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Sie wollten ihre Ehe in Ordnung bringen. Aber dann trafen sie... das Paar in Hütte 14. Was passiert, wenn ein Kurzurlaub zum Höllen-Trip wird? Dean und Amber machen Urlaub in einem abgelegenen Resort, in der Hoffnung, die Risse in ihrer Ehe zu kitten. Ihre einzigen Nachbarn sind das Paar von nebenan: Sophie, eine schöne Rothaarige, und der geheimnisvolle Marc, der etwas zu verbergen scheint. Schon bald hat Amber den Verdacht, dass die beiden nicht das sind, was sie vorgeben zu sein. Besessen davon, die Wahrheit herauszufinden, stellt sie Untersuchungen über die Vergangenheit des Paares an. Während sie sich bemüht, ihre Ehe wieder aufleben zu lassen, und gleichzeitig gegen das Paar von nebenan ermittelt, wird Amber bald klar, dass sie niemandem trauen kann. Wer ist das rätselhafte Paar von nebenan? Und gibt es Geheimnisse, die besser im Dunkeln bleiben sollten? --- "Ein wunderbares Gebräu aus Mystery, Thriller, Spannung und psychologischen Triggern. Es ist ein fesselnder Roman mit einer perfekten Dosis Drama. Er hat mich von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen, und ich habe ihn bis zum Ende der Geschichte nicht mehr aus der Hand gelegt." – The Literary Vault ⭐⭐⭐⭐⭐ "Unterhaltsam und temporeich ... ein spannendes und unterhaltsames Lesevergnügen." – Novel Gossip ⭐⭐⭐⭐⭐ "Rasant und einzigartig! ... Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen und musste herausfinden, welche Geheimnisse Sophie und Marcus verbergen!" – Bowers Bookmarks ⭐⭐⭐⭐⭐ "Wow! Dieses Buch hat mich in seinen Bann gezogen, und ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht ... Das Ende habe ich nicht kommen sehen... Es war die perfekte letzte Wendung in einem Buch voller Wendungen." – A Soccer Mom's Book Blog ⭐⭐⭐⭐⭐ "Ein spannender, atmosphärischer Thriller, der sein Versprechen von einem Urlaub, der schrecklich schief geht, einlöst. Das Buch nimmt uns mit auf eine schaurige Reise durch eine bröckelnde Ehe und zur Auslösung eines Geheimnisses ... Fans von psychologischen Thrillern werden viel Freude an dieser spannenden, gut geschriebenen Geschichte haben. Seien Sie nur darauf gefasst, dass Sie Ihre Nachbarn wahrscheinlich nie wieder auf die gleiche Weise betrachten werden wie vorher." – Featz Reviews ⭐⭐⭐⭐⭐
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Paar in Hütte 14
Nancy Savage
Das Paar in Hütte 14
Originaltitel: The Couple in Cabin 14
© Nancy Savage 2024
© Deutsch: Jentas A/S, 2025
Übersetzung: Kirsten Evers © Jentas A/S
ISBN 978-87-428-2060-5
Kein Teil dieses Buches darf ohne Genehmigung des Herausgebers zum Zweck des Trainings von KI-Technologien oder -Systemen verwendet werden.
Published by arrangement with Rights People, London and Bloodlands Books Limited.
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Für meine sechs Rs.
KAPITEL 1
Amber beobachtet ihren Mann, wie er sich mit einer Hand am Lenkrad festhält, während er mit der anderen blind auf dem Armaturenbrett herumtastet und versucht, die Straße nicht aus den Augen zu lassen. Er murmelt vor sich hin, dass er sicher sei, seine Sonnenbrille dort liegen gelassen zu haben, und stößt dann ein theatralisches Seufzen aus, um deutlich zu machen, dass er die Suche aufgegeben hat.
Amber öffnet das Handschuhfach und holt ein Päckchen Pfefferminzbonbons heraus. Das Etui mit der Sonnenbrille, das sie beiseite schieben muss, um es zu erreichen, erwähnt sie nicht. Seit sie heute Morgen die zweite Hälfte ihrer langen Fahrt begonnen haben, ist Dean nur noch kurz angebunden, und sie hat keine Lust, ihm jetzt zu helfen, nicht einmal bei so etwas Belanglosem wie der Suche nach seiner Sonnenbrille. Es ist außerdem gar nicht hell genug, um eine Sonnenbrille zu rechtfertigen, obwohl es in Oregon viel wärmer ist, als sie es Anfang Mai erwartet hätte. Amber hat vor allem warme Pullis und Jeans für die Woche eingepackt, weil sie erwartet hatte, dass es hier um diese Jahreszeit kalt sein würde, aber jetzt fragt sie sich, ob sie nicht auch ein paar Shorts und T-Shirts hätte mitnehmen sollen.
Die Fahrt von ihrem Zuhause in Sacramento zu der gemieteten Hütte, in der sie die nächste Woche im Spring River Resort verbringen werden, dauert knapp neun Stunden mit dem Auto, und sie hatten beschlossen, dass es besser wäre, die Strecke in zwei Tagen zurückzulegen. Amber hatte gehofft, dass die erste Nacht ihrer Reise mit einem romantischen Abend beginnen würde, bei dem sie auf halber Strecke in einem Hotel Halt machen und vielleicht etwas essen und trinken würden. Aber nach einem verspäteten Aufbruch – wegen verlorener Autoschlüssel und einer zu früh genommenen Abzweigung, die sie dreißig Minuten in die falsche Richtung führte, bevor sie umdrehen und wieder zurückfahren mussten, während sie sich darüber stritten, wer die Schuld daran trug – war der Urlaub quasi zum Scheitern verurteilt, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Sie hatten spät eingecheckt und kaum ein Wort miteinander gewechselt, bevor sie direkt einschliefen.
Glücklicherweise war Amber heute Morgen nach einer überraschend erholsamen Nacht aufgewacht und hatte sich viel besser als am Abend zuvor gefühlt. Normalerweise fiel es ihr schwer, in einem fremden Bett einzuschlafen, vor allem in einem Zwischenstopp-Hotel, wo unerwünschte Gedanken sie wach hielten. Was würde man mit Schwarzlicht auf diesem Laken finden? Würde ich hören, wenn ein Fremder die Tür mit einer zusätzlichen Schlüsselkarte öffnete und herumschlich? Aber irgendwie hatte sie acht Stunden durchgeschlafen und war mit einem optimistischen Gefühl für den nächsten Teil ihrer Reise aufgewacht.
Deans momentaner Stimmung nach zu urteilen, hatte er wohl nicht so gut geschlafen wie sie. Obwohl, dem Schnarchen nach zu urteilen, das Amber heute Morgen geweckt hatte, hatte er fest genug geschlafen. Sie hatte ihn sogar noch eine Stunde länger schlafen lassen, während sie sich einen Kaffee aus dem Automaten in der Hotellobby holte. Der Kaffee war nicht sonderlich gut, aber stark und heiß, und hatte genau richtig geschmeckt, als sie auf dem Balkon ihres Zimmers gestanden und die frische Morgenluft eingeatmet hatte. Sie hatte sich an das Geländer gelehnt und so getan, als würde sie in ihrem Handy herumblättern, während sie zwei sehr grob aussehende Männer mittleren Alters, beide in Arbeitsoveralls, dabei beobachtete, wie sie die Autowerkstatt gegenüber dem Hotel öffneten. Sie hatte sie kein einziges Wort während ihres (scheinbar perfekt choreografierten) morgendlichen Routine wechseln sehen.
Amber liebt es, Menschen zu beobachten. Sie beherrscht die Kunst, so zu tun, als sei sie in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft, während sie in Wirklichkeit aufmerksam andere Menschen studiert. Man kann viel lernen, wenn man Menschen dabei beobachtet, wie sie die banalsten Dinge ihres Lebens erledigen.
Amber konnte zwar nicht sagen, dass sie viel gelernt hatte, als sie den beiden Männern bei der Arbeit zusah, aber es hatte sie doch immerhin daran erinnert, dass sie Dean fragen wollte, wann er zuletzt den Reifendruck ihres Autos kontrolliert hatte. Aber das lag wahrscheinlich an dem verrosteten Schild, das die beiden Männer draußen an der Wand aufgehängt hatten, um ihre Dienste anzupreisen.
Offensichtlich hatte die zusätzliche Stunde Schlaf Deans Laune nicht verbessert, denn als er geduscht und rasiert war, ebenfalls einen Automatenkaffee getrunken hatte und sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, hatte er immer noch einen mürrischen Gesichtsausdruck und schien generell nicht an einer Unterhaltung interessiert zu sein. Er schien sogar verärgert darüber zu sein, dass sie ihn fragte, ob er den Reifendruck geprüft habe, bevor sie das Haus verlassen hatten. Natürlich habe er das.
Jetzt sind sie auf der letzten Stunde ihrer Fahrt, und Amber fragt sich, wie diese Woche verlaufen wird, wenn sich Deans Verhalten nicht bessert.
Ihre Beziehung ist im letzten Jahr stärker belastet worden als je zuvor, und Amber erhofft sich von diesem Urlaub eine Reset-Wirkung. Am liebsten wäre es ihr, es würde sich wie in den guten alten Zeiten anfühlen, als sie Mitte zwanzig waren: sorglos um Mitternacht am Strand sitzen und stundenlang im Mondschein reden, oder an einem Freitagabend kichernd und sich mit billigem Wein betrinkend zu Hause Strip-Twister spielen.
Naja ... genau das will Amber vielleicht nicht mehr tun, aber sie vermisst die Spontaneität ihrer Jugend.
Sie beschließt, dass sie ihm einen Olivenzweig anbieten muss, wenn sie möchte, dass dieser Urlaub in guter Erinnerung bleibt.
Sie wirft noch ein Pfefferminzbonbon ein, öffnet dann das Handschuhfach, um sie wieder hineinzulegen, und holt Deans Sonnenbrillenetui heraus. „Hey, ich habe gerade deine Sonnenbrille gefunden, sie war hier drin.“
„Da habe ich sie aber nicht gelassen“, sagt er und blickt mit einem zweifelnden Blick zu ihr herüber.
Kein Dankeschön. Nett.
Amber spürt einen Anflug von Verärgerung, verdrängt sie aber. Sie möchte in der nächsten Woche wirklich mit ihrem Mann auskommen, auch wenn sie dafür die ganze harte Arbeit erledigen muss.
Sie nimmt seine Sonnenbrille aus dem Etui und haucht die Gläser an, dann wischt sie sie mit dem unteren Teil ihres Pullovers sauber – eine gut gemeinte Geste, von der sie hofft, dass er sie bemerkt. Sobald die Brille sauber ist, streckt sie die Hand aus, um sie ihm zu reichen, zieht sie aber in letzter Sekunde zurück, bevor er sie nehmen kann, und er lässt seinen Arm erwartungsvoll ausgestreckt.
Amber sieht zu ihm hinüber und lächelt. „Hey.“
„Was?“, fragt Dean und zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen.
„Können wir bitte einfach versuchen, gestern Abend zu vergessen und unseren Aufenthalt in der Hütte auf dem richtigen Fuß beginnen“, sagt sie. „Wir haben eine Woche Urlaub, und ich möchte, dass wir ihn genießen. Uns entspannen, Spaß haben. Wie früher.“
Dean wirft ihr einen Blick zu, dann wendet er ihn wieder der Straße zu. „Okay“, erwidert er mit einem unleserlichen Gesichtsausdruck.
Das war nicht die Reaktion, die Amber sich erhofft hatte.
Sie reicht ihm seine Sonnenbrille, er nimmt sie und legt sie auf seinen Schoß. Nach ein paar Augenblicken nimmt er eine Hand vom Lenkrad und reibt sich kurz mit Daumen und Zeigefinger über beide Augen. Er stößt einen tiefen Seufzer aus und legt seinen Kopf auf die Kopfstütze, wobei er den Blick weiter auf die Straße richtet. Er sieht nicht einmal mehr genervt aus. Er sieht einfach nur niedergeschlagen aus.
„Ja, Amber, es tut mir leid.“ Er seufzt. „Ich habe im Moment einfach viel um die Ohren, mit der Arbeit und mit Mom, und es fühlt sich einfach alles so an, als würde es mich total begraben. Ich will aber nicht, dass unser Urlaub darunter leidet. Ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hast.“ Sein Gesicht wird weicher, als er Ambers Hand in seine nimmt. Er drückt sie fest, bevor er sie loslässt, dann greift er nach unten, um seine Sonnenbrille zu nehmen und sie aufzusetzen. „Als wir gebucht haben, schien es Mom noch recht gut zu gehen. Aber in den letzten Wochen habe ich das Gefühl, dass sie immer mehr abbaut. Ich fühle mich jetzt schlecht, weil ich sie eine ganze Woche lang so alleine zurückgelassen habe“, gibt er zu.
Bei der Erwähnung von Deans Mutter, Gloria, liegen Ambers Nerven sofort blank.
KAPITEL 2
Wenn Amber Gloria, Deans Mutter, mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, dann wäre es wohl „schwierig“.
Sie fühlt sich schuldig, weil sie so über sie denkt – nicht nur, weil sie ihre Schwiegermutter ist, mit der sie sich nach einer liebevollen Beziehung sehnt, sondern auch, weil Gloria an Alzheimer erkrankt ist. Die Eigenschaften, die sie so schwierig machen, sind jedoch nicht ausschließlich auf dieses Leiden zurückzuführen. Bevor ihre Symptome begannen, war sie immer sehr unabhängig gewesen und hatte nie Hilfe angenommen oder gar geduldet, dass andere Menschen in ihr Leben eingreifen. Aber seit ihrer Diagnose sind vier Jahre vergangen, und im Laufe der Zeit ist es immer deutlicher geworden, dass es für sie nicht mehr sicher ist, allein zu leben.
Da Deans Job als Software-Ingenieur die Möglichkeit bietet, von zu Hause aus zu arbeiten, richtete er sich ein provisorisches Büro in einem der Gästezimmer seiner Mutter ein, um ihr bei der täglichen Arbeit nahe zu sein. Doch seit er vor sechs Monaten dieses Arrangement getroffen hat, verbringt er mit jeder Woche, die vergeht, mehr und mehr seiner Arbeitszeit damit, seiner widerspenstigen Mutter bei den täglichen Aufgaben unter die Arme zu greifen. Es ist inzwischen so weit gekommen, dass er abends zu Amber nach Hause kommt und kaum noch die Energie hat, sich mit ihr zu unterhalten, geschweige denn eine schöne Zeit mit ihr zu verbringen.
Seine ältere Schwester Melanie übernimmt die Wochenenden und trifft sich auch unter der Woche gelegentlich mit Gloria, aber es gibt sonst niemanden, dem ihre Mutter erlaubt, sie zu beaufsichtigen (ein Wort, das sie in ihrer Gegenwart niemals benutzen würden).
Amber selbst steht sicherlich nicht auf der Liste der Leute, die Gloria um sich haben möchte. Nicht, dass Ambers Arbeitszeiten als Lehrerassistentin an einer örtlichen High School ihr die Zeit dazu lassen würden.
Sie denkt jetzt an die Last, die Dean in den letzten Monaten auf seinen Schultern getragen hat. Die Verärgerung, die sie über seine frühere Stimmung empfunden hatte, verfliegt, und sie spürt eine Welle des Mitgefühls, als sie einen Mann betrachtet, der sein Bestes tut, um alles irgendwie unter einen Hut zu bekommen.
„Ach komm, deine Mutter ist in guten Händen“, versichert sie ihm sanft. „Melanie wird die ganze Woche über bei ihr sein. Tag und Nacht. Du hast keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du mal für eine Weile weg bist. Du brauchst Zeit, um dich zu erholen.“
„Ja“, antwortet Dean und beißt sich auf die Unterlippe – etwas, das er immer tut, wenn er etwas nicht sagen will.
„Es sei denn, es gibt noch etwas anderes, das dich beschäftigt?“, fragt sie.
„Nein, nichts weiter. Ich bin einfach nur müde.“
Amber kennt ihren Mann lange genug, um zu wissen, wann er sie anlügt.
Er betätigt den Blinker und nimmt eine Ausfahrt, die auf eine kleinere Straße führt. Große Kiefern überragen sie jetzt auf jeder Seite, und als sie vorbeifahren, sieht Amber das Schimmern von Wasser, das hinter den verstreuten Bäumen zu ihrer Linken immer wieder verspielt hervor lugt.
Sie versucht, die beeindruckende Landschaft in sich aufzunehmen und zu genießen, aber sie wird von dem nagenden Gefühl abgelenkt, dass ihr Mann ihr etwas verheimlicht.
Sie überqueren eine Brücke und gelangen zu einem riesigen hölzernen Torbogen, in den in eleganter Schrift die Worte Welcome to Spring River Resort eingraviert sind.
Amber freut sich schon seit Monaten auf diesen Urlaub. Sie war noch nie im Spring River Resort, aber nachdem sie Hunderte von Bewertungen im Internet gelesen, Fotos und Karten des Resorts durchgeblättert und die Reiseführer für die vielen Aktivitäten, die Spring River zu bieten hat, heruntergeladen hat, hat sie bereits das Gefühl, die Gegend genau zu kennen.
Zum Glück nähern sie sich jetzt endlich ihrer gemieteten Hütte – vom langen Sitzen im Auto während der letzten drei Stunden hat sie kaum noch Gefühl in den Beinen. Sie freut sich darauf, sich einzurichten und vielleicht heute Abend noch ein warmes Bad zu nehmen, um sich von der langen, anstrengenden Reise zu erholen. Dean könnte das auch gut gebrauchen, soviel ist klar.
Amber blickt zu ihrem Mann hinüber, der jetzt frustriert mit einem Finger auf dem Navi herum tippt und versucht, die Anzeige neu zu zentrieren. In diesem Licht kann sie deutlich einige neue drahtige graue Strähnen sehen, die zwischen seinen dunklen Locken hervor blitzen.
Als sie sich vor vielen Jahren zum ersten Mal begegneten, war er ihr durch seinen großen Schopf lockigen Haares sofort aufgefallen. Er bildete einen Ausgleich zu seinem kräftigen Kinn und seinen tiefbraunen Augen mit dem verschmitzten Blick. Amber war sofort von ihm angetan gewesen, von seinem verspielten Charme und seiner Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Heutzutage trägt Dean seine Locken kurz, um sie so wenig wie möglich zu strapazieren, und es ist viel zu lange her, dass Amber ihn über sich selbst oder irgendetwas anderes hat lachen sehen.
Sie fahren an einem Restaurant im Ranch-Stil vorbei, vor dem ein Schild mit der Aufschrift Annie K‘s Bar & Grill hängt. Ambers Magen knurrt, und es dämmert ihr, dass sie heute außer ein paar Pfefferminzbonbons nur einen glasierten Donut gegessen hat, den sie bei ihrem letzten Kaffeestopp gekauft hat.
Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Dean hat nicht viel mehr gegessen als sie, und er muss auch Hunger haben, obwohl er es nicht erwähnt hat. In der Hütte wird es nichts zu essen geben, wenn sie ankommen, also müssen sie morgen hier in der Nähe einen Laden finden und sich mit Lebensmitteln eindecken.
Sie deutet mit dem Daumen über ihre Schulter in Richtung des Restaurants. „Vielleicht können wir nachher zurückkommen und hier etwas essen, wenn wir die Hütte gefunden haben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin am Verhungern.“
„Sicher“, antwortet Dean, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
Amber kann sehen, dass ihr Mann immer noch tief in Gedanken versunken ist.
„Dean, hör auf, dir Sorgen zu machen. Deine Mutter ist bei Melanie in guten Händen, es geht ihr gut. Außerdem ... hat sie Phil, der ihr Gesellschaft leistet.“ Sie lächelt.
Phil ist der Hund von Dean und Amber. Er ist ein adoptierter Labrador, dessen Name von einem privaten Scherz der beiden stammt. Es fing an, als sie zusammenzogen und bald darauf in ihren ersten richtigen Streit gerieten, nachdem Dean Amber gegenüber eine Bemerkung gemacht hatte, dass es einen besseren Weg gebe, Zwiebeln zu schneiden, als sie gerade einen Salat zubereitete. Sie hatten sich einige Minuten lang darüber gestritten, was Amber als Deans Angewohnheit ansah, in der Küche das Mikromanagement zu übernehmen, und was Dean wiederum als gut gemeinte Weitergabe von Tipps und Tricks ansah, die er während seiner kurzen Zeit als Angestellter in einem italienischen Restaurant gelernt hatte, wo er während seines Studiums gejobbt hatte.
„Vielleicht ist meine Art ‘weniger effizient’, aber ich finde es einfacher, es so zu machen“, hatte Amber schließlich zähneknirschend geknurrt.
„Amber, du kannst einen Hund mit Federn schmücken, aber das macht ihn nicht zu einem Huhn“, hatte Dean daraufhin in einem seltsamen Südstaatenakzent geantwortet.
Amber hatte das Messer weggelegt und Dean verständnislos angestarrt.
„Ja.“ Er hatte mit den Schultern gezuckt. „Ich weiß auch nicht, was das bedeutet. Ich habe es heute Morgen im Fernsehen Dr. Phil zu jemandem sagen hören.“
Sie brachen beide in Gelächter aus, und damit war der Streit entschärft. Seitdem kommen sie, wann immer sie sich streiten und einer von ihnen die weiße Fahne schwenken will, mit einem erfundenen Dr. Phil-ismus daher, um die Stimmung aufzuhellen. Das funktioniert in etwa achtzig Prozent der Fälle.
Bei der Erwähnung von Phil, dem Hund, wird Deans Gesicht weich. „Ja, Mom liebt diesen Köter“, sagt er liebevoll.
Amber ergreift ihre Chance, ihn für ihren Aufenthalt zu begeistern. „Was hältst du davon, wenn wir alles zu Hause lassen, es einfach vergessen und eine Woche lang total egoistisch sind. Wir gehen gut essen, sehen, was dieses Resort zu bieten hat, vielleicht betrinken wir uns und gehen nackt im See baden ... Wie wär’s? Bist du dabei?“
Dean schenkt ihr ein schiefes Lächeln, denn er weiß, dass Amber über das Nacktbaden scherzt. Er sieht zu ihr hinüber, und sie kann das vergnügte Blitzen in den Augen ihres Mannes sehen, das ihr heute so gefehlt hat.
„Klar, so machen wir’s“, sagt er.
Er springt zwar nicht gerade vor Freude in die Luft, aber zumindest scheint er sich ein wenig entspannt zu haben. Und Amber nimmt, was sie kriegen kann.
„Wunderbar.“ Sie grinst. „Weil es nämlich so aussieht, als wären wir angekommen.“
KAPITEL 3
Amber steigt aus dem Auto und schüttelt ihre halb tauben Beine aus, um die Durchblutung wieder anzuregen. Sie spürt bereits das leicht unbehagliche Kribbeln in den Beinen, und ihre Blase ist kurz davor, zu platzen – der letzte Halt ist etwa drei Stunden her.
Das ist es also. Hütte fünfzehn, Alpine Drive – ihr Zuhause für die nächste Woche.
Es ist ja nicht so, dass Amber eine gemütliche kleine Holzhütte im Wald erwartet hätte – in der Anzeige für dieses Haus ist von einer luxuriösen Hütte mit drei Schlafzimmern die Rede gewesen, mit allem, was dazugehört, vom Whirlpool bis zum Fünfzig-Zoll-Flachbildfernseher. Aber jetzt, wo sie hier ist, sieht es in Wirklichkeit noch größer aus als auf den Fotos, was ihrer Erfahrung nach selten ist.
Da war der Sommer, in dem Dean sie mit der Buchung eines romantischen Wochenendes in einem Strandhaus überrascht hatte. Jedenfalls dachte er, dass er das für sie gebucht hatte. Es stellte sich heraus, dass das Angebot nur für ein Zimmer in einem Haus galt, das einer exzentrischen älteren Frau gehörte, die darauf bestanden hatte, sie an beiden Morgen in aller Herrgottsfrühe zu wecken, um am Strand Tai Chi zu machen, sobald die Sonne aufging.
Letztendlich war es aber gar nicht so schlimm gewesen. Sie hatten eine neue Fertigkeit erlernt – die sie seitdem nie wieder in die Praxis umgesetzt haben – und wurden das ganze Wochenende über mit überraschend leckerem veganen Essen versorgt.
Dean geht nun hinter Amber her, nimmt ihre Unterkunft in Augenschein und pfeift anerkennend.
„Nun, das ist nicht ganz das Bild, das ich im Kopf hatte“, sagt er.
„Was genau hattest du denn erwartet?“, fragt Amber und beginnt zu zweifeln, ob Dean die Broschüre über das Resort, die sie ihm vor Wochen gemailt hatte, tatsächlich gelesen hat.
„Ehrlich gesagt wusste ich nicht, dass es Hütten gibt, die dreimal so groß sind wie unser Haus. Außerdem dachte ich irgendwie, es wäre ein bisschen abgelegener.“ Er schaut die Straße hinauf und hinunter, die auf beiden Seiten von ähnlich großen Holzhäusern gesäumt ist – jedes so beeindruckend wie das andere, und keines gleicht dem anderen.
Jedes Grundstück ist durch einen dichten Kiefernbestand voneinander getrennt, dessen süßer, erfrischender Duft die Luft durchdringt. Es fühlt sich fast weihnachtlich an.
Amber stellt sich vor, wie magisch es hier während der Feiertage sein muss, wenn eine Schneedecke unter den Kiefern liegt und die Straße hell beleuchtet ist. Aber jetzt ist Mai, und es gibt keine Lichterketten oder Weihnachtsdekoration – obwohl ein hübscher Frühlingskranz an der Haustür hängt, eine nette kleine Aufmerksamkeit, die sie zu schätzen weiß.
Als sie einen Blick auf die zweistöckige Hütte wirft, kann Amber es plötzlich kaum erwarten, das Innere zu entdecken und überhaupt alles zu erkunden, was die Gegend zu bieten hat.
Spring River ist ein weitläufiger Ferienort am See mit einem zentralen Dorf, mehreren Sportanlagen und zahllosen Attraktionen, die sich über ein Gebiet von mehr als tausend Hektar erstrecken. Sie und Dean hatten einen großen Preisnachlass erhalten, weil sie nicht in der Hauptsaison gebucht hatten, wenn der Ort von Familien mit energiegeladenen kleinen Kindern überrannt wird.
Manchmal zahlt es sich eben auch mal aus, ein kinderloses Paar zu sein.
Es ist so ruhig – alles, was Amber hören kann, ist ein Rasenmäher irgendwo in der Ferne und das sanfte Zwitschern der Vögel, die in den Bäumen sitzen.
Obwohl Spring River in erster Linie ein Ferienort ist, leben hier auch etwa achthundert Menschen, da viele der Grundstücke auf der Ostseite von Privatpersonen, meist Rentnern, gekauft wurden. In der Nähe des zentralen Dorfes gibt es ein großes Hotel, und auf der Westseite des Ferienortes, wo sich der See befindet, gibt es unzählige Straßen mit Miet-Hütten. Viele von ihnen werden von der Ferienanlage selbst verwaltet, aber einige andere – wie der Alpine Drive – sind im Besitz unabhängiger Hausverwalter und werden von diesen betrieben.
Amber geht zur Hüttentür, während Dean ihre Taschen aus dem Kofferraum holt. Sie streicht bewundernd mit den Fingern über die rosafarbenen Pfingstrosen und die grünen Blätter, die den Kranz schmücken.
Amber hat Blumen schon immer geliebt. Als Kind waren die Regale in ihrem Zimmer voll mit Büchern über Wildblumen und Blumenbinderei gewesen. Sie studierte sie immer wieder und ging nach draußen, um die Blüten zu suchen, über die sie gelesen hatte. Sie stellte sich vor, dass sie einmal Floristin werden und ihre Tage damit verbringen würde, alle möglichen exotischen Blumensträuße zu schneiden und zu arrangieren.
Als Amber jetzt diesen wunderschönen Kranz betrachtet, fragt sie sich, warum sie so etwas nicht für ihr eigenes Haus macht – können tut sie es schließlich. Nicht, dass jemand außer ihr es zu schätzen wüsste.
Dean tritt mit ihrem Gepäck hinter sie. „Hast du die Box mit dem Schlüssel gefunden?“
Amber wird aus ihren Gedanken gerissen. Sie sieht sich um und entdeckt ein digitales Tastenfeld auf einem Metallkasten an der Seite der Veranda neben dem Türrahmen. „Sie ist hier. Gib mir einen Moment, ich suche den Code. Die Hausverwaltung hat ihn heute Morgen per SMS geschickt.“ Sie holt ihr Handy heraus. „Der Code lautet fünf, vier, acht, sieben.“
Dean tippt die Zahlen in das Tastenfeld. „Nein“, konstatiert er und schaut auf den Bildschirm, auf dem die Worte ‘Falsches Passwort’ erscheinen.
„Was? Lass mich mal versuchen.“ Amber schiebt sich vor ihn und gibt die Zahlen langsam und sorgfältig ein, ehe sie die Eingabetaste drückt.
Falsches Passwort.
„Großartig. Die Hausverwaltung hat uns den falschen Code gegeben.“ Amber seufzt.
„Was machen wir jetzt?“
„Ich habe seine Nummer“, sagt Amber. „Ich werde ihn wohl anrufen und fragen müssen. Vielleicht hat er uns aus Versehen den Code für eine seiner anderen Hütten geschickt.“
Sie findet die Nummer der Hausverwaltung auf ihrem Handy und drückt die Anruftaste. Es klingelt zweimal, bevor abgenommen wird.
„Hallo?“ Eine Männerstimme knistert in der Leitung.
„Hi, hier ist Amber Hughes, mein Mann und ich haben eine Buchung für …“
„Hallo?“ Die Stimme knistert wieder.
„Hallo, können Sie mich hören?“, fragt sie lauter.
Amber hört ihn wieder sprechen, aber dieses Mal ist die Verbindung so unterbrochen, dass sie kein Wort versteht. Sie seufzt und drückt auf das Auflegen-Symbol. Sie blickt auf ihr Handy – ein Balken blinkt zögernd, bevor er aufgibt und verschwindet.
„Das muss an den vielen Bäumen liegen“, sagt Dean, der Amber bei ihrem Anruf beobachtet hat.
„Vermutlich“, sagt sie und starrt wieder hinauf zu den hoch aufragenden Kiefern. „Ich müsste jetzt aber wirklich bald in die Hütte. Die Natur ruft.“ Unbeholfen verlagert sie ihr Gewicht auf den anderen Fuß.
Amber bemerkt etwas angesäuert, dass Dean sich über ihr Unbehagen zu amüsieren scheint.
„Wie wäre es, wenn ich hinter der Hütte nach einem weiteren Schlüsselfach suche, während du versuchst, von dort oben aus anzurufen, vielleicht hast du abseits der Bäume ein besseres Signal.“ Er deutet die Straße hinauf.
Am Ende der Straße steht ein Holzpavillon mit Bänken auf einer kleinen Lichtung, bevor die Straße in die nächste einbiegt. Amber geht auf Deans Vorschlag ein und macht sich auf den Weg dorthin, während er hinter der Hütte verschwindet.
Beim Gehen fällt Amber auf, dass alle anderen Hütten im Moment unbesetzt zu sein scheinen. Haben sie die ganze Straße für sich allein? Vielleicht ist dieser Ort doch abgelegener, als Dean angenommen hatte. Nein – jetzt fällt Amber ein, dass in der Einfahrt des Nachbarhauses ein Auto geparkt war. Es gibt also mindestens einen Nachbarn.
Jede Hütte, an der Amber vorbeikommt, sieht aus wie ein kleines Stückchen vom Himmel, mit den von Kiefern gesäumten Höfen und dem gelegentlichen Blick auf den See in der Ferne, der in der hellen Sonne wie eine Fata Morgana schimmert.
Trotz des Namens Spring River ist der nächstgelegene Fluss mehrere Meilen entfernt. Die größte Attraktion des Resorts ist das große private Seeufer, an dem es liegt. Als sie das erste Mal von den vielen verschiedenen Wassersportarten und Aktivitäten auf dem See las – Kajakfahren, Wasserski, Wakeboarding und sogar eine Art Jetpacking (was sie sich niemals zutrauen würde) –, war Amber sofort von dem Resort begeistert.
Sie erreicht den Pavillon und schaut auf ihr Telefon, jetzt, da sie nicht mehr von Bäumen umgeben ist – zwei Balken Empfang, das sollte besser funktionieren. Sie tippt auf Wahlwiederholung und drückt sich das Telefon ans Ohr.
„Hallo?“ Dieses Mal wird fast augenblicklich abgenommen.
„Hallo, ich suche den Hausverwalter des Alpine Drive?“, sagt Amber erleichtert.
„Mit dem sprechen Sie“, sagt eine freundliche, älter klingende Stimme. „Aber die meisten nennen mich einfach nur Jerry.“
„Hi, Jerry, hier ist Amber Hughes. Ich habe gerade versucht, Sie wegen eines Problems mit unserer Hütte anzurufen, aber der Empfang war so schlecht.“
„O je, womit kann ich Ihnen denn helfen?“, fragt er.
„Also, wir sind gerade eben angekommen, und der Code, den Sie mir für die Schlüsselbox geschickt hatten, funktioniert nicht.“
Sie ist immer noch in Sichtweite der Hütte und kann sehen, dass Dean von seiner Suche nach einer weiteren Box hinter dem Haus zurückgekehrt ist. Er sieht sie und schüttelt den Kopf. Kein Glück.
„Es tut mir leid, das zu hören. Sind Sie sich sicher, dass Sie die Nummer richtig eingegeben haben? Fünf, vier, acht, sieben“, sagt Jerry.
„Ja, das ist der Code, den wir verwenden, aber die Box sagt, das Passwort sei falsch.“
„Das ist aber seltsam.“ Jerry klingt aufrichtig verwirrt. „Sind Sie sich wirklich sicher?“
Wäre ihre Blase nicht so voll und ihr Magen nicht so leer, hätte Amber viel mehr Geduld, aber so langsam wird sie trotz des freundlichen Tons dieses Mannes gereizt.
„Ja, Jerry, ich bin mir sicher, dass es nicht funktioniert“, sagt sie und versucht, geduldig zu klingen, was ihr nicht gelingt. „Vielleicht haben Sie mir versehentlich den Code zu einem der Schließfächer Ihrer anderen Hütten geschickt? Wir haben für Hütte fünfzehn gebucht, vielleicht könnten Sie für mich noch einmal nachsehen, wie das Passwort lautet?“
Am anderen Ende des Telefons ertönt ein leises Lachen. „Ich bin zu alt, um mir zwanzig verschiedene Passwörter zu merken. Ich halte es einfach – vierundfünfzig für mich und siebenundachtzig für mein kleines Mädchen.“ Ein Lächeln ist in seiner Stimme zu hören.
Aus den Augenwinkeln bemerkt Amber, dass Dean nicht mehr allein ist. Eine Frau steht mit ihm auf dem Bürgersteig, und sie scheinen in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein.
KAPITEL 4
Die Frau sieht aus, als wäre sie joggen gewesen – sie trägt einen lilafarbenen Sport-BH mit passenden Leggings, und ihr langes rotes Haar schwingt sanft in einem hohen Pferdeschwanz wie ein seidiges Pendel, während sie sich enthusiastisch mit Dean unterhält.
Die Tatsache, dass sich ihr Mann mit einer Frau unterhält, die sie nicht kennt, würde Amber normalerweise nicht stören, aber selbst aus dieser Entfernung ist klar zu erkennen, dass diese Frau eine Wucht ist. Sie scheinen sich über die Hütten zu unterhalten, oder vielleicht auch über das Resort selbst, dem gelegentlichen Zeigen und Kopfnicken nach zu urteilen.
„Mrs Hughes? Sind Sie noch da?“
Ambers Aufmerksamkeit wird wieder auf das Telefon an ihrem Ohr gelenkt, und sie merkt, dass sie verpasst hat, was Jerry gesagt hat. „Oh. Ähm ... tut mir leid, das Signal hier ist schwach. Ich konnte nicht ganz verstehen, was Sie gerade gesagt haben“, lügt sie.
„Ich sagte, dass Tom, mein Handwerker, nur zwanzig Minuten von Ihnen entfernt ist. Ich schicke ihn gleich rüber, um das Problem zu beheben. Ist das in Ordnung?“
Zwanzig Minuten, kann Amber es so lange aushalten? Sie beschließt, dass sie keine andere Wahl hat.
„Okay. Danke, Jerry.“ Amber legt auf und geht zurück zur Hütte.
Als sie näher kommt, sieht sie, dass die Frau, die etwas jünger aussieht als sie, vielleicht dreißig oder so, jetzt ein Bein hinter sich ausstreckt – der Fuß zeigt nach oben in Richtung Rücken, die Brust ist aufgerichtet – und aufmerksam Dean zuhört, der angeregt spricht.
Aus der Körpersprache dieser Frau geht klar hervor, dass sie sich völlig wohl dabei fühlt, ihre Muskeln vor einem Mann, den sie gerade erst kennengelernt hat, lässig zu dehnen. Und das in hautengem Spandex.
Amber hält das für eine allzu vertraute Geste, die an Unangemessenheit grenzt.
Als Amber sich ihnen nähert, hört sie gerade noch, wie Dean den vergangenen Abend Revue passieren lässt.
„… also sind wir etwa zwanzig Meilen in die falsche Richtung gefahren und haben eine Stunde mehr gebraucht. Aber hey, wir haben ein paar schöne Landschaften gesehen“, fügt er sarkastisch hinzu.
Sowohl er als auch die Frau lachen herzhaft darüber.
Amber ärgert sich ein wenig über diese kleine Anekdote. Mit Amber hat er weder gestern Abend noch heute Morgen darüber gelacht. Sie erinnert sich sogar deutlich daran, dass ihr Mann ihr das Gefühl gab, schuld daran zu sein, dass der Abend ruiniert war, obwohl er es war, der falsch abgebogen war. Und bis vor einer Stunde hat er kaum ein Wort mit Amber gewechselt, da er noch immer in seiner Gereiztheit schwelgte – jetzt lacht er mit einer schönen Frau, die er gerade erst kennengelernt hat.
Als Amber sie erreicht, setzt sie ein Lächeln auf und legt eine Hand auf die Schulter ihres Mannes.
Dean dreht sich schnell um und schenkt ihr das erste Lächeln seit ihrem gestrigen Aufbruch. „Oh, hey, ich habe unserer Nachbarin hier gerade von unseren Abenteuern der letzten Nacht erzählt.“ Er lacht, dann deutet er auf die Frau, die vor ihnen steht. „Das ist Sophie, aus der Hütte nebenan. Sophie, das ist meine Frau, Amber.“
Die beiden Frauen tauschen einen Gruß aus.
Aus der Nähe sieht Amber, dass diese Frau gar nicht so attraktiv ist, wie sie anfangs gedacht hatte. Für jemanden, der joggen geht, ist sie zu stark geschminkt, und ihre falschen Wimpern sind zu dicht, um auf ihrem kleinen Gesicht natürlich auszusehen. Und als sie ihren ohnehin schon perfekten Pferdeschwanz zurechtrückt, bemerkt Amber, dass Sophies tiefrotes Haar zwar wunderschön lang ist und glänzt, aber wahrscheinlich ein Farbton aus der Flasche ist.
Allerdings kann Amber niemanden dafür verurteilen, denn seit sie Anfang zwanzig ist, lässt sie ihr mittellanges, mausblondes Haar alle paar Monate aufhellen. Jetzt, im Alter von sechsunddreißig Jahren, ist sie ganz froh, dass sie nicht weiß, ob sich darunter nicht ein paar graue Haare verstecken.
„Es ist so schön, ein paar neue Gesichter hier zu sehen!“ Sophie strahlt. „Marcus und ich sind jetzt seit einer Woche hier, und so gut wie alle Hütten sind leer. Ich schätze, in den Sommermonaten wird es hier etwas lebhafter zugehen, aber bisher sind nur wir und ein altes Ehepaar am Ende dieser Straße, das seinen fünfzigsten Hochzeitstag feiert, hier – und ich glaube, die sind heute Morgen abgereist.“
„Tja, wir sind die ganze nächste Woche hier, also werden wir uns sicher öfter sehen. Vorausgesetzt, wir kommen in unsere Hütte“, sagt Dean und sieht Amber erwartungsvoll an.
Amber, die immer noch über den plötzlichen Stimmungsumschwung ihres Mannes nachdenkt, merkt, dass dies ihr Stichwort war. „Ach, richtig, ja, ich habe den Hausverwalter erreicht, er sagt, dass er in zwanzig Minuten oder so jemanden schicken wird, um das Problem zu lösen.“
„Na ja, ich habe gerade einen Lauf hinter mir und werde jetzt wieder reingehen.“ Sophie deutet in Richtung der benachbarten Hütte. „Dean sagte, du müsstest mal für kleine Mädchen? Du kannst gerne mit rüberkommen und unsere Toilette benutzen, während du wartest?“
Amber wirft Dean einen geladenen Blick zu. Er hat gerade mal zwei Minuten mit dieser Frau geredet und ihr schon von Ambers Blasenstatus erzählt?
„Ist schon gut. Ich halt’s aus, wirklich, aber danke für das Angebot.“ Amber spürt, wie ihre Wangen brennen, sowohl aus Verlegenheit als auch aus Wut auf ihren Mann, der etwas so Persönliches mit einer völlig Fremden teilt.
„Du hast vor ein paar Minuten gesagt, du wärst am Platzen, hast du dich etwa da oben im Gebüsch erleichtert?“, stichelt Dean.
Amber behält ihr angestrengtes Lächeln bei, aber innerlich ist sie stinksauer. Versucht Dean etwa gerade absichtlich, sie in Verlegenheit zu bringen?
„Nein. Ich ... ich kann warten.“ Amber gibt sich Mühe, nicht mit den Zähnen zu knirschen, während sie spricht.
„Ach, das haben wir doch alle schonmal erlebt!“, säuselt Sophie. „Besonders nach einer langen Autofahrt – ich bestehe darauf, dass ihr mit rüberkommt. Ich mache uns allen etwas zu trinken, und so können wir uns ein bisschen besser kennenlernen, während ihr darauf wartet, in eure Hütte zu kommen.“
Das strahlende Lächeln dieser Frau fängt an, Amber auf die Nerven zu gehen. Sie sieht aus, als wäre sie es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen, indem sie einfach lächelt und mit ihren langen falschen Wimpern klimpert.
Aber Amber ist tatsächlich nicht so zuversichtlich, dass sie die Benutzung einer Toilette – welcher Toilette auch immer – noch länger hinauszögern kann, also stimmt sie Sophies nachbarschaftlichem Angebot schließlich widerwillig zu.
KAPITEL 5
Wenn die Hütte von Amber und Dean nur halb so schön ist wie die von Sophie, dann könnte Amber die ganze Urlaubswoche nur im Haus verbringen und im Luxus schwelgen.
Sie betrachtet den riesigen, raumhohen Steinkamin mit einem Weidenkorb voller Holzscheite in der Nähe und die rustikalen mahagonibraunen Ledersofas, die mit abgenutzten Patchwork-Kissen übersät sind. Die Szene beschwört in Ambers Kopf Visionen von gemütlichen Abenden am knisternden Holzfeuer mit einem Glas Wein und Gelächter herauf.
Zwei große hölzerne Schiebetüren sind offen und führen in eine Küche mit einem Herd in Industriegröße, gegenüber einem Kühlschrank aus Edelstahl und passenden Geräten. Der Kontrast zwischen dem kalten Stahl und dem warmen Holzinterieur gleicht das rustikale, gemütliche Gefühl mit einer eleganten, modernen Ausstrahlung aus.
„Das ist schon was, nicht wahr?“, sagt Sophie, geht in die Küche und holt sich ein großes Glas Wasser aus dem Wasserhahn. Sie stürzt es hinunter, während Amber und Dean sich in stummem Erstaunen umsehen.
Direkt hinter der Spüle, an der Sophie steht, befindet sich ein riesiges Panoramafenster, das den Blick auf den See jenseits der Bäume am unteren Ende des Gartens wunderbar einrahmt. An der Seite des Hofs markiert eine weitere Reihe hoch aufragender Kiefern die Grenze zwischen diesem Grundstück und dem von Amber und Dean.
„Die Aussicht ist unglaublich“, bemerkt Amber, als sie in die Küche kommt.
„Du solltest es nachts sehen“, schwärmt Sophie und stellt ihr leeres Glas in die Spüle. „Man kann vom Garten aus jeden Stern am Himmel sehen.“
Amber stellt sich vor, dass die Aussicht von der Rückseite ihrer eigenen Hütte genauso sein muss, da sie direkt nebenan liegt.
Sie hofft wirklich, dass der Handwerker bald kommt, um sie hereinzulassen. Sie ist immer noch erschöpft von der Fahrt und fragt sich, ob der Donut, den sie vorhin gegessen hat, alles sein wird, was sie heute zu essen bekommt.
„Marcus sollte bald zurück sein, er war den ganzen Nachmittag unten am See, zum Angeln“, erklärt Sophie, während sie drei weiße Tassen aus einem Schrank holt und sie neben eine Nespresso-Maschine aus Edelstahl stellt.
Amber notiert sich, dass sie das auffällige Küchengerät online suchen wird, wenn sie wieder zu Hause ist. Sie weiß schon jetzt, dass der Preis nicht zu rechtfertigen sein wird, aber träumen kostet schließlich nichts.
Sophie zwitschert immer noch, während sie eine Packung Kaffeekapseln aus einem Schrank holt. „Das Restaurant um die Ecke, Annie K‘s, bereitet den gefangenen Fisch zu und kocht ihn, wenn du ihn auf Eis bringst. Unser romantischer Urlaub hat sich also in Marcs großen Angelausflug verwandelt.“ Sie sagt den letzten Teil mit falscher Begeisterung und lacht, während sie eine Kaffeekapsel in die Maschine steckt und diese einschaltet.
Amber kann sehen, wie Deans Augen bei der Vorstellung, ihr Abendessen selbst zu fangen, ein wenig aufleuchten. Eine Angel auszuwerfen und stundenlang auf das Wasser zu schauen, klingt für sie stinklangweilig, aber sie hat gehört, dass es für manche Menschen eine therapeutische Erfahrung sein kann. Vielleicht würde es auch Dean gut tun.
Der Duft von frischem Kaffee liegt in der Luft, während Sophie sorgfältig ihre Tassen vorbereitet, und Amber wird an den Grund erinnert, warum sie überhaupt zugestimmt hat, mit hierher zu kommen. „Wäre es in Ordnung, wenn ich jetzt kurz euer Badezimmer benutzen würde?“
„Natürlich! Es ist gleich da drüben.“ Sophie zeigt auf eine Tür hinter der großen Holztreppe.
Amber hat keine Lust, diese Frau wieder mit ihrem Mann allein zu lassen, aber sie hat keine andere Wahl, also macht sie sich auf den Weg ins Bad und lässt Dean und Sophie, die sich bereits wieder angeregt unterhalten, in der Küche zurück.
* * *
Sobald Ambers Blase leer ist, fühlt sie sich viel besser. Aber während sie ihre Handflächen mit einer flüssigen Handseife namens Lime and Mandarin Gel Moussanteinseift, die göttlich duftet und aussieht, als würde sie etwa fünfzehn Dollar pro Flasche kosten, kann sie nicht verhindern, dass sie daran denkt, wie Dean sie draußen behandelt hat. Es kam ihr wirklich so vor, als habe er versucht, sie in Verlegenheit zu bringen.
Durch die geschlossene Tür hört sie Sophies gedämpftes Lachen. Sie und Dean reden anscheinend schon wieder über etwas Lustiges.
Vielleicht bildet sich Amber das nur ein, aber es klingt, als würde Sophie mit Dean flirten.
Sie beeilt sich, ihre Hände abzutrocknen, denn sie will unbedingt raus, um sich ihren Mann zu schnappen und eine Ausrede zu erfinden, damit sie gehen können. Sie hat sich in ihrer Ehe noch nie von einer anderen Frau bedroht gefühlt. Aber sie hat auch noch nie erlebt, dass sich die Laune ihres Mannes so plötzlich bessert, nachdem sie eine Rothaarige in Spandexkleidung ohne ein Gramm Fett am Körper getroffen hat, die über jedes seiner Worte lacht.
Amber betrachtet sich im Spiegel. Sie ist selbst nicht schlecht in Form. Vielleicht nicht gerade bereit für hautenge Trainingsklamotten, aber sie hält sich fit. In diesem Moment sieht sie in ihrem cremefarbenen Pullover und den Jeans allerdings müde und vielleicht ein bisschen schäbig aus.
Ist Dean von ihr gelangweilt?
Bis vor einem Jahr oder so hatten sie eine großartige Beziehung. Aber seit sich Glorias Zustand verschlechtert hat – und vor allem seit Dean in ihrem Haus arbeitet –, ist er ständig mürrisch. Er hat keine Lust mehr, mit Amber auszugehen oder etwas gemeinsam zu unternehmen, und Intimität wird auch ein immer selteneres Thema. An den gelegentlichen Abenden, die sie zusammen verbringen, sitzen sie meist vor dem Fernseher, an den entgegengesetzten Enden der Couch, wobei Dean nach der Hälfte des Films meistens einschläft.
Amber schiebt ihre Bedenken beiseite und tritt aus dem Badezimmer, um Sophie und Dean zu sehen, die im Wohnzimmer in ein leises Gespräch vertieft sind, zusammengekauert über einer gedruckten Kopie derselben Broschüre über den Ferienort, die Amber ihm vor Wochen gemailt hatte.
Während sie ihm eine Karte der Gegend zeigt, lehnt sich Sophie unangenehm nah an Dean, der das Pamphlet betrachtet, als würde er dessen bloße Existenz bewundern, als wäre er in diesem Moment Zeuge der allerersten Begegnung von Papier und Tinte.
Dean schaut auf. „Amber, wusstest du, dass es hier einen Achtzehn-Loch-Golfplatz gibt? Und eine Kletterhalle? Und Jetskis - du kannst einen ganzen Tag lang einen Jetski mieten.“ Er zieht den letzten Teil in die Länge, um es zu betonen.
„Ja, ich habe dir die Broschüre gemailt, erinnerst du dich? Du hast mir gesagt, du hättest sie gelesen.“
Dean sieht sie ausdruckslos an. „Daran kann ich mich nicht erinnern, vielleicht habe ich sie nicht bekommen.“
Amber will gerade protestieren, als plötzlich die Tür der Hütte aufschwingt und ein Mann, von dem sie annimmt, dass es sich um Marcus handeln muss, mit seiner Angelausrüstung beladen hereinkommt. Er schließt die Tür hinter sich, stellt seine Angel und die Eistruhe ab und schüttelt mühsam einen großen Rucksack ab, ohne auch nur einen Blick in die Richtung zu werfen, in der die drei sitzen.
„Hey, Soph! Ich hoffe, du hast Hunger, ich habe heute drei Forellen gefangen, und nicht zu kleine“, ruft er.
Amber kann sehen, wie dunkles Haar unter seiner Schirmmütze hervorlugt, während er im Eingang steht und sich am Türrahmen festhält, um sich zu stützen, während er seine Stiefel auszieht, scheinbar immer noch ohne die Anwesenheit von Amber und Dean zu bemerken.
„Die erste Stunde da draußen dachte ich, der Tag würde ein Reinfall werden, aber dann …“ Er hält mitten im Satz inne, als er sich umdreht und Amber und Dean sieht, die mit Kaffeetassen in der Hand im Wohnzimmer sitzen.
„Marc, komm her und begrüße unsere neuen Nachbarn! Das sind Dean und Amber. Sie wohnen für die nächste Woche nebenan, in Nummer fünfzehn“, trillert Sophie.