Das Paradies gleich um die Ecke - Akli Tadjer - E-Book

Das Paradies gleich um die Ecke E-Book

Akli Tadjer

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Beschreibung

»Hab keine Angst vor dem Glück. Es ist ein schöner flüchtiger Augenblick.«

Adèle hat kein Glück in der Liebe. Und eines ist klar: Die Tatsache, dass sie ein Bestattungsunternehmen führt, schreckt potenzielle Verehrer definitiv ab. Doch ihr Leben ändert sich, als sie Léo begegnet. Er war einst Zirkusakrobat, verlor aber nach einem Unfall sein Augenlicht – und seine große Liebe. Seitdem arbeitet er als Masseur in den Thermes du Paradis in Paris. Noch nie hat Adèle einen so attraktiven Mann gesehen, und sie wird alles tun, um ihn zu erobern. Und wie heißt es so schön? »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar …«

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Buch

Adèle hat kein Glück in der Liebe. Und eines ist klar: Die Tatsache, dass sie ein Bestattungsunternehmen führt, schreckt potenzielle Verehrer definitiv ab. Doch ihr Leben ändert sich, als sie Leo begegnet. Er war einst Zirkusakrobat, verlor aber nach einem Unfall sein Augenlicht – und seine große Liebe. Seitdem arbeitet er als Masseur in den Thermes du Paradis in Paris. Noch nie hat Adèle einen so attraktiven Mann gesehen, und sie wird alles tun, um ihn zu erobern. Und wie heißt es so schön? »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesent­liche ist für die Augen unsichtbar …«

Autor

Akli Tadjer ist 1954 in Paris geboren und hat dort Journalismus studiert. Er hat bereits neun Romane geschrieben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Zwei wurden in Frankreich verfilmt.

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Akli Tadjer

Das Paradies gleich um die Ecke

Roman

Aus dem Französischenvon Doris Heinemann

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Les Thermes du Paradis« bei JCLattès, Paris.

Das Zitat von Romain Gary stammt aus »Ach Liebster, das macht doch nichts«, a.d. Franz. vonGerhard Heller, Frankfurt/M u. Berlin 1976, S. 120.

Die Zitate von Guillaume Apollinaire stammen aus Guillaume Apollinaire: »Alkohol. Gedichte«. Aus dem Französischen übertragen von Johannes Hübner und Lothar Klünner, mit einem Vorwort vonGerd Henniger, Darmstadt und Neuwied (Luchterhand) 1976, S. 23.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2014 by éditions Jean-Claude Lattès

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

ED · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-16997-8V002www.blanvalet.de

»Man soll keine Angst vor dem Glück haben.Es ist nur ein schöner, flüchtiger Augenblick.«

Romain Gary

1

Punkt fünf Uhr simste mir Leïla, wir sollten uns, um Zeit zu gewinnen, um 19 Uhr statt in meinem Bestatterladen lieber gleich vor der Metrostation Père-Lachaise treffen. Kein Problem, simste ich zurück, komme hin. Dann zog ich mich in mein Büro zurück, um die Abrechnung zu machen.

Ein guter Tag.

Allein heute waren fünf Kunden da. Eine Rentnerin, ehemalige Leiterin einer Privatschule, bestellte den Sarg Chenonceau in heller Eiche mit Tragegriffen aus fein verziertem Kupfer, einen Grabstein in rosa Granit und aus dem gleichen Stein auch noch eine Grabtafel mit einer Widmung für den lieben Verstorbenen. Für die Beisetzung wünschte sie das volle Programm mit Chor, Messdienern, von einem orthodoxen Priester verlesenen Gebeten sowie der Heimführung der sterb­lichen Überreste in die Familiengruft in Milhac im Departement Lot – dieser Ausflug in das Herz Frankreichs wird auf ihrer Rechnung beträchtlich zu Buche schlagen.

Das kleine Bukett mit der lila Schleife, auf der in aufgeflockten silbernen Buchstaben »Dir, meinem Mann, der du immer in meinem Herzen wohnen wirst« steht, bekam sie als Geschenk des Hauses.

Die übrigen Kunden, ungläubige gut situierte Bohemiens aus den schicken neuen Gebäudekomplexen rings um die Buttes-Chaumont, entschieden sich für eine Einäscherung.

Einäscherungen sind hier im Viertel seit einigen Jahren sehr in Mode.

Das Eingravieren von Name, Geburts- und Sterbedatum des Verstorbenen in den schwarzen Granit der Urne ist ebenfalls ein Geschenk des Hauses. Es ist das kleine Extra der Firma Reverdy, die Zugabe an Warmherzigkeit, die mich in der freundschaft­lichen, aber nichtsdestotrotz gnadenlosen Konkurrenz von meinen Nachbarn und Rivalen unterscheidet.

Kurz bevor ich zumache, schickt mir das Krankenhaus Lariboisière noch eine Mail, die Leichenkammer sei ausgebucht und ich müsse sie unbedingt gleich am nächsten Vormittag von einem Obdachlosen-Paar, das auf einer Bank am Square de Belleville an Unterkühlung gestorben ist, und von einem Ertrunkenen befreien, der an der Schleuse vor dem Hôtel du Nord aus dem Canal Saint-Martin gefischt wurde.

Kein Problem, antworte ich. Ich schicke Ihnen gleich morgen früh meine Jungs. Beste Grüße, Adèle Reverdy.

2

Im Hinterzimmer, das meinen Jungs als Küche und Ruhehafen dient, befinden sich eine Mikrowelle, das neueste Modell einer Kapsel-Kaffeemaschine, ein Kühlschrank, ein Regal, auf dem die Kleenex-Kartons für die Kummerfluten meiner Kunden stehen, ein Foto meiner Eltern, wie sie in ihrer Jugend stolz vor einem nagelneuen Leichenwagen posieren, und ein Stapel von Heften des Magazine funéraire, unseres Leichenbestatter-Fachjournals, die ich bereits gelesen habe und ohne besonderen Grund aufhebe. Außerdem ein einfacher weißer Holztisch, vier bequeme Stühle und, in der Ecke neben dem vergitterten kleinen Fenster, das auf meine Garagen hinausgeht, mein Sarg – ein Sully in total verschrammter Kastanie, der sich nicht mal als Sonderangebot losschlagen ließe und den ich zur Garderobe umgemodelt habe.

So viel zur »Ladenstube«.

Ach, ich vergaß, ansonsten stapeln sich da auch noch Kartons voller religiöser Symbole - Kruzifixe für die Christen, Halbmond und Stern für die Moslems, Davidsterne für die Juden - sowie künst­liche Blumenbouquets und große Rollen mauvefarbener Bänder zum Schmücken der Kränze mit klassischen, aber immer noch beliebten Sprüchen wie: Du wirst immer in meinem Herzen sein. Ohne dich ist das Leben kein Leben. Ein Engel kehrt in den Himmel zurück. Oder solchen, die absichtlich eine gewisse Distanz zum Verstorbenen ausdrücken: Meinem Vater. Meiner Mutter. Meiner Großmutter. Meinem Großvater. Meinem Gatten. Meiner Gattin …

Kurzum.

Als ich gerade mein kleines Schwarzes aus- und meine Jeans anziehe, ruft mich meine große Schwester Rose an. Sie ist gerade auf Parkplatzsuche hier im Viertel, und da sie in einem Stau steckt, dessen Ende nicht abzusehen ist, unterhält sie sich ein bisschen mit mir. Zunächst erinnert sie mich noch einmal daran, dass wir in zwei Tagen den 11. Januar haben und ich dann dreißig werde. Was ich bestimmt nicht vergesse, denn seit einem Monat vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht daran erinnert. Auch Leïla wurde von ihr gestern und vorgestern noch einmal daran erinnert. Und dann verkündet mir Rose, sie habe eine Dummheit gemacht, eine riesige und wunderschöne, die sie nicht länger für sich behalten könne.

Zur Feier des Tages habe sie die La Paloma gemietet, einen Kahn, der auf dem Canal de l’Ourcq am Quai de la Loire liegt. Sie habe schon alles organisiert, den Caterer, die Blumen, den Kuchen, sie werde sich sogar um den Empfang der Gäste kümmern. Ich hätte nichts weiter zu tun, als mich zu amüsieren und nach einem Verehrer Ausschau zu halten. Da sie so gut in Schwung ist, lege ich das Telefon auf den Tisch, stelle meine schwarzen Wildlederpumps auf das untere Bord in meinem Sarg und ziehe die Doc Martens an.

Dreißig.

Es ist mir vollkommen egal, dass ich dreißig werde. Schlimmer noch, ich hasse Geburtstage. Vor allem meinen. Er wirft mich in die Zeiten meiner Akne zurück, auf Erdnussflips und gezuckerte Kondensmilch. Dabei fingen meine Geburtstage immer gut an. Ich fand es schön, mit Rose und all den anderen Gästen das unverwüst­liche »Happy Birthday« zu singen. Ich fand es schön, Geschenke zu bekommen, auch die, die ich nicht schön fand. Ich fand es schön, dass unsere Eltern zum Abendessen ins Restaurant gingen, damit wir die Wohnung für uns hatten. Ich fand es schön, dass wir, kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, über die Bar herfielen, um die angebrochenen Flaschen mit Whisky - oder sonst was, Hauptsache, es machte besoffen - zu leeren. Sobald uns der Alkohol hinreichend benebelt hatte, schoben wir Tisch und Stühle an die Wände, ich drehte die Musik auf volle Lautstärke, und dann tanzten wir Rock, Salsa oder Lambada. Wenn uns die Puste ausging, unsere Beine dem Rhythmus nicht mehr folgen konnten und uns der Schweiß auf die Stirn trat, dimmte ich das grelle Halogenlicht herunter, und Rose legte die Slows auf.

Das war der Moment, in dem für mich alles zu Asche wurde. Bei den ersten Takten umarmten sich die Paare, die sich bereits gefunden hatten, zärtlich. Andere, die sich zum ersten Mal begegnet waren, wiegten sich zunächst mit einem gewissen Abstand, dann näherten sich ihre Körper aneinander an, und noch bevor die letzten schmelzenden Töne des Slows verklungen waren, tanzten sie Wange an Wange; manche wagten sogar den ersten Kuss.

Ich stand inzwischen allein und ratlos am Buffet, stopfte mich mit allem Mög­lichen voll und wartete darauf, dass mich jemand an sich zog. Doch niemand hat sich mir je genähert.

Ganz anders Rose, sie war umschwärmt. Sie wusste, sie hatte ein hübsches Gesicht und einen nicht minder hübschen Hintern. Das machte ihr Spaß. Sie nutzte es aus. Wenn sie einen Typen im Auge hatte, oft den Hübschesten - oder Ordinärsten -, griff sie sich einen der Pfauen, der um sie herumparadierte, schleppte ihn mitten ins Wohnzimmer, stützte ihren Kopf auf seine Schulter und schmiegte sich an ihn, wobei sie ihre künftige Beute aber immer fest im Blick behielt. Bei den letzten zitternden Klängen des Slows versuchte ihr Anbagger-Gehilfe natürlich, sie zu küssen, doch sie machte sich scheinbar entrüstet von ihm los. Dann wandte sie sich dem hübschen Kerl zu, fuhr sich mit den Händen über das lange rote Haar, das ihr auf die zarten Schultern floss, und setzte zum krönenden Abschluss ihrer Charmeoffensive ihr reh­äugiges Lächeln auf. Spätestens jetzt war der hübsche Kerl ins Herz getroffen und verloren.

Jahrelang war ich der Trostpreis für die abgewiesenen Loser, rachedurstig betatschten sie meinen Hintern oder versuchten, mir noch vor den ersten Takten des Slows einen Kuss zu rauben.

Einem dieser Typen, er war noch verklemmter als ich, habe ich schließlich nachgegeben, mein erstes Mal. Es war mein achtzehnter Geburtstag. Wir waren in meinem Zimmer, das Licht war aus. Er zog sich hastig den Reißverschluss runter, ich zog mich genauso schnell aus, wir fielen aufs Bett, er lag oben. Ich schloss die Augen, bewegte die Hüften und stöhnte, um Liebe vorzutäuschen. Wie ein Kaninchen erleichterte er sich in drei Stößen, zog sich wieder an und fragte stotternd: »Na, war’s gut für dich?«

Ich sagte … Nein, ich sagte gar nichts.

Er nahm seine Mokassins in die Hand und schlich sich wie ein Dieb auf Zehenspitzen aus meinem Zimmer. Ich taumelte zur Frisierkommode und starrte mich im Spiegel an: Ich fand mich hässlich wie immer, traurig wie so oft und außerdem zum Speien. Ich tuschte mir die Wimpern, besprengte mich mit Parfüm, um seinen Geruch nach nasser Wolle zu vertreiben, brachte mein Haar in Ordnung und sah dann zu, wie die mit Tränen vermischte Wimperntusche über meine blassen Wangen lief.

Wie er hieß?

Weiß ich nicht mehr.

Mein Gedächtnis hat ihn nicht behalten wollen.

Zu meinem neunzehnten Geburtstag lud Rose Étienne ein, sie kannten sich, weil sie beide Medizin studierten. Wie jedes Mal, wenn sie einen neuen Kerl anschleppte, war ich gelb vor Neid, denn mit den Jahren war sie immer verführerischer geworden und außerdem weit brillanter als ich, was Schule und Ausbildung anging. Wer uns nicht kannte, hätte nie gedacht, dass ich ihre Schwester sein könnte, höchstens ihre Freundin. Sie war alles, was ich gern gewesen wäre und nie sein würde. Wäre sie nicht meine Schwester gewesen, hätte ich mich in sie verknallt wie all die anderen auch, so viel ist sicher.

Étienne glich all ihren Exverehrern, nur in noch schöner. Er hatte breite Schultern, bräun­liche Haut und zurückgekämmtes sehr schwarzes Haar wie Hugh Grant in Vier Hochzeiten und ein Todesfall. Und er lächelte. Sein Gesicht war ein einziges Lächeln. Dazu hatte er eine tiefe, klangvolle Männerstimme, die mir eine Gänsehaut an den Armen verursachte, als er mir sagte, ich sei ebenfalls hübsch und meine Schüchternheit verleihe mir eine Aura des Geheimnisses, die meiner Schwester fehle. Ich glaubte ihm kein Wort, aber mir wurde ganz warm ums Herz, weil er einen ganzen Slow lang seinen wohlwollenden Blick auf mir ruhen ließ.

Wir hatten zu Joe Dassins L’Été indien getanzt. Diese alte CD meiner Eltern hatte ich heimlich aufgelegt, weil sie vier Minuten und zweiundzwanzig Sekunden lief. Etwas Längeres hatte ich in unserer Plattensammlung nicht finden können. Ich fühlte mich wohl in seinen Armen, und ich weiß noch, dass ich mich, sobald wir Wange an Wange tanzten, an ihn schmiegte wie Rose. Doch er blieb so ungerührt wie ein Steinblock. Zum x-ten Mal war ich voller Neid und Eifersucht auf meine Schwester, und zum x-ten Mal verwünschte ich meine Eltern dafür, dass sie mich so reizlos geschaffen hatten.

Vor allem meinem Vater war ich böse. Ich habe seinen wächsernen Teint geerbt, seine lange Nase und die schmalen Lippen, die mich immer so streng und grimmig wirken lassen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, musste ich auch noch seine sehr hellen, kleinen blauen Augen erben. Meine Mutter verglich ihr Blau gern mit dem der Südsee-Lagunen – und das gefiel mir, bis der Junge, der in der Schule neben mir saß, all meine Illusionen zerstörte, indem er ihr Blau mit dem des WC-Reinigers in der Entenhalsflasche verglich.

Zurück zu Étienne.

Nachdem Joe Dassin die letzten Zeilen und Schabadas abgeliefert hatte, legte ich Étienne den Kopf auf die Schulter und summte: »Et l’on s’aimera encore lorsque l’amour sera mort …«

Darüber hatte er erst lächeln müssen und dann offen gelacht, ein vulgäres, fettes Lachen aus vollem Hals, ein Lachen, das ihm gar nicht stand. Die Scham flammte über mein Gesicht. Er entschuldigte sich und ging zu Rose auf die Terrasse hinaus. Sie lachten beide und stießen mit ich weiß nicht mehr wem auf meinen Geburtstag an, bevor sie sich den neugierigen Blicken entzogen, um sich irgendwo unter dem kalten Sternenhimmel zu lieben.

Gedemütigt und der Lächerlichkeit preisgegeben, hatte ich mich mit Erdnussflips vollgestopft, mir eine Tube gezuckerte Kondensmilch einverleibt und den Rest Sangria aus der Schüssel getrunken. Als rings um mich alles verschwamm und mir schon übel wurde, hängte ich mich dem nächstbesten Kerl an den Hals, der im Wohnzimmer rumstand, und tanzte mit ihm.

Ich hatte damals einen derartigen Zärtlichkeitsbedarf, dass ich mich an jeden klammerte, von dem ich ein bisschen Liebe erwarten konnte.

Wie er hieß?

Weiß ich nicht mehr.

Mein Gedächtnis hat auch ihn nicht behalten wollen.

Zurück zu meiner Schwester.

Ich halte das Telefon wieder ans Ohr, um an den Gesprächsfaden anzuknüpfen, doch es ist zu spät. Sie steht bereits vor der Tür des Hinterzimmers, hübsch und sexy wie für ein erstes Date.

3

Sie küsst mich mit spitzen Lippen, setzt sich auf die Tischkante, sieht auf die Armbanduhr und sagt: »Jetzt hab ich mich ganz umsonst aufgeregt. Ich bin eine halbe Stunde zu früh.«

»Wo hast du denn deine Verabredung hier in der Gegend?«

»Das hab ich dir schon mindestens dreimal am Telefon gesagt. Du hast mal wieder nicht zugehört. Das tust du nie.«

Aus der Tasche ihres Regenmantels zieht sie die Liste der Gäste, die die Einladung zu meiner Geburtstagsparty angenommen haben. Es sind Freunde aus meiner Stu­dienzeit auf dem Jussieu-Campus und sogar Freunde vom Arago-Gymnasium. Aufgetrieben hat sie sie auf Facebook und mithilfe anderer Freunde-Suchmaschinen für Dreißigjährige, die ihrer Jugend nachtrauern. Insgesamt werden wir fünfundzwanzig Personen sein. Sogar Onkel André kommt.

Ihr Blick verharrt auf dem Foto unserer Eltern vor dem nagelneuen Leichenwagen, und ihre Stimme wirkt plötzlich stumpf, als sie leise fragt: »Schon zehn Jahre. Genauso ein Sauwetter wie heute. Weißt du noch?«

Wie sollte ich es nicht mehr wissen. Es war zwei Monate vor meinem zwanzigsten Geburtstag. Meine Eltern hatten vor, eine Woche Ferien in Ägypten zu machen, im Club Méd am Roten Meer. Vor allem meine Mutter wollte möglichst weit vor dem rußgrauen Pariser Himmel fliehen, um auf andere Gedanken zu kommen und den Ascheton zu vertreiben, den ihr Teint annahm, sobald es kalt wurde. Mein Vater hatte seinen Totengräbern - so nannte er seine Jungs - Urlaub gegeben. Am Tag vor der Abreise drängten sie mich, sie zum Flughafen Roissy zu fahren. Doch da ich absolut keine Lust hatte, im Morgengrauen aufzustehen, um dann in den üb­lichen Staus auf der Nord-Autobahn unterzugehen, schützte ich vor, ich müsse mich noch auf eine Zwischenklausur vorbereiten und sei schon furchtbar spät dran. Also riefen sie Rose an, die sich am anderen Ende von Paris, in der Rue Gazan, ein kleines Apartment mit einem Assistenzarzt-Kollegen vom Krankenhaus Bicêtre teilte, doch sie ging nicht dran. Also nahmen sie, nachdem sie uns beide heftig verflucht hatten, notgedrungen ein Taxi.

Als ich aufwachte, stellte ich das Radio an, um zu sehen, wie sich die Welt während meines Schlafs weitergedreht hatte. Nach dem Wetterbericht, der für Paris absolut scheuß­liches Wetter ankündigte, ging es um die Nord-Autobahn, genauer gesagt um den Zubringer zum Flughafen. Ich stellte das Radio lauter, und mir stockte der Atem, als ich hörte, dass es wegen plötzlich gefrierenden Regens zu einer Massenkarambolage gekommen sei. Ich stellte das Radio ab und den Fernseher an und suchte nach einem Dauernachrichtensender. Die eingeklemmten Opfer wurden von den Feuerwehrleuten mit Elektrosägen aus den Fahrzeugen befreit, dann sofort von den Sanitätern weggetragen und mit Krankenwagen auf die Hospitäler der Region verteilt. Die am düsteren Himmel über diesem unentwirrbaren Chaos knatternden Gendarmerie-Hubschrauber trugen noch zu Furcht und Panik bei. Der Auffahrunfall war gegen sieben Uhr passiert, etwa dreißig Menschen waren verletzt worden, neun von ihnen lebensgefährlich. Um weitere Auskünfte zu erhalten, konnte man gratis eine Sondernummer anrufen.

Ich rief meine Mutter auf ihrem Handy an, ich versuchte es noch zwei-, drei-, zehnmal, nie ging sie dran. Ich rief die Sondernummer an, und nachdem ich die Angaben zu ihrer Identität gemacht hatte, verband man mich mit dem Krankenhaus von Bobigny.

Als der Angestellte die Kühlschubladen aufzog, um uns unsere in weiße Plastiksäcke gehüllten Eltern zu zeigen, stand ich wie versteinert da, ich brachte keinen Schrei, kein Schluchzen heraus. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass Papa und Maman sterben könnten, ich hatte so sehr mit der Trauer der anderen gelebt, dass ich meine Eltern für unsterblich gehalten hatte. Während Rose haltlos weinte und Mamans schon kalte Hand an ihre Brust presste, hielt ich einen gewissen Abstand, schreckensstarr und beschämt, weil ich keine einzige Träne zu bieten hatte.

In diesem Augenblick trat schüchtern eine junge Frau auf uns zu: Leïla. Sie war Anfängerin in der Thanatopraxie und bot uns ihre taufrischen Künste an. Rose lehnte mit einem dankenden Nicken ab, denn wir kennen wahrhaftig genug Leichenschminker, einige sind sogar treue Geschäftspartner des Hauses Reverdy. Sie ließ jedoch nicht locker und sah uns mit diesem Hundeblick an, dem niemand widersteht. Wir gaben schließlich nach, denn an jenem Tag hatten wir weder die Willenskraft noch das Herz, wem auch immer was auch immer abzuschlagen.

Bevor der Angestellte unsere Eltern wieder in die Fächer zurückschob, sah ich sie ein letztes Mal an. Das Gesicht meiner Mutter wirkte glatt, sanft, gelassen. Der Tod hatte sie wieder zu einer Zwanzigjährigen gemacht. Zum Ebenbild von Rose. Das griesgrämige Aussehen meines Vaters hingegen war unverändert, und im Profil schien seine Nase noch länger und spitzer zu sein als zu seinen Lebzeiten.

Erst am Abend des Unfalltags, als ich allein in der stillen großen Wohnung war, überfiel mich die Trauer, und ich begann zu weinen.

Ich ging in ihr Schlafzimmer, öffnete den großen Spiegelschrank, nahm das Familien-Fotoalbum heraus und legte mich damit auf ihr Bett, um Spurensuche zu betreiben. Auf einem Bild war ich etwa vier, fünf Jahre alt. Eine Zeit der Unschuld und Unbeschwertheit. Ich war mit meiner Schwester und meinem Vater im Freizeitpark »Jardin d’Acclimatisation«. Wir saßen auf den Holzpferdchen eines Karussells am See. Ich blickte kess in die Kamera und zeigte breit lächelnd sämt­liche Zähne. So viel Frechheit bewies, dass ich mich damals wohl für hübsch gehalten hatte. Rose war zu dieser Zeit dreizehn und ich acht. So stand es auf der Rückseite des Fotos. Dann posierten wir mit meiner Mutter vor dem Löwenbrunnen auf dem Platz vor der Grande Halle de la Villette. Meine Mutter trug ihren Mantel mit dem Pelzkragen, wir Parkas in Olivgrün und gleichfarbige Schals.

Was machten wir an einem so grauen Tag im Parc de la Villette?

Vermutlich den traditionellen Sonntagsspaziergang. Rose war sich ihrer verführerischen Ausstrahlung bereits sehr bewusst; im Dreiviertelprofil, mit wehendem Haar, drückte sie die Brust heraus, damit ihre kleinen Brustwarzen zu sehen waren. Und ich wusste bereits, dass ich nicht fotogen war. Meine Mutter sagte immer, es liege an meiner zu blassen Haut, die das Licht nicht einfange, aber das sei ihr egal, sie liebe mich auch ohne strahlenden Teint. Übrigens war es nicht nur das äußere Licht, das mir fehlte, ich hatte schon damals eine Art Schleier, etwas endgültig Erloschenes im Blick. Auf einem anderen Foto war ich als Jugend­liche zu sehen, an Allerheiligen, ich stand mit meinem Vater auf der Terrasse, auf der einige Grab- und Grabsteinmodelle ausgestellt sind. Wir waren umringt von Blumenkübeln mit Heide und bunten Chrysanthemen. Ich stand steif, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Haar in einem strengen Herrenschnitt, wie ich es auch jetzt noch trage, und schien mich zu fragen, was ich da in diesem Blumenmeer zu suchen hatte, aber ich lächelte. Auch Papa lächelte und sah mich liebevoll an.

Selbst mit diesem Lächeln fand ich uns trist und reizlos.

Und dann das Foto, das kurz vor dem Unfall aufgenommen worden war, ich ging mit Onkel André über den Bohlenweg in Deauville, seine Hand lag auf meiner Schulter, ich war dicht neben ihm. So blätterte ich und betrachtete diese Splitter aus dem Leben der Familie Reverdy, bevor ich als Waise einschlief.

Jetzt, zehn Jahre nach ihrem Tod, glaube ich immer noch, sie wären vielleicht noch am Leben, wenn ich sie damals zum Flughafen gefahren hätte, statt gemütlich im warmen Bett zu liegen. Manchmal denke ich auch, ich wäre heute vielleicht bei ihnen auf dem Friedhof Père-Lachaise in unserem Familiengrab, und das wäre dann auch in Ordnung.

Einige Monate nach der Beisetzung ertrug ich es nicht mehr, in der großen Wohnung zu leben, allein mit meiner Trauer und meinen Gewissensbissen. Ich mietete zwanzig Minuten Fußweg von meinem Geschäft entfernt, in der Rue du Chemin-Vert, eine Dreizimmerwohnung mit Blick auf einen baumbestandenen Hof und hörte nun statt des Verkehrslärms des Boulevard de Ménilmontant die Spatzen zwitschern.

Zu jener Zeit traf ich auch Leïla wieder, sie hatte sich inzwischen selbstständig gemacht und kam zu uns, um uns ihre Dienste anzubieten. Wir tranken im Hinterzimmer einen Tee und erzählten uns aus unserem Leben. In Bruchstücken, mit Seufzern und mit einem Lächeln, mit wahren Lachkrämpfen und langen schweigenden Pausen. Sie wohnte in der nörd­lichen Banlieue, in Saint-Ouen, außerhalb des Boulevard Périphérique. Sie machte gerade eine schwere Zeit durch, wegen ihres Jobs. Nachdem sie ihre Eltern jahrelang belogen hatte, hatte sie ihnen schließlich erzählt, dass sie nicht Kosmetikerin war, sondern Thanatopraktikerin.

Thanatopraktikerin?

Sie hatten das Wort nicht verstanden.

Sie hatte ihnen erklärt, dass es immer noch um Kosmetik ging, nur an Leichen. Detailreich beschrieb sie die Freude, die es ihr machte, den Verstorbenen ihre Würde zurückzugeben, bevor sie die Gesellschaft der Lebenden verließen.

Verblüffung. Klagen. Unverständnis.

Ihr Vater, eine Säule der Moschee ihres Viertels, verlangte, dass sie diese Arbeit aufgab, die nicht im Einklang mit den Gesetzen des Islams stehe. Leïla widersprach ihm mit einer Entschlossenheit, die sie selbst überraschte.

Das andere Martyrium, das sie ertragen musste, war eine typische Moslem-Geschichte, wie man sie in den Zeitungen manchmal im Vermischten liest. Ihre Eltern hatten für sie eine Heirat mit einem bärtigen Cousin, Typ Burka-Verfechter, arrangiert, der schon seit Abschluss der Oberschule ein Auge auf sie geworfen hatte. Und wo er schon mal dabei war, hatte ihr Vater auch noch den Imam alarmiert und ihn gebeten, seine Tochter zur Räson zu bringen. Doch weder Vater noch Imam konnten sie dazu bringen, den Beruf, an dem ihr so viel lag, oder ihren Junggesellinnenstand aufzugeben. Die Verlobung scheiterte. Die Eltern, die den Spott und die Verachtung des ganzen Viertels ertragen mussten, zahlten dem Verehrer den Brautpreis zurück und gaben ihrer Tochter eine Woche Zeit, sich vom heimischen Herd zu verabschieden.

Leïla wohnte einige Zeit bei mir, bis sie einen Freund fand, dann kam sie wieder zu mir, und dann verließ sie mich wieder, um neue Abenteuer zu erleben.

Seit zwei Jahren wohnen wir wieder zusammen.

Für wie lange?

Das weiß niemand.

Sie lebt ihr Leben. Ich meins. Weil sich unsere Leben in vieler Hinsicht gleichen, verbringen wir viel Zeit miteinander.

Ein Handy klingelt in einer Handtasche. Rose zuckt zu­­sammen, liest den Namen auf dem Display und verlässt den Raum, bevor sie das Gespräch annimmt. Ich nutze die Gelegenheit, um meinen Mantel überzuziehen und meinen Sarg wieder zu schließen.

Sie kommt zögernd zurück, und dabei steigt ihr die Röte vom Hals bis zur Stirn. Sie sagt: »Du rätst nie, wen ich gestern Abend auf der Ehemaligenparty der Medizinischen Fakultät wiedergetroffen habe.«

Nein, ich errate es nicht.

»Er wohnt hier gleich in der Nähe, Rue Oberkampf 104. Und mit ihm gehe ich heute Abend essen.«

Ich errate es immer noch nicht.

»Étienne. Weißt du nicht mehr? Du nanntest ihn immer Hugh Grant. Er ist inzwischen Augenarzt, Oberarzt am Krankenhaus Quinze-Vingt. Ich hab ihn zu deinem Ge­­burtstag eingeladen. Er hat angenommen. Das war doch eine gute Idee, Étienne einzuladen, oder?«

»Kein Problem«, antworte ich, wie ich auch »Ist mir egal« hätte antworten können. Dann fragt sie mich, wen ich denn von mir aus einladen wolle. Außer Abdelmoumen, Marcel, Georges, Lucas, den alten Arthur und Leïla habe ich niemanden auf der Liste.

Ich verblüffe, nerve, ärgere sie.

Während sie sich den Mantel zuknöpft, schimpft sie: »Deine Totengräber und deine Leichenschminker-Freundin, wie nett! So wirst du nie einen Mann finden, liebes Schwesterlein. Lass frischen Wind in dein Leben. Geh unter die Leute. Tu was, verdammt noch mal!«

Es ist kurz vor halb acht. Leïla schickt mir eine SMS voller mit Ausrufungszeichen vermischter Schimpfwörter, um mich daran zu erinnern, dass ich schon eine halbe Stunde zu spät dran bin. Rose streicht sich das Haar zurecht, wir umarmen uns, und sie verlässt das Geschäft, endlich.

Am Ende der Ausstellungshalle, auf der kleinen Terrasse, wo sich im grauen Abendlicht nur noch die beunruhigenden Schatten der Grabsteine und -stelen abzeichnen, sitzt der alte Arthur auf dem Grabstein, auf den er sich seit vielen Jahren jeden Abend setzt, und raucht eine Zigarette. Ich winke ihm aus der Ferne zu und wage mich in den eisigen Wind auf dem Boulevard de Ménilmontant.

4

Leïla zieht sich wütend die beige Wollmütze über die von der Kälte geröteten Ohren und schließt den Reißverschluss ihrer Daunenjacke mit Synthetikpelzverbrämung bis zum Kinn.

»Ich bin so lange vor dem Metroeingang hin und her gegangen, dass mich ein Kerl angesprochen hat, der hat mich tatsächlich für eine Nutte gehalten. Jetzt beeil dich wenigstens, wir kommen noch zu spät.«

»Wohin bringst du mich?«

»Überraschung.«

In großen Sätzen springt sie die Stufen der Metrostation Père-Lachaise hinunter, und ich folge ihr. Sie sieht sich nicht nach mir um, sondern läuft immer schneller, während sie halb auf Arabisch halb auf Französisch vor sich hinschimpft. Sie nimmt ihre Zornausbrüche eigentlich selbst nicht ernst, aber das Schimpfen erleichtert sie. Es ist ihre Gewohnheit, ihr Markenzeichen, da kommt ihre mediterrane Seite zum Vorschein. Wenn sie fertig geflucht hat, lacht sie schallend, in Krämpfen, als würde sie immer wieder von einem nicht zu unterdrückenden Schluckauf gepackt, der sie tiefrot anlaufen lässt. Zorn und Lachen – damit entspannt sie sich nach ihren harten Arbeitstagen. Binnen zehn Jahren hat sich Leïla zur gefragtesten Thanatopraktikerin gemausert. Bei ihr wirken die Toten so lebendig, als wären sie wiederauferstanden. Im letzten Jahr erkor unser Fachblatt Le Magazine funéraire sie zur besten Thanatopraktikerin ihrer Generation. Diesen Titel haben wir gefeiert: freudig, ausgelassen und einsam.

Sie rennt immer schneller. Wir entwerten unsere Tickets und machen einen letzten Sprint, damit wir die Bahn, die gerade in der Station hält, nicht verpassen. Wir steigen in den letzten Wagen und setzen uns nebeneinander. Gegenüber sitzt ein Typ in Anzug mit Weste, der genauso streng wirkt wie meine Arbeitskluft. Er liest sehr konzentriert in Les Échos. Er ist weder schön noch hässlich, weder jung noch alt, weder dick noch dünn. Herr Mustermann in der Metro. Leïla zieht die Mütze vom Kopf und befreit ihre langen dunklen Locken. Eine widerspenstige Strähne fällt ihr in die Stirn. Sie schiebt sie mit dem Handrücken zur Seite. Herr Mustermann hört auf zu lesen. Er ist verwirrt von Leïlas schwarzen Augen, die sie jeden Morgen sorgsam mit einem Kajalstrich auf dem Unterlid betont. Er deutet den Hauch eines Lächelns an und mustert sie begehrlich. Leïla holt genervt Luft, verdreht die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen ist, und stößt die Luft dann hörbar aus. Je mehr Herr Mustermann lächelt, desto trauriger wirkt er, und je trauriger er wirkt, desto weniger macht er her. Leïla flüstert mir ins Ohr, sie werde gleich ihre Anti-Anbagger-Waffe ziehen, wenn er nicht aufhöre, sie wie ein Pferdehändler zu begutachten. Herr Mustermann lässt nicht locker. Leïla zieht die Handschuhe aus und zeigt mir drei Finger ihrer rechten Hand. Ich nicke bewundernd.

»Drei. Alle Achtung.«

»Der Letzte war ein Transvestit, den sie letzte Nacht im Bois de Boulogne aufgelesen haben. Sein Gesicht war mit dem Cutter zerhackt. Das war mir für heute Abend zu viel Arbeit. Ich hab ihn wieder in die Kühlung getan. Ich kümmer mich morgen um ihn.«

Herr Mustermann beugt sich diskret – glaubt er wenigstens – vor, um besser lauschen zu können. Die Falle schnappt zu. Leïla jubiliert. Ihre erste Leiche habe sie morgens um zehn im Krankenhaus Saint-Antoine in Angriff genommen. Ein Motorradfahrer im besten Alter, noch am Unfallort auf dem Place Colonel-Fabien verstorben. Sein Helm sei beim Aufprall geplatzt. Also: Schädel eingedrückt, Kiefer gebrochen, von der Nase nicht mehr viel übrig. Nicht wiederzuerkennen. Ein Graus. Die Familie habe ihr ein Foto bringen müssen, sonst hätte sie ihm sein mensch­liches Aussehen nicht zurückgeben können. Danach sei sie ins zwölfte Arrondissement gerast, um einen Alten aufzuhübschen, den man tot in seinem Bett gefunden habe. Der Gerichtsmediziner habe gemeint, er sei schon drei Tage tot gewesen. Ein Kopf wie eine faulige Orange, und dann habe er sich auch noch entleert, als sie ihn bearbeitet habe. Sie habe den Anus mit einer Wattekugel zustopfen müssen, um den weiteren Austritt von Fäkalien zu verhindern. Herr Mustermann wird blass, fast schon grün, ich kann es im funzeligen Licht der Metro nicht genau unterscheiden. Sein Augenzwinkern, der auf- und abschnellende Adamsapfel und die zitternden Hände verraten seine Angst vor dem Tod.

Leïla, die keine fünf Minuten Zeit für ein Mittagessen gehabt hat, zieht einen Apfel aus der Tasche ihrer Daunenjacke und beißt mit gesundem Appetit hinein, bevor sie fragt: »Na, und du? Wie viele Beerdigungen hattest du heute?«

Ich klappe nacheinander Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger und kleinen Finger aus.

Leïla hebt anerkennend den Daumen, doch dann sagt sie einschränkend: »Andererseits sollten wir uns nichts drauf einbilden, der Winter ist schließlich unsere Hauptsaison.«

Herr Mustermann verschanzt sich hinter seiner Zeitung, um dem Blick von Leïlas schwarzen Augen zu entgehen.

Wir steigen am Gare du Nord in einen RER-Zug um und fahren bis zur Station Halles.

5

Es ist kalt und nieselig, es schneidet in die Wangen, und ich spüre, wie die Feuchtigkeit durch meinen Mantel dringt. Mit großen Schritten laufen wir zwischen den schlecht geparkten Autos durch die Gassen des Montorgueil-Viertels. An der Rue Montmartre bleibe ich stehen. Ich habe es satt, ihr immer weiter nachzulaufen. Ich will jetzt von ihr wissen, wohin wir gehen.

Leïla dreht sich zu mir um und nimmt meine Hand. Sie strahlt plötzlich, als sie sagt: »Wir sind fast da. Beeil dich, bald ist der verkaufsoffene Abend vorbei.«

Wir biegen nach rechts in die Rue Jean-Jacques-Rousseau ein, und nach wenigen Metern stehen wir vor Louboutin, dem bekannten Luxus-Schuhdesigner.

Leïlas Lächeln wird noch strahlender. »Hier ist meine Überraschung. Du suchst dir ein Paar Schuhe aus. Das ist mein Geburtstagsgeschenk.«

Ich bin gerührt, sie hat mich mitten ins Herz getroffen, aber vor allem ist es mir ein bisschen peinlich, ich wage nicht zu sagen, dass mir mein Dreißigster vollkommen egal ist. Ich möchte ihr sagen, wie viel lieber ich mit ihr zusammen zu Abend essen würde, wir zwei Junggesellinnen, wie wir es schon so oft getan haben. Mir fehlen die Worte, schließlich sage ich mit beschämt gesenktem Blick: »Du bist verrückt. Das darfst du nicht machen. Das kostet dich …«

»Vier Leichen. Was sind schon vier Leichen für die beste Freundin?«

Ich ziehe ihr die Mütze über die halb entblößten Ohren und küsse sie fest auf beide Wangen. Sie wird rot, dann öffnet sie die Tür zum Geschäft.

An diesem verkaufsoffenen Abend herrscht Gedränge. Ein vom Schlussverkauf erhitztes und aufgereizt schnatterndes Gedränge Gutverdienender. Leïla macht sich auf die Suche nach einer Verkäuferin und kommt mit einem winzigen jungen Mädchen mit blitzenden Augen zurück, das wie ein quirliges Mäuschen wirkt – das Kleid, die Lebhaftigkeit, einfach alles. Ich setze mich auf einen gelb und schwarz gestreiften Sessel, der einem afrikanischen Herrscher zur Ehre gereicht hätte, und ziehe meine Schuhe aus. Die Verkäuferin mustert meine Füße und empfiehlt mir zwei Modelle, die Maudissima, weil ich die Fesseln einer Tänzerin hätte, und die Pigalle, zehn Zentimeter hohe Stilettos in festlich schwarzem Lack.

Mit einem Schlag vergesse ich meine dreißig Jahre und den Geburtstag. Ich bestaune das Paar Pigalle wie ein Kind. Das Stelzenartige daran weckt Domina-Instinkte in mir. Ich schlüpfe in den einen, dann gleich in den anderen Schuh.

Die Verkäuferin kniet sich hin, tastet durch das Leder nach meinem großen Zeh und nickt dann zustimmend, die Schuhe seien wie für mich gemacht. Dann raunt sie mir vertraulich zu: »Wissen Sie, Madame, das ist das Lieblingsmodell von Königin Rania von Jordanien und von Jennifer, der Sängerin.«

Ich stolziere über den Teppich, der im selben Rot gehalten ist wie die Schuhsohlen, mache leicht schlingernd ein paar Schritte rückwärts, dann eine Pirouette und frage Leïla: »Na, wie findest du sie?«

»Mir persönlich gefallen die Maudissima besser. Man kann sie sowohl zu schicken als auch zu lässigen Sachen tragen, wohingegen die Pigalle einen sehr passenden Namen haben. Das soll natürlich nichts heißen, aber dieser schwarze Lack und die hohen Stiletto-Absätze, das wirkt ein bisschen … Na ja, du verstehst.«