Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin - E-Book

Das Mädchen und die Nachtigall E-Book

Henri Gourdin

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Beschreibung

Maria hat alles verloren. Ihre Eltern und Geschwister wurden von den Faschisten des Franco-Regimes ermordet. Nach Frankreich geflüchtet, hat ihr das Leben in einem Auffanglager den Glauben an das Gute im Menschen geraubt. Doch eines Tages trifft sie ihren Lehrer wieder – Pablo Casals, einen der wunderbarsten Cellisten, der mit aller Kraft gegen das Elend des Krieges ankämpft. Eigentlich sollte Maria sich glücklich schätzen, dass eine französische Familie sie aus dem Flüchtlingslager geholt hat, weil in deren Bäckerei eine Aushilfe nötig war. Doch all das, was Maria im Krieg erlebt hat, zehrt an ihr. Sie kann sich von dem Fluch der Vergangenheit nicht befreien. Umso mehr bewundert Maria ihren früheren Cello-Lehrer Pablo Casals. Unermüdlich setzt er sich für Notleidende ein. Eines Tages trifft bei Maria ein Brief von Casals ein mit der Bitte, ihn bei seinen Unternehmungen zu unterstützen. – Plötzlich weiß Maria, wo sie hingehört.

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Seitenzahl: 475

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Henri Gourdin

Das

Mädchen

und die

Nachtigall

Aus dem Französischenvon Corinna Tramm

Die Geschichte spielt in den östlichen Pyrenäen, hauptsächlich in Villefranche-de-Conflent in den Jahren 1939 und 1940. Die Personen sind frei erfunden, der geografische und historische Rahmen dagegen ist ganz und gar real und so genau wie möglich aufgrund von Zeugenaussagen, die ich zusammentragen konnte, rekonstruiert. Die Stadt Villefranche gibt es immer noch; sie hat sich seit der Zeit, in welcher der Roman spielt, kaum verändert – eigentlich sogar, seit der Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre de Vauban sie im 17. Jahrhundert anlegte. Ganz im Gegenteil, ihre Klassifizierung als Weltkulturerbe verleiht ihr eine Art Unsterblichkeit.

Inhalt

Argelès-sur-Mer

Villefranche

Weihnachten

Priester Raynal

Die Stadtmauer

Renée Levêque

Martha

Marcel

Émile

Bestandsaufnahme des Kulturguts

Pau Casals

Agnès

Lucienne

Saint-Pierre in Prades

Saint-Michel-de-Cuxa

Wanda Landowska

Charles Puech

Gérard Dieudonné

Charles de Gaulle

Die Flucht nach Bordeaux

René Levêque

Schmuggel

Das Jakobsfest

Notre-Dame-de-Vie

Mademoiselle de Brévent

Johann Sebastian Bach

Der Cady

Die Têt

Bernard Durand

Chronologischer Überblick

Danksagung

Argelès-sur-Mer

Das Lager von Argelès-sur-Mer war noch nicht eingerichtet, als uns die französische Armee in den ersten Februartagen des Jahres 1939 dorthin brachte. Es bestand aus einem Stück Strand, das von einem zwischen scheinbar zufällig gesetzten Holzpflöcken locker hängenden Stacheldraht begrenzt wurde. Dieser hatte nichts mit jenen zwölf Linien Stacheldraht gemein, die man später für uns errichtete und die bis zum Zerreißen zwischen vollkommen geraden und exakt aufgereihten Holzpfählen straff gezogen waren. Die Baracken waren nur in regelmäßigen Abständen aufeinandergestapelte Holzplanken, wahrscheinlich an den Orten, wo die zukünftigen Konstruktionen stehen sollten. Kein Schutz, kein Dach, am Anfang nicht einmal eine Decke: Jede Familie buddelte sich ein Loch in den Sand und schlief dort, vor dem Wind durch ihre aufgeschichteten Koffer und ihre Lumpen geschützt. Mit Kreide geschriebene Inschriften waren auf diesen Hütten zu lesen: Tausend und eine Nacht, Winterpalast, Eldorado …

Die Männer waren in einem ähnlichen Areal untergebracht, die Kämpfer der Internationalen Brigaden in einem dritten, und diese nebeneinander verlaufenden Rechtecke wurden durch eine Art Korridore voneinander getrennt, durch Sandstreifen von vielleicht zwanzig Metern Breite, auf denen zunächst eher gutmütige Gendarmen zu Pferd patrouillierten, die katalanisch mit uns sprachen und Erkundigungen über uns einholten, dann aber algerische Soldaten und senegalesische Schützen, die uns an die marokkanischen Bataillone der Armee Francos und ihre schrecklichen Grausamkeiten erinnerten.

Julia, unsere Nachbarin aus Tarragona, die meine Schwester und mich seit unserer Flucht begleitete, war außerordentlich lebenstüchtig und sehr geschickt mit ihren Händen. Kaum waren wir angekommen, hatte sie schon ein wenig Röhricht in einem Hain abgeschnitten, den wir noch nicht einmal bemerkt hätten, zwei oder drei Karosserieteile von Autowracks abgerissen und ein kleines Zuhause eingerichtet. Ich sehe sie noch, wie sie sich bei Einbruch der Dunkelheit unter dem Zaun hindurchzwängte, sich auf den Weg zu den im Hinterland liegenden Villen machte und mit Holz zurückkam. Feuer war unverzichtbar: Es wärmte uns die Knochen, vereinte uns während der langen Winterabende und brachte das modrige Wasser zum Kochen, das wir von Hand mit zwei Pumpen schöpften, die von den Soldaten errichtet worden waren. Diese Pumpen brachten ein brackiges Wasser zum Vorschein und befanden sich zudem neben dem Bereich, der uns als Latrinen diente: anfangs ein großes Viereck im Sand, bald schon ein ganzes Feld der Darmentleerung, wo man zwischen hockenden Menschen watete, ehe man sich selber niederkauerte.

Alles hatte mit dem Aufstand der Faschisten im Juli 1936 begonnen. Sie besetzten eine spanische Provinz nach der anderen, mit massiver Unterstützung von Deutschland und Italien. 1938 war Katalonien an der Reihe, eines der letzten Bollwerke der Republik. Angriffe von beispielloser Gewalt. Trommelfeuer der Artillerie, Bombardierung von Städten und Dörfern, zivile Massaker. Wie in Guernica 1937. Im Mai 1938 bombardierten die Nationalisten das fünfundzwanzig Kilometer von Barcelona entfernte Granollers. Das war der Anfang vom Ende: Es folgten die Niederlage am Ebro im November und der Rückzug der Internationalen Brigaden. In der Miliz herrschte Chaos.

Tarragona fiel am 15. Januar. Es war Nacht. Die Explosionen weckten mich, und es war zu spät, um hinunter in Sicherheit zu gehen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern: Mama stürzte in unser Zimmer und schrie, wir sollten uns auf den Boden legen. Unter dem Zischen der Bomben und Granaten mühte sie sich ab, die Matratzen unserer Betten über uns zu ziehen. Dann hört meine Erinnerung auf. Als sie wieder einsetzt, befreien Teresa und ich uns von einem Stapel Schutt. Die Mauer zum Garten hin ist aufgerissen. Durch ein riesiges Loch in der Decke erkennen wir den Himmel und den Schein des Feuers. Noch heute, zwanzig Jahre später, sehe ich diese Szene vor mir, ebenso wie die leblosen und blutüberströmten Körper von Papa und Mama, dort, wo der Flur war; ich höre das Knistern der Flammen und die Rufe von Julia. Sie klettert auf allen vieren die von Schutt überhäufte Treppe hinauf, befreit uns aus den Trümmern, und schon befinden wir uns in dem Strom der Opfer, die mit verstörtem Blick aus den Häusern herauskommen und sich in einem unbeschreiblichen Durcheinander aus der Stadt hinausbegeben.

Jeden Morgen trafen Arbeiter aus Argelès ein und verbrachten den Tag damit, Baracken zu errichten. Alleine. Unter uns gab es Schreiner, Dachdecker, Ingenieure. Sie boten ihre Dienste an. Aber nein, irgendwo hatte irgendjemand entschieden, dass sich die Ausländer nicht mit den Einheimischen vermischen durften und dass die Kollaboration mit den Flüchtlingen bei der Erbauung ihrer eigenen Unterkünfte eine Einflussnahme auf die inneren Angelegenheiten Frankreichs bedeutete. Sogar uns Frauen verlangte es danach, zu helfen. Je eher diese Baracken errichtet wären, desto früher hätten wir ein Dach über unseren Köpfen und einen Schutz gegen die Kälte, den Wind und den Regen. Vor allem gegen den Regen: Wir hatten unsere Koffer und Kartons, um uns ein wenig vor Wind und Kälte zu schützen, doch waren wir schutzlos dem Regen ausgeliefert. Aber nein, es kam nicht infrage! Also blieben wir mit hängenden Armen stehen und schauten zu.

Was den Konstruktionsplan betraf, waren diese Baracken sehr einfach: Zehn oder zwölf Holzpflöcke wurden in den Sandboden gerammt, Holzplanken als Wände darangenagelt, ein Dach aus geteerten Platten daraufgesetzt, und das war alles. Auf dem Boden: nichts als Sand. Es war sehr schlicht … und nicht gerade solide: Gegen Ende Februar stürzte eine der Baracken unter dem Gewicht des Schnees ein, und es gab einen Toten und mehrere Verletzte. Nichts, was unsere Höllenhunde erschreckte. Ein Toter, einige Verletzte, was war das schon?

Ruhr, Tuberkulose und Typhus forderten unzählige Opfer, Kälte und Hunger nicht mitgerechnet. Die Krankenschwestern gingen jeden Morgen zu Beginn ihres Dienstes durch das Lager und sammelten die Leichen ein. Zumindest diejenigen, die sie fanden: Da die Familien nicht wussten, was mit den Toten geschah, versuchten sie sie zu verstecken, um sie selber in den umliegenden Weinbergen zu beerdigen, wenn die Wachen ihnen den Rücken kehrten. Sie kennzeichneten die Stellen, um sie später wieder aufzusuchen, wenn alles vorbei wäre. Ich bin manchmal dorthin gegangen. Es war eine aufreibende Arbeit: in gefrorener Erde zu graben, voller Steine, mit einem Lumpen oder einem alten Löffel! Und die Leiche, die einen anschaute!

Die ersten Baracken waren für die Verletzten bestimmt, zumindest für die Schwerverletzten, denn es gab nicht genug Platz für alle. Dann wurde den Arbeitern die Errichtung des Stacheldrahtzauns aufgetragen, und der Stapel Holzplanken blieb wochenlang auf dem Boden liegen. In der Zwischenzeit strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager. Vor allem nach der Einnahme von Barcelona am 26. Januar. Sobald die Grenze von der französischen Regierung in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar geöffnet worden war bis zur Schließung im Februar stieg die Zahl der Menschen im Lager von einigen Hundert auf ungefähr fünfzigtausend. In den kommenden Monaten sollte sie auf sechzigtausend ansteigen. Und das war nichts im Vergleich zu den anderthalb Millionen Spaniern, die durch den Sturz der Republik und aus Angst vor den Nationalisten auf die Straßen getrieben worden waren, und den fünfhunderttausend, die in Frankreich, hauptsächlich in den Ostpyrenäen, aufgenommen wurden.

Fünfzigtausend, das war eine große Stadt. Das Lager von Argelès war in der Tat eine große Stadt, jedoch eine Stadt ohne Geschäfte, ohne Kirche, ohne Schule, ohne Kino. Nur eine kleine Krankenstation und Hunderte von Holzbaracken, die ein Windstoß hätte umwerfen können.

Wenn unsere Kräfte es erlaubten, wohnten wir am Eingang des Lagers der Ankunft der Neuankömmlinge bei. Die Gendarmen begannen damit, die Familien zu trennen: die Männer in ein Lager, die Frauen und Kinder in ein anderes, manchmal in der Nähe, manchmal weit entfernt, und jedes Mal waren es herzzerreißende Szenen, Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Vor allem die Schreie der Frauen. Sie hatten ihr Heim verloren, ihre Kinder oder Eltern sterben sehen, sie waren am Ende ihrer Kräfte, krank, und nun nahm man ihnen auch noch ihre Söhne, ihre Ehemänner, ihre Brüder. Die Frauen waren verzweifelt und zeigten es auch, doch habe ich auch Männer im Augenblick der Trennung schwanken oder gar plötzlich zusammenbrechen sehen.

Nach der Trennungsprozedur verteilte ein Gendarm Decken, die er aus einem Laster zog, ein anderer notierte Namen und Alter in ein Heft. Jeder neue Flüchtling begab sich in den Bereich, den man ihm zuwies, legte sein weniges Gepäck ab, buddelte ein Loch in den Sand und kam dann zum Zaun zurück, um auf der anderen Seite einen Ehemann oder eine Ehefrau, einen Bruder oder Cousin ausfindig zu machen. Auf diese Weise war der Stacheldrahtzaun von Menschenreihen bevölkert, die von einem Lager zum anderen kommunizierten, mit wenigen Worten, die der Wind davontrug. Häufig wehte der Mistral, manchmal eine ganze Woche lang, wirbelte den Sand hoch, sodass die Augen brannten. In stürmischen Nächten donnerten die Wellen, der Wind pfiff und es herrschte eine feuchte Kälte, die einem bis in die Knochen drang.

Zweimal am Tag fuhr ein Militärlaster durch das Lager, hielt an jeder Baracke an, um einen Kochtopf abzustellen, meistens mit Topinambur, manchmal mit Kartoffeln. Ein anderer Laster folgte, ein Wächter stand im Gefährt und warf wahllos Brot herab, ohne hinzuschauen. Man musste sehr großen Hunger haben, um dieses Brot und diese Kartoffeln zu essen, die uns Bauchschmerzen bereiteten, und wirklich sehr durstig sein, um – wenn auch abgekocht – dieses Wasser zu trinken, das wir mit Konservendosen an den berüchtigten Handpumpen schöpften. Natürlich stand kein Fleisch auf dem Speiseplan, obwohl es die von den Flüchtlingen mitgebrachten Tiere gab. Sie weideten in den Gärten oder starben vor Hunger, wenn sie nicht von den Metzgern von Argelès entwendet worden waren, doch es gab eine Vorschrift, die es untersagte, sie zugunsten ihrer Besitzer zu schlachten. In unserem Sektor waren wir alle krank, und das fast immer. Die Ruhr war allgemein verbreitet, die Kinder weinten tagelang vor Hunger, und dann starben sie, vor allem am Anfang. Später begann das Rote Kreuz mit seinen Besuchen und setzte sich bei den Verantwortlichen dafür ein, die Baracken bevorzugt den Frauen mit Kindern zuzuweisen. Aber auch so sah man überall Frauen im Sand sitzen, mit ihren Babys im Schoß oder auf dem Arm, und sie mit ausgetrockneter Brust stillen. So saßen sie einige Tage an derselben Stelle, dann sah man sie nicht mehr und wusste, dass es zu Ende war, das Baby war gestorben.

In der ersten Zeit waren wir zu erschlagen, um uns für das politische Geschehen zu interessieren, geschweige denn für irgendetwas anderes. Aber später, genauer gesagt ab dem Zeitpunkt, als wir uns in den Baracken einrichten konnten, erwachten die Gewerkschaftler und die Aktivisten zu neuem Leben, und es gelang ihnen, sich zu informieren. Ende Februar erfuhren wir, dass Frankreich das nationalistische Regime anerkannt und Verhandlungen über die Rückführung der Flüchtlinge eröffnet hatte, weil diese sie viel Geld kosteten. Am 2. März wurde Marschall Pétain in Burgos zum Botschafter von Frankreich ernannt, bei seinem alten Freund Franco. Er setzte die Frage der Flüchtlinge auf die Tagesordnung, doch er hatte viel zu tun, besonders, was die Rückgabe spanischen Vermögens betraf, das von den französischen Banken zurückgehalten wurde. In Spanien verkündete El Caudillo, der Führer, ein Gesetz der politischen Verantwortlichkeit, das erlaubte, die republikanischen Anführer bei ihrer Rückkehr ins Land anzuklagen und zu inhaftieren. Das Wort ›inhaftieren‹ war im nationalistischen Wortschatz häufig ein Synonym für ›beseitigen‹: Wenn jemand im Gefängnis landete, hörte niemand mehr von ihm, und es bestand eher die Chance, mit den Füßen voraus als auf zwei Beinen wieder herauszukommen. In den französischen Lagern war es ähnlich, doch die Schamlosigkeit der Regierung wurde durch die Fürsorge einiger Privatpersonen gelindert. Ein Beispiel? Als die Kältewelle ihren Höhepunkt erreicht hatte, führte eine englische Tierschutzgesellschaft eine Inspektion bei uns durch: Die Delegierten gingen gruppenweise an uns vorüber und fragten, ob wir Haustiere hätten und ob es ihnen an nichts fehlte!

Persönlichkeiten mieden Argelès im Allgemeinen, das als Nest von Gewerkschaftlern und militanten Republikanern betrachtet wurde, doch wir erhielten einige Besuche. Ich erinnere mich an einen Abgeordneten der Partei, der dem Empfang von Ausreißern beiwohnte, und an einen Journalisten von La Dépêche, der einen lobenden Artikel über die Organisation des Lagers schrieb. Laut ihm ein Paradies auf Erden. Im Juli inspizierte Pétain das mustergültige Lager von Barcarès, geplant für siebzigtausend Flüchtlinge in tausend Baracken mit jeweils siebzig Menschen! Die Zeitungen veröffentlichten Fotos und enthusiastische Artikel, in denen der Komfort in diesen Hunderten von ›Chalets‹ gerühmt wurde, die in einer Reihe angeordnet waren und deren Dächer aus Wellblech in der Sonne glänzten. Tatsächlich verhinderte das Wellblech jegliche Luftbewegung, und die Hitze darunter war grauenvoll.

Im Frühling begannen die Soldaten davon zu reden, dass wir im Land untergebracht werden sollten. Die etwas wohlhabenderen Leute suchten Mädchen für ihren Haushalt, die Bauern Helfer bei der Feldarbeit. An einem bestimmten Tag kamen einige Matronen und begutachteten die Kandidatinnen: die Zähne, die Augen, die Muskeln … Wie Vieh. Doch es war eine Gelegenheit, aus dem Lager zu kommen und seine Haut zu retten. Meine Schwester und ich hatten uns eingeschrieben und gaben an, zusammenbleiben zu wollen: wir beide gemeinsam oder keine. Daraufhin wurde Teresa krank, und ich wollte sie nicht im Stich lassen. Die Krankheit wurde plötzlich schlimmer, und eines Nachts schreckte ich aus dem Schlaf auf: In meiner Umgebung fehlte etwas. Ich lauschte und begriff: ein Geräusch weniger. Es war Teresas Atmung.

Ein schrecklicher Augenblick. Ihr Körper, am Vorabend noch heiß vom Fieber, drückte kalt an meine Hüfte und meinen Schenkel. Einen Moment lang versuchte ich die Realität zu leugnen, dann begann ich zu zittern. Am ganzen Körper. Meine Hände, meine Beine, meine Brust waren nur noch ein Beben. Meine Zähne schlugen in der Stille der Baracke aufeinander. Ich glaube, es war dieses Klappern, das die Aufmerksamkeit meiner Nachbarinnen auf sich zog.

Was war danach geschehen? Ich erinnere mich nicht daran. Ich sehe mich mit offenen Augen liegen, ich spüre Teresas Druck an meinem Schenkel, und dann stehe ich am Eingang der Baracke, von meinen Kameradinnen umgeben. Wie jeden Morgen kommt die Gesundheitskontrolle, lädt den Leichnam auf die Bahre, bedeckt ihn wie immer mit einer Plane. Die Mädchen stehen schweigend da. Kaum ein Schluchzer oder eine Träne auf den Wangen.

Dieser Moment hat sich in mein Gedächtnis eingegraben. Ich schließe die Augen, und alles ist wieder da: die gezielten, professionellen Handgriffe der Krankenschwestern in dem grauen Licht, das durch die kleinen Fenster fällt, das Prasseln des Regens auf dem Dach, der Matsch auf dem Boden und unten an den Wänden. Ich sehe die Schweißtropfen an der Stirn eines der beiden Männer herunterlaufen, die Ratlosigkeit auf den Gesichtern der Frauen, und ich höre in dem Getöse des Regens und dem Husten einer Kranken die ersten Takte von La maja y el ruiseñor – Das Mädchen und die Nachtigall – in mir aufsteigen, des Klavierstücks von Granados, dem spanischen Komponisten. Ich stehe regungslos da. Ich betrachte diese Männer und wie sie mit diesem Körper umgehen, als beträfe es mich nicht, so wie ich dieselben Männer andere Körper habe aufheben sehen, fast jeden Morgen seit meiner Ankunft in Argelès, und ich höre diese Melodie, die mich wiegt und umhüllt.

Villefranche

Der Leiter des Lagers ließ mich am späten Vormittag rufen.

»Ich begleite dich«, sagte Julia und erhob sich.

»Lass nur«, entgegnete ich aus meiner tiefen Niedergeschlagenheit heraus.

Ich begab mich langsam zu dem kleinen Backsteingebäude mit den Büros und der Krankenstation. Dabei versuchte ich, auf den Holzplanken, die die Soldaten endlich über die Kloake gelegt hatten, das Gleichgewicht zu halten.

Der Leiter erwartete mich, und er war nicht allein. Er unterhielt sich in seinem Büro mit einer kleinen rundlichen Frau, von der ich durch die offen stehende Tür zunächst nur den Rücken erblickte. Als ich eintrat, drehte sie sich halb um, begutachtete mich von Kopf bis Fuß, und ihr Blick blieb erst an meinen Beinen hängen, dann an den Hüften und an dem, was von meiner Brust noch übrig geblieben war.

»Maria Soraya«, sagte der Soldat nach einem Räuspern. »Ist das dein Name?«

»Ja, das bin ich.«

»Madame …«

»Puech, Félicie Puech.«

»Madame Puech aus …«

»Villefranche, Villefranche-de-Conflent.«

»Madame Puech aus Villefranche-de-Conflent hat sich gemeldet, um dich aufzunehmen. Sie braucht Hilfe in ihrer Bäckerei, so ist es doch?«

»Ja. Mein Sohn wurde eingezogen, wie ich Ihnen gesagt habe …«

»Also …«

Er fuhr mit seinem dicken, fettigen Finger über ein Blatt Papier.

»Du hast mehrere Angebote abgelehnt, nicht wahr? Maria Soraya. Deine Schwester und du, ihr wolltet in derselben Familie aufgenommen werden, stimmt doch, oder? Nun …«

»Ich werde mitgehen«, sagte ich entschlossen.

»Du sprichst Französisch?«, fragte die Frau und blickte mir tief in die Augen.

»Ein wenig. Ich verstehe es«, fügte ich auf Katalanisch hinzu.

»Ein wenig!«, wiederholte sie enttäuscht.

Sie erhob sich seufzend, und ich fragte mich, ob die Anstrengung, die diese einfache Bewegung ihr abverlangte, durch ihre Korpulenz, gewöhnliche Müdigkeit oder vielmehr durch den Ekel, den ich ihr einflößte, hervorgerufen wurde. Sie drückte meine Muskeln an den Oberarmen, zog meinen Rock bis über die Knie hoch, inspizierte meine Haare und lief währenddessen unablässig mit unentschlossener Miene und Seitenblicken hin zum Lagerleiter um mich herum. Als sie ihre Inspektion beendet hatte, setzte sie sich wieder, seufzte noch einmal und schaute mich mit ihren kleinen Marderaugen einen Augenblick aus der Entfernung an.

»Marie also?«, fragte sie wiederum seufzend.

»Ja, Madame.«

»Gut. Ich nehme sie.«

Sie nickte, und ich begriff, dass ich aus dem Lager herauskommen würde, um irgendwo in einer Stadt oder einem Dorf der Ostpyrenäen Brot zu verkaufen. Der Leiter des Lagers stempelte ein Blatt Papier und hielt es ihr hin.

»Zehn Minuten«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu holen.«

»Der Zug wartet nicht«, setzte die Frau mit einem letzten Seufzer hinzu.

Ich habe keine genaue Erinnerung an den ersten Teil unserer Reise, nur einige Bilder sind mir geblieben: Madame Puechs Bedrängnis in dem Moment, als sie auf den Lastwagen der Militärbehörde aufstieg, der Tumult am Bahnhof von Argelès, die eisernen Brücken über den Flüssen, das Grau des Meeres an der Flussmündung. Deutlich sehe ich jedoch den schwarzen Mantel und den kleinen Hut meiner Chefin unter einem großen Glasdach vor mir, das muss am Bahnhof von Perpignan gewesen sein. Und ich habe drei Trittbrettstufen und zwei sich gegenüberstehende hölzerne Sitzbänke vor Augen. Ein Reisender schickte sich an, meinen Koffer zu nehmen, um ihn auf der Gepäckablage über den Sitzplätzen zu verstauen, doch ich hinderte ihn daran und drückte den Koffer fest an mich. Ein kleines Ding aus aufgeweichtem Karton, an den Ecken eingedrückt, von Regen und Sonne verformt. Doch es war alles, was mir von meiner Vergangenheit geblieben war, das Einzige, was mich an meine Familie erinnerte.

»Nun gut!«, murmelte Madame Puech deutlich genug, dass ich es hörte. Seht euch das an!, sagte ihr Blick. Seht diese Zurückgebliebene, die sich an ein Stück Karton wie eine Bettlerin an ihre Mütze klammert! Doch sie spürte, dass ich nicht von meinem Entschluss ablassen würde, und insistierte nicht. Sie ließ sich am Ende der Sitzbank am Fenster nieder und wies mir mit einer Kinnbewegung den Platz ihr gegenüber zu.

»Setz dich dort hin«, sagte sie, als ich zu ihr kam.

Sie wiederholte es auf Katalanisch. Ich ließ mich nieder und versuchte dabei unter den Falten dessen, was von meinem Mantel übrig geblieben war, die Flecken und Risse meines Rocks zu verbergen.

»Nun, wir werden dich neu einkleiden«, sagte sie mit einem erneuten Seufzer, während sie mein Unterfangen beobachtete.

»Danke, Madame«, erwiderte ich auf gut Glück auf Französisch.

In diesem Augenblick ertönte ein Pfiff auf dem Bahnsteig, und die Dampfstöße wurden mit dem Schließen der Türen und dem Quietschen der Kuppelstange beantwortet. Es hatte aufgehört zu regnen, ein winterliches Licht glitt über die Gesichter, und die Geräusche fügten sich in einer Art Abschiedssymphonie zusammen, welche die Kulisse einhüllte und durchdrang.

Die Musik war der Mittelpunkt meines Lebens, ja, meines Seins gewesen, bevor ich Tarragona verlassen hatte. Die Bombardierung hatte sie plötzlich aus meiner Welt genommen, und nun kam sie auf diese Weise wieder zurück, ohne Vorwarnung. Warum gerade in diesem Moment? Hing es damit zusammen, dass ich das Lager verlassen hatte? Dass sich nach diesen Monaten der Zurückgezogenheit, der schieren Hoffnungslosigkeit neue Perspektiven eröffneten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie da auf einem Bahnsteig im ›Zentrum der Welt‹, wie Salvador Dalí diesen Ort genannt hatte, wieder ihren Platz in mir einnahm.

Der Zug entfernte sich vom Bahnhof, dann von den Vorstädten, um durch einen Weinberg zu fahren, der sich mit seinen Hohlwegen, Mandelbäumen und Hütten unter Feigenbäumen in sanften Wellen dahinzog, so weit das Auge reichte. Es gab dort Felsen, die wie Schornsteine mit einer Haube aussahen, Dörfer mit roten Dächern und weißen Mauern, die mich an Spanien erinnerten, linkerhand bewaldete Abhänge und darüber eine hohe, mit Schnee bedeckte Gebirgskette.

»Der Canigou«, sagte Madame Puech, als sie meinem Blick folgte.

»Der Canigou«, wiederholte ich.

»Komm näher«, murmelte sie wenig später und rutschte an den Rand ihres Sitzplatzes.

Sie zögerte, dann sagte sie leise, indem sie sich von den Mitreisenden abwandte: »Ich muss mit dir reden. Über Charles. Meinen Sohn Charles. Meinen einzigen Sohn, hörst du?«

Sie sah mich durchdringend an. Was war mit diesem Charles?

»Die Armee hat ihn uns genommen«, seufzte sie. »Die Mobilmachung, verstehst du? Das tut uns weh. Es schadet dem Geschäft«, sprach sie stirnrunzelnd weiter. »Wir können ihn nicht ersetzen, sie sind alle weg, verstehst du? Alle Männer sind fort«, wiederholte sie mit einer Handbewegung, als würde sie einen Schwarm Spatzen nachahmen, »das Backhandwerk ist Männerarbeit, und es gibt keine Männer mehr, es sind keine mehr da.«

Sie setzte sich wieder zurück auf ihren Platz und erklärte mir unter weiteren Seufzern und ohne mich anzuschauen die Organisation ihres Geschäfts und was sie von mir erwarteten, ihr Mann und sie: Ich würde im Laden arbeiten und Arlette, ihre Angestellte, in die Backstube überwechseln. Dann holte sie ein großes viereckiges Stück Stoff aus ihrer Manteltasche, schnäuzte sich und rieb sich die Nasenflügel.

»Charles …«

Sie zögerte, dann sagte sie mit traurigem Gesicht: »Er schreibt nicht.« Und mit einem in die Ferne auf irgendein Detail der Landschaft gerichteten Blick: »Émile macht es ganz krank.«

»Émile?«

»Émile, mein Mann. Muss man dir alles erklären? Charles sollte ihn ablösen. Er hat es versprochen. Aber nun ist Krieg, er ist weg, und Émile, nein, er kann nicht, es ist zu viel für ihn. Es wird ihn umbringen«, fuhr sie fort und schnäuzte sich wieder mit einer großtuerischen Geste, bei der sie ihre Augenbrauen zusammenzog.

Den Blick noch immer abgewandt, fügte sie leise hinzu: »Deshalb haben wir dich genommen, verstehst du? Für den Verkauf.«

»Den Verkauf?«

»Für den Brotverkauf natürlich! Ach, begreifst du denn gar nichts?«

»Doch«, stammelte ich. »Für den Brotverkauf.«

»Wirst du es schaffen?«, fragte sie besorgt, nachdem eine ganze Weile Stille geherrscht hatte.

Was sollte ich schaffen? Mich an den Preis des Brotes erinnern, die Bestellungen notieren, das Kleingeld herausgeben? Das erledigen, was ich so oft die Angestellten der Bäckerei in unserem Viertel in Tarragona hatte tun sehen? Warum nicht? Ich hatte mir vorgestellt, dass ich Wäsche ausschlagen, Kartoffeln schälen und Wasser aus einem tiefen, dunklen Brunnen heraufholen musste. Letztendlich verlangte man von mir, dass ich mich hinter einen Ladentisch stellte, um Brot auszugeben, was würde das ändern? Das Einzige, was für mich in diesem Moment zählte, war, aus diesem Lager wegzukommen, zu dem man mich zurückbringen würde, wenn ich die an mich gestellten Aufgaben nicht erfüllte. Tatsächlich hätte ich an jenem Tag und auch noch geraume Zeit später alles Mögliche akzeptiert, nur aus Furcht, nach Argelès zurückgeschickt zu werden. Sagte man mir: Tu dies, mach das – ich tat es, ohne zu versuchen, es zu verstehen, oder zu widersprechen. Wie dem auch sei, ich hatte meinen Vater, meine Mutter, mein Zuhause verloren, ich hatte auf der Flucht Schreckliches gesehen, wie ich es mir nie hätte vorstellen können, und nun war Teresa tot, und ich war allein auf der Welt. Also Wäsche waschen oder Brot verkaufen …

»Ja, Madame«, sagte ich in meinem unvollkommenen Französisch, »ich werde es schaffen.«

Und später, nachdem ich ein wenig nach den Worten gesucht hatte: »Sie können sich auf mich verlassen.«

Sie sah mich noch einen Moment lang an, mit diesem zweifelnden Ausdruck, mit dem sie mich von Anfang an im Büro gemustert und den sie seitdem beibehalten hatte, dann wandte sie den Kopf zum Fenster und versank in ihre Gedanken.

Wir fuhren in einen Bahnhof ein, der den Namen ›Prades‹ trug. Auf dem Bahnsteig erinnerte mich ein mit Kugeln und Girlanden geschmückter Weihnachtsbaum an das Datum: Es war der 24. Dezember. Ich hob den Kopf und nahm die Menschen in unserem Abteil wahr. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, von der Betrachtung der Landschaft so in Anspruch genommen, dass ich sie weder gesehen noch gehört hatte. Hätte man mich gefragt, wer von ihnen mit uns zusammen in Perpignan eingestiegen war und wer an den folgenden Haltestellen, ich wäre nicht in der Lage gewesen zu antworten.

Ich lauschte. Die Unterhaltung handelte von den Rationierungsmaßnahmen, den Schwierigkeiten, Lebensmittel zu bekommen, der drohenden allgemeinen Mobilmachung. In Kriegszeiten Weihnachten feiern – wie passt das zusammen?, bemerkte jemand. Eine Antwort blieb aus.

Dieser Halt dauerte länger als die anderen, doch der Zug setzte sich schließlich wieder in Bewegung. Die Silhouette des Tannenbaums entfernte sich rasch, und die Kulisse verengte sich. Da waren keine großen Obstgärten und bewaldeten Hügel mehr. Wir fuhren langsam durch einen Engpass, der mich an den Anstieg des Passes von Perthus nach der Bombardierung erinnerte. Tränen stiegen mir bei dieser Erinnerung in die Augen. Würde die Kette meiner Unglücke jemals enden? Stand es irgendwo geschrieben, dass ich immer wieder auf Menschen ohne Mitleid treffen würde, die nur den Profit oder den Vorteil im Sinn hatten, den sie aus mir ziehen konnten? Wie diese Madame Puech. Sie beobachtete mein Spiegelbild in der Glasscheibe der Tür, stellte meine Bestürzung fest und tat, als ob sie nichts bemerkte, nichts sah. War das eine Angewohnheit der Leute hier? Eine besondere Sitte in dieser Gegend? Nein, seit ich das Lager verlassen hatte, war ich einige Male angelächelt worden. Am Bahnhof mit dem Tannenbaum hatten mich die Reisenden mit einer Mischung aus Neugier und Sympathie angeschaut. Sie hätten mich sicherlich angesprochen und sich meiner angenommen, wenn meine Chefin nicht da gewesen wäre.

Bei der folgenden Haltestelle, der von Ria, knöpfte diese ihren Mantel zu, nahm ihre Handtasche und machte mir ein Zeichen, mich bereitzuhalten. Die anderen Reisenden taten es ihr gleich und ich fragte mich, ob sie über alle diese Leute verfügte, ob der Himmel mich unter den Schutz einer Familie gestellt hatte, die sich gegenüber allen durchsetzte. Es gab einen kleinen Ruck, der Zug blieb stehen und die Leute folgten uns auf den Bahnsteig.

Dieser Bahnhof war weit weg von allem, er lag verlassen auf einer kleinen Hochebene, die von hohen Felsen umgeben war. Es war kaum vier Uhr nachmittags und die Dunkelheit brach über den Vorplatz herein, die Sonne erhellte nur noch ein Stück Felsen ganz oben auf den Bergen. Ein feuchter und kühler Wind wehte in der Talmulde, und ich zitterte in meinem abgenutzten Mantel. Doch es war nicht der Moment, sich gehen zu lassen: Ich umklammerte den Griff meines kleinen Koffers, biss entschlossen die Zähne aufeinander und folgte Madame Puech auf der Straße, die vor dem Bahnhof begann. Sie führte auf einer Steinbrücke über einen Fluss, den der Zug mehrere Male überquert hatte.

»Die Têt, hörst du?«, sagte Madame Puech, ohne stehen zu bleiben, und wandte sich ausschließlich der Strömung zu.

»Die Têt«, wiederholte ich und bemühte mich, mir dieses neue Wort einzuprägen.

Frauen und Männer waren vor und hinter uns auf der Brücke unterwegs, bogen am Ende rechts ab und gingen an einer Steinmauer entlang, die von der Böschung hinaufragte. Ich erkannte einige Reisende aus unserem Abteil wieder, entdeckte aber auch Frauen in Schürzen und Arbeiter in Latzhosen, die ich weder im Zug noch auf dem Bahnsteig gesehen hatte. Waren das Bauern? Oder Eisenbahner, die von ihrer Arbeit zurückkehrten?

All diese Leute redeten, pfiffen, machten Späße, grüßten meine Chefin, und ich zitterte. Vor Kälte und von der quälenden und sich immer wiederholenden Erinnerung an den Aufstieg nach Perthus unter den Schusssalven der nationalistischen Luftwaffe. Ich zitterte wegen der feuchten Kälte, die vom Fluss her aufstieg, und der Kälte, die diese Bilder in meiner Seele hervorriefen. Und zwar gegen meinen Willen. Im Gegenteil, ich bemühte mich, den Gesprächen um mich herum zu folgen, die Vorfreude an diesem Weihnachtsabend zu teilen. Aber immer tauchten dieselben Szenen wieder auf: der überstürzte Aufbruch im Feuerschein, die Leichen von Papa und Mama, das Blut an den Mauern und auf dem Straßenpflaster. Es war stärker als ich.

Ich versuchte meine Gedanken wieder auf Bilder von schönem Feuerschein in einer Küche und von warmem Brot auf Regalen in einer Bäckerei zu lenken, doch das Grauen setzte sich durch, und mir wurde langsam schlecht. Schließlich ging ich auf die Mauer zu, an der wir entlangliefen, und ließ mich an ihr hinuntersinken, mit dem Rücken gegen den Stein. In diesem Augenblick, ja, da hätte ich gewollt, dass alles aufhört und dass Gott mich zu sich nimmt, zu den meinen.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte eine Frau und kam zu mir.

»Die Kleine hier fühlt sich nicht wohl«, sagte eine andere direkt neben mir.

»Du, misch dich da nicht ein«, entgegnete Madame Puech, ohne sich deshalb um mich zu kümmern.

Sie war vom Bahnhof an zusammen mit einer Frau ihres Alters und Ranges gelaufen, die wie sie in einen halblangen dunklen Mantel gehüllt war. Sie trat ein wenig auf der Stelle, als sie mein Unwohlsein bemerkte, machte jedoch keine Anstalten, mir zu Hilfe zu kommen, und ich konnte ihr nicht böse sein: Jeder an ihrer Stelle hätte sich dieses Schmutzfinks geschämt, der die Leute verjagen würde und vielleicht völlig unfähig war, eine Faulenzerin, eine Diebin, wer weiß, die vielleicht eher begabt dafür war, ihre Hand in die Kasse zu stecken, als Brot einzuwickeln und die Kunden freundlich zu bedienen. Ich verstand ihre Worte nicht, aber ihre verstohlenen Blicke und ungeduldigen Gesten bedurften keiner Übersetzung.

Es gelang mir, wieder aufzustehen, zu ihr zu gehen, und als ich sie eingeholt hatte, sah ich durch das Geäst, das vom Flussufer aufragte, die lange hellgraue Stadtmauer. Es war dasselbe leicht rosafarbene Hellgrau wie bei dem Felsen am Engpass, der Schutzmauer am Fluss, dem Brückenbogen unterhalb des Bahnhofs. Eine lange grau-rosa Mauer, von ihrem Schieferdach durch den schwarzen Streifen einer Galerie förmlich getrennt, von zwei Türmchen flankiert und ungefähr in der Mitte von einem Tor durchbrochen, dessen stark ausgearbeitete Details die schreckliche Nüchternheit des Ganzen noch betonten.

Mit jedem Schritt wurde das Bauwerk größer und nahm einen immer umfangreicheren Teil meines Blickfeldes ein, und im selben Maß wuchs meine Furcht. Als ein Auto über eine der Steinbrücken fuhr, fiel sein Scheinwerferlicht für kurze Zeit auf das Mauerwerk. Dein neues Gefängnis, sagte ich mir, als das Licht verschwand, von dem dunklen Loch des Tors verschluckt. Ich schaute noch eingehender hin. Die Mauer kam mir gigantisch vor, das Tor winzig klein, der Abgrund am Fuß der Bastion von einer unglaublichen Tiefe.

»Der Fluss Cady«, sagte Madame Puech und wandte sich mir ein wenig zu.

Ich folgte ihr in das Dunkel des Tores und sagte mir, dass ich nun von einem Lager in das nächste kam, das noch furchterregender war als das erste und dessen Türen sich augenblicklich hinter mir schließen würden. Wir befanden uns direkt an der Stadtmauer; ich erriet im Halbdunkel der hereinbrechenden Nacht die Einzelheiten des Mauerwerks und wurde immer mehr von einer dumpfen Angst erfüllt.

»Versuch, dich zu benehmen«, murmelte sie, als wollte sie meine Sorgen bestätigen.

Es war das erste Mal, dass ich in eine solche Festung kam, und ich fragte mich, ob sich der Zug von Perpignan nicht in der Zeit zurückbewegt hatte, um uns am Tor zu einer anderen Welt abzusetzen. Was war das für eine Stadtmauer? Fand das Leben nur innerhalb dieser Mauern statt? Aber die Menschen mussten doch auf ihre Felder. Wo brachten sie ihre Tiere und ihre Ernte unter? Fragen stürzten auf mich ein, aber ich hätte mich nie getraut, sie Madame Puech zu stellen. Denn ich wollte nicht dumm wirken und auch nicht die Bedrängnis vergrößern, in der sie sich offensichtlich seit dem Verlassen des Bahnhofs befand und die ich mir eigentlich nicht erklären konnte. Hatte ich einen Fehler begangen, ohne es zu merken? War sie, als sie mich während der Zugfahrt beobachtete, zu der Ansicht gekommen, dass ich nicht die von ihr erhofften Qualitäten besaß?

»Die Porte de France«, sagte sie, als wir in diesen Tunnel hineingingen, der auf mich wie das Maul eines Drachens wirkte.

»Die Porte de France«, wiederholte ich und betrachtete die bedrohlichen Spitzen des Fallgitters, die riesigen Glieder der Kette und die großen Holzräder des Laufwerks.

Hinter dem Tor lag ein Platz, in seiner Verlängerung eine Straße und eine weitere rechterhand ganz am Ende des Platzes. In diese Richtung wendete sich Madame Puech. Sie ging plötzlich sehr schnell und erwiderte kaum den Gruß der Leute. Es wurde immer dunkler, die Fenster in den Stockwerken der Häuser wurden erleuchtet, eine Frau verließ mit einem Baby auf dem Arm ihr Haus, schloss die Fensterläden und summte dabei unaufhaltsam vor sich hin. Madame Puech bog in die Straße am Ende des Platzes ein, stieß eine Glastür mit dem Ladenschild der Bäckerei auf, und ich begriff, dass wir angekommen waren.

»Ist alles bereit, Arlette?«, wandte sie sich ohne Begrüßung an die Person hinter dem Ladentisch.

»Es ist alles bereit, Madame. Wir haben zwei Kessel, die zusätzlich erhitzt werden können, für alle Fälle.«

Arlette gab einem kleinen Mädchen das Wechselgeld heraus. Dann waren noch zwei ältere Männer im Laden, in schwarzen Cordhosen und dunklen Jacken. Der kleinere von ihnen hatte eine Wollmütze auf dem Kopf. Sie drehten sich zu uns um und betrachteten mich schweigend, wie man etwas Seltsames anschaut. Auch im Zug und auf dem Weg zum Bahnhof hatten mich die Menschen gemustert, jedoch flüchtig und wie im Vorbeigehen. Seit wir die Porte de France durchschritten hatten, war es anders: Die Blicke richteten sich gezielt auf mich, musterten mich von oben bis unten und wanderten dann zu Madame Puech, als forderten sie von ihr Rechenschaft. Wer war diese Fremde, dieses schmutzige Wesen, das ihr wie ein Schatten folgte? War es eine gute Idee, ein Mädchen, dessen Eltern keiner kannte, in die eigenen Mauern hereinzulassen? Ich sah mich mit ihren Blicken und schämte mich. Schämte mich meiner fleckigen Kleider, meines zerlöcherten Mantels. Schämte mich meiner nackten Füße in meinen zerschlissenen Schuhen.

Ich verstand den Sinn des Gesprächs mit Arlette erst, als ich Madame Puech auf den Fersen in das folgte, was die Backstube sein musste. An der Wand entlang standen Arbeitstische bedeckt mit Zinkplatten, ein Backtrog und ganz hinten Jutesäcke. All das war von weißem Staub bedeckt. In der Mitte des Raumes stand ein großer, dampfender Holzzuber auf dem Boden, ein Badehandtuch lag auf einem Stuhl, und über der Lehne hingen saubere Kleider.

»Komm!«, sagte sie zu mir und zog ihren Mantel aus. Sie schnürte eine große Schürze, die an einem Haken gehangen hatte, um ihre Hüften und krempelte die Ärmel ihrer Bluse bis zu den Ellenbogen hoch. Dann beugte sie sich über den Zuber und griff nach dem Schwamm darin.

»Nun!«, wandte sie sich noch einmal an mich und drehte sich dabei zu mir um.

Eine angenehme Wärme erfüllte die Backstube, und die Aussicht, mich zu waschen und saubere Kleider anzuziehen, entzückte mich. Es würde seit meiner Flucht aus Tarragona vor zehn Monaten das erste Bad sein. Doch es gab da einen Haken: Ich musste mich vor einer Fremden ausziehen, in einem Raum, den Arlette oder sonst irgendjemand jeden Moment betreten konnte.

Madame Puech war meinem Blick gefolgt. Sie zuckte mit den Schultern und ging, um die zwei Riegel an der Tür zum Laden hin zu verschließen und dann die an der Tür am anderen Ende, die nach draußen führen musste. Nun also zog ich meinen Mantel und mein Kleid aus, das ich seit meiner Flucht aus Spanien trug. Ich zögerte erneut, als ich meine Unterwäsche – das, was davon übrig war – auszog, doch Madame Puech hatte bereits die Tür des Ofens geöffnet und warf meine Lumpen nach und nach hinein.

Plötzlich erleuchtete ein wilder Schein die Wände. Ich wandte den Kopf und erstarrte: Sie hatte meinen Koffer ergriffen und schickte sich an, ihn ins Feuer zu werfen.

»Nein!«, schrie ich.

Mit einem Satz war ich am Ofen, riss den bereits brennenden Koffer aus Madame Puechs Händen und tauchte ihn in den Zuber. Weißer Rauch stieg aus dem Dampf hoch, die Flammen flackerten an die Decke, und Madame Puech stieß einen überraschten Schrei aus.

»Was tust du? Hör auf, du Unglückliche! Du wirst das Haus in Brand stecken!«

Das kümmerte mich nicht. Sie konnte schreien, so viel sie wollte, dass das ganze Viertel zusammenlief, es war mir egal. Ich warf den Koffer auf den Boden, sobald die Flammen erloschen waren, und öffnete ihn, um die einzigen Reliquien meiner Kindheit herauszuholen: das Gebetbuch von Mama und meine Perlenkette, eine Erinnerung an mein erstes Konzert, in der hölzernen Schatulle, die Papa extra für diesen Anlass angefertigt hatte. Sie war von den Flammen geschwärzt, das Buch und die Kette aber unversehrt. Ich nahm mir die Zeit, sie auf einen in der Nähe stehenden Tisch zu legen, dann ergriff ich das, was von dem Koffer übrig war, und warf es selber in die Flammen.

Madame Puech beobachtete mein Tun mit starrem Blick, wie jemand, der seinen Augen nicht traut. Regungslos, mit leicht geöffnetem Mund und zitternden Lippen. Doch plötzlich kam sie wieder zu sich und zeigte mit einer Handbewegung auf die Kleidungsstücke über der Stuhllehne.

»Du ziehst bei dem Tausch nicht den Kürzeren.«

Ein Kleid, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte: hellblau, mit einem Kragen und Manschetten aus weißer Baumwolle. Und dann noch ein Unterkleid mit Spitzenbordüre, weiße Kniestrümpfe und eine hübsche Mütze.

»Das müsste dir passen«, sagte sie, die Hände auf den Hüften.

Als ich mich nicht entschließen konnte, mein altes Unterkleid auszuziehen, kam sie zu mir, griff nach dem unteren Saum und zog es mir mit einem Ruck über die Schultern. Ich stieß einen Schrei aus und kreuzte die Arme über meiner Brust.

»Los, denkst du, ich habe sonst nichts zu tun?«

Ich sah ein, dass Widerstand zu nichts führen würde, zog meine letzten Lumpen aus und stieg über den Rand in den Holzzuber.

Weihnachten

Ein Duft von Weihnachten hatte auf unserer Fahrt die Luft in den Bahnhöfen erfüllt, und als ich durch die Bäckerei lief, hatte ich Zeit, auf dem Fenstersims des Schaufensters eine kleine Krippe zu bemerken, die mit falschem Schnee gepudert war. Es würde einen Weihnachtsabend und eine Mitternachtsmesse geben. Darum kreisten meine Gedanken, als ich Madame Puech in den leeren Verkaufsraum folgte, der von dem Licht, das durch eine kleine Tür links vom Ladentisch fiel, nur schwach erleuchtet wurde. Hinter dieser Tür führte eine Treppe in den ersten Stock, in eine große Küche, in deren Mitte ein massiver Tisch mit einer Wachstuchdecke stand. Rechts der Eingangstür befand sich an der Wand zwischen den beiden Fenstern ein Buffet, gegenüber ein gusseiserner Herd mit seinem Zinkrohr, auf der linken Seite ein Sofa und in der hinteren Ecke ein Spülbecken aus Stein. Die weiteren Türen führten sicher in andere Zimmer … Das ist von nun an deine Welt, sagte ich mir.

Die Lippenbewegungen, die ich seit unserer Abreise aus Argelès bei Madame Puech beobachtet und ihrer Beunruhigung wegen der Reise zugeschrieben hatte, diese Bewegungen hatten sich, seit wir bei ihr zu Hause waren, in eine Art Murmeln verwandelt und wurden von einem Schulterzucken begleitet, das ihre Umgebung vielleicht als eine ihr eigene Art nicht mehr wahrnahm. Ich bemerkte es wieder, als sie zum Küchenschrank ging. Sie holte eine mit Mohnblumen bestickte Leinentischdecke heraus und forderte mich auf, den Tisch für vier Personen zu decken: sie selbst und ihren Mann, ihren Sohn Charles und seine Verlobte Agnès. Arlette und ich würden in der Küche essen, zwischen den einzelnen Gängen.

»Charles? Sie haben mir doch gesagt …«

»Was habe ich gesagt?«

»Dass er mit der Armee fortgegangen ist.«

»Ja, er ist weg, natürlich ist er fort«, erwiderte sie verwirrt, »aber man weiß ja nie.«

Dann fing sie sich wieder: »Als ob ich mich dir gegenüber rechtfertigen müsste! Tu, was man dir sagt, arbeite, statt tausend Fragen zu stellen. Und lass dir das ein für alle Mal gesagt sein: Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein! Verstehst du mich? Das gilt auch für dich«, wandte sie sich an Arlette, die am Spülbecken beschäftigt war.

Sie stieß plötzlich eine der Türen auf, die von der Küche wegführten, und drehte an einem Schalter. Licht fiel von einem fünf- oder vielleicht auch sechsarmigen Leuchter in ein Esszimmer, dessen Mobiliar mich sprachlos machte. Es waren nur ein Tisch und sechs Stühle, eine Kommode und ein Buffet, die aber wie neu aussahen und in einem mir unbekannten Stil gearbeitet waren. Diese Pracht erinnerte mich an ein Möbelgeschäft in Tarragona, das ich eines Tages mit meiner Mutter betreten hatte und dessen Duft nach Wachs, dessen spiegelnder Glanz und goldene Beschläge einen lang anhaltenden Eindruck von außergewöhnlichem Komfort und unglaublicher Erhabenheit bei mir hinterließen.

»Und, worauf wartest du?«

Ich stand wie angewurzelt auf der Schwelle zu diesem Zimmer, mit der Tischdecke über dem Arm, und versuchte mich davon zu überzeugen, dass diese Möbel ein wenig mir gehörten, dass ich sie so lange bewundern könnte, wie Madame Puech mich in ihrem Dienst haben wollte, sogar schon sehr bald, wenn ich auftragen würde.

»Soll sich die Arbeit etwa von alleine machen?«

Allerdings musste Madame Puech mich wollen, sagte ich mir. Und ich gab mir noch größere Mühe, mir den richtigen Platz des Bestecks, des Geschirrs und der schmiedeeisernen Kerzenhalter auf dem Tisch einzuprägen …

Woher ich die Kraft nahm, den Tisch zu decken, kann ich mir nicht erklären. Die Übelkeit kam in Wellen; die Gerüche, die aus den Töpfen aufstiegen, drehten mir den Magen um. Ich konnte mich nur aufgrund meines Willens, einen guten Eindruck zu machen, aufrecht halten. Gewissermaßen ein Überlebensreflex. Zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir, und ich führte noch weitere kleinere Arbeiten aus, die Arlette mir auftrug.

Ich saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln, als Schritte auf der Treppe zu hören waren, die zu den Schlafzimmern führen musste. Zwei abgetragene Pantoffeln, eine braune Cordhose, eine Jacke in demselben Farbton mit Flicken an den Ellenbogen: In dieser Reihenfolge nahm ich Monsieur Puech wahr. Ein kleiner untersetzter Mann mit einem argwöhnischen Gesichtsausdruck. Er blieb auf der letzten Stufe stehen und schaute mich lange an, mit einem Blick, wie unsere Nachbarn in Tarragona mich angesehen hatten, als ich auf das Gymnasium ging und mein Po und meine Brüste sich entwickelt hatten. Eine ganze Weile taxierte er mich auf diese Weise.

»So ist das also?«, sagte er schließlich mit einer Art höhnischem Grinsen.

»So ist es, wie Sie sagen«, erwiderte Arlette, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben.

»Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt?«, brummte er.

Schließlich stieg er die letzte Stufe hinunter und wandte sich dabei schwankend um, was mir zeigte, wie gebrechlich er war. Er nahm die Zeitung, ging hinkend auf mich zu und setzte sich am Tischende ganz dicht neben mich. Er saß da und schaute mich an, ich spürte seinen Blick auf mir, auf meinem von Unterernährung gezeichneten Gesicht, auf meinen kranken Augen, meinen Musikerhänden, die so gut wie zu nichts nutze waren. Er sagte nichts, blieb völlig ausdruckslos, versenkte sich nur in die Zeitung, doch ohne zu wissen warum war ich davon überzeugt, dass er sein Urteil über mich gefällt hatte, gleich auf den ersten Blick. Und ich verlor das Bewusstsein.

Als ich meine Augen wieder aufgeschlagen hatte, brauchte ich eine ganze Weile, um den Faden wiederzufinden, der mich mit den Dingen und Geräuschen um mich herum verband. Ich war weder in unserem Haus in Tarragona noch in unserer Baracke im Flüchtlingslager. Schließlich kamen mir die Ereignisse des Tages bruchstückhaft wieder in den Sinn: die Abreise aus Argelès, das Umsteigen in den anderen Zug in Perpignan, die Befestigungsmauer …

»Fröhliche Weihnachten!«, hörte ich eine Stimme neben mir sagen.

Auf diese Weise machte ich Bekanntschaft mit Agnès, der Verlobten von Charles. Sie beugte sich über mich, streichelte mir die Stirn, ließ ihre Finger durch meine Haare gleiten, und ich sagte mir, dass nicht alles verloren war, dass sich vielleicht einiges bessern würde.

»Die Kartoffeln …«

»Sind gemacht, ruh dich aus«, antwortete sie auf Katalanisch mit einem lauten, hellen Lachen, das ihre schönen weißen Zähne zum Vorschein kommen und ihre Augen strahlen ließ.

»Weißt du, schon seit Ewigkeiten wissen sie sich in diesem Haus auch ohne dich zu helfen, da kommt es auf einen Tag nicht an.«

Ich lächelte, und Madame Puech entschied, dass dies ein Zeichen war: Meine Unpässlichkeit war vorbei, ich konnte den Dienst wieder aufnehmen.

»Zu Tisch!«, sagte sie mit vorgetäuschtem Schwung.

»Und Charles?«, fragte Monsieur Puech spöttisch grinsend.

»Du weißt doch, dass er niemals pünktlich ist. Wenn wir auf ihn warten müssten, würden wir niemals essen.«

»Nun, mein Mädchen«, fuhr sie fort und warf Agnès einen dieser ausweichenden Blicke zu, die ich seit Argelès beobachtet hatte. »Ich möchte nicht kalt essen.«

Agnès tat, als würde sie aufstehen, doch sobald ihre Schwiegereltern ihr den Rücken kehrten, setzte sie sich wieder neben mich.

»Ich werde dir meine Freunde vorstellen«, sagte sie zu mir halblaut auf Katalanisch. »Wir haben eine kleine Truppe zusammengetrommelt … eine Truppe, das ist ein großes Wort. Es ist schon gut, wenn wir bei den Vorstellungen sechs Jungen und Mädchen sind. Wir singen katalanische Lieder und tanzen in traditionellen Kostümen in den Dörfern des Conflent, manchmal auch weiter weg.«

»Des Conflent?«

»Das ist der Name der Region hier. Das Tal der Têt und seine Umgebung zwischen dem Roussillon und der Cerdagne, zwischen der Ebene und den Bergen.«

»Sie ist nicht einverstanden«, sprach sie weiter mit einer Kopfbewegung in Richtung Esszimmer. »Aber das ist uns egal«, fügte sie schulterzuckend und mit einem schalkhaften Lachen hinzu.

Ich hatte in Madame Puechs Stimme eine leichte Gereiztheit bemerkt, als sie ihre zukünftige Schwiegertochter erwähnte. Wenn sie den Namen ›Agnès‹ aussprach, hörte es sich an, als hätte sie ›Schlampe‹ oder ›Flittchen‹ gesagt. Nun verstand ich.

»Und Charles?«

»Was, Charles? Er … er hat seinen Platz am Tisch«, stammelte sie, als hätte sie einen Fehler begangen.

»Charles wird nicht kommen«, sagte sie nervös. »Er ist … ist an der Front und … anscheinend hat er uns vergessen. So ist es, er lässt nichts von sich hören, sagen wir es so.«

»Entschuldigung …«

»Du konntest es nicht wissen.«

Sie schaute mich einen Augenblick lang mit leicht geneigtem Kopf an und legte ihre Hand erneut auf meine Stirn.

»Das überkommt sie manchmal«, sagte sie mit einer Handbewegung zu ihrer zukünftigen Schwiegermutter hin. »Sie tut so, als wenn nichts wäre, als ob Charles immer noch da wäre«, fuhr sie fort und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, als wollte sie sagen, dass die Hausherrin in dieser Hinsicht ein wenig den Verstand verlöre.

»Manchmal …«

»Wir warten auf Sie«, schimpfte Madame Puech von der Schwelle des Esszimmers her. »Was heckt ihr aus?«

Agnès stand rasch auf; sie fürchtete sicher, dass Madame Puech unsere Unterhaltung mit angehört hatte. Wir waren beide so versunken gewesen, dass wir ihr Kommen nicht bemerkt hatten.

»Ich bin gleich da«, antwortete sie betreten. »Ich bereite nur noch einen Teller für Marie zu.«

»Kommen Sie. Arlette wird sich darum kümmern, wenn sie aufgetragen hat.«

Arlette hatte schlechte Laune. Fast schon ein dauerhafter Charakterzug von ihr, aber das wusste ich damals noch nicht und fragte mich, was ich falsch gemacht hatte, um diese Gereiztheit zu verdienen. War es wegen meines Schwächeanfalls? Weil ich ihr nicht die Hilfe zukommen ließ, die sie erwartete?

Wenn ich Arlette besser gekannt hätte, hätte ich gewusst, dass sie murrte wie andere atmeten, dass es keinen besonderen Grund für ihre Haltung mir gegenüber gab. Weil ich aber wollte, dass an jenem Abend alles vollkommen war, dass nichts diesen Heiligabend und meine Ankunft in diesem Haus trübte, setzte ich mich auf, sammelte meinen begrenzten Wortschatz zusammen und versuchte, sie in einem Gemisch aus Französisch und Katalanisch auszufragen.

Sie tat, als verstünde sie mich nicht, zwang mich aufzustehen, gab mir eine dampfende Suppenschüssel in die Hände und drängte mich zum Esszimmer hin.

Agnès war die Erste, die vom Tisch aufstand. Sie sang im Kirchenchor und hatte außerdem zugesagt, zu Beginn und am Ende der Messe Geige zu spielen. Eine Premiere in Villefranche, erklärte sie mir, als ich die Dessertteller abräumte.

»Geigenspiel in der Kirche! Das ist unglaublich«, sagte Madame Puech.

Sie sprach das Wort ›Geige‹ wie den Namen ihrer zukünftigen Schwiegertochter aus: mit einer missbilligenden, ja fast angeekelten Miene.

»Es wird doch auch Harmonium gespielt.« Zu mir gewandt fragte Agnès: »Kommst du mit?«

»O ja«, antwortete ich und trocknete mir die Hände vollends ab.

»Das ist nicht euer Ernst«, sagte Madame Puech und erhob sich so unvermittelt, dass ihr Stuhl umfiel.

»Ich kümmere mich um sie«, entgegnete Agnès. »Und ich bringe sie Ihnen zurück. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Kümmern Sie sich lieber um Ihre Angelegenheiten. Dieses Mädchen ist völlig erschöpft, sehen Sie das nicht? Sie muss sich ausruhen und braucht morgen all ihre Kräfte. Am Weihnachtstag mit der Arbeit zu beginnen ist nicht ohne.«

Sie ging uns mit klappernden Absätzen voran in die Küche … und ihre Selbstsicherheit schwand, als sie sah, dass das Geschirr gespült und Schüsseln und Gedecke weggeräumt waren.

»Émile«, rief sie verzweifelt.

»Hmm«, erklang ein Murmeln aus dem Esszimmer.

»Sag du es ihnen. Du bist doch das Oberhaupt der Familie.«

»Der Familie!«, erwiderte er und lachte schallend. »Das Oberhaupt der Familie! Von welcher Familie?«

»Von der Familie eben«, sagte sie irritiert. »Du, ich …«

»Du, ich, Charles … ist es so?«, entgegnete er mit einem unheimlichen Hohngelächter.

»Pah«, antwortete sie nur, zuckte mit den Schultern und drehte uns den Rücken zu. Sie senkte den Blick, wandte den Kopf und machte sich plötzlich am Herd zu schaffen, als wollte sie eine Schwäche verbergen, deren Ursache ich nicht ahnte.

»Was glaubst du?«, sprach er weiter und erschien auf der Schwelle zur Küche. »Dass du eine Spanierin an Weihnachten daran hindern wirst, in die Kirche zu gehen? Es ist heute viel günstiger, denk doch mal nach. Morgen hat sie Besseres zu tun.«

»Los, geht schon«, sagte er und machte eine Handbewegung, als wollte er uns aus seinem Haus jagen. »Und grüßt den Herrn Pfarrer von Émile Puech«, fügte er mit diesem höhnischen Lachen hinzu, das zu ihm zu gehören schien.

Woraufhin Agnès ihren marineblauen Umhang von der Garderobe nahm und nach kurzem Zögern auch ein großes schwarzes Tuch, das dort hing, und es mir über die Schultern warf.

Sobald wir draußen waren, hakte sie sich bei mir unter, und es war, als würde mir das Leben wieder zulächeln. Oh, es war ein zaghaftes Lächeln, blass wie die Wintersonne und noch verschüttet von der Verzweiflung über Teresas Tod und das Schwinden der letzten Dinge, die mir im Leben einen Halt gegeben hatten. Doch da war dieser Arm auf meinem Arm, dieser Mensch an meiner Seite, die Fürsorglichkeit, die ich von den Bewohnern Villefranches erhoffen konnte. Ich blickte zu den Fenstern auf und erahnte sie am Tisch in ihren Küchen sitzend, in dem bläulichen Licht, das von der Luftschutzbehörde vorgeschrieben war. Sicherlich würden sie alle ebenso hilfsbereit sein wie Agnès, genauso offen mir gegenüber. So flogen meine Gedanken dahin, während wir wie die Hirten zur Krippe in Bethlehem zur Kirche gingen, von einem Lichtschein geleitet, der die Dunkelheit vom oberen Teil der Straße her durchbrach und der Anordnung des Ministeriums trotzte. Er kam von einer Maueröffnung im Giebel der Kirche, die von innen erleuchtet war, und erinnerte an den Stern, der die Könige zu dem Stall geführte hatte, in dem das Jesuskind lag. War ich nicht auch eine Art König? Eine Reisende, die weit entfernt von ihrem Land ihren Weg suchte?

Auf der rechten Seite tauchte ein Platz auf, der mit kleinen kahlen Bäumen bepflanzt und von großen Häusern eingerahmt war. Dort schien die Dunkelheit undurchdringlich zu sein. Ich griff nach Agnès’ Arm und folgte ihr an einer Blendmauer entlang, durch ein von Steinsäulen flankiertes Tor, durch eine Tür, deren Angeln noch lange nach dem Aufstoßen quietschten, bis zu einem großen Kirchenschiff, das einige Stufen tiefer lag als der Platz und dessen Decke im Dunkel verschwand. Ein sanfter Windhauch zog durch das Bauwerk und trug Düfte von Wachs, Weihrauch und Bohnerwachs mit sich, als wolle er die Nüchternheit des nackten und massiven Steins mildern. Deine Kirche, sagte ich mir, von nun an ist das deine Kirche!

Agnès ging zu ihrem Chor, und ich setzte mich in die vierte oder fünfte Reihe, natürlich auf der Seite der Frauen. Der Chor begann sich einzusingen, und ich erkannte sofort Agnès Stimme in dem Missklang. Es hörte sich nicht wirklich falsch an, aber die Melodie war auf eine völlig ausdruckslose Reihe von Tönen reduziert, dominiert von den harten und trockenen Akkorden des Harmoniums. Das war in keiner Weise mit den professionellen Chören zu vergleichen, die ich in Konzerten und bei Proben im Verlauf meiner musikalischen Ausbildung gehört hatte.

Das Ende der Probe wurde von einem Vorfall überschattet, der mir im Gedächtnis haften blieb. Zwischen der Organistin und dem Pfarrer, der den Chor dirigierte, kam es zu einem Disput, als die beiden Sonaten für Geige und Orgel geprobt werden sollten, die für den Beginn und den Schluss der Zeremonie vorgesehen waren und den Spott Madame Puechs erregt hatten. Die Chorsänger hatten sich hingesetzt, Agnès ihre Geige ausgepackt, alle warteten … und die Dame weigerte sich zu spielen.

»Das Gotteshaus ist kein Konzertsaal«, wiederholte sie immer wieder als Antwort auf die Aufforderungen des Pfarrers.

»Sie waren aber einverstanden. Wir haben mehrere Male darüber gesprochen.«

»Nun, dann habe ich meine Meinung geändert.«

»In letzter Minute?«

»In letzter Minute.«

Die Diskussion wurde durch das Eintreffen der ersten Gläubigen unterbrochen. Sie nahmen in den Bankreihen Platz, die Frauen rechts, die Männer links, wie bei uns zu Hause. Schließlich trat der Pfarrer begleitet von zwei Chorknaben aus der Sakristei und die Messe begann. Ich folgte ihr mit ganzer Seele. Gott hatte meine Schwester und meine Eltern zu sich gerufen, aber er hatte mich aus dem Lager herausgeholt, in dem ich letztlich gestorben wäre. Er hatte mich in dieses Dorf geführt, zu dieser Agnès, die sich so um mich bemühte. Er hatte mir eine Schwester genommen und mir eine andere gegeben. Aus tiefstem Herzen betete ich und ergab mich seinem Willen. Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht hätte im Lager bleiben und einfach sterben sollen. Das wäre sehr viel einfacher gewesen: kein Monsieur und keine Madame Puech, keine Einsamkeit in einem fremden Dorf, keine Sorgen über die Zukunft. Doch die Menschen um mich herum machten es sich zur Aufgabe, mich – ungewollt – in die Realität zurückzubringen: Ich war am Leben, kniete in der Kirche eines Dorfes, das bald meines sein würde. Ein neues Leben tat sich vor mir auf.

Am Ende der Messe stimmte der Pfarrer das Lied Minuit, chrétiens an, und die Gemeinde antwortete im Chor mit einer Überzeugung, die mir andere Weihnachten in Erinnerung rief, auf der anderen Seite der Berge. Dann bekreuzigten sich alle, verließen ihre Bankreihen und strömten durch die Gänge wie die Fluten dreier Bäche zum Ausgang hin. Sie beäugten mich im Vorübergehen, und einige lächelten mir zu.

Ich war so verwundert, dass ich nicht sofort die Zeichen sah, die Agnès mir von der Abendmahlsbank her machte. Ich ging zu ihr und sie zog mich mit zur Sakristei. Sie wollte mich dem Pfarrer vorstellen.

»Marie!«, sagte sie zunächst und zeigte auf mich.

»Unser Pfarrer!«, fuhr sie dann fort und wandte sich zu dem Priester.

»Im Namen von Sankt Jakob, unserem heiligen Patron, heiße ich Sie in Villefranche willkommen«, sagte er und segnete mich.

Er war ungefähr so groß wie ich, Agnès überragte ihn fast um einen Kopf, doch die Lebhaftigkeit seiner Bewegungen und die Tiefe seines Blicks ließen eine wirkliche Persönlichkeit erkennen. Ganz gewiss ein Mann von großer Güte, der jedoch wusste, wohin er wollte und wie er es schaffen würde, auch wenn er dabei Hindernisse aus dem Weg räumen musste.

»Marie spricht Spanisch. Oder Katalanisch«, bemerkte Agnès.

»Aber nein!«, erwiderte er heftig. »Mit mir wird Französisch gesprochen. Frankreich nimmt Sie auf, Marie«, sprach er weiter und bemühte sich, die Wörter gut zu artikulieren. »Wenn Sie seine Gastfreundschaft annehmen, sollten Sie ebenso seine Sprache, seine Gesetze, seine Gebräuche annehmen … und die Ansprüche seiner Pfarrer!«, fügte er mit Nachdruck hinzu.