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Hedy und Spencer verbringen zum ersten Mal die Ferien bei ihrem Großvater, in dessen Haus sich allerlei kuriose Dinge verbergen. Ohne Wlan und mit Opa Johns »Nichts-Anfassen-Motto« hat es den Anschein, als sollten es ruhige Ferien für die beiden Geschwister werden. Doch schon am ersten Abend wird klar, dass das kuriose Haus auf Hoarder Hill einige Geheimnisse birgt: Hedys und Spencers Großmutter Rose ist vor Jahrzehnten bei einer Zaubershow verschwunden und Opa John möchte nicht darüber sprechen. Als Hedy und Spencer mysteriöse Nachrichten bekommen, machen sie sich daran, das Rätsel um Oma Roses Verschwinden zu lösen.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Bücher für coole Mädchen.www.piper.de/youandivi
Übersetzung aus dem Englischen von Oliver Latsch
© Mikki Lish & Kelly Ngai 2020Titel der englischen Originalausgabe: »The House on Hoarder Hill« bei Chicken House, Frome (Sumerset), 2020© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München, 2020Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagabbildung: Timo Grubing
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Cover & Impressum
Prolog
Kapitel 1
ALLES NUR TRICKS
Kapitel 2
DER STAUB AUF DEM RAHMEN
Kapitel 3
SUTTONS GEMISCHTWARENLADEN
Kapitel 4
DAS BERMUDADREIECK
Kapitel 5
ES JUCKT!
Kapitel 6
WEISST DU, WIE MAN SCHLÖSSER KNACKT?
Kapitel 7
AKKORDE IN DUR UND MOLL
Kapitel 8
DIE PALISADE
Kapitel 9
DIE GOLDENEN HÄNDE
Kapitel 10
ETWAS DAZWISCHEN
Kapitel 11
EINE ART SCHWINDELVOGEL
Kapitel 12
DER KRONLEUCHTER
Kapitel 13
LÜ-ER! LÜ-ER!
Kapitel 14
KARTENTRICK
Kapitel 15
PORTSALL
Kapitel 16
ANDERSWO IST HIER
Kapitel 17
WAS MIT DENEN GESCHIEHT, DIE SUCHEN.
Kapitel 18
NADEL UND FADEN
Kapitel 19
DER DACHBODEN
Kapitel 20
EXPLOSION
Kapitel 21
TRICKS
Kapitel 22
FEUER
Kapitel 23
DIE KOMPOSITION
Kapitel 24
EIN WIMPERNSCHLAG
Kapitel 25
MISSTRAUEN, HOFFNUNG UND GLÜCK
Kapitel 26
EINEN ZUR TRAUER, ZWEI ZUR FREUDE
Kapitel 27
FAMILIENFEUER
Kapitel 28
DER ASSISTENT DES MAGIERS
Epilog
Danksagungen
Die steinerne Räbin träumte vom Fliegen. Sie träumte davon, auf warmen Luftströmen aufzusteigen und andere, kleinere Vögel zu jagen, in den Wald hinabzustürzen, hungrig nach Beute. Aber dieser schöne Traum wurde durch eine Stimme unterbrochen.
»Hilf ihnen«, sagte sie, »hilf ihnen, den Weg zu finden.« Es war die Stimme der Vermissten. Keiner hatte die Vermisste je gesehen, aber die Räbin hatte die Stimme schon einmal gehört. Sie gehörte zum großen Haus.
Wem helfen? Und wie?, antwortete die Räbin in ihren Gedanken. Was kann ich tun, wo ich hier auf dem Dach festsitze? Ich kann schließlich nur vom Fliegen träumen.
Und dann spürte die Räbin etwas: die Freiheit, die herrliche Freiheit, sich zu bewegen. Es begann mit einem Kribbeln in ihrem kleinen Kopf und breitete sich aus, als ob sich Wasser über ihren gemeißelten Körper ergoss. Weißer Stein verwandelte sich in Federn, Muskeln, ein schlagendes Herz und scharfe Augen. Die Räbin schüttelte freudig ihre Flügel aus, dann schoss sie in die Luft, nicht mehr träumend, sondern wirklich fliegend. Sie flog einen hohen Bogen hoch über dem Großen Haus und ignorierte die neidischen Rufe der steinernen Grotesken und Drachen, die noch immer am Dachfirst festsaßen.
Bitte. Finde sie. Führe sie her, sagte die Stimme der Vermissten.
Wen?, fragte die Räbin, die das Land unter ihr absuchte.
Die Vermisste zeigte der Räbin eine Vision. Ein kleiner Schwarm Menschen in einem roten Auto – ein Mädchen, ein Junge, eine Frau und ein Mann.
Familie, flüsterte die Vermisste.
Die Räbin machte sich auf die Suche nach ihnen.
In Hedy van Beers Brust wuchs ein Knäuel aus Trübsal, während sie aus dem Autofenster auf die schneebedeckten Felder starrte. Jeder Kilometer brachte sie den langweiligsten zwei Wochen ihres Lebens näher.
Es war so unfair von ihren Eltern, ohne sie zur archäologischen Ausgrabung in Spanien zu reisen. Na ja, vielleicht war es vernünftig, Spencer zurückzulassen. Der war ja erst acht. Aber Hedy war elf Jahre alt, eine Pfadfinderin, und sie hatte schon ein paar spanische Redewendungen mit ihrer Sprach-App gelernt.
»Kommt ihr in einem Notfall früher zurück?«, fragte sie.
»Was für ein Notfall?«, fragte Papa. Er war gerade dabei, einen anderes Lied auszuwählen, während Mama fuhr.
»Sagen wir, zum Beispiel wenn Spencer sich den Finger abschneidet?«
Spencer schaute aus seinem Buch der Zaubertricks auf. »Opa John ist ein Zauberer. Er könnte ihn mit Magie wieder ankleben.«
Hedy schüttelte den Kopf. »Du bist total leichtgläubig.«
»Was ist ›leichtgläubig‹?«
»Es bedeutet, dass du alles glaubst. Jedenfalls ist er kein Zauberer mehr, also erwarte bloß nicht, dass irgendwas Interessantes passiert.« Hedy lehnte sich nach vorne, bis ihr Gesicht zwischen den Vordersitzen lag. »Also würdet ihr früher zurückkommen, wenn Spencer sich den Finger abschneidet? Wo Opa doch kein echter Magier ist?«
»Kommt drauf an. Welchen Finger?«, fragte Papa.
Mama unterdrückte ein Lachen. »Natürlich würden wir das.« Sie streckte sich, um Hedy die Wange zu tätscheln. »Aber versuche bitte, keine Notfälle zu verursachen, o. k.? Dieser Auftrag ist für Papa und mich sehr wichtig. Er könnte eine Menge neuer Arbeit für uns bedeuten. Ich verspreche dir: Du, ich, Spence und Papa gehen noch auf andere Reisen.«
Andere Reisen. Während Felder, Bäume und Hügel vorbeirauschten, setzte Hedy ihre Kopfhörer auf, kuschelte sich in den Ringelschal ihrer Mutter und stellte sich vor, sie sei in Ägypten und schaue zu den großen Pyramiden und der Sphinx auf. Doch aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Papa zurückblickte, um sicherzustellen, dass sie und Spencer abgelenkt waren. Als er sich wieder umdrehte, drückte sie schnell auf »Pause«, denn sie kannte diesen Blick und wusste, dass er gerade etwas Interessantes sagen wollte.
»Es wird ihnen doch wohl gut bei ihm gehen, oder?«, fragte Papa leise.
»Natürlich«, sagte Mama. »Er ist vielleicht zerstreut und … komisch, wenn es um seine Sachen geht, aber er würde nie zulassen, dass ihnen etwas zustößt.«
»Ist dies nicht die Zeit des Jahres, in der deine Mutter …?« Papa gab Mama seinen mitleidvollsten Blick.
Mama seufzte. »Es wird ihm guttun, etwas Gesellschaft zu haben. Er bleibt nie lange, wenn er uns besucht.«
Endlich hielt ihr kleines rotes Auto in der Mitte von Marberry’s Rest. Es war ein verschlafenes, verschlungenes, verwinkeltes Dorf, in dem es nur wenige kleine Geschäfte gab. Obwohl es eindeutig ein Ort war, der sich nie änderte, brachte die fünfarmige Kreuzung im Zentrum Hedys Familie jedes Mal durcheinander.
»Warum kann ich mich nie an die richtige Straße erinnern?«, murmelte Mama.
»Gib mir eine Sekunde«, sagte Papa, der versuchte, die Navigation auf seinem Telefon zu laden.
Spencer hatte seinen üblichen Vorrat an Gummibärchen aus seiner Tasche aufgebraucht und griff nun nach dem letzten Käsebrot. Er dachte wohl auch, es würde noch eine Weile dauern.
Hedy entdeckte einen großen weißen Vogel, der über ihnen kreiste. Nun kam er auf sie zu.
»Ist das ein weißer … Rabe?«, flüsterte sie. Der Vogel flog immer näher und näher, bis er zum Schrecken aller auf der Motorhaube des Autos landete. Er war riesig, sogar größer als die Raben, die Hedy im Tower von London gesehen hatte. Er neigte den Kopf zur Seite, als ob er sie wiedererkannte, und krächzte. Mit langsamen Flügelschlägen flog er in eine der engen Straßen. Alle starrten ihm nach. Mama schien an ihrem Sitz festgefroren, zu überrascht, um sich zu bewegen. Der Rabe kam zurück und landete wieder auf der Motorhaube. Er hüpfte dicht an die Windschutzscheibe und warf Mama einen strengen Blick zu, dann flatterte er wieder in die gleiche schmale Straße.
Hedy spürte eine seltsame Aufregung, wo eben noch ihr Trübsalsknoten gewesen war. »Ich glaube, er will, dass wir ihm folgen«, sagte sie.
»Also ich weiß nicht«, sagte Mama, »aber ich glaube, das ist die richtige Straße.« Sie setzte das Auto in Gang und sie folgten dem Raben den ganzen Weg bis zu Opa Johns Haus.
Obwohl sie schon lange nicht mehr dort gewesen war, sah das Haus genau so aus, wie Hedy es in Erinnerung hatte: drei Stockwerke mit Wänden aus hellem Stein und einem dunklen, steil in den Himmel ragenden Dach. Auf dem Dach saßen alle möglichen Steinfiguren und es ragte ein kurzer Turm heraus, der laut Mama ›Belvedere‹ hieß und gebaut worden war, um die Aussicht zu genießen. Für Hedy war es immer ein Turm gewesen, von dem aus man vor feindlichen Angriffen warnen konnte. Die schwarze Haustür schmiegte sich unter eine schattige Veranda. Der Garten hinter dem schmiedeeisernen Zaun war mit Blättern und Schnee bedeckt. Hier herrschte nichts von dem Trubel ihres eigenen Hauses oder der Häuser von Hedys Freunden, aber es machte auch keinen unfreundlichen Eindruck. Es sah eher so aus, als ob das Haus von Opa John lange brauchte, um nachzudenken, bevor es etwas sagte.
Der weiße Rabe, der sie hergeführt hatte – und Hedy war sich ganz sicher, dass er sie geführt hatte –, flog auf das Dach und ließ sich dort oben zwischen den kleinen Drachen- und Greifenstatuen nieder.
Hedy gab Spencer einen Stups und zeigte auf das Haus. An einem der Fenster im obersten Stockwerk stand Opa John. Sein weißes Haar stand unordentlich ab, aber sein Gesicht kräuselte sich zu einem Lächeln. Er trat vom Fenster zurück und war nicht mehr zu sehen. Schon im nächsten Moment, schneller als es eigentlich hätte möglich sein sollen, öffnete er die schwere Vordertür. Spencers Mund sprang auf und Hedy blinzelte überrascht.
Opa John strich mit der Hand über die Knöpfe seines Hemdes, dann machte er eine schnelle Drehung, und zu ihrem Erstaunen trug er jetzt plötzlich eine bunte Krawatte.
»Meine Damen und Herren«, rief er mit seiner tiefen, warmen Stimme, »willkommen.«
Die Kinder drängten sich zu Opa John, um ihn zu umarmen. Er roch nach Pfefferminz und Pfeifenrauch, wie immer. Hedy maß heimlich nach und freute sich, dass sie schon bis zu Opas drittem Hemdknopf reichte.
»Opa«, platzte Spencer sofort heraus, »wenn ich mir einen Finger abschneide, kannst du ihn mit Magie wieder festmachen?«
Opa John hob Spencers Hände hoch und untersuchte sie ganz genau. »Alle Finger scheinen fest angewachsen zu sein. Warum fragst du?«
»Hedy glaubt nicht an Magie«, sagte Spencer.
»Nun«, antwortete er, »vielleicht ist es ganz vernünftig, nicht an Magie zu glauben.«
Hedy war überrascht. Opa John war früher ein sehr berühmter Zauberer gewesen.
Opa John betrachtete Hedy für einen langen Augenblick, als ob er etwas sagen wollte, aber nicht die Worte finden konnte.
»Sie sieht aus wie Mama, nicht wahr?«, sagte Mama und trat zu ihnen. Es gab einen seltsamen Moment, weil sich weder sie noch Opa John sicher waren, ob sie sich auf die Wange küssen oder ob sie sich einfach nur umarmen sollten.
Opa John räusperte sich. »Ja. Mehr denn je.«
Sie sprachen selten über Hedys und Spencers Großmutter Rose. Sie war verschwunden, als Hedys Mutter noch ein kleines Kind war. Dass sie wie Oma Rose aussah, machte Hedy ein bisschen stolz, bis sie merkte, dass Opa Johns Augen vor Tränen glänzten. Er vermisst sie, dachte Hedy. Aber bevor sie sich überlegen konnte, was sie als Nächstes sagen sollte, kam Papa herein. Er hatte letzten Taschen aufeinandergestapelt und und begrüßte Opa John mit einem Händedruck. Der Moment, um Fragen zu stellen, war vergangen.
Der Flur erschien seit ihrem letzten Besuch vor drei Jahren unverändert. Die eine Wand war mit modellierten Köpfen und geschnitzten Statuen dekoriert. An der gegenüberliegenden Wand hingen über einem Flurtisch zwei große Gemälde in Goldrahmen. Hedy legte ihr neues altes Telefon (eine Leihgabe von Papa, für die Zeit seiner Abwesenheit) an den Rand des Tisches.
Die Gemälde waren jeweils Porträts von menschlichen Körpern mit tierischen Köpfen: Bei dem einen war es ein Stinktier, bei dem anderen eine Elster. Sie trugen sehr altmodische Kleidung und hatten seltsame Gegenstände um sich angehäuft: Schmuck, Handschuhe, Obst, ein kleines Messer. Kurioserweise gab es auch moderne Gegenstände in den Bildern: einen Zauberwürfel, einen Schlüsselbund und eine CD einer Band namens The Smiths.
»Schau, mein Team!«, sagte Spencer und zeigte auf eine West-Ham-United-Mütze, die in die Ecke gemalt war. Er machte ein Foto mit der Polaroidkamera, die er seit seinem Geburtstag fast überallhin mitnahm.
»Ich hoffe, es macht euch Kindern nichts aus zu teilen«, sagte Opa John. »Ich fürchte, ich hatte keine Zeit mehr, ein zweites Schlafzimmer zu räumen.«
Hedy hatte das Gefühl, dass dieser Urlaub sich allmählich von ›einfach nur langweilig‹ zu ›regelrecht nervtötend‹ entwickelte. »Aber ich habe zu Hause mein eigenes Zimmer«, sagte sie hoffnungsvoll.
»Was ist denn so schlimm daran, ein Zimmer mit mir zu teilen?«, ärgerte sich Spencer.
Hedy rollte mit den Augen. »Du riechst wie ein Affenpopo.«
»Das heißt, dass du herumläufst und an Affenpopos riechst!«, gackerte Spencer.
»Hey!« Mama drohte mit dem Finger. »Kein Streit. Ihr teilt. Und wenn ihr beim Teilen nicht nett zueinander seid, werdet ihr auch zu Hause weiter teilen. Jetzt lass uns die Taschen auf euer Zimmer bringen.«
Mit einem Seufzer griff Hedy nach ihrem Telefon – und runzelte die Stirn. Es lag nun weiter hinten auf dem Tisch, gegen das Bild des Stinktiers gelehnt, und die Kopfhörer klebten irgendwie am Bild fest. Hatte Spencer es gerade bewegt?
»Komm schon, Hedy«, rief Dad von der Treppe aus. »Vergiss nicht, dein Kissen mitzubringen.«
Hedy untersuchte ihre Kopfhörer auf Farbe und fand nichts. Sie zuckte mit den Schultern, schnappte sich ihre Sachen und lief den anderen hinterher.
»Warum haben die Türen alle verschiedene Farben?«, fragte Spencer Opa John, als er sie die Treppe hinaufführte.
»Das hier war einmal eine Pension«, sagte Großvater John. »Vielleicht half es das Gästen, sich daran zu erinnern, in welchem Zimmer sie wohnten.«
Ihr Schlafzimmer hatte eine blasslila Tür. Zwei Betten waren bereits bezogen, und obwohl sich das Zimmer sehr alt anfühlte, lag ein frischer Lavendelduft in der Luft.
An den Wänden hingen Karten von allen Kontinenten sowie Tafeln, die mit berühmten antiken Bauwerken aus aller Welt, wie den Pyramiden von Gizeh und der Großen Mauer von China, bemalt waren. Am Fuße jedes Bettes stand eine große Truhe, die jeweils groß genug war, dass sich die Kinder bequem darin hätten verstecken können.
Spencer rannte zu dem Bett, das am nächsten am Fenster stand. »Das hier ist meins!«
»Ich gehe in die Küche und mache mit Opa Tee«, sagte Mama. »Ihr kommt runter, wenn ihr eure Sachen weggepackt habt, in Ordnung?«
»Aber fasst auf dem Weg nach unten nichts an und macht keine Türen auf«, mahnte Opa. »Es gibt hier Dinge, die aus gutem Grund weggesperrt sind. Habt ihr mich verstanden?«
Obwohl sie es auf dem Weg hierher schon zigmal gehört hatten, lag in Opa Johns Stimme ein Ton der Warnung, der die Kinder verstummen ließ. Sie nickten. »Ja, Opa.«
Zum Auspacken stellte sich Spencer in seine Truhe, kippte seine offene Tasche aus und ließ alle seine Sachen um sich herum rausplumpsten. Seine Tasche war jedoch nicht ganz leer, und als er sie zum Schütteln weiter hochhob, fiel ihm eine Socke voller Murmeln auf den Kopf. Hedy schüttelte den Kopf über die Unordentlichkeit ihres Bruders. »Hat Opa hier nicht sechs Schlafzimmer?«, fragte sie. »Warum kann ich nicht mein eigenes Zimmer haben?«
»Opa hat über die Jahre eine Menge Dinge gesammelt«, sagte Papa. Er studierte ein Schlachtschiff in einer Flasche. »Die anderen Zimmer sind wahrscheinlich voll damit.«
Spencers Augen leuchteten auf. »Sammelt er Sachen für seine Magie?«
»Das sind nur Tricks, Spence«, sagte Hedy, »keine echte Magie.«
»Er macht nicht mehr so viel Zauberkram, Spencer«, sagte Dad.
»Nicht mehr, seit Oma verschwunden ist«, fügte Hedy hinzu.
Papa sah sie erschrocken an. »Woher wusstest du das?«
»Ich habe dich und Mama mal darüber reden hören.« Über ihre Großmutter wurde so selten gesprochen, dass Hedy bei jeder Erwähnung ihres Namens aufmerksam wurde, auch wenn sie es nicht hören sollte.
»Was hat Magie mit Oma zu tun?«, fragte Spencer.
Papa seufzte. »Ich weiß es nicht, Spence«, sagte er, obwohl Hedy vermutete, dass er mehr wusste, als er zugab. »Auf geht’s. Du hast jetzt ein paar Wochen Zeit, um ihm all diese Fragen zu stellen. Ich wette, es gibt einige interessante Geschichten, die er euch erzählen kann.«
Im Gegensatz zum Chaos des restlichen Hauses vermittelte die Küche ein Gefühl von Ordnung, als ob hier jemand anders das Sagen hatte. Sie war gut geschrubbt und luftig, die Fenster blickten auf den frostigen Garten und eine weitere Tür führte in die Waschküche. Opa John saß mit seiner Tasse Tee am Eichentisch und rollte ein paar kleine Stahlkugeln durch seine Finger. Hoch, herüber und herum bewegten sie sich, als ob sie tanzten. Spencer eilte ehrfürchtig an Opas Seite, die Augen auf die Stahlkugeln geheftet. Sie blitzten im Licht auf, jagten sich gegenseitig um Opa Johns Handgelenke und Handflächen, und dann waren sie plötzlich weg. Mama und Papa klatschten. Opa John lächelte Spencer über seine Teetasse an.
»Du hast gesagt, er zaubert nicht mehr!«, sagte Spencer triumphierend zu Hedy.
»Das war keine Magie«, sagte Hedy, »das war Coole-Sachen-mit-den-Händen-Machen. Nicht wahr, Opa?«
»In der Tat«, sagte Opa John. »In diesem Haus wird keine Magie praktiziert. Nur Tricks.« Er klang, als würde er sich selbst an eine Regel erinnern, die nicht gebrochen werden durfte.
Während sie dicke Scheiben Zitronenkuchen aßen, ging Mama mit Opa John eine Seite mit Anweisungen zu Spencers Asthma durch. Sie drängte die Kinder, sich immer dick einzupacken, und erinnerte sie zum hundertsten Mal daran, Opa Johns Sachen nicht anzufassen.
Und dann war es Zeit für ihre Eltern zu gehen. Plötzlich schlang sich der düstere Knoten wieder direkt um Hedys Herz. Sie umarmten sich zum Abschied auf der Veranda, und als Spencer und Mama zu schniefen begannen, wurde auch Hedy weinerlich. Sogar Papa sah ein wenig rot um die Augen herum aus. »Kümmere dich um Spence«, flüsterte er in Hedys Haar, »wir sehen uns an Heiligabend.«
»Das mach ich.« Hedy sah, wie ihre Mutter Spencer etwas zuflüsterte, das ihn dazu brachte, Hedy anzuschauen und mit einem tapferen Lächeln zu nicken.
Das kleine rote Auto hustete und startete widerwillig. Die Arme ihrer Eltern winkten aus den Fenstern, bis sie um die Ecke und außer Sichtweite waren.
»Was hat Mama zu dir gesagt?«, fragte Hedy Spencer.
»Dass ich mich um dich kümmern soll«, sagte Spencer. Er zog die pelzige Fliegermütze an, die ihm Papa vor der Abreise geschenkt hatte. Er griff nach Opa Johns Hand. »Und wir sollen beide auf Opa aufpassen.«
Hedy und Spencer halfen Opa John, die Teetassen und Kuchenteller abzuwaschen. Sie wussten noch nicht, was sie sonst mit sich anfangen sollten. Beim Abtrocknen der Gabeln sah Hedy zum Kühlschrank hinüber, an dem eine Menge Magneten hingen. Zwischen dem kleinen Eiffelturm aus Paris, der Miniatur-Freiheitsstatue aus New York und winzigen Tempeln und Schlössern befanden sich farbige Buchstaben, genau wie die, mit denen Hedy und Spencer als kleine Kinder gespielt hatten. Die Buchstaben ergaben eine Botschaft: WILLKOMMEN IN UNSEREM HAUS. Wie immer wurde Spencer sofort neugierig, was seine Schwester sich anschaute. Er nahm einige der übrigen Buchstaben und schrieb: DANKE SCHÖN.
»Opa, was gibt’s zum Abendessen?«, fragte er.
»Spence!«, schnaubte Hedy, »wir hatten gerade erst Tee und Kuchen, du gefräßiges Monster.«
»Ich sag ja nicht, dass ich jetzt hungrig bin.«
Opa John kam zu ihnen an den Kühlschrank und riss die Gefriertruhe auf. »Ich muss schauen, was Ms Vilums gemacht hat.«
»Wer ist Ms Vilums?«, fragte Spencer.
»Sie hilft mir ein bisschen im Haushalt und kocht für mich.« Er zog drei Tupperbehälter heraus, die mit FREITAG, SAMSTAG und MONTAG beschriftet waren. »Welchen möchtet ihr?«, fragte er die Kinder. »Jeder kann sich einen aussuchen.«
»Was ist da drin?«, fragte Spencer.
Opa John sah sie verlegen an. »Ich kann mich nicht wirklich erinnern.«
»Heute ist Samstag, also nehme ich den Montag«, sagte Spencer. »Das ist dann wie eine Zeitreise.«
Hedy wählte den Samstag, der wie Lasagne aussah.
»Ausgezeichnet«, sagte Opa. »Ich nehme den Freitag. Sieht aus wie Auflauf.« Als er die Behälter zum Auftauen auf die Arbeitsplatte stellte, schien er plötzlich ratlos zu sein. »Nun, was sollen wir tun?«
»Hast du WLAN, Opa?«, fragte Hedy.
»Was? Warum?«, antwortete Großvater verblüfft.
Es gab kein Internet. Keine Videospiele. Keine Freunde. Keinen Handy-Empfang. Die Geschwister erkundeten kurz den Garten und fanden einige ungewöhnliche Statuen, gingen aber wieder hinein, als Schneeregen einsetzte. Opa versuchte, ihnen ein Kartenspiel beizubringen, aber weder Hedy noch Spencer konnten sich die vielen Regeln merken.
Spencer sackte immer weiter nach vorne, bis er fast mit dem Kopf auf dem Tisch lag. In Hedys Vorstellung dehnten sich endlos lange, trübe Tage, und sie machte sich Sorgen, dass sie nicht genug Bücher mitgebracht hatte.
Als es dann an der Tür klingelte, schossen beide in der Hoffnung auf eine spannende Unterbrechung sofort hoch.
»Was war das?«, fragte Opa John verblüfft.
»Die Türklingel!«, antworteten beide im Chor.
Opa John sah etwas verärgert aus, als er sich aus seinem Sessel erhob. Er murmelte etwas über sein Gehör und stapfte den Flur hinunter. Er blinzelte durch das Guckloch der Tür und schnaubte: »Natürlich, du alter Naseweis.«
»Wer ist es, Opa?«, fragte Spencer.
Opa John zwinkerte Spencer zu, während er die vier Schlösser seiner Haustür aufschloss. Auf der Veranda stand ein Mann mit einem grauen Bart und einem breiten Lächeln. Er war größer als Opa John und hatte einen beachtlichen runden Bauch, aber sie hatten beide die gleichen Augen und Nasen. Es war ihr Großonkel Peter, Opa Johns Bruder. Sie mussten ihn aber Onkel Peter nennen, weil er einmal gesagt hatte, dass das »Groß-« ihn alt machte.
»Was machst du denn hier?«, fragte Opa John ohne eine richtige Begrüßung.
»Ich bin gekommen, um meine Familie zu sehen, du alter Brummbär«, dröhnte Onkel Peter.
»Du hast Mama und Papa verpasst«, sagte Spencer. »Sie sind schon weg.«
»Hab ich das? Das tut mir leid. Ich saß noch mit einem lieben alten Freund zusammen, der fast so gerne redet wie ich. Aber jetzt bin ich hier, um Hallo zu sagen!« Er breitete seine Arme aus und zog beide Kinder in eine kräftige Umarmung.
Opa John seufzte. »Ich nehme an, Du möchtest dann auch Tee?«
»Ja gerne, alter Junge.«
Als sie Opa John in die Küche folgten, flüsterte Onkel Peter: »Ich bin überrascht, dass euer Großvater euch bleiben lässt. Wenn man bedenkt, wie sehr er es hasst, wenn Leute seine Sachen anfassen! Ich hoffe, dieses unheimliche alte Haus macht euch keine Angst.«
Hedy empfand eine Welle der Loyalität für Opa John. »Nein, wir finden das cool.«
»Ein bisschen Angst habe ich schon«, gestand Spencer.
Onkel Peter nickte verständnisvoll. Etwas lauter sagte er dann: »Wann immer ihr kommen und bleiben wollt, sagt einfach eurem Großvater Bescheid. Ich wohne nur etwa eine halbe Stunde entfernt, obwohl man meinen könnte, ich lebe in der Arktis, so selten, wie John und ich uns sehen. Und deine Cousins und Cousinen wohnen in meiner Nähe. Ihr habt sie nicht mehr gesehen, seit ihr Babys wart – eine Tragödie, eine absolute Tragödie. Sie sind etwa in eurem Alter.«
Hedy erinnerte sich daran, dass ihre Mutter diese Cousins erwähnt hatte, ein Mädchen und einen Jungen.
»Ich möchte von Opa Zaubertricks lernen, während ich hier bin«, deutete Spencer an.
»Oh, ich war zu meiner Zeit auch ein Zauberer, ich kann dir viel beibringen«, sagte Onkel Peter. »Ich war berühmter als du, nicht wahr, John?«
Opa John stellte die Teekanne auf den Tisch. Dampf stieg aus dem Schnabel auf. »Nachdem ich in den Ruhestand ging, vielleicht.« Dann dachte er für einen Moment nach. »Nein. Auch dann nicht.«
Onkel Peter räusperte sich und strich sich über den Bart. »Es ist Zeit, dass ihr eure Cousins wiederseht. Angelika und Max. Ich habe ihnen gesagt, dass ihr hier seid, und sie sind ganz wild darauf, euch zu treffen.«
Hedy und Spencer schauten sich hoffnungsvoll an.
»Bitte, Opa, können sie zu Besuch kommen?«, fragte Hedy.
»Was?«, protestierte dieser, »noch mehr von euch?«.
»Bitte?«
Opa zeigte auf Onkel Peter. »Das ist deine Schuld. Wir hatten uns gerade auf eine schöne, ruhige Zeit eingestellt.«
»Pah!«, sagte Onkel Peter. »Wo bleibt da der Spaß?«
Onkel Peter blieb für eine Stunde, plauderte und scherzte mit den Kindern. Er hatte eine musikalische Stimme, die perfekt für die Bühne war und mit der er berühmte Zauberer nachahmte, darunter auch Opa John. Hedy und Spencer waren beide enttäuscht, als es Zeit war, ihn zur Haustür zu bringen.
»Ich bringe eure Cousins in den nächsten Tagen vorbei«, versprach Onkel Peter, während er nach seinem Hut auf dem Flurtisch griff. Hedy war sich sicher, dass Onkel Peter ihn mit dem Rand nach unten platziert hatte, aber jetzt lag er umgedreht wie eine Schüssel, die darauf wartete, gefüllt zu werden. Keiner der anderen schien es zu bemerken. Hatte sie es sich falsch gemerkt? Dieser Flurtisch hatte etwas Eigenartiges an sich, fand sie. Doch bevor sie Fragen stellen konnte, umarmte Onkel Peter die Kinder zum Abschied, sprang mit einem Winken in sein Auto und raste den Hügel hinunter.
Opa John war während des Essens seltsam ruhig. Die Stimmung trieb wie Nebel über den Tisch und dämpfte das Geschwätz der Kinder. Störte es ihn, dass sie da waren? Die Stille setzte sich fort, während sie das Geschirr abwuschen und trockneten, und Hedy war erleichtert, als Opa ihnen vorschlug, ins Bett zu gehen.
»Wie lange würde es wohl dauern, alle Tricks von Onkel Peter zu lernen?«, fragte Spencer, während sie den Flur hinunter in ihr Schlafzimmer gingen.
»Jahre, wette ich.«
»Ich frage mich, wie alt Großvater war, als er damit anfing.«
»Warum fragst du ihn nicht?« Hedy bemerkte, dass Spencer ihr immer näher kam. »Was machst du da?«
»Alles ist hier so viel größer als zu Hause«, sagte Spencer. »Ich wünschte, Opa würde mehr Lichter anmachen.«
»Sei kein Angsthase.«
Sie gingen an der Tür zum Nachbarzimmer vorbei. Die blassgrüne Tür war leicht angelehnt. »Lass uns hier mal reinschauen«, sagte Hedy leise. Die Tür quietschte, als sie sie aufschob.
»Hedy!«
»Ist schon gut, Spence, er wird es nicht hören.«
»Opa will nicht, dass wir seine Sachen durchwühlen!«
Hedy begann sich in den Raum zu schleichen. »Du hältst Wache.«
Aber Spencer folgte ihr und stupste sie in seinem Eifer an. »Ich hasse es, Wache zu stehen.«
Der Raum war vollgestopft vom Boden bis zur Decke: Türme aus Kisten ragten über einem Bärenteppich in Richtung Decke. Regale, vollgestopft mit Büchern, Uhren und seltsamen Messinggeräten, die Hedy nicht kannte. Riesige Glasgefäße mit getrockneten Pflanzen und winzigen Knochen und ein großer, ausgestopfter Hirschkopf, der alles überblickte. In der Nähe hing ein staubiger Metallapparat an der Wand, der wie ein großes Federbündel aussah. Die Federn waren so lang wie Hedys Unterarm, einige aus Messing und einige aus einer Art silbernem Stahl, alle zusammengefaltet wie ein chinesischer Fächer. Hedy fragte sich, zu was sie sich wohl entfalten würden.
Hedy trat näher an ein Regal und konnte nicht anders, als einen Finger nach einer kleinen, aber unglaublich lebensechten Figur eines römischen Wagenlenkers auszustrecken, der von zwei Pferden gezogen wurde. Seine Peitsche und die Mähnen und die Schweife der Pferde flatterten tatsächlich wie in einem imaginären Wind. Als ihr Finger die Figur berührte, hörte sie ein Wiehern und das Donnern von Hufen.
Spencer gab ihr einen kräftigen Stups. »Nicht anfassen!«
Bevor Hedy etwas sagen konnte, gab es einen heftigen Aufprall hinter ihnen. Die Geschwister wirbelten herum.
»Was war das?«, fragte Spencer in einem panischen Flüsterton.
Auf dem Boden, in der Mitte des Raumes, lag ein großes, in Leder gebundenes Sammelalbum.
»Es war nur das Album. Muss wohl aus dem Regal gefallen sein«, sagte Hedy. Aber ihr Herz schlug wie eine Trommel.
»Wie ist es runtergefallen?«, fragte Spencer. »Wir waren nicht mal in der Nähe.«
Hedy antwortete nicht. Sie kniete sich hin, um das Buch aufzuheben, und ein Foto einer Frau, die ihrer Mutter ähnelte, fiel heraus. Sie trug ein kurzes Kleid mit Fransen am Saum und einen Zylinder aus Seide.
Gekleidet wie die Assistentin eines Magiers.
Spencer schaute ihr über die Schulter. »Wer ist das?«
»Hmmm«, sagte Hedy nur, obwohl sie eine starke Vermutung hatte, wer das war.
Und dann schien sich der Boden unter ihren Füßen zu bewegen. Eine Beule in den Bodenbrettern, etwa so groß wie Hedys Faust, bewegte sich in einer schlängelnden Kurve, zunächst langsam und dann schneller.
»Iiieh!«, kreischte Spencer.
Hedy drückte ihm die Hand auf den Mund – sie wollte sich hier nicht erwischen lassen –, aber die Beule im Boden machte auch ihr Angst. Sie kauerten sich zusammen, während die Beule immer näher kam, bis sie etwa einen halben Meter entfernt unter einem dunkelbraunen Knoten im Holz zum Stillstand kam. Die Beule flachte ab und verschwand, sodass die Diele wieder normal aussah. Nur … der Knoten im Holz drückte sich fest zusammen und schnappte dann wieder auf, als wäre er ein blinkendes Auge.
Gerade da hörten sie Opa John die Treppe hinaufkommen, um Gute Nacht zu sagen. Hedy steckte das Foto in die Tasche ihres Morgenmantels. Sie packte Spencer an der Hand, und die beiden rannten los.
Sie waren in ihren Betten, als Opa John in ihr Zimmer kam. Hedys pochendes Herz beruhigte sich langsam, als sie sich mit dem gestreiften Schal ihrer Mutter um den Hals auf ihr Kissen legte. Hatten sie sich das seltsame Ding im Holz eingebildet?
»Opa, ich habe Angst«, sagte Spencer, seine Augen so groß wie Untertassen.
»Wirklich? Wovor?«
Hedy wusste, dass Spencer sie beide in Schwierigkeiten bringen würde. »Er vermisst nur Mama und Papa«, warf sie hastig ein und warf Spencer einen Blick zu, der ihm sehr klar sagte: »Petz hier nicht rum, sonst kriegen wir beide Ärger.«
Spencer schoss einen Blick zurück, der besagte: »Misch dich nicht ein, wenn ich rede, aber gut, ich werde nichts sagen.«
Opa John bekam keine dieser stillen Botschaften mit. Geistesabwesend schlendert er im Schlafzimmer herum. »Ich bin sicher, Mama und Papa vermissen dich auch«, sagte er. »Lesen sie dir vor dem Schlafengehen vor? Für deine Mutter habe ich es nie getan, und vielleicht hätte ich es tun sollen. Was, wenn ich dir eine Geschichte vorlese?« Er zupfte ein altes Taschenbuch aus dem Regal beim Fenster. »Dieses Buch gehörte Deiner Großmutter«, murmelte er leise. Ein langer Seufzer entwich aus seiner Brust, und er schien in sich zusammenzuschrumpfen.
»Wie war Oma?«, fragte Hedy.
Opa John legte das Buch zurück und nahm ein paar metallene Zaubererringe in die Hand, die jeweils den Umfang eines Fußballs hatten. Er begann geschickt mit ihnen zu spielen, indem er wie von Zauberhand einen durch den anderen zog. Weder Hedy noch Spencer konnten erkennen, wie er das machte.
»Jeder, der Rose traf, hat sie geliebt«, sagte Opa John leise. »Sie scherzte sehr gerne. Sie war sehr großzügig.«
»Wie hast du sie kennengelernt?«, fragte Hedy. Die Metallringe standen nun auf fast unmögliche Art und Weise aufeinander.
»Ich habe sie während einer Vorstellung aus dem Publikum ausgewählt und auf die Bühne gebeten.«
»War sie jemals Deine Assistentin?«
Großvater John antwortete nicht. Er starrte auf einen Ort, der weit jenseits der Wände ihres Schlafzimmers lag.
»Opa?«
»Hm? Pardon, mein Mädchen?«
»Was ist mit Oma passiert?«
Die Ringe begannen zu zittern, zu klirren und gegeneinanderzuklappern, bis der oberste auf den Boden fiel. Großvater John starrte ihn einfach an und sagte: »Der Zauber ging schief.«
Spencer rutschte verängstigt, aber fasziniert in die Höhle, die er aus seiner Bettdecke und seinem Kissen gemacht hatte. Opa John bückte sich, um den Ring aufzuheben, und fuhr mit sanfter Stimme fort.
»Ich hatte eine besondere Kiste für meine Show. Eine große, die Dinge verschwinden ließ. Ich hatte sie selbst angefertigt. Den Kaleidos nannte ich sie. Es war brillant, ein echter Hingucker.« Er lächelte sehr kurz. »Aber eines Nachts ging etwas mit der Zauberkiste schief. Sie war einfach … weg.«
Großvater John wandte sich von ihnen ab, legte die Magierringe wieder ins Regal und schaute sich dann eine alte Karte an der Wand genau an. Er schnäuzte sich leise in sein Taschentuch. Hedy warf heimlich einen Blick auf das Foto in ihrer Bademanteltasche. Die Frau, die wie ihre Mutter aussah, musste ihre verschwundene Großmutter Rose sein.
»Opa, kannst du hierbleiben, bis ich eingeschlafen bin?«, sagte Spencer im Flüsterton.
»Aber Hedy ist doch hier.«
»Sie ist aber ganz da drüben!«
Als Opa John Hedys Bettdecke straffte, bemerkte sie, dass seine Augen etwas tränten. Sie umarmte ihn zaghaft. »Geht es dir gut, Opa?«
Opa John zwinkerte ihr feierlich zu, zog einen Stuhl an Spencers Bett und schaltete die Lampe aus.
Hedy wurde wach, als Opa John sich leise aus dem Zimmer schlich. Sie drehte ihr Kissen um und steckte ihren Kopf unter die Bettdecke, aber konnte nicht wieder einschlafen. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fiel Mondlicht ins Zimmer und Hedy warf schließlich ihre Decke zurück und öffnete die Truhe am Ende ihres Bettes. Sie zog ihre Taschenlampe heraus, prüfte, ob das Foto von Oma Rose in ihrer Tasche war, und schlich hinaus.
Sie schlich sich in das Nachbarzimmer, schloss die blassgrüne Tür fast, aber nicht ganz, und nahm das Album in die Hand, um es durchzublättern. Die erste Hälfte war mit Zeitungsausschnitten, ausgeschnittenen Anzeigen und Flugblättern zu den Aufführungen des »Erstaunlichen Zauberers John Sang« gefüllt. Manchmal war ein junger Peter Sang der Eröffnungsakt, und manchmal waren es andere Magier, von denen Hedy noch nie etwas gehört hatte. Es gab einen Zauberer, der sich selbst den Kopf abschlug (eklig, dachte Hedy), einen, der einen Tiger aus einem Korb zu ziehen schien, und einen anderen, der sich in ein Röntgenbild seiner selbst verwandelte. Es gab viele Fotos von Großvater John und auch einige von Rose. Sie sahen glücklich aus.
Hedy fand die Stelle, wo das Foto aus ihrer Tasche hingehörte, und steckte es wieder zurück. Als sie ging, um das Sammelalbum zum Regal zurückzubringen, drang der Hauch eines Flüsterns an ihr Ohr.
Hedy drehte sich herum und erinnerte sich plötzlich an die Beule in den Bodenbrettern. Sie sah nicht, dass sich etwas bewegte, aber beim Umdrehen stieß sie gegen einen kleinen Tisch, auf dem ein großes gerahmtes Foto wackelte. Hedy beugte sich vor, um mit ihrer Taschenlampe einen genaueren Blick darauf zu werfen.
Das Glas des Rahmens war dick mit Staub bedeckt, aber Hedy konnte John, Rose und ein Kleinkind erkennen, das wahrscheinlich ihre Mutter war. Sie trugen Partyhüte und bliesen Kerzen auf einer Geburtstagstorte aus. Als sie auf das Foto starrte, erschienen Worte im Staub, als ob sie von einem unsichtbaren Finger gezeichnet würden:
FINDET MICH.
Am nächsten Morgen wurde Hedy durch das gedämpfte Klingeln eines Telefons im Erdgeschoss geweckt. Sie öffnete langsam ein Auge und sah, dass Sonnenlicht in den Raum sickerte. In ihrem Rücken, fest zusammengerollt, lag der leicht schnarchende Spencer. Hedy fuhr hoch. Jetzt war sie richtig wach und erinnerte sich ganz plötzlich an das, was in der Nacht zuvor passiert war.
FINDET MICH.
Hedy zitterte und zog die Decke bis unter ihr Kinn. Sie hatte sich dermaßen erschrocken, als die Worte von Wer-weiß-Was in den Staub geschrieben wurden, dass sie den Rahmen mit einem Quietschen fallen gelassen hatte und zurück ins Schlafzimmer gerannt war, wobei sie die Tür mit einem rücksichtslosen Knall zugeschlagen hatte. Sie war in Spencers Bett geschlüpft und hatte ganz still dagelegen, während ihre Gedanken wie wild herumwirbelten. Zuerst bewegte sich dieses Ding in den Dielen, und jetzt war ein Geist im Haus, der gefunden werden wollte. Hedy glaubte nicht einmal an Gespenster, aber das Problem war, dass dieser Geist an sie zu glauben schien.
Gerade als sie versuchte, den Mut aufzubringen, aus dem Bett zu klettern, ohne Spencer zu wecken, waren die Schritte von Opa John auf dem Flur zu hören. »Hedy! Spencer! Eure Mutter und euer Vater sind am Telefon.«
Spencer wachte im Nu auf, und bevor Hedy ihm etwas sagen konnte, kippte er, halb in Decken eingewickelt, aus dem Bett. »Ich will als Erster mit ihnen reden!«
Hedy krabbelte hinter ihm her. Sie wollte nicht allein im Zimmer bleiben. Opa John wartete auf sie, während Spencer die Stufen paarweise runterhopste. »Habt ihr gut geschlafen?«, fragte er.
Hedy zögerte. Würde Opa John ihr böse sein, weil sie in das Zimmer gegangen war? Würde er sie für verrückt halten und es ihren Eltern sagen und sie dazu bringen, früher zurückzukommen? Dann kriegten sie vielleicht so schnell keinen neuen Job auf einer Ausgrabung mehr. Hedy konnte nicht ihre gemeinsame Ägyptenreise aufs Spiel zu setzen. Also nickte sie ihrem Opa einfach nur zu und drückte seine Hand, während sie das Haus mit neuen Augen betrachtete.
»Nein!«, sagte Spencer in das Telefon. »Hedy hat in meinem Bett geschlafen, sie hatte solche Angst!«
Opa John schaute Hedy an und zog die buschigen grauen Augenbrauen hoch.
»Spencer hat sich in der Nacht erschreckt, also habe ich ihm ein bisschen Gesellschaft geleistet«, sagte sie und hatte wegen der Lüge ein schlechtes Gewissen.
»Hat dich in der Nacht etwas … gestört?«, fragte Opa John.
Soll ich es ihm sagen? Hedy überlegte einen kurzen Moment und entschied sich dann dagegen. »Nein, es war alles in Ordnung.«
Opa John sah erleichtert aus. »Gut. Wie wäre es mit ein paar weich gekochten Eiern zum Frühstück?«
Als Opa in die Küche gegangen war, winkte Spencer Hedy herüber. Er bedeckte die Sprechmuschel des großen, gebogenen Telefonhörers mit seiner Hand und flüsterte: »Kann ich Mama was von dem Ding erzählen, das im Boden rollt?«
»Nein, nicht«, flüsterte Hedy zurück. »Wir dürfen da nicht rein, erinnerst du dich? Aber ich muss dir noch etwas erzählen.«
»Was?«
Hedy nahm den Hörer. »Später.«
»Hedy«, fragte Mama am Telefon, »hast du wirklich letzte Nacht in Spencers Bett geschlafen? Was ist denn los?«
Hedy hätte ihr fast all die seltsamen Dinge erzählt, die sie gesehen hatten, aber die Sorge in Mamas Stimme ließ sie zögern. Wir sind gerade erst angekommen, dachte sie, ich kann sie nicht zwingen, wegen irgendwelcher nächtlicher Bodenbeulen zurückzukommen.
»Nichts. Ich habe Spence Gesellschaft geleistet«, sagte sie, und dann stellte sie tausend Fragen über Spanien, um Mama zu beruhigen.
In der Küche klapperte Opa John mit Töpfen und Pfannen am Herd herum, während Spencer den Tisch deckte. Hedy hatte das Gefühl, dass sich die Angst der letzten Nacht in der Wärme und dem Duft von Butter und Toast aufzulösen begann.
»Opa«, sagte Spencer, »kennst du Merlin?«
»Merlin? Den Magier?« Opa hielt drei gekochte Eier in einer Hand hoch seinem Kopf. »Für wie alt hältst du mich?«
»Ich weiß es nicht. Wie alt ist Merlin?«
»Spencer, Merlin lebte vor Hunderten von Jahren«, sagte Hedy. Nun beobachteten beide, wie Opa die Eier bis fast unter die Decke warf und einhändig jonglierte.
»Feuer frei«, murmelte Opa. Mit unglaublicher Präzision ließ er die Eier in drei Eierbecher fallen, die auf der Anrichte bereitstanden. Sie landeten mit einem befriedigenden Knacks, aber sie brachen nicht!
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Spencer, der schnell die unbeschädigten Eier inspizierte. Er pflückte vorsichtig ein Stück Schale von einem Ei ab.
»Das hat mir Merlin beigebracht«, antwortete Opa John lachend.
»Komm schon, bitte Opa, bringst du es mir bei?«, bettelte Spencer.
»Milch bitte, Hedy«, sagte Opa John mit einem Lächeln.
Hedy drehte sich zum Kühlschrank – und erstarrte. Gestern hatte da noch WILLKOMMEN IN UNSEREM HAUS gestanden. Jetzt sagten die Magnetbuchstaben nur: FINDET MICH.
»Opa?«, fragte Hedy leise. »Hast du das geschrieben?«
Opa John stellte einige Teller auf den Tisch und kam an Hedys Seite. »Spencer, warst du das?«, fragte er stirnrunzelnd.
Spencer schüttelte den Kopf.
Opa John verschob schnell die Buchstaben, um die Nachricht verschwinden zu lassen, und riss dann die Kühlschranktür auf, um die Butter zu holen. »Das war nur meine Dummheit. Ein schlechter Witz.«
Wenn Hedy eine Gabe hatte, dann war es die, zu wissen, wann jemand flunkerte. Diese Fähigkeit war eine Kombination aus aufmerksamem Zuhören und Beobachten von Gesichtern und Bewegungen. Wenn jemand ihren Blick nicht wie üblich erwiderte, wenn die Hände herumfuchtelten, die Schultern ein wenig steif aussahen und die Stimme ein wenig verkrampft klang, wurde der Bluthund in Hedy hellwach. Und gerade jetzt saß dieser Bluthund sehr aufrecht. Opa sagte nicht die Wahrheit.
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