der Nähe betrachtet sah sie noch jünger aus, als er erwartet hatte, siebzehn vielleicht, höchstens achtzehn.

»Wie viel?«, fragte er.

»Blowjob zwanzig.« Sie sprach mit dem harten Akzent des Ostens, dabei klang ihre Stimme weich, beinahe süßlich und so jung, wie sie aussah.

»Machst du auch andere Sachen?«, fragte er.

Ihr Lächeln verrutschte und signalisierte Unsicherheit, wenn nicht sogar Angst. Mit anderen Wünschen schien sie nicht gerechnet zu haben. Den meisten Männern, die auf dem Heimweg von der Arbeit oder nach Einkäufen etwas Entspannung suchten, war ein schnelles Blaskonzert im Auto wohl auch am liebsten.

»Nichts Abartiges«, beschwichtigte er umgehend. »Nur GV mit Gummi. Ich geb dir hundert, wenn wir es richtig machen. Bei mir zu Hause, in meinem Bett. Du ziehst dich ganz aus und nimmst vorher eine Dusche. Wenn ich dir beim Duschen zusehen darf, geb ich dir sogar zweihundert.«

Schon bei »hundert« hatte sich ihr unsicheres Lächeln wieder in eine Geschäftsmiene verwandelt. Bei zweihundert nickte sie.

Die Straße war immer noch frei in beide Richtungen.

»Steig ein«, sagte er.

Und sie stieg ein. So einfach war das.

Puzzleteile 1

Der Wechsel zur Operativen Fallanalyse – kurz OFA – beim LKA fiel Arno Klinkhammer nicht leicht, bescherte ihm jedoch schon unmittelbar nach seiner Ankündigung, dass er dem Ruf nach Düsseldorf folgen werde, im privaten Bereich eine Art von Anerkennung, mit der er nicht mehr gerechnet hatte. Carmen Rohdecker, ihres Zeichens Oberstaatsanwältin in Köln und seit Kindesbeinen die beste Freundin seiner Frau, gratulierte ihm. Ohne den gewohnt sarkastisch bissigen Unterton, nur ein schlichtes: »Glückwunsch, Arno, du hast es dir verdient.« Gefolgt von einem: »Sag ich dir nicht seit Jahren, dass du es draufhast?«

Carmen musste man nehmen, wie sie war. Klinkhammer hatte sich schon vor langer Zeit abgewöhnt, ihre ironisch bis zynischen, manchmal beleidigenden Äußerungen allzu nahe an sich heranzulassen. Zu Anfang ihrer Bekanntschaft hatte sie ihn wegen der Uniform gerne als grünes Männchen tituliert in der Hoffnung, er ließe die Finger von ihrer Freundin. Ihrer Meinung nach hatte Ines – Tochter aus vermögendem Elternhaus, Vater Fabrikbesitzer – einen Mann verdient, dessen Ehrgeiz sich nicht darin erschöpfte, Streifenwagen zu fahren, Taschendiebe zu schnappen und Ehestreitigkeiten oder Wirtshausschlägereien zu schlichten. Noch dazu stammte Klinkhammer aus einfachen Verhältnissen und musste mit dem auskommen, was er verdiente.

Nach seinem Wechsel zur Kripo war er in Carmens Achtung gestiegen. Ihr Respekt hatte seinen Höhepunkt erreicht, als er im April 2000 quasi im Alleingang einen Serienmörder überführte, dem der BKA-Fallanalytiker und Sonderermittler Thomas Scheib seit acht Jahren auf den Fersen gewesen war.

Aus anfänglichen Querelen mit Scheib war eine Freundschaft entstanden, die sich für Klinkhammer ausgezahlt hatte. So hatte er auf Kosten des BKA an einigen Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen dürfen, von denen einer wie er sonst nur träumen konnte. Carmen war davon ausgegangen, dass er mit seinem neuen Wissensstand um eine Versetzung nach Köln ersuchte, wo man ihrer Ansicht nach dringend fähige Köpfe brauchte. Damit hatte sie zweifellos recht, nur zog es Klinkhammer nicht in die Großstadt. Er fühlte sich wohl in der Provinz, musste sich fortan nur Carmens Sticheleien anhören.

An ihrem Verhalten änderte sich nicht einmal etwas, als er zum Ersten Kriminalhauptkommissar und Leiter des KK 11 in Hürth befördert wurde. Das bezeichnete sie als das Ende der Fahnenstange für ihn. Und dann das: »Glückwunsch, Arno. Sag ich dir nicht seit Jahren …« Wahrscheinlich glaubte sie, ihre spitze Zunge hätte ihn nach Düsseldorf gescheucht.

Dabei war es eher die Aussicht, beim LKA nicht mehr unmittelbar mit den Opfern von Gewalttaten und deren Angehörigen konfrontiert zu werden, wobei ihm seine Empathie oft wie ein Strick um den Hals lag. Dass er im Gegenzug mit Verbrechen konfrontiert wurde, bei denen er, wenn es zu Festnahmen kam, den ersten Absatz von Artikel drei des Grundgesetzes vorübergehend gerne außer Kraft gesetzt hätte … Als Polizist durfte er so etwas nicht einmal denken. Als Mensch fand er, bei der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sollte es Grenzen geben, der Gesetzgeber müsse endlich einsehen, dass der humane Strafvollzug nicht für alle Straftäter geeignet war. Wer keine Humanität kannte, lachte sich dabei nur ins Fäustchen.

Mit Bandenkriminalität, Zwangsprostitution, Kinderpornografie und Pädophilen-Netzwerken hatte er sich in Hürth nicht befassen müssen. Bei Mord, Totschlag, Erpressung, Entführung und anderen Kapitaldelikten war er gezwungenermaßen in die zweite Reihe zurückgetreten, wenn die Kölner Kollegen anrückten und die Ermittlungen übernahmen. Wenn dann einer kam, der alles besser wusste als der »Provinzprofiler«, wie ihn manche nannten, war das keine zufriedenstellende Zusammenarbeit gewesen.

Beim LKA war das anders. Dort waren sein Wissen, seine Erfahrung, seine Intuition und seine oft unorthodoxe Herangehensweise an eine Sachlage gefragt. Der Leiter der Abteilung drei mochte eine Ausnahme sein. Fred Hasselt verstand etwas von Kriminalitätsauswertung, Statistik und dergleichen. Ein Polizist war er nicht. Und er wusste nicht, wie er mit einem Mann umgehen sollte, der sich aus einem Streifenwagen in der Provinz über interne Fortbildung hochgearbeitet und einen Freund beim BKA hatte. Aber mit Fred Hasselt hatte Klinkhammer wenig zu tun, und die Kollegen schätzten ihn. Sogar die aus Köln, wie sich bald zeigte.

Jeder, der ihn persönlich kannte, meinte ihn anrufen und um einen Rat oder seine Meinung bitten zu können. Carmen Rohdecker gab sich ungewohnt freizügig, wenn es darum ging, seine private Handynummer preiszugeben. Sie verwies in den folgenden Monaten sogar regelmäßig an ihn, wenn es bei Ermittlungen in ihrem Zuständigkeitsbereich hakte.

Die Kollegen aus Hürth, mit denen er einige Jahre zusammengearbeitet hatte, kontaktieren ihn ebenfalls häufig. Oberkommissarin Rita Voss, die sich während seiner Zeit beim KK 11 als seine rechte Hand betrachtet hatte, meldete sich schon drei Wochen nach seinem Wechsel, um von einem, wie sie es nannte, kuriosen Fall zu berichten, den sie nicht einzuordnen wusste.

Im nördlichen Rhein-Erft-Kreis war ein Mann namens Peter Wirtz Opfer eines Raubüberfalls geworden. Das jedenfalls hatte er im Bergheimer Krankenhaus zu Protokoll gegeben. Nun war seine Frau in der Dienststelle Hürth erschienen und hatte energisch verlangt, jemand müsse ein ernstes Wort mit Peter sprechen.

Den Worten seiner Frau zufolge war Peter Wirtz Stammkunde auf dem Straßenstrich gewesen und immer zum selben Mädchen gegangen, einer gewissen Tasha, der er jedes Mal einen Schein extra zugesteckt habe. Letzteres betonte Gisela Wirtz, um klarzumachen, was für ein gutmütiger Mensch ihr Peter war. Tasha war offenbar verschwunden. Und die drei Männer, die Peter so furchtbar verprügelt hätten, vor denen er nun panische Angst hatte, wären überzeugt gewesen, er hätte Tasha umgebracht.

»Mir hat er das sofort gebeichtet«, sagte Gisela Wirtz. »Im Krankenhaus hat er dann behauptet, es wäre ein Raubüberfall gewesen. Aber so geht das doch nicht. Stellen Sie sich mal vor, Tasha ist tatsächlich umgebracht worden. Peter war das nicht, für den lege ich beide Hände ins Feuer. Und wissen Sie, was das heißt? Dass bei uns ein Mörder frei herumläuft. Da muss man doch was unternehmen, ehe der Kerl sich die Nächste schnappt.«

Das sah Rita Voss ebenso. Sie suchte den erheblich verletzten Peter Wirtz im Krankenhaus auf und hörte von ihm noch einmal dasselbe, was er bereits den Bergheimer Kollegen erzählt hatte. Raubüberfall, schwere Körperverletzung, unbekannte Täter, von denen einer mitten auf der Straße neben einem unbeleuchteten Fahrzeug gelegen hätte.

»Ich hab nur den Warnblinker gesehen und dass da einer lag. Hab angehalten, wollte Erste Hilfe leisten und bekam von hinten eins über die Rübe. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Wie seine Frau auf drei Täter gekommen war, warum Gisela überhaupt so etwas behauptete, konnte Peter Wirtz sich beim besten Willen nicht erklären. Straßenstrich. Er doch nicht.

»Schauen Sie mich an.« Er war stark übergewichtig. »Sex ist mir viel zu anstrengend. Bei uns zu Hause spielt sich schon lange nichts mehr ab. Dafür auf dem Strich Geld ausgeben, so dicke haben wir es nicht.«

Rita Voss glaubte ihm nur den Teil, der sich zu Hause abspielte. Es gab schließlich Spielarten beim Sex, die nicht anstrengend waren, die eine biedere und ebenfalls übergewichtige Ehefrau aber vielleicht ablehnte. Sie versuchte es mit gutem Zureden und den Argumenten, die Gisela Wirtz vorgebracht hatte. Frei laufender Mörder. Das nächste Opfer könnte ein Mädchen aus dem Ort sein, ein unschuldiges Kind womöglich. Doch egal was sie vorbrachte, Peter Wirtz blieb bei seiner Version.

Als sie Klinkhammer anrief, war Rita ziemlich frustriert. Sie betrachtete es als persönliche Niederlage, Peter Wirtz nicht wenigstens das Geständnis entlockt zu haben, Kunde auf dem Straßenstrich zu sein und Tasha mehr Geld zugesteckt zu haben, als sie üblicherweise verlangte. Auch das hätte ein Motiv für eine Gewalttat sein können.

In den meisten Fällen wussten Kolleginnen, was bei den anderen abging. Wenn eine aus Neid gepetzt hatte, Tasha daraufhin gefilzt worden und dabei ein Extraschein ans Tageslicht gekommen wäre, hatte sie womöglich als Erste Prügel bezogen und war dabei umgekommen. Ebenso gut konnte sie sich mit ihren Extrascheinen abgesetzt haben und der spendable Freier aus Wut darüber zusammengeschlagen worden sein.

»Was hältst du von der Sache, Arno?«

Was sollte Klinkhammer davon halten? Er gab ein paar Ratschläge, auf die Rita schon alleine gekommen war. Mit Kollegen sprechen, die den Straßenstrich kannten, sich mal auf der Straße umhören und nach Tasha fragen. Solange es keine Leiche gab, konnte man nicht mehr tun.

März

Hinter der immergrünen Hecke war das Dorf zu Ende. Die Straße führte in Wellen weiter zwischen Ackerland durch. Frisch gepflügte oder gerade erst bestellte Felder, dazwischen einige, die vom hellgrünen Flaum durchbrechender Pflänzchen bedeckt waren, auch noch ein paar brachliegende Streifen und welche, auf denen Unkraut spross, aber keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken.

Bis zur nächsten Ortschaft mochten es zwei oder drei Kilometer sein. Jannie konnte es nicht abschätzen. Der Nieselregen hatte das Land mit einem Schleier überzogen. In diesem Dunst sah sie schemenhaft nur die Spitze des Kirchturms mit der großen Uhr.

Dort hatte sie gestern auf Miro gewartet und siebzig Euro gehabt, als er sie abholte. Hauptsächlich Münzen, aber auch Scheine. Keine großen, versteht sich, Fünfeuroscheine, trotzdem. Siebzig Euro! Gestern war ein guter Tag gewesen. Miro hatte sie gelobt. Er lobte sonst nie. Dabei war es nicht allein ihr Verdienst gewesen. Der kleine Jakob mit seiner Rotznase, den Triefaugen und dem rasselnden Husten hatte die Leute erbarmt. Jannie hatte nur die Hand ausstrecken und sagen müssen: »Bitte Geld für Medizin. Bruder krank.« Aber nicht einmal Ani, die seit dem Winter mit Jakob gegangen war, hatte je so viel Geld zusammenbekommen, obwohl Ani einen dicken Bauch hatte, was manche Leute großzügiger machte.

Beim Anblick der vielen Münzen und Scheine hatte Miro überlegt, Jannie noch eine weitere Runde mit Jakob gehen zu lassen, den Gedanken aber rasch aufgegeben. Jakob war zu krank, um zu laufen. Jannie hatte ihn den halben Tag tragen müssen, sie war erschöpft. Und so groß war das Dorf gestern nicht gewesen. Bei einer weiteren Runde hätte sich vielleicht jemand geärgert und die Polizei gerufen. Das Risiko wollte Miro nicht eingehen. Er setzte auf das nächste Dorf und den nächsten Tag.

Auf hier und heute.

Und heute war ein schlechter Tag.

Natürlich war Jannie auch gestern nicht an jedem Haus geöffnet worden. Viele Leute arbeiteten am Tag, manche spähten zuerst durch die Gardinen und verhielten sich dann so, als seien sie nicht da. Aber fast alle, die gestern aufgemacht hatten, hatten Geld gegeben. Nur eine alte Frau hatte Jannie eine Flasche Hustensaft für Jakob in die Hand gedrückt und behauptet, davon hätte der Kleine mehr.

Der Saft hatte Jakob überhaupt nicht geholfen. Er hatte die ganze Nacht hindurch abwechselnd gehustet und geweint. Jakob wusste noch nicht, dass es vom Weinen nicht besser wurde. Am Morgen war er still, seine Augen waren glasig, sein Köpfchen und die Hände heiß. Miro kümmerte das nicht. Er sah nur ein, dass Jannie den Jungen nicht wieder stundenlang tragen konnte. Sie hatte in der Nacht nicht viel Schlaf gefunden. Laufen konnte Jakob gar nicht mehr. Ihm knickten sofort die Beine weg, wenn man ihn hinstellte. Deshalb lud Miro den alten Buggy mit dem kaputten Vorderrad in den Transporter.

In diesem Buggy war schon Jannie über Bahnhofsvorplätze in großen Städten geschoben worden. Daran erinnerte sie sich nicht. Radu hatte ihr erzählt, dass sie Tröpfchen bekommen hatte, damit sie nicht weinte. Die Leute mochten es nicht, wenn kleine Kinder weinten. Dann schimpften sie und drohten mit der Polizei.

Jakob bekam keine Tröpfchen. In große Städte fuhren sie auch schon lange nicht mehr. Der große Boss hatte es verboten, und Miro musste tun, was der mare sef sagte. Tat er es nicht, hatte das für ihn schlimme Folgen. Einmal waren Männer gekommen und hatten Miro mit einem Hammer eine Hand kaputt geschlagen. Und einmal hatte man ihm in einen Fuß geschossen. Den Transporter konnte Miro aber trotzdem fahren.

Seitdem bettelten sie nur noch in ländlichen Gebieten. In kleinen Städten gab es nicht viele Polizisten, in Dörfern gab es gar keine. Wenn Dorfbewohner die Polizei riefen, dauerte es lange, ehe ein Streifenwagen kam. In der Zeit konnte man weglaufen. Und Miro meinte, Leute in Dörfern seien großzügiger. Das mochte sein – an Tagen wie gestern. Aber heute …

Als Miro sie am Vormittag mit dem fiebernden Jakob im Nieselregen am Ortsrand abgesetzt und ihr gezeigt hatte, wie sie den Buggy schieben musste, damit das kaputte Rad nicht abbrach, war er überzeugt gewesen, dass sie heute noch mehr Geld bekäme als gestern, weil das Dorf größer war und man sofort sah, dass Jakob krank war. Deshalb musste Jannie auch nicht viel reden. Seit gestern war sie ein bisschen heiser, beim Schlucken kratzte es im Hals. Vermutlich hatte sie sich bei Jakob angesteckt.

Sie begann ihre Tour in einer Siedlung am Ortsrand. Ältere Häuser, die alle gleich aussahen, in denen vielleicht mehr ältere Menschen lebten als jüngere. Das versprach einen guten Start. Ältere Menschen waren tagsüber meist zu Hause und machten einem Mädchen wie ihr nicht so schnell die Tür vor der Nase zu. Nur machten heute viele Leute erst gar nicht auf.

An zwölf Häusern hatte sie bereits vergebens geklingelt, ehe endlich eine Tür aufging. Aus dem Hausflur wehte ein köstlicher Duft ins Freie. Drinnen wurde etwas gekocht, was Jannie noch nie gerochen, geschweige denn gegessen hatte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und ihr Magen knurrte.

Zur Haustür führten zwei Stufen hinauf, sie hatte den Buggy mit Jakob auf dem Gehweg stehen lassen. Ein sehr dicker Mann stand in der Tür, musterte sie von Kopf bis Fuß, spähte über ihre Schulter zum Buggy und zog sofort eine Geldbörse aus der Hosentasche, als Jannie die Hand ausstreckte. Wie auf Kommando begann Jakob zu husten und zu weinen. Aus dem Haus rief eine Frau: »Was machst du da an der Tür, Peter? Komm sofort rein, verdammt! Hattest du nicht schon genug Ärger mit dem Pack?«

Der dicke Mann drückte Jannie ein Zweieurostück in die klammen Finger und machte eilig die Tür wieder zu.

Jakob hustete immer noch. Vielleicht hätte er etwas trinken müssen. In der Nacht hatte Miruna ihm außer Hustensaft auch zweimal Wasser gegeben. Jannie hatte kein Wasser dabei, hob die rechte Seite des Buggys wieder an und schob das alte Ding weiter zum Nachbarhaus, wo sie wieder vergebens klingelte. An den nächsten drei Türen erging es ihr nicht anders. Jakob gab zwischen den rasselnden Hustenstößen nur noch wimmernde Laute von sich. Und dann klingelte sie an der falschen Tür.

Diesmal öffnete eine jüngere Frau. Jannie hatte den wimmernden Jakob auf den Arm genommen, damit er besser zu sehen und zu hören war und vielleicht mehr einbrachte als zwei Euro. Sie war fest entschlossen, auch um Wasser für ihn zu bitten, stellte den Jungen ab, um ihren rechten Arm und die vom Buggy-Heben und Schieben lahme Schulter zu entlasten. Mit einer Hand hielt sie Jakob an seiner Jacke fest, damit er nicht umfiel, streckte die andere Hand aus, bat um Geld für Medizin und Wasser für Bruder.

Die Frau lächelte, als hätte sie Mitleid, beugte sich zu Jakob hinunter, strich ihm über die Stirn und sagte in einem Ton, der zu ihrem Lächeln passte: »Armes Kerlchen. Du brauchst nicht bloß Wasser und Medizin, was? Du brauchst dringend einen Arzt.«

Immer noch mit diesem mitleidigen Lächeln richtete sie sich wieder auf und wollte von Jannie wissen: »Wie heißt dein Bruder?« Und noch ehe Jannie ihr antworten konnte, fragte sie: »Wer hat dich mit dem armen Kerlchen losgeschickt, dein Vater?«

Jannie verstand nicht jedes Wort. Keiner aus Miros Gruppe beherrschte von der Landessprache viel mehr, als er unbedingt brauchte. Sie sollten keine längeren Unterhaltungen mit Einheimischen führen. Wenn jeder seinen Spruch aufsagen und sich überschwänglich bedanken konnte, reichte das. Von Vorteil war auch, wenn man wusste, bei welchen Worten man schnell weitergehen musste. Haut ab, sonst ruf ich die Bullen. Elendes Bettelpack, garantiert klauen die auch. Ruf die Polizei, das Dreckspack vergrault uns die Kundschaft.

Dass Jannie mehr verstand, verdankte sie Radu. Mit Antworten tat sie sich jedoch schwer, musste immer erst nachdenken und die richtigen Worte zusammensuchen. Diesmal nicht, auf die zweite Frage der Frau durfte sie gar nicht antworten, nur wiederholen, was sie schon gesagt hatte.

»Bitte Geld für Medizin und Wasser, Bruder krank.«

Daraufhin nahm die Frau Jakob auf den Arm und forderte sie auf: »Komm herein und wärm dich auf. Ich gebe deinem Bruder etwas zu trinken. Du bekommst auch etwas. Magst du heißen Kakao? Ich rufe einen Rettungswagen für deinen Bruder. Und dann sorgen wir beide dafür, dass die Polizei sich deinen Vater mal richtig vornimmt. Dass er dich zum Betteln losschickt, ist schon unverantwortlich. Dich mit einem kranken Kleinkind durch den Regen laufen zu lassen ist eine Sauerei, die ihresgleichen sucht. Hat der Kerl keinen Funken Verantwortungsgefühl im Leib?«

Heißen Kakao hatte Jannie schon einmal getrunken. An den köstlichen Geschmack erinnerte sie sich lebhaft. Was aufwärmen bedeutete, wusste sie auch. Und ihr war kalt. Es war windig, der penetrante Nieselregen fast schlimmer als ein kräftiger Schauer. Bei einem Schauer stellte man sich unter und wartete, bis es aufhörte. Wenn es nicht richtig regnete, zog man nur den Kopf ein und ging weiter.

Ihre türkisfarbene Jacke war aus demselben dünnen Baumwollstoff gefertigt wie die rote Hose. Unter der Jacke trug sie ein Shirt, unter der Hose nichts außer einem fadenscheinigen Unterhöschen. An den Beinen pappte der Stoff bereits klamm auf der Haut. Die Verlockung, sich aufzuwärmen und heißen Kakao zu trinken, war groß. Aber Polizei, das war unmöglich.

Jakob war nicht Jannies Bruder und Miro nicht ihr Vater. Zu Miros Familie gehörten nur Miruna, Leonid und Anatoli. Jannie, Jakob, Ani und die jungen Frauen, die von Aufpassern gebracht wurden, damit Miruna sie gesund pflegte oder ihnen half, ihre Babys zu bekommen, waren nicht mit Miro verwandt.

Als die Frau sich mit Jakob auf dem Arm von der Tür wegdrehte und den Flur entlangging, rannte Jannie los, den Buggy ließ sie zurück. Hinter sich hörte sie den erstaunten und unwilligen Ausruf der Frau: »Hey, bleib hier! Komm zurück, du dummes Ding, ich will euch doch nur helfen!«

Jannie rannte an einigen Häusern vorbei, bog bei nächster Gelegenheit in einen Fußweg zwischen Gärten ein, danach in eine schmale Straße mit alten Häusern, an deren Ende in eine breite Straße, auf der Autos fuhren, und wieder in eine enge Gasse bei der Kirche. Sie hetzte kreuz und quer durch das Dorf, bis ihr die Seiten stachen und sie kaum noch Luft bekam. Mehrfach musste sie sich verstecken, weil Leute vor den Häusern standen, miteinander sprachen und in alle Richtungen schauten. Einmal sah sie ein Polizeiauto, und einmal hörte sie ein Martinshorn.

Irgendwann hatte sie den Ortsrand erreicht. Und jetzt stand sie hier neben der immergrünen Hecke und wusste nicht weiter. Nur zwei Euro in der Tasche! Kein Buggy mehr! Und was noch viel schlimmer war: kein Jakob!

Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit Miro sie abgesetzt hatte? Jannie besaß keine Uhr, war lange gelaufen und hatte in jedem Versteck so lange ausgeharrt, bis die Gefahr weitergefahren oder weggegangen war. Vielleicht würde Miro schon bald kommen. Sie waren als Letzte abgesetzt worden und sollten die Ersten sein, die Miro wieder abholte, weil Jakob krank war. Wenn es mit seinem Husten noch schlimmer wurde, so schlimm, dass er starb, wäre nichts verdient, hatte Miruna gesagt.

Miruna als Einzige wagte es hin und wieder, gegen Miros Entscheidungen und Anweisungen zu protestieren. Als seine Frau konnte Miruna sich das erlauben. Aber sogar sie musste vorsichtig sein und immer so formulieren, dass es klang, als sorge sie sich nur um Miros Wohlergehen.

Als Treffpunkt hatte Miro die Bushaltestelle an der Schule genannt. Dort gab es eine Uhr über der Eingangstür, an der Jannie sich orientieren sollte. Dass Kinder an Bushaltestellen vor Schulen warteten, sei für die Leute ein gewohnter Anblick, hatte Miro gesagt. Es sei auch normal, wenn nach Mittag ein Mädchen den kleinen Bruder im Buggy dabeihatte.

Mittag musste längst vorbei sein. Der dicke Mann hatte bestimmt schon gegessen, was in seinem Haus so köstlich gerochen hatte. An der Schule und der Bushaltestelle war sie vor geraumer Zeit vorbeigerannt, hatte in ihrer Panik jedoch keinen Blick auf die große Uhr geworfen. Wenn Miro kam und sie dort nicht antraf, würde er eine Weile warten und annehmen, sie sei noch unterwegs. Aber irgendwann würde Miro sich aufmachen, um nach ihr und Jakob zu suchen.

Auf welchem Weg mochte er ins Dorf kommen? Wenn er auf der Strecke vom Vormittag kam, würde ihr das vielleicht die Zeit verschaffen, das gute Dorf von gestern zu erreichen, sobald sie wieder zu Atem gekommen war. Wenn Miro jedoch aus Richtung des guten Dorfes auf der welligen Landstraße angefahren kam, würde sie ihm direkt vor den Transporter laufen.

Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Wenn sie es riskierte und weiterlief, wenn sie Glück haben und im Dunst des Nieselregens das gute Dorf erreichte, stand sie dort vor derselben Frage wie hier. Wohin jetzt? Sie konnte nicht ewig weiterlaufen. Irgendwann würde sie aufgegriffen werden oder vor Erschöpfung zusammenbrechen.

Zurück zur Bushaltestelle an der Schule gehen und dort auf Miro warten, sich von ihm auf der welligen Landstraße oder von der Polizei im Dorf schnappen lassen, es lief alles aufs Gleiche hinaus. Die Polizisten würden ihr Fragen stellen, von denen sie keine wahrheitsgemäß beantworten durfte. Dann würden die Polizisten sie in ein Haus mit anderen Kindern bringen wie schon einmal im Winter.

Manchmal riefen Leute die Polizei, weil sie meinten, damit täten sie einem Kind wie ihr etwas Gutes, wie die Frau, die Jakob genommen hatte. Kinder gehörten nicht zum Betteln auf die Straße geschickt, hatte im Winter eine andere Frau gesagt. Kinder brauchten ein Zuhause, in dem man sich um sie kümmerte, sie zu anständigen Menschen erzog, dafür sorgte, dass sie zur Schule gingen und etwas lernten, damit sie später nicht betteln müssten.

An dem Tag im Winter waren Radu und Dana nicht mehr und Ani noch nicht bei Miros Gruppe gewesen. Miruna war mit Jakob gegangen. Jannie hatte mit Anatoli und einem Pappschild in den Händen vor einem Geschäft in einer kleinen Stadt gestanden. Anatoli war sofort weggelaufen, als kurz darauf ein Mann auf sie zukam. Jannie hatte noch nicht so viel Erfahrung wie er und nicht schnell genug begriffen, welche Gefahr von dem Mann drohte. Als sie Anatoli folgen wollte, war es zu spät. Der Mann hatte sie erwischt und zur Polizei gebracht. Dort war sie befragt worden und hatte sich dumm gestellt.

Schließlich hatte eine Polizistin sie in das Haus mit anderen Kindern gebracht. Es hatte ihr dort gefallen. Aber sie gehörte Miro. Er hatte viel Geld für sie bezahlt und nicht lange gebraucht, um sie zu finden. Schon am nächsten Tag war er gekommen, hatte ein Papier gezeigt, auf dem stand, er wäre ihr Onkel, und behauptet, sie sei weggelaufen und ihre Mutter krank vor Sorge. Und dann hatte er sie verprügelt, weil sie sich hatte erwischen lassen.

Miro würde sie auch diesmal verprügeln, schlimmer als zuvor. Vielleicht würde sie tagelang nicht aufstehen können wie die Frauen, die von Aufpassern gebracht wurden, damit Miruna sich ihrer annahm. Das wäre die gnädige Variante, von der sie sich erholen könnte. Vielleicht würde Miro sie in seiner Wut aber auch totschlagen. Sie wäre nicht die Erste.

Seit einigen Minuten stand sie nun schon panisch und ratlos neben der Hecke. Sie hatte noch nie eine wichtige Entscheidung treffen müssen, nicht einmal eine unwichtige. Immer waren Ältere da, die ihr sagten, was sie tun und lassen sollte. Jetzt war sie auf ihren Instinkt angewiesen, auf den Überlebenswillen, der manche zum Kämpfen, manche zur Flucht und manche in ein Versteck treibt. Kämpfen konnte sie nicht, womit denn? Fliehen brachte sie nicht wirklich weiter, wie sie bereits eingesehen hatte. Deshalb plädierte ihr Instinkt für ein Versteck. Aber wo?

Allmählich kam sie wieder zu Atem, das Seitenstechen ließ nach. Und so wie dieser Schmerz abklang, wuchs ihre Furcht aufzufallen, wenn sie noch länger neben der Hecke stand. Gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich eine hohe Mauer. Die hatte weder Fenster noch Türen. Dass von dort jemand auf sie aufmerksam wurde, war auszuschließen. Aber es musste nur ein Auto auf der Straße vorbeifahren.

Zur Sicherheit trat sie hinter die Hecke, ging ein paar Schritte auf einem schmalen, asphaltierten Weg und hockte sich hin. So bot sie dem Nieselregen etwas weniger Angriffsfläche und war für Fahrzeuge, die aus dem Dorf herausfuhren, kaum zu sehen. Es musste schon jemand aufmerksam in einen Spiegel schauen, um zu erkennen, dass ein Häufchen Mensch im nassen Gras hockte.

Sie bemerkte ihrerseits aber schon von Weitem jedes Auto, das sich dem Dorf näherte, weil alle das Licht angeschaltet hatten. Zwei fuhren an der Hecke vorbei. Ob die Insassen zur Seite schauten und sie sahen, konnte sie nicht feststellen. Dann näherte sich das dritte Scheinwerferpaar. Es sah aus, als gehöre es zu einem Transporter, wie Miro einen fuhr.

Jannie machte sich noch kleiner, rollte sich im nassen Gras zusammen wie ein Igel. Nachdem der Transporter ins Dorf gefahren war, richtete sie sich wieder auf. Ihre Augen huschten auf der Suche nach einem Unterschlupf an der Hecke entlang. Der Pfad führte an weiteren Hecken vorbei, hinter denen Gärten lagen. In einigen gab es kleine Häuser aus Holz. Das wäre ein gutes Versteck gewesen, aber es sah nicht so aus, als gäbe es irgendwo ein Durchkommen.

In einiger Entfernung machte sie im trüben Dunst eine kleine Ansammlung von Gebäuden mitten im Feld aus. Wie ein Dorf sah das nicht aus, eher wie ein einsames Gehöft. Unter normalen Umständen hätte sie sich nicht auf den Weg dorthin gemacht. Die Bewohner solcher Gehöfte waren unfreundlich und geizig, sie schimpften und drohten mit der Polizei, wenn man nicht sofort wieder ging. Aber jetzt waren die Umstände alles andere als normal. Und sogar aus der Distanz von mehr als einem Kilometer sahen die Gebäude da hinten alt aus. Wenn noch jemand dort lebte, war der vielleicht auch alt. Dann schaffte sie es wahrscheinlich, unbemerkt in eins der Gebäude zu schlüpfen, in denen keiner wohnte. Aus dem Nieselregen herauskommen, sich ausruhen, bis Jacke, Hose und Haare wieder trocken waren. Und nachdenken, wie sie Jakob zurückholen und Miro besänftigen könnte. Mehr wollte Jannie nicht, als sie sich wieder in Bewegung setzte.

Black Devil

Dieter Leuken saß am Fenster im ehemaligen Esszimmer und las seiner Mutter eine Szene aus seinem unfertigen vierten Roman vor. Als er vom Laptop aufschaute, tauchte draußen im Dunst ein schmaler, dunkler Schemen auf. Die kleine Gestalt nahm rasch Konturen, allerdings keine Farbe an. Jannies rote Hose war vor Nässe schwarz. Ihre türkisfarbene Jacke war ebenfalls dunkel geworden und so vollgesogen, dass sie glänzte wie Satin. Die langen, dunklen Haare fielen ihr in nassen Zotteln übers Gesicht, weil sie mit gesenktem Kopf dem Regen trotzte.

In dieser Haltung erinnerte sie Dieter sekundenlang an das Monster, das in »The Ring« auf einem Fernsehbildschirm aus einem Brunnen kletterte, über einen Rasen kroch und dann aus dem Fernseher in ein Zimmer stieg, um Menschen die Lebenskraft auszusaugen und sich dabei in eine schöne, junge Frau zu verwandeln. Der gruselige Eindruck verschwand jedoch schon auf den nächsten Metern.

Je näher Jannie kam, umso kindlicher wirkte sie. Auf Beinen so dünn, dass Dieter unweigerlich an die Rehe denken musste, die Schmidtke auf der Wiese bei seinem Hof hielt, trabte sie heran. Nass wie die Kätzchen, die er als Dreizehnjähriger auf Anweisung seiner Mutter ersäuft hatte. Einzeln! Nicht etwa alle zusammen mit Steinen in einen Sack gesteckt und ins Wasser geworfen. Er hatte jedes Tierchen im Genick packen und minutenlang in den randvoll mit Regenwasser gefüllten Bottich tauchen müssen.

»Ist doch ganz einfach«, hatte seine Mutter gesagt, als das erste Kätzchen zu zappeln aufhörte. »Wenn dir noch mal eins von den Weibern im Dorf dumm kommt, machst du es mit dem genauso. Musst bei einem Weib nur rechtzeitig aufhören, dann kommt nichts nach. Mach weiter.«

Ein Kätzchen nach dem anderen, sieben insgesamt. Es war ein großer Wurf gewesen. Wenn ein Tierchen in seiner Hand erschlaffte, musste er es in die alte Jauchegrube werfen. Nicht sein erster Schnupperkurs in Sadismus, aber ein nachhaltig wirkender, wobei er die Jauchegrube als besonders entwürdigend empfunden hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die Kätzchen hinter der Scheune begraben.

Silvia dagegen, die sich zwei Wochen zuvor nach der Schule über ihn lustig gemacht hatte, während Jumbo ihn im Kellerabgang der Turnhalle mit Fußtritten traktierte, die hätte er mit dreizehn gerne in die Jauchegrube geschmissen und sich mit Genugtuung angeschaut, wie sie in der Drecksbrühe absoff.

Mit dem Gedanken an Schmidtkes Rehe und der Erinnerung an die Kätzchen belegte Dieter das sich nähernde Mädchen mit der Bezeichnung »Tierchen«. Wer sie war beziehungsweise zu wem sie gehörte, konnte er sich denken.

Anfang des Monats waren wieder die Bettler im Kreis aufgetaucht. Bei denen lief ein Mädchen von der Statur mit. Rumänen. Möglicherweise Zigeuner. Aber so durfte man sie ja nicht mehr nennen. Es hätte auch nicht mehr gepasst. Zigeuner hatten rein vom Begriff her etwas von Romantik. Und romantisch war an den ausgemergelten Gestalten absolut nichts.

Die Strichmädchen, die an den Landstraßen auf Kundschaft hofften, gingen ja noch. Meist standen sie bei der Unterführung nahe dem Autobahnanschluss. Wenn sie einen Platzverweis kassierten, suchten sie sich eine andere Stelle, an der Autofahrer problemlos rechts ranfahren und verhandeln konnten. Die Gesichter wechselten häufig, doch alle waren blutjung, leidlich hübsch und bemüht, sich modisch zu kleiden, was bei manchen allerdings schrill aussah.

Die Bettler dagegen … Aber wenn die sich modisch oder schrill gekleidet hätten, wären sie abends wahrscheinlich mit leeren Händen wieder in den schäbigen, weißen Ford Transit mit dem polnischen Kennzeichen gestiegen, der sie vormittags an ihren jeweiligen Einsatzorten absetzte.

Über diese Einsätze und den Straßenstrich hielt Dieter sich in der Facebookgruppe »Unser Dorf soll sauber bleiben« auf dem Laufenden. Der Gruppe gehörten mittlerweile über siebzehnhundert Mitglieder an, darunter zahlreiche Bewohner der Städte im Kreis. Da kam einiges an Informationen zusammen. Wobei über den Strich verständlicherweise nicht so viel gepostet wurde wie über die Bettler. Wer etwas Geld am Straßenrand ausgab, hütete sich, auf Facebook davon zu berichten. Nur wenige ließen mit Fotos erkennen, dass sie bei den Mädchen genauer hinschauten.

Seit der großen Flüchtlingswelle 2015 wurden Handyfotos und kurze Videosequenzen von allen gepostet, die aussahen, als gehörten sie nicht hierher. Da waren die Rumänen zwangsläufig ins Visier besorgter Bürger geraten, obwohl sie schon vorher hier gewesen waren. Den Straßenstrich bedienten sie ganzjährig. Es mochte Stein und Bein frieren, die Mädchen standen in ihren dünnen Fummeln draußen. Da mochte sich so mancher einreden, er hätte aus Mitleid angehalten, damit sich eine im Auto aufwärmte.

Die Bettler tauchten meist im Frühjahr auf und blieben ein paar Wochen. Auch letztes Jahr waren sie Anfang März erschienen und Ende Mai weitergezogen. Wahrscheinlich grasten sie das restliche Jahr die umliegenden Kreise ab. Mittlerweile sollte man sich an sie gewöhnt haben, fand Dieter. Aber es regten sich immer mehr rechtschaffene Bürger und braunes Geschmeiß auf über das Pack. Über andere konnte sich in ländlichen Gebieten auch keiner aufregen. Und die Rumänen waren harmlos. Der Zuhälter, der die Strichmädchen herumkutschierte, mochte eine Ausnahme sein, möglicherweise war der bewaffnet. Die Bettler dagegen waren arme Schweine.

Letztes Jahr im April hatte Dieter sich an einem Sammelbehälter für Kleiderspenden in Bergheim mit einem von ihnen unterhalten. Ein älterer Mann, dem man das »Vater unser« durch die Backen hätte blasen können. Er hatte krank ausgesehen, irgendwie krumm. Das Weiß in den Augen gelblich verfärbt, der von Natur aus etwas dunklere Teint hatte ebenfalls einen Gelbstich gehabt. Gelbsucht vermutlich, war an sich nicht ansteckend.

Dieter hatte ihm geholfen, einen der Säcke herauszufischen und auf brauchbare Klamotten zu checken. Dabei war ein schmuddeliger Plüschhund zum Vorschein gekommen, den der Alte sich sofort unter den Arm geklemmt hatte. Es hatte so was Familiäres und Fürsorgliches gehabt.

Der Alte hatte ein passables Deutsch gesprochen und einiges erzählt, was einen zur Weißglut treiben konnte, wenn man richtig darüber nachdachte. Seitdem wusste Dieter aus erster Hand, warum die in Brüssel dafür plädiert hatten, ein so heruntergewirtschaftetes Land wie Rumänien in die EU aufzunehmen. Fruchtbare Erde war die Eintrittskarte gewesen. Darauf hatten sich dann westliche Großkonzerne breitgemacht, den einheimischen Bauern ihr Land abgeluchst, das sie nach 1989 zurückbekommen hatten, mangels Geld und Maschinen aber nicht bewirtschaften konnten. Das taten seitdem die Großkonzerne. Und auf die war auch Dieter nicht gut zu sprechen.

Diese kapitalistischen Großkotze steckten sich die führende Politikerclique mit Parteispenden und dem Zauberwort »Wirtschaftswachstum« in die Taschen. Nicht genug damit, dass sie Afrika ausbeuteten, die rissen sich auch in Europa alles unter den Nagel und raubten kleinen Leuten die Existenzgrundlage. Bei der Massentierhaltung und den riesigen Agrarbetrieben mischten die so kräftig mit, dass ein kleiner Landwirt wie er schon lange nicht mehr mithalten konnte.

Dieter hielt nur noch ein Dutzend Hühner für den Eigenbedarf und statt Schweinen wie früher Kaninchen. Da regte sich keiner auf, wenn er selbst schlachtete. Abnehmer gab es genug, es achteten doch wieder viele Leute auf Qualität, vor allem beim Fleisch. Kaninchen war mager und gesund, bei ihm garantiert bio und nicht mit Antibiotika verseucht.

Das zum Hof gehörende Land, seit Generationen in Familienbesitz, hatte seine Mutter nach dem Tod ihres Vaters vor zwanzig Jahren an Schmidtke verpachtet, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass der Sohnemann das anvisierte Studium Agrarwissenschaft tatsächlich durchzog. Hatte Dieter dann auch nicht gemacht. Er hatte sich nicht mal um einen Studienplatz bemüht. Es hätte sich ja nicht mehr gelohnt.

Schmidtke zahlte die Pacht selbstverständlich in Euro. Die Rumänen bekamen für ihr Land einen Appel und ein Ei – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie wurden mit Naturalien abgespeist und hatten die halbe Zeit nichts zu fressen. Sauerei so was. Und dann regte das Volk hier sich auf, wenn die Leute herkamen, um zu betteln und Strichmädchen an den Straßenrand zu stellen.

Im vergangenen Jahr hatte bei der Unterführung auch eine gestanden, die diesmal – dem Anschein nach hochschwanger – mit den Bettlern unterwegs war. Mit den Fotos und Videos der Facebookgruppe konnte Dieter gut vergleichen und feststellen, wen er wiedererkannte. Für einen besseren Überblick hatte er extra einen Dateiordner angelegt. Es wurden ja nicht ausschließlich Beiträge über die Rumänen gepostet, auch eine Menge anderer Kram, der ihn nicht interessierte.

Zwei Jungs standen in den Städten vor Geschäften oder an Straßenecken wie Zeugen Jehovas. Im letzten Jahr waren das noch halbe Kinder gewesen. Der Ältere, Dieter schätzte ihn auf fünfzehn oder sechzehn, hatte seitdem kräftig zugelegt, fast so, als ginge er regelmäßig in ein Fitnessstudio. Er schien anzunehmen, dass sich keiner mehr daran erinnerte, wie er im vergangenen Frühjahr die Leute angequatscht hatte, machte diesmal einen auf taubstumm und sammelte angeblich für eine Förderschule. Der Jüngere, ein schmächtiges Kerlchen von vielleicht dreizehn oder vierzehn, hielt statt dem Wachturm ein Pappschild, auf dem in ungelenken Druckbuchstaben geschrieben war: »Mutter krank, bitte Geld für Doktor und Essen.« Und für die Nummer war nun auch der Kleine zu groß, fand Dieter.

Von Frauen mit Kindern ließ man sich eher erweichen. Vor allem, wenn die Frauen sehr jung und die Kinder noch klein waren. Die Schwangere war garantiert noch keine zwanzig und hatte letzte Woche mit einem etwa zweijährigen Jungen ganz Erftstadt abgeklappert, jeden Tag einen anderen Ortsteil. Mit dem kleinen Jungen war im vergangenen Jahr eine Frau unterwegs gewesen, die etwa in Dieters Alter sein mochte. Er war achtunddreißig.

Vorgestern war die Enddreißigerin mit dem Tierchen in Paffendorf von Tür zu Tür gezogen, hatte behauptet, zu einem Wanderzirkus zu gehören, und um eine Spende für Tierfutter gebeten. Wanderzirkus! Wer ließ sich so einen Schwachsinn einfallen? Ein Zirkus hätte ja irgendwo seine Wagen stehen und ein Zelt. Davon war im gesamten Kreis nichts bekannt.

In den Vorjahren hatte das Tierchen eine Frau mit ziemlich vernarbtem Gesicht begleitet. Die hatte ausgesehen, als wäre sie mal mit einem Rasiermesser bearbeitet und nur notdürftig zusammengeflickt worden. Wegen der Entstellung war sie altersmäßig schwer einzuschätzen, aber kaum älter als dreißig gewesen.

In Ermanglung ihrer Namen hatte Dieter die drei Frauen nach Zustand oder Alter gelistet. Die Schwangere, die Narbenfrau und die Enddreißigerin.

Die Narbenfrau fehlte diesmal ebenso wie der gelbstichige Kleidersammler, mit dem Dieter sich gerne noch mal unterhalten hätte. Er vermutete, dass die beiden anderswo im Einsatz oder in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Gestern hatte auch keiner die Schwangere oder die Enddreißigerin gesehen. Mit dem kleinen Jungen war das Tierchen im Nachbarort von Tür zu Tür gelaufen. Nachmittags hatte einer gepostet, das Mädchen bettle um Geld für Medizin, der kleine Junge sei wohl tatsächlich ziemlich krank. »Meine Mutter hat dem Mädchen Hustensaft gegeben, statt dass das blöde Aas die Bullen ruft, damit die Kinder in Sicherheit gebracht werden. Die kann man doch nicht unbeaufsichtigt herumlaufen lassen. Da könnte Gott weiß was passieren.«

Mit dem blöden Aas war die Mutter gemeint. Es gab gewisse Differenzen in der Familie, die Dieter bekannt waren, weil sie öffentlich ausgetragen wurden. Nachvollziehen konnte er weder das eine noch das andere.

Seine Mutter und er waren früher auch nicht immer einer Meinung gewesen. Aus heutiger Sicht hielt er Mama für dumm wie Brot und so sadistisch wie Hannibal Lecter. Für solch eine Veranlagung musste man nicht unbedingt besonders intelligent sein, nur besonders abartig. Und ihr hatte es unbestreitbar großen Spaß gemacht, andere zu quälen und leiden zu sehen, egal ob Mensch oder Tier. Fliegen hatte sie grundsätzlich mit der Hand gefangen, ihnen die Flügel ausgerissen und sie auf der heißen Herdplatte tanzen lassen. Das war für Dieter immer okay gewesen. Ungeziefer, das einen auf Schritt und Tritt vexierte, keinen Unterschied zwischen Scheiße und einem Wurstbrot machte, verdiente es nicht besser.

Ihn die Kätzchen einzeln im Bottich ersäufen lassen, Schwamm drüber. Sie hatte ihm halt beibringen wollen, wie sich ein Mann wehrte, und war nicht auf die Idee gekommen, ihm einen Boxsack in die Scheune zu hängen. Der wäre nützlicher gewesen als die Aufforderung, etwas zu töten, das nicht im Kochtopf landen sollte.

Und Schweine waren Nutztiere, hatten lange Jahre zu ihrem Lebensunterhalt beigetragen. Schweinen die Schwänze abzuzwacken, wie es in der Massentierhaltung üblich war, damit sie sich nicht gegenseitig anknabberten, machte auf einem Hof mit nur sechs Tieren in einem geräumigen Stall und Freilauf keinen Sinn, einen jungen Eber ohne Betäubung zu kastrieren, noch weniger.

Seine Mutter hatte sich daran ergötzt, dass die Schweine vor Schmerzen nicht nur quiekten, sie schrien richtig. Sie hatte beim Schlachten auch nie das Bolzenschussgerät benutzt, nur den Flaschenzug und ein Messer. Und für so was musste man eine ausgeprägte sadistische Ader haben, meinte Dieter.

Die Polen, die sie früher regelmäßig angeheuert hatte, weil die Arbeit auf dem Hof für eine Frau und zwei alte Leute zu viel war, waren die Einzigen gewesen, die sich ihr unbeschadet hatten entziehen können. Die waren einfach abgehauen, wenn es ihnen reichte, notfalls ohne Lohn. Seinen Vater, der im Hauptberuf als Streckenposten bei der Bahn gearbeitet hatte, hatte sie so lange getriezt, bis er unter einen Zug geraten war. Angeblich ein Arbeitsunfall. Was sich für seine Mutter auch noch in einer ansehnlichen Rente auszahlte.

Trotzdem hätte Dieter sich niemals abfällig über seine Mutter geäußert. Ihn hatte sie ja auch geliebt auf ihre Art, ihn jedenfalls nie schikaniert, nicht mal verprügelt, wenn er Mist gebaut hatte. Nur gemeckert hatte sie oft, wenn sie ihn lesend angetroffen hatte. Lange Jahre war er Stammkunde in der Pfarrbücherei gewesen, hatte schon als Kind sein gesamtes Taschengeld zuerst in Heftchenromane, später in Taschenbücher investiert. Mit einem Boxsack in der Scheune hätte er vermutlich weniger gelesen und nicht auch noch selbst zu schreiben begonnen.

Das Tierchen erreichte die Hausecke und verschwand aus seinem Blickfeld. Dieter rechnete damit, dass die Kleine sich an der Haustür bemerkbar machte, um zu betteln, wartete zwei, drei Sekunden, länger brauchte man nicht von der Ecke bis zur Tür. Als nichts geschah, erhob er sich mit dem Hinweis: »Ich bin gleich wieder da, Mama«, und ging nach nebenan in die Küche.

Durchs dortige Fenster sah er das Mädchen gerade noch in der Scheune verschwinden und zog den Schluss, dass heute nicht gebettelt, sondern geklaut wurde. Das sollte sie mal versuchen, in der Scheune war nichts zu holen, da lag bloß alter Plunder. Na warte, dachte er und rief: »Ich bin mal kurz draußen, Mama«, in Richtung des ehemaligen Esszimmers.

Seit gut einem Jahr stand dort das Krankenbett seiner Mutter. Nach einem schweren Schlaganfall dämmerte sie nur noch vor sich hin. Ob sie ihn überhaupt hörte und auch verstand, was er sagte, wusste Dieter nicht. Der Doktor, der ab und zu rauskam, um ihr etwas Blut fürs Labor abzuzapfen und sich zu überzeugen, dass die Blutdruckwerte, die Dieter regelmäßig an die Praxis übermittelte, tatsächlich im optimalen Bereich lagen, wusste das ebenso wenig. Sie reagierte nur, wenn man ihr etwas an die Lippen hielt. Dann machte sie den Mund auf und schluckte. Wie ein Baby, hatte der Doktor mal gesagt, essen, trinken, schlafen und in die Windel machen.

Solange es hell war, lag sie meist mit offenen Augen da, starrte die Zimmerdecke an oder die Wand, wenn Dieter sie auf die linke Seite drehte. Wenn sie auf der rechten Seite lag, schaute sie auf seinen Arbeitsplatz am Fenster. Dann konnte er sich einbilden, dass sie ihm zuhörte, wenn er ihr vorlas. Wenn er ihr nicht Gesellschaft leisten konnte, machte er ihr Musik an. Den Sender mit den deutschen Schlagern, die sie in ihrer Jugend gerne gehört hatte.

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo.

Marmor, Stein und Eisen bricht.

Ich will ’nen Cowboy als Mann.

Heintje und Roy Black, Gitte und Rex Gildo, Alexandra mit ihrem: »Mein Freund, der Baum, ist tot«, dem alten Lied der Taiga und dem Zigeunerjungen. Sollte man gar nicht glauben. So wie sie früher drauf gewesen war, hätte man bei ihr einen ganz anderen Musikgeschmack vermutet. Aber vielleicht wäre einiges anders gekommen, wenn sie statt eines Streckenarbeiters bei der Bahn einen Cowboy bekommen hätte.

Sie hatte zwei Gesichter gehabt. Deshalb war Dieter sicher, dass er mit seinen Romanen ihren Geschmack traf. Dass sie nicht reagierte, wenn er ihr vorlas und fragte, ob es ihr gefiel, war zwar ein bisschen frustrierend, hatte aber unbestreitbar Vorteile. Vielleicht hätte sie wieder gemeckert wie früher. »Lass den Quatsch und tu was Vernünftiges. Der Stall muss ausgemistet werden.«

Als er ihr erklärt hatte, inzwischen so viel gelesen zu haben, dass er selber Romane schreiben könnte, hatte sie abfällig den Kopf geschüttelt und gefragt: »Und wovon willst du leben? Mit so was kann einer wie du doch kein Geld verdienen.«

Musste er auch nicht unbedingt, jedenfalls nicht sofort. Gut Ding will Weile haben. Er musste nicht auf Anhieb einen Bestseller landen. Mit der Pacht von Schmidtke und ihrer Unfallrente von Vater waren sie jahrelang gut über die Runden gekommen. Seit ihrem Schlaganfall kam das Pflegegeld hinzu. Und er pflegte sie gut – im eigenen Interesse. Wenn sie starb, versiegten ihm zwei Einnahmequellen. Mit der Pacht und dem Verkauf von Kaninchenfleisch allein käme er nicht über die Runden. Als Autor verdiente er bislang nur Kleckerbeträge. Bei inzwischen drei veröffentlichten Thrillern hatte er sich das doch anders vorgestellt.

In der Scheune war es nicht dämmrig, es war duster. Jannie hatte sich durch einen Spalt zwängen können. Dieter musste das Tor weiter aufschieben. Dann fiel graues Tageslicht in einem schmalen Streifen auf die ersten Meter Boden und seinen schwarzen Peugeot. Auf Anhieb machte er sonst nur die Anhäufungen von Gerümpel aus und vermutete folgerichtig, das Tierchen habe seine Schritte im Hof gehört und sich verkrochen. »Komm raus«, verlangte er. »Ich weiß, dass du hier drin bist. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich tu dir nichts.«

Nichts rührte sich. Er lauschte, hörte nur das Tröpfeln von Wasser aus einer löchrigen Regenrinne und brauchte einige Minuten, ehe er die zusammengekauerte Gestalt hinter dem uralten Pflug ausmachte. »Jetzt kommt schon«, verlangte er noch einmal in gutmütigem Ton. »Du kannst nicht da hocken bleiben. Komm mit ins Haus, da ist es wärmer und trocken. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Ich rufe nicht die Bullen, egal was du gemacht hast. Ich weiß, wie dreckig es euch geht.« Er nahm an, sie habe schon anderswo zu klauen versucht, sei dabei erwischt worden und abgehauen.

Keine Reaktion.

»Na, von mir aus«, sagte er. »Hier wirst du nichts finden, womit du etwas anfangen kannst. Ich geh wieder rein, mir ist das hier zu frisch. Du kannst gerne nachkommen, wenn du willst. Wenn du nicht willst, haust du eben wieder ab. Mir soll’s recht sein.«

Er drehte sich dem Tor zu und sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung hinter dem Pflug. Jannie richtete sich auf und kam zögernd aus der Deckung. Aus der Nähe wirkte sie noch schmächtiger und zitterte in ihrer nassen Kleidung so stark, dass Dieter meinte, ihre Knochen klappern zu hören. Vermutlich waren das ihre Zähne.

»Du meine Güte«, sagte er. »Nu aber fix ins Warme mit dir, ehe du dir den Tod holst.«

Sie kam tatsächlich näher, schien jedoch unsicher, ob sie ihm tatsächlich trauen konnte. »Nix Bulle?«, vergewisserte sie sich.

Dieter schüttelte nachdrücklich den Kopf und gestikulierte gleichzeitig mit beiden Händen Abwehr. »Nix Bulle«, wiederholte er. »Großes Ehrenwort. Mit der Polizei will ich genauso wenig zu tun haben wie du.« Damit drehte er sich endgültig um, verließ die Scheune und ging zügig über den Hof zur offenen Haustür. Hinter sich hörte er ihre Schritte.

»Wie heißt du denn?«, fragte er mit abgewandtem Rücken. Die Bezeichnung Tierchen schien ihm nicht mehr passend, nachdem sie vor Kälte schlotternd hinter dem Pflug aufgetaucht war.

Keine Antwort.

»Verstehst du mich überhaupt?« Blöde Frage. Sie musste zumindest ein paar Worte verstehen, sonst könnte sie nicht betteln, hätte nicht nach Bullen gefragt und wäre jetzt nicht hinter ihm.

Puzzleteile 2

Für Arno Klinkhammer war Tasha nach fünf Monaten nur noch ein Name, den im vergangenen Oktober eine aufgebrachte Ehefrau ausgesprochen hatte. Es war Rita Voss bei aller Mühe nicht einmal gelungen, Tashas Existenz zu beweisen, geschweige denn einen Mord. Mit Jannie verhielt es sich anders, ihren Namen kannte Klinkhammer nicht, aber er wusste, dass es sie gab.

Am Dienstagabend hatte seine Frau ihm von einer Bettlerin erzählt, die mit einem etwa zehnjährigen Mädchen vor der Tür gestanden und vorgegeben hatte, einem Wanderzirkus anzugehören. Die Frau hatte um eine Spende für Tierfutter gebeten. Ines hatte ihr fünf Euro gegeben, obwohl ihr klar gewesen war, dass dieses Geld nicht für Tierfutter verwendet wurde.

»Das Mädchen tat mir leid«, hatte sie gesagt. »Es sah so hungrig aus und war viel zu dünn angezogen. Ist Betteln mit Kindern nicht verboten? Welche Chance auf ein anständiges Leben hat so ein Kind denn?«

Keine, das hatte er nicht aussprechen müssen. Ines wusste es so gut wie er. Sie wusste auch, dass er nichts machen konnte und keine Antwort auf ihre Frage hatte, wie man solchen Kindern helfen könne. Dass man ihnen helfen müsse, wie sie mit dem neuerdings oft trotzigen Unterton einer politikverdrossenen Bürgerin festgestellt hatte, stand außer Frage, doch dafür waren andere zuständig. Ines hatte nicht mehr tun können, als dem Mädchen die beiden Bananen in die Hand zu drücken, die sie morgens ihm hatte aufnötigen wollen. Er mochte keine Bananen. Ines aß auch nur selten eine, warum sie trotzdem regelmäßig welche kaufte, war ihm ein Rätsel. Fragte er sie, erzählte sie ihm etwas von Nervennahrung und Vitamin B.

Und wie Vitamin B fühlte er sich manchmal, wenn wieder mal einer, der ihn von früher kannte, etwas von ihm erhoffte, was auf offiziellem Weg nicht zu erreichen war. An diesem Donnerstag war das ein Kollege aus Köln, Hauptkommissar Karl-Josef Grabowski, von Familie und Freunden Kalle genannt.

Zweimal war Grabowski mit von der Partie gewesen, als es im Rhein-Erft-Kreis Kapitaldelikte aufzuklären galt. In beiden Fällen waren sie nicht nur gut miteinander ausgekommen. Grabowski hatte sich auch beide Male bemüht, etwas von dem Wissen abzugreifen, das Klinkhammer sich in den vom BKA gesponserten Fortbildungsseminaren angeeignet hatte.

Im vergangenen Frühjahr hatte Grabowski in einer kleinen Ortschaft nahe Gummersbach ein Haus gekauft. Seine Frau stammte aus der Gegend. Dort konnte man sich den Traum vom Eigenheim noch verwirklichen. In Köln brauchte man mittlerweile zwei Einkommen, um sich eine einigermaßen akzeptable Mietwohnung leisten zu können. Im Kölner Polizeipräsidium galt Kalle nun als ortskundig, was die Gegend um Gummersbach betraf. Er empfand das als Witz. Stressiger Job, Häuschen mit Garten und Familie, da blieb nicht viel Zeit, um die Landschaft zu erkunden.

»Das ist ja richtig Arbeit, Sie aufzuspüren«, begann Grabowski nach der Begrüßung.

»Wer hat Ihnen denn dabei geholfen?«, fragte Klinkhammer. Sein Verdacht fiel automatisch auf die Oberstaatsanwältin. Doch diesmal war Carmen Rohdecker schuldlos. Grabowski hatte in Hürth angerufen, Rita Voss war so frei gewesen, ihm Klinkhammers Handynummer zu verraten. Grabowski sollte Grüße ausrichten und mitteilen, es wäre in dem kuriosen Fall von letztem Oktober immer noch keine Leiche aufgetaucht.

Ob Rita Voss ihm den kuriosen Fall geschildert hatte, erwähnte Grabowski nicht. Er sagte stattdessen: »Dafür kann ich gleich zwei Leichen bieten, einen Mann und eine Frau, die wurde übrigens im Oktober gefunden. Was jetzt nicht heißen soll, dass ich da einen Zusammenhang sehe.«

Das konnte man glauben oder nicht. Klinkhammer glaubte, dass Grabowski hoffte, er würde einen Zusammenhang sehen.

»Es ist kein Fall für die OFA und eilt nicht«, fuhr Grabowski fort. »Mich würde nur Ihre Meinung interessieren. Vielleicht finden Sie einen neuen Ansatzpunkt. Werfen Sie doch mal einen Blick darauf, wenn Sie Zeit haben.«

Zeit konnte Klinkhammer sich notfalls verschaffen. Es gab keine Dienstvorschrift, die festlegte, wie lange ein Denkprozess zu dauern hatte. Momentan war seine Zeit allerdings knapp bemessen. Vor zwei Wochen hatte Thomas Scheib, sein Freund beim BKA, um seine Unterstützung gebeten und einen Karton voller Unterlagen geschickt.

Es ging um eine europaweit agierende Bande, die modernen Sklavenhandel in seiner scheußlichsten Form betrieb. Die Leitung der Ermittlungen war Thomas Scheib übertragen worden, der sich dabei fühlte wie Don Quijote im Kampf gegen Windmühlen. Aber dieser Kampf hatte unbedingten Vorrang. Deshalb begrüßte Klinkhammer es, dass Grabowski mit seinem Anliegen keine Eile an den Tag legte. »Dann schießen Sie mal los«, forderte er.

Das ließ Kalle sich nicht zweimal sagen.

Anfang August des vergangenen Jahres hatte ein Paar in den Sechzigern aus einer nostalgischen Anwandlung heraus auf einer Waldlichtung nahe der Ortschaft, in die Grabowski kurz zuvor umgesiedelt war, nach dem Herz suchen wollen, welches es in jungen Jahren in einen Baum geritzt hatte. Die Lichtung hatte früher bei Einheimischen Schmusewiese geheißen und war speziell im Sommer stark frequentiert worden. Aber die Zeiten waren lange vorbei. Seit Jahren kursierten Gerüchte über unliebsame Vorfälle und Gesindel, dem man nicht im Dunkeln begegnen sollte.

Dem älteren Paar war ein mit ausgestochenen Soden von Moos bedeckter Reisighaufen aufgefallen, den sie vorsichtig inspiziert hatten. Vermutlich hatten sie angenommen, auf ein Drogenversteck oder Waffendepot zu stoßen.

»Dem war aber nicht so, schätze ich«, sagte Klinkhammer, um den Bericht ein wenig abzukürzen. Er hatte Thomas Scheib am Vormittag eine SMS geschickt und wartete auf einen Rückruf. Das Telefon auf seinem Schreibtisch konnte jeden Moment klingeln. Deshalb hakte er bei den unliebsamen Vorfällen nicht nach.