Wenn unsere Träume Tango tanzen - Akli Tadjer - E-Book

Wenn unsere Träume Tango tanzen E-Book

Akli Tadjer

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Beschreibung

»Beim Tango ist es wie im Leben – man kann seinem Partner nur dann blind vertrauen, wenn man ihn liebt ...«

Suzanne wohnt in einer kleinen Wohnung über den Dächern von Paris. Sie lebt sehr zurückgezogen – und nur für den Tanz wie ihre Mutter, die einst die berühmte Königin des Tangos war, bis sie bei einem Brand ums Leben kam und Suzanne allein zurückließ. Wenn sie keinen Tangounterricht gibt, besucht Suzanne jeden Tag einen alten Freund ihrer Mutter, der ihr von früher, von Leidenschaft, tanzenden Paaren und der Magie der Musik erzählt. Das sind die einzigen glücklichen Momente in ihrem Leben, bis sie eines Tages von einem Mann angerempelt wird, der gerade zu fliehen scheint – und ihr den Boden unter den Füßen raubt. Es ist Yan, seines Zeichens Dieb – und leidenschaftlicher Tänzer …

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Seitenzahl: 299

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Buch

Suzanne wohnt in einer kleinen Wohnung über den Dächern von Paris. Sie lebt sehr zurückgezogen – und nur für den Tanz wie ihre Mutter, die einst die berühmte Königin des Tangos war, bis sie bei einem Brand ums Leben kam und Suzanne allein zurückließ. Wenn sie keinen Tangounterricht gibt, besucht Suzanne jeden Tag einen alten Freund ihrer Mutter, der ihr von früher, von Leidenschaft, tanzenden Paaren und der Magie der Musik erzählt. Das sind die einzigen glück­lichen Momente in ihrem Leben, bis sie eines Tages von einem Mann angerempelt wird, der gerade zu fliehen scheint – und ihr den Boden unter den Füßen raubt. Es ist Yan, seines Zeichens Dieb – und leidenschaft­licher Tänzer …

Autor

Akli Tadjer ist 1954 in Paris geboren und hat dort Journalismus studiert. Er hat bereits neun Romane geschrieben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Zwei wurden in Frankreich verfilmt.

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Akli Tadjer

Wenn unsere Träume Tango tanzen

Roman

Deutsch von Doris Heinemann

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »La Reine du tango« bei JCLattès, Paris.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Editions Jean-Claude Lattès

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

ED · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-20623-9V001www.blanvalet.de

Lieber lichterloh brennen alslangsam verlöschen.

Kurt Cobain

1

Noch drei Stationen – ich bin schon wieder zu spät dran, genau wie letzte Woche. Immer hänge ich zu lange bei Diego herum. Viel zu lange. Wenn er mich beim nächsten Mal in die Arme schließt, als wollte er mich ersticken, und mich in ein paar Tanzschritte rings um sein Bett zieht, während er mit seiner vor Erschöpfung heiseren Stimme »Mi solo refugio« singt, oder mich schon wieder zu einer Runde in den Park einlädt, um mit mir die Sonnenstrahlen am Himmel über La Cerisaie zu zählen, lasse ich mich nicht mehr herumkriegen.

Jaurès.

Die Metro verlässt die Tiefen des Boulevard de La Villette und verwandelt sich unter Eisengeratter und dem Quietschen der Räder auf den Schienen in eine Hochbahn. Menschen drängen sich an meinen Bauch und meinen Rücken, es stinkt nach Schweiß, Shit und ranzigem Fett – und bei diesem von übelkeiterregenden Ausdünstungen begleiteten Radau senkt sich der Abendnebel über das schwarze Wasser des Canal de l’Ourcq.

Die knallvolle Metro fährt stockend an. Ich werde hin und her geschüttelt zwischen einem riesigen Schwarzen mit rotem Fes und einer alten Chinesin mit fettigem Haar, die mir in den Nacken gähnt. Mein Handy piept, ich greife in meine Handtasche und ziehe es heraus. Zwei SMS, eine von Irène, die sich besorgt erkundigt, ob der Kurs weiter stattfindet, und eine von Benoît, der sich über meine häufigen Verspätungen beschwert, seine Nachricht endet mit einem Ausrufezeichen und einem schmollenden Smiley.

Stalingrad.

Man rempelt mich zur Seite, um auszusteigen, dann rempelt man mich zur Seite, um einzusteigen. Aus den Lautsprechern im Waggon dringt die drohende Stimme des Fahrers, er werde nicht weiterfahren, solange das automatische Schließen der Türen behindert werde. Versprochen, ja, ich schwöre es, selbst wenn Diego mein Handgelenk mit seinen von der Arthrose verkrümmten Fingern festhält, wenn er wieder und wieder behauptet, ich sei die hübscheste Tanguera seit der Tangokönigin, von jetzt an werde ich La Cerisaie pünktlich verlassen.

La Chapelle.

Alle drängeln beim Aussteigen. Die Rolltreppe ist ka­­putt. Die normale Treppe verstopft. Die Taschendiebe sind emsig bei der Arbeit. Ich bahne mir mit den Ellbogen einen Weg durch diese kompakte Menge, in der ich außer Französisch noch Arabisch, Chinesisch, afrikanische Dialekte und das Argot der Banlieue höre.

Draußen nässt feiner Regen mein Gesicht, Tropfen rinnen mir übers Haar und in den Nacken bis hinunter zwischen die Schulterblätter. Ich schlängele mich zwischen den Autos, Motorrollern und Bussen hindurch, die im großen Stau feststecken. Endlich stehe ich an der Ecke Rue Fleury und Boulevard Barbès vor dem Centre Barbara.

Hinter dem Empfangstresen lächelt mir Diakité zu, als er mich so triefnass und mit wirrem Haar eintreten sieht. Er zeigt auf seine dicke Rapperuhr, eine billige Kopie, und sagt, ich sei eine Viertelstunde zu spät dran, da oben werde schon gemeckert.

Treppe? Aufzug?

Treppe.

Indem ich immer drei Stufen auf einmal nehme, hetze ich in die vierte Etage dieses Glas- und Aluminiumbaus. Die Tür zu meinem Unterrichtsraum steht weit offen. Auf den ersten Blick sind es heute Abend kaum mehr als ein Dutzend. Einige schwatzen, andere üben vor den großen Wandspiegeln ihre Schritte; in einer Ecke schmusen Christophe und Cécilia. Ich husche in den Umkleideraum am Ende des Gangs, von dem noch andere Übungsräume abgehen: Stepptanz, Salsa, Zouk, Rock, Zumba. Es gibt wahrhaftig genug Auswahl im Centre Barbara.

Mantel, Schal, Pulli, Schuhe – hastig ziehe ich alles aus, werfe es in den Spind, fluche dabei auf die jagende Zeit, auf mich, auf Diego und schwöre zum x-ten Mal, dass er mich nicht wieder drankriegt.

Ich hole Zero Hour, meine Astor-CD, und die schwarzen Tanzschuhe aus meiner Tasche, ziehe meine weiße Bluse an und knöpfe sie bis zum Brustansatz zu. Dann versuche ich, mein Haar mit dem Handtuch, das ich immer dabeihabe, trocken zu rubbeln und binde es mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Prüfend blicke ich in den Spiegel meiner Puderdose: Ich sehe scheußlich aus. Die Augen sind gerötet, und ich habe tiefe braune Augenringe. Als hätte ich die ganze Nacht mit der Clique im Maquereau Nostalgique, im »Nostalgischen Luden«, gefeiert. Was nicht einmal ganz falsch ist, ich habe dort bis zwei Uhr morgens mit Nina herumgehangen.

Ich suche in der Tasche nach meiner Foundation, um wenigstens die Augenringe zu kaschieren, die mich mindestens zehn Jahre älter aussehen lassen, doch als ich die eher unfreund­lichen Stimmen aus dem Übungsraum hö­­re, gebe ich auf.

Ein ungeduldiges »Ah!« empfängt mich. Ich schütze einen Unfall bei der Metro vor: Selbstmord in der Station Laumière. Letzte Woche habe ich einen Blitzstreik der Sicherheitsleute in der Linie 5 erfunden. Vor drei Wochen waren mir angeblich meine Schlüssel durch ein Kanalgitter gefallen. Mein ausweichender Blick und die Art, wie ich hinter dem Rücken die Hände knete, verraten meine Lügen. Sie tun nicht einmal mehr so, als würden sie mir glauben, inzwischen gehe ich ihnen nur noch auf die Nerven.

Ich ziehe meine schwarzen Tanzschuhe an, zupfe die Bluse zurecht, gehe, als wäre nichts gewesen, mitten in den Raum und sage: »So, wir haben genug Zeit vergeudet, jetzt wird getanzt.«

Irène und Patrick kommen schon seit letztem Jahr regelmäßig in meine Kurse, doch alle anderen haben sich gerade erst vom Fieber des argentinischen Tangos anstecken lassen, sie sind Novizen und etwa in meinem Alter, Anfang dreißig. Einige sind schon als Paar gekommen wie Benoît und Anne, die Geschäftsführer des Tiefkühlkostladens, der nur hundert Meter vom Centre Barbara entfernt liegt, oder Elsa, eine quirlige Brünette, und ihr Lebensgefährte Pierre, dessen Besonderheit darin besteht, dass er keine hat. Er gleicht Herrn Mustermann, nur ist er noch mehr ein Allerweltsmensch – was, wenn man es recht bedenkt, dann doch wieder eine Besonderheit ist. Manche sind einzeln gekommen und haben sich entsprechend ihren Neigungen zu Paaren gefunden, wie Christophe, die männ­liche Schönheit, der die meiste Zeit in die Spiegel sieht, und Cécilia, die weib­liche Schönheit vom skandinavischen Typ, die mit ihren Miniröcken, den grellen Strumpfhosen und den roten High Heels verdammt sexy ist. Der Einzige, der nie nach einem Partner gesucht hat, ist Jérémy, ein großer, schlanker – für seine Größe zu schlanker – Student mit schulterlangem rotem Haar und dandyhafter Kleidung. Er hält immer Distanz zur Gruppe, sodass häufig ich diejenige bin, die mit ihm tanzt. Und dann habe ich noch Schüler, die sich zu Beginn des Kurses angemeldet haben und sicher mal am Unterricht teilnehmen, sobald sie Zeit dazu haben.

Ich komme an Benoît und Anne vorbei und begrüße sie mit einem Nicken. Sie zucken mit den Schultern und sehen auf die Uhr, die über dem Regal mit der Stereoanlage hängt.

Heute Abend kümmern wir uns noch einmal um die Grundlagen. Wir werden den Abrazo üben. Zunächst zeige ich ihn ohne Musik, damit wir uns auf die Übung konzentrieren können. Mit herausgedrückter Brust und erhobenem Kinn, die Schultern und Ellbogen schön locker, umarme ich einen imaginären Partner und führe ihn mit dem Oberkörper. Nie mit den Armen. Nie mit den Händen. Alles kommt von innen. Ich drehe mich mehrmals um mich selbst, damit mich alle sehen können, dann fange ich noch einmal ganz langsam an und zerlege die Bewegungen. Schließlich frage ich, ob alle es gesehen, verstanden und sich gut gemerkt haben.

Alle nicken, manche entschieden, andere eher vage, einige senken nur die Lider. Bevor sie auf die Tanzfläche kommen, erinnere ich sie daran, dass der Tango der Tanz der Leidenschaft ist und dass ich in ihren Augen den Funken, die Flamme und den verheerenden Brand sehen will.

Elsa und Pierre versuchen es als Erste, doch es geht schnell schief. Sie ist nicht die Achse des Paars. Klar, er lädt ihr ja auch sein gesamtes Gewicht auf. Ich korrigiere ihre Haltung. Sophie, die Schüchterne in der Gruppe, und ihr Liebster, Jean, ein Koloss mit der Statur einer Frittenbude, bekommen es besser hin. Benoît schimpft mit Anne, die blass wird, schwankt und ihr letztes bisschen Selbstbewusstsein verliert. Für die anderen ist es ein Augenschmaus, kommentiert mit unterdrücktem Lachen und vielsagenden Knieberührungen.

Ich bitte um Ruhe und zeige mit dem Finger auf Jéré­­my, der allein vor einem Spiegel übt. Er mag es nicht, wenn er mit mir tanzen muss. Er hat Angst, sich lächerlich zu machen, aber er weiß, wenn er es ablehnt, diese Figur mit mir vorzuführen, macht er sich noch lächer­licher. Also kommt er etwa so schwungvoll auf mich zu, wie ein Verurteilter zum Schafott geht. Ich lege die CD ein und drücke auf die Play-Taste.

Bei den ersten Tönen nehme ich ihn in die Arme. Seine Rippen ziehen sich zusammen, es ist der Druck meiner Brüste auf seinen knochigen Oberkörper, der ihn stört, das spüre ich. Er verkrampft seine schlanken Finger an meiner Taille, löst den Körper von meinem und dreht den Kopf weg, um meinem Blick nicht zu begegnen. Ich ziehe ihn wieder an mich und flüstere ihm zu: »Ganz ruhig, Jérémy. Mach einfach mit. Ich kümmere mich um alles.«

Nach einigen verqueren Schritten gibt er sich endlich hin, ich führe ihn wie ein Kind, und er folgt meinen Schritten. Wir sind synchron.

Ich danke ihm, entlasse ihn wieder in sein Einzeltänzerschicksal und gehe dann zwischen meinen Schülern umher. Bei den Begabtesten recke ich zustimmend die Daumen, ich korrigiere Elsas Haltung, Pierres mangeln­de Geschmeidigkeit, Patricks Schultern, richte die Achse des Paars Benoît-Anne auf und hebe Irènes Kinn. Albert, ein frischgebackener Rentner voller Ticks und Nervosität, der nie seine Ganovenkappe absetzt, ist der Unbeholfenste in der Gruppe. Ich würde ihn gern besser voranbringen, damit seine Frau Hortense, eine Bohnenstange mit Glotzaugen, ihn nicht immer verspottet, doch es gelingt mir nicht. Er ist tollpatschig, unkonzentriert und selten im Takt. Ich glaube, der Tango ist ihm ziemlich egal. Christophe und Cécilia hingegen setzen meine An­­weisungen genauestens um. Ihre Körper sind sich sehr nah, ihre Münder suchen sich, und in ihren Augen sehe ich den Funken und die Flamme. Der verheerende Brand wird nicht lange auf sich warten lassen. Jetzt, wo alle in Bewegung sind, kommt die halbe Stunde Improvisation, denn der Tango ist nicht nur der Tanz der Leidenschaft, sondern vor allem der Tanz des Erahnens. Man muss die Gedanken seines Partners lesen können, weil die Schritte keiner vorhersehbaren Anordnung folgen. Sie sind der Fantasie desjenigen überlassen, der führt: Und darin liegt die ganze Magie des Tangos.

Seit meine Kurse Anfang September wieder laufen, kommen wir gut voran, jeder nach seinen Möglichkeiten natürlich, doch diesmal habe ich Glück, weil in der Gruppe ein echter Teamgeist herrscht. Wenn sie bis Mitte Dezember so eifrig mitmachen, kann ich allen außer Albert noch ein paar Figuren beibringen, mit denen sie dann auf den Silvesterbällen glänzen können.

Albert hält es nicht mehr aus, so zu tun als ob, er nutzt die Pause zwischen zwei Stücken, um eine rauchen zu gehen. Hortense bleibt allein zurück, linkisch steht die Arme mitten auf der Tanzfläche. Ich drücke ihr Jérémy in die Arme und lehne mich dann an die Wand, um meinen Mikrokosmos durch den Raum kreisen zu sehen.

Wenn ich mich von Astors Musik wiegen lasse, könnte ich ihnen ewig zuschauen, glaube ich. Seine Rhythmuswechsel reißen mich in einen Wirbel von Empfindungen just in dem Moment, in dem ich denke, dass sein Bandoneon mich in den Abgrund des Kitsches zieht. Es ist tragisch, verstörend, es zerreißt mir jedes Mal das Herz, aber es ist nie abgeschmackt oder larmoyant.

Wie mein Leben.

Dann sind die Lieder auf der CD vorbei. Die halbe Stunde Improvisation hat vierzig Minuten gedauert. Alle bleiben stehen, trunken, betäubt und glücklich, weil sie so lange getanzt gehaben. Jetzt ist es Zeit, sich für heute zu trennen. Zum Abschied geben wir uns ein Wangenküsschen, schütteln uns die Hand oder nicken nur kurz, je nachdem.

Pierre und Elsa, die meine Kurse trotz meines ewigen Zuspätkommens toll finden, verkünden dies laut. Cécilia und Christophe stimmen in das Lob ein, dann bedanken sich auch Jean, Sophie und Jérémy bei mir. Alle reden mir zu, ich solle noch mit ihnen auf ein Glas ins Les Marins d’Eau Douce, die Tapasbar am Quai de la Loire gehen, um den Abend schön ausklingen zu lassen. Diakité erscheint im Türrahmen, in fünf Minuten sollen wir weg sein, dann schaltet er die Lichter aus, schließt die Eingangstür ab und aktiviert die Alarmanlage. Alle reden weiter, als hätten sie ihn nicht gesehen, sie nehmen diese Drohung, die er jedes Mal ausstößt, wenn ich die Zeit überziehe, nicht mehr ernst.

Ich gehe in den Umkleideraum, packe meine Sachen in die Tasche und ziehe mich wieder an. Ich bin erschöpft und gähne so heftig, dass mir die Wimperntusche verläuft.

Eine ordent­liche Mütze Schlaf, die bräuchte ich, um wieder in Form zu kommen.

Nur eine Nacht gut schlafen.

2

Auf meinem Handy ist es ein Uhr morgens. Es ist stockfinster, ich liege mit weit offenen Augen im Bett und finde keinen Schlaf. Wenn ich nach Mitternacht Alkohol trinke, regt mich das zu sehr an. Wäre ich doch nur nicht mit ihnen ins Les Marins d’Eau Douce gegangen. Ich hätte, wie vorgesehen, nach Hause gehen sollen, doch sie haben mich so gedrängt – »nur ein Glas zur Gesellschaft, Suzanne, nur einen einzigen Drink« –, dass ich nicht widerstehen konnte. Erst einen, dann zwei, und dann ließ ich mich zu einem dritten Mojito hinreißen.

Christophe, ganz euphorisch vom Alkohol, bat mich, ihm Tangolokale in Paris zu empfehlen. Er wolle am Samstag mit Cécilia ausgehen, denn sie fühlten sich inzwischen sicher genug, um sich auf die Piste zu wagen. Ich nannte ihm einige Namen von öffent­lichen Tanzklubs im Pigalle- und Bastilleviertel und dann noch einen in der Rue de la Contrescarpe, doch ich hütete mich, ihm vom Maquereau Nostalgique zu erzählen.

Um Mitternacht nutzte ich Jérémys Aufbruch und schloss mich ihm an, weil ich mich ein bisschen überflüssig fühlte und auch ein wenig neidisch war, als ich sie so paarweise dasitzen und Pläne schmieden sah.

Seite an Seite liefen wir durch die kalte feuchte Nacht am Quai de la Loire entlang. Am Pont de Crimée kam uns ein eng umschlungenes Liebespaar entgegen. Automatisch hakte ich mich bei Jérémy ein, und wir gingen auf den großen Boulevard zu, jeder in sein Schweigen versunken. An der Schleuse Saint-Martin blieb er stehen, strich sich mit dem Daumen eine Strähne aus der Stirn und sagte ernst, er finde mich nett, aber er liebe keine Frauen. Ich antwortete ihm, das hätte ich mir schon in der ersten Unterrichtsstunde gedacht. Er schlug den Kragen seines Regenmantels hoch, gab mir zwei Wangenküsschen, und dann gingen wir auseinander wie Fremde.

Ich lief noch ein Stück über den Boulevard, um mein Kopfweh zu lindern, und nahm an der Station Jaurès die Metro. Kaum hatten sich die Türen geschlossen, klingelte mein Handy. Es war Nina. Sie war im Maquereau Nos­talgique und wollte sich mit mir treffen, um sich von mir trösten zu lassen. Sie sprach schnell und aufgeregt, brachte die Sätze nicht zu Ende, doch das immerhin verstand ich: Ihre Beziehung mit Mamadou wurde immer schwieriger, seit sie ihm angekündigt hatte, dass sie im Juli am Mundial de Tango in Buenos Aires teilnehmen wolle. Das sei doch Unsinn, sagte ich, sie hätte mir doch schon an den letzten beiden Abenden davon erzählt. Dann war das Netz weg. Ich rief zurück und geriet an die Mailbox. Ich sagte ihr, heute Abend solle sie mich bitte vergessen, ich müsse ins Bett.

Ich liege unter meiner Decke und friere. Kälteschauer laufen mir über die Brust, die Arme und sogar über das Kreuz. Wenn ich nicht schlafen kann, schalte ich normalerweise mein kleines Radio an, drücke wahllos auf eine Taste und lasse mich von einer Melodie, einem Refrain oder einem Text wiegen, doch heute Nacht bin ich so aufgeregt, dass das kleine Radio mir nichts nützen wird. Ich stehe auf, um das Heizkörperventil weiter aufzudrehen, obwohl ich genau weiß, dass es nicht diese Art Wärme ist, die mir fehlt. Schon seit drei Monaten war ich mit keinem Mann mehr zusammen. Nein, bei genauerer Zählung sind es vier Monate, und wir haben uns nicht geliebt. Es war nur ein One-Night-Stand. So etwas mache ich manchmal, wenn mich die Einsamkeit zu sehr schmerzt. Es war mit einem Kerl, dem ich in der Lux Bar begegnet war, dem kleinen Bistro in der Rue Lepic. Er saß am Nachbartisch und versuchte, mich anzubaggern. Auf eher nette Weise. So nach Art des bürger­lichen Bohemiens. Er siezte mich, obwohl er etwa in meinem Alter sein musste, und zitierte Verse von Baudelaire, die mich zu so später Stunde bezauberten. Er hatte kleine runde Augen und wirkte traurig. Wenn er lächelte, war es noch schlimmer. Ich hatte den Eindruck, er würde gleich losheulen. Er hieß Astor und fand seinen Vornamen alt­modisch und lächerlich. Ich sagte ihm, ich hätte als Kind einen Astor gekannt. Er rückte seinen Stuhl zu mir an den Tisch, um meinen Vornamen zu erfahren. Als ich ihm sagte, ich hieße Suzanne, verzog er das Gesicht: Er fand meinen Vornamen genauso altmodisch und lächerlich wie seinen. Er schlug vor, noch ein bisschen gemeinsam spazieren zu gehen, bevor wir uns trennten. Ich war einverstanden. Als wir vor meinem Haus ankamen, sagte er, ich sei der erste Mensch gewesen, mit dem er an diesem Tag gesprochen habe. Dann sah er an dem Wohnhaus hoch und fügte hinzu, es wäre doch ein schöner Ort, um die Nacht zu beenden. Dabei war an ihm nichts, was mir gefiel. Er sah weder gut noch schlecht aus. Er war nur irgendein Kerl, den ich aufgegabelt hatte, um ein wenig Wärme in meine Einsamkeit zu bringen.

Als ich aufwachte, war er weg. Und das war auch gut so. Ich mag die Morgenkuscheleien genauso wenig wie das »Gut geschlafen, Schatz? Möchtest du Butter oder Marmelade auf dein Brot?«. Schlimmer noch ist für mich der Geruch nach kalt gewordenem Schweiß, den ein Kerl hinterlässt, nachdem er sich an meinen Körper festgesaugt hat. Deshalb habe ich so meine Schwierigkeiten mit den Männern, und deshalb kann ich keinen halten.

Im Augenblick drohe ich zu ersticken. Ich stehe auf, drehe die Heizung wieder herunter und kehre ins Bett zurück. Fast zwei Uhr. Ich muss Leere in meinem Kopf schaffen, sonst wird das eine schlaflose Nacht. Je heftiger ich mich bemühe, an nichts zu denken, desto wirrer wird das Treiben in meinem Kopf. Die Bilder und Fotos überlagern sich. Fotos von Landschaften, die mir nicht viel sagen, und Fotos, auf denen ich noch ein Kind bin. Ich möchte eins festhalten, doch sie huschen zu schnell vorbei.

Irgendwann muss ich das alles während meiner schlaflosen Nächte schön ordentlich in ein großes leeres Heft schreiben. Das würde mir guttun. Das würde mich von all diesem Chaos in meinem Kopf befreien.

Ein Foto, endlich kann ich eins festhalten. Ich muss etwa sechs oder sieben Jahre alt sein, nicht älter. Ich trage ein rosa Nachthemd mit blauen Blümchen und halte die Arme an den Körper gepresst, als wollte ich strammstehen. An den Füßen habe ich orangefarbene Pantoffeln, auf die Homer Simpsons Wasserkopf aufgeflockt ist. Und ich habe ziemlich kurz geschnittenes Haar, über der Stirn und im Nacken knapp und gerade abgeschnitten, sodass meine vollen Wangen zur Geltung kommen. Ich lächele nicht. Doch ich wirke nicht etwa traurig oder ängstlich – eher resigniert.

Ja, das ist es, ich bin resigniert.

Wahrscheinlich weil ich weiß, dass mich meine Mutter in diesem großen Schlafzimmer bald allein lassen wird.

Ich schließe sacht die Lider, mein Kopfweh verwandelt sich in sanften Schwindel. Es ist berauschend. Das Foto wird langsam lebendig. Ich bin in einem Hotel, Le Normandy in Deauville. Ich kann mich nicht täuschen, der Name prangt auf dem Porzellanaschenbecher, der auf dem Tischchen neben der Bar steht. Er ziert auch die Briefumschläge und den Briefblock, die auf einem der Nachttische liegen.

Ich mache einen Rundgang durch das Zimmer. An der dunkelblauen Wand gegenüber dem Bett hängt ein kleines Bild in einem verschnörkelten goldenen Rahmen: Unter einem grauen Himmel ein tosendes graues Meer, auf dem ein Schoner gegen die riesigen Wogen kämpft. Das Bild wirkt so lebensecht, dass ich den Wind in den Segeln knattern und die Wellen gegen den Schiffsrumpf klatschen höre. Ich bleibe einen Moment stehen, um den bevorstehenden Schiffbruch zu betrachten, und gehe dann, weil doch nichts passiert, zum Fenster und öffne es. Draußen bietet sich mir ein ganz anderer Anblick. Ein fried­liches Meer mit tintenblauen Reflexen, die unablässig gegen den menschenleeren Strand schlagende Brandung und in der Ferne zwei müde Frachter, die unter dem von tausend Sternen funkelnden Himmel ankern. Ich atme die Seeluft so tief ein, dass ich Herzklopfen davon bekomme. Dann schließe ich das Fenster wieder und setze meinen Erkundungsgang fort; im Vorraum bleibe ich stehen. Ich baue mich vor dem Garderobenspiegel auf, stemme die Fäuste in die Hüften und kneife die dunklen kleinen Augen zusammen. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, lasse es jedoch sofort wieder sein, weil mir oben zwei Schneidezähne fehlen. Ich setze ein für mein Alter viel zu ernstes Gesicht auf, drücke die Schultern zurück, hebe das Kinn, mache einen Schritt nach vorn, dann noch einen – im Kopf höre ich die ersten Takte von »Libertango«.

Meine Mutter kommt aus dem Badezimmer, sie ist wunderschön, einzigartig, bewundernswürdig, wie bei jeder Vorstellung. Unter ihrem bis zum Oberschenkel geschlitzten roten Seidenkleid trägt sie Netzstrümpfe, und ihre sonnengelbe, strassbesetzte Bluse hat einen weiten Ausschnitt, sodass man ihre helle Haut und die zarten Schlüsselbeine erkennen kann. In der Hand hält sie ihre hochhackigen Lackschuhe mit Riemchen und weiß nicht recht, wohin damit. Schließlich wird sie sie los, indem sie sie mir in die Hände drückt. Sie betrachtet sich im Garderobenspiegel, ihr glänzender roter Lippenstift gibt ihren vollen Lippen einen glamourösen Touch, und der blaue Lidschatten verleiht ihren Mandelaugen etwas Schelmisches.

Ich wirbele herum und beende meine Nummer mit einer zier­lichen Verbeugung nach einer Vierteldrehung, doch sie sieht mich gar nicht. Sie ist ganz auf die Tango­vorstellung konzentriert, die sie gleich im Tanzsaal des Hotels geben wird. Ich summe »Libertango«, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ein völliges Durcheinander mit einem »Olé« an jedem Satzende, um sie zum Lachen zu bringen. Sie hört mich nicht, sie betrachtet sich von vorn, im Profil, im Dreiviertelprofil. Plötzlich verzieht sie das Gesicht. Es ist ihr schwarzes, genau wie meins zu einem Bob geschnittenes Haar, das ihr Kummer bereitet. Eine rebellische Strähne steht am Hinterkopf ab. Sie versucht, sie mit der Handfläche zu glätten, doch vergeblich. Schließlich geht sie ins Badezimmer zurück. Ich höre die Düse der Haarsprayflasche. Sie kommt wieder. Alles ist in Ordnung. Sie streichelt mir nachlässig über die Wange und fragt mich, ob ich sie hübsch finde. Ich reibe die Nase an ihrem Bauch. Ich möchte ihre Gegenwart noch ein paar Minuten genießen dürfen. Ich nehme ihre Hand und will sie nicht mehr loslassen. Es klopft an der Tür, sie öffnet, es ist Manuel. Frisch rasiert, das pomadisierte Haar mit dem sauberen Seitenscheitel ist streng nach hinten gekämmt. Smoking, weißes Hemd und Fliege sind perfekt.

Er zieht an den Manschetten und seufzt ungeduldig.

Ich mag Manuel nicht. Und schäme mich kein bisschen dafür, weil ich weiß, dass er mir genauso wenig Zuneigung entgegenbringt. Dabei habe ich versucht, nett zu ihm zu sein, um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, aber es war vergeb­liche Liebesmüh. Ich mag nichts an ihm. Nicht seinen Mund, der mir Befehle erteilt, wenn Maman nicht da ist. Nicht seine grauen Augen, die sehr blass, fast kränklich sind. Nicht seinen Geruch nach Aftershave, eine Mischung aus Sandelholz und Äther. Nicht seine behaarten spinnengleichen Hände. Ich frage mich, was Maman an ihm findet, wo sie doch schon seit Monaten mit ihm tanzt.

Er legt mir eine Hand an den Nacken. Ich mache mich mit einer Schulterbewegung frei. Er reagiert nicht. Er steckt sich eine Zigarette an und bittet meine Mutter, endlich den Hintern zu schwingen.

Er findet sich witzig, wenn er seine Reden mit Ausdrücken spickt, die er bei den Hotelportiers oder den Rüpeln in den Casinos aufgeschnappt hat. Manchmal lacht meine Mutter darüber, aber ich nie. Auch deshalb verabscheut er mich mit jedem Tag ein bisschen mehr.

Ich weiß noch, im Hôtel du Palais in Biarritz hat er mir eine in den Nacken gegeben, weil ich mir laut gewünscht hatte, dass meine Mutter sich von ihm trennte, um mit Astor fortzugehen. Im Hôtel du Château in Fontainebleau nannte er mich vor der Putzfrau ein kleines Scheißerlein, weil ich vergessen hatte, ganz unten im Klo noch ein paar wenige Spuren zu beseitigen. Das ärgerte mich so sehr, dass ich in Diegos Zimmer floh, um mich trösten zu lassen.

Meine Mutter hat die Spangen ihrer Schuhe geschnürt, jetzt legt sie sich eine rote, mit silbernen Sternen verzierte Satinstola über die Schultern: Sie ist bereit. Sie beugt sich zu mir herab und küsst mich. Nur ein Hauch, ein unechter Kuss. Ich würde sie gern noch ein paar Sekunden zurückhalten, aber ich weiß, es nützt nichts. Sie ist nicht mehr bei mir. Ihr ganzes Denken ist schon auf die Tanzfläche konzentriert.

Ich schließe die Tür hinter ihnen, werfe mich aufs Bett und zappe von einem Zeichentrickkanal zum anderen, um nicht einzuschlafen. Ich möchte wach sein, wenn sie zurückkommt. Sie soll mir von ihren Salidas, ihren Ochos, Sacadas und Abrazos erzählen und davon, wie das Publikum im Normandy der Tangokönigin zugejubelt hat. Danach wird sie mich an sich drücken, und mein Kopf wird an ihrer Brust liegen, während sie mir leise die Legenden der Gassen und Plätze von Buenos Aires erzählt. Das ist gar nicht so weit weg, ich brauche bloß die Augen zu schließen, und schon bin ich auf der anderen Seite des Ozeans. Dann schlafe ich ein, gewiegt von den samtigen Stimmen Gardels oder Carabellis, vom melancholischen Seufzen von Astors Bandoneon und vom Rhythmus ihres Herzschlags. Manchmal kommt sie nicht wieder ins Zimmer herauf, dann weine ich mich in den kalten weißen Betten der Grandhotels allein in den Schlaf.

3

Beim Aufwachen ist meine Haut feucht, mein Mund ausgetrocknet, und ich möchte am liebsten eimerweise Wasser trinken. Ganz sicher hatte ich Albträume. Nach dem Duschen ziehe ich eine Jeans und den leuchtend blauen Kaschmirpulli an, den Nina mir zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hat, mache mir einen starken Kaffee und trinke ihn im Liegestuhl auf meinem kleinen Balkon.

Ich bewohne auf der Butte Montmartre in der Rue Gabrielle Nummer 2 im sechsten Stock eines großbürger­lichen Hauses ein hübsches Apartment, das, behauptet wenigstens die Concierge, früher, zu Beginn seiner Karriere, die Junggesellenbude von François Mitterrand war. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber der Gedanke, dass ein Präsident der Republik in meiner Wohnung seinen Spaß hatte, gefällt mir.

Von hier aus ist Paris eine Ansichtskarte. Im Osten Sacré-Cœur mit der Seilbahn, die wie ein Jo-Jo zu jeder Jahreszeit zwischen dem Fuß des Hügels und dem Kirchplatz pendelt und Touristenscharen ausspuckt. Vor mir ein endloses Meer von Zinkdächern, die manchmal mit dem Grau des Himmels verschmelzen. Und im Westen befindet sich die Rückfront eines Gebäudes aus gehauenem Stein, auf die der Zeichner Ben Vautier einen weißen Schriftzug gemalt hat: Le hasard est partout – der Zufall ist überall.

Und sonst?

Tausend andere Dinge, aber ich bräuchte mehr als nur ein Leben, um sie alle kennenzulernen.

Ich liege mit halb geschlossenen Augen da, die ersten Sonnenstrahlen wärmen mir die Haut, und ich denke an nichts. Ganz langsam lasse ich mich von den Geräuschen der Stadt einholen. Es geht mir gut. Doch leider nicht lange. Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dieser sanften Lethargie. Ich rühre mich nicht. Ich lasse es klingeln. Ich möchte mit niemandem sprechen. Ich möchte einfach nur diesen Augenblick der Ruhe genießen. Ich trinke meinen Kaffee aus, eine Wolkenbank hat sich vor die schöne Morgensonne geschoben. Der Zauber ist gebrochen, widerwillig verlasse ich den Balkon.

Und höre die Mailbox ab. Ein gewisser Gilbert möchte zu Hause Tangounterricht bekommen und erwartet meinen unverzüg­lichen Rückruf.

Eigentlich eine gute Nachricht. Wenn was daraus wird, wäre es ein Segen, denn seit Diego in La Cerisaie ist, habe ich keinen Cent mehr. Am Zwanzigsten des Monats bin ich blank, obwohl ich meine Stunden im Centre Barbara verdoppelt habe.

Ich rufe sofort zurück. Er möchte noch heute anfangen. Ich nenne ihm den Preis – hundert Euro die Stunde –, und er muss husten, doch da er es so eilig hat, Tangotanzen zu lernen, versucht er nicht zu feilschen. Wir vereinbaren einen Termin am späten Nachmittag. Er hat, wie er sich ausdrückt, ein Zeitfenster zwischen siebzehn und achtzehn Uhr.

Ich gebe selten Einzelunterricht. Seit ich überhaupt unterrichte, ist es etwa zehn Mal vorgekommen. Meistens sind es Perverse, Introvertierte oder von der Liebe enttäuschte Reiche, die von den Reizen der Tanguera träumen. Unter all diesen Leuten gab es sogar einen ehemaligen Priester, den ich für eine Reality-TV-Sendung coachen sollte. Er hatte quadratische Füße, brachte den Hintern nicht von der Stelle und roch aus dem Mund wie ein toter Hund. Nach vier Stunden gab ich auf. Ich hatte auch einen alten Junggesellen mit ganz zerknitterter grauer Haut, der sich an meiner Scham rieb, bis er puterrot war, und wenn er kurz davor war zu kommen, ging er auf die Toilette, um dort vermutlich wenig Erbau­liches zu treiben. Zum Glück hatte ich auch sehr schöne Erlebnisse wie mit Léon und Denise, charmanten Eheleuten im Rentenalter, die eine Mittelmeerkreuzfahrt planten, um ihre goldene Hochzeit zu feiern. Ich lehrte sie wieder die Gesten des Tangos, wie sie ihn als Zwanzigjährige auf solchen schwimmenden Palästen getanzt hatten. Einige Wochen später hörte ich von ihnen, in den Fernsehnachrichten. Denise saß mit strähnigem Haar und unter einer Rettungsdecke schlotternd inmitten anderer überlebender Passagiere der Costa Concordia, die auf ein Riff der Insel Giglio gelaufen war. Léon wurde nach dem Unglück vermisst. Ich rief Denise an und hinterließ liebevolle Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter, doch sie hat nie zurückgerufen.

Gilbert wohnt im achtzehnten Arrondissement in der Rue Stephenson Nummer 35 in einem hochabgeschirmten Wohnhaus mit Video-Gegensprechanlage, doppelter Schleuse vor der Eingangshalle und einem Wächter, der einen mit dem Wohlwollen eines Pitbulls mustert.

Dreizehnte, vierzehnte, fünfzehnte Etage, die Fahrstuhl­türen öffnen sich zu einem mit rotem Teppichboden ausgelegten Gang. Meine Eingeweide verkrampfen sich, ich habe Angst, einem Geistesgestörten in die Falle zu gehen. Mit angehaltenem Atem lächle ich, damit mein Gesicht freundlich wirkt, doch die Wohnungstür öffnet sich, noch bevor ich geklingelt habe. Gilbert drückt mir sehr kräftig die Hand und bittet mich, ihm zu folgen.

Der Flur ist vollgestellt mit Kartons und zerlegten Möbeln. Vom Gang gehen ein Schlafzimmer, ein Bad, eine kleine Küche und ein geräumiges, helles leeres Zimmer ab, dessen große Fensterfront Aussicht auf den um diese Zeit völlig verstopften Boulevard périphérique bietet.

Monsieur zieht also gerade ein.

Außerdem hat Monsieur sehr wenig Zeit. Er schlägt mir vor, ihn zu duzen, und zwar gleich, um Zeit zu gewinnen. Im Gegenzug werde er es genauso halten. Klar und eindeutig, es kommt an wie ein Befehl. Ich würde gern ein paar liebenswürdige Sätze mit ihm wechseln, erfahren, woher er meine Telefonnummer hat, was ihn am Tango reizt und warum gerade ich seine Lehrerin sein soll, doch ich bringe kein Wort über die Lippen. Dieser Mann lässt mich erstarren. Dabei sieht er ziemlich gut aus, wenn man für den Charme eines eher kräftigen Mannes Anfang vierzig empfänglich ist, der einen blonden Bürstenhaarschnitt hat und stahlblaue Augen, die zwei Torpedos abzuschießen scheinen, sobald man den Blick zu lange auf seinem Bodybuilderkörper verweilen lässt.

Er zieht ein Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner Jeans, holt zwei Fünfziger heraus und fragt mich, wie viele Stunden man brauche, bis man Tango tanzen könne.

Ich stecke das Geld ein und antworte: »Fünf für die Grundschritte. Der Rest hängt vom Talent ab.«

Er sieht auf seine Armbanduhr und bemerkt, wir hätten schon mindestens fünf Minuten verschwendet, und in Anbetracht meiner Minutenpreise sei Zeit nicht nur Geld, sondern Gold.

Ich bin ganz seiner Meinung.

Ich sage, dass ich, wie immer, wenn ich Anfänger unterrichte, ohne Musik beginne, damit er sich auf jede meiner Bewegungen konzentrieren kann. Er stimmt mit energischem Nicken zu und verschränkt dann die Arme vor dem herausgedrückten Oberkörper.

Lektion eins: die Grundschritte.

Ich kontrolliere meinen Atem, atme tief aus und setze dann, mit rechts beginnend, einen Fuß vor den anderen. Ein langsamer Schritt nach vorn, die Sohlen meiner Tanzschuhe berühren kaum das Parkett, ein zweiter, ebenso leichter, Schritt nach vorn. Ich verharre kurz, dann mache ich nach links einen Schritt seitwärts und hole anschließend den rechten Fuß nach, um dann langsam den Kopf ein wenig in den Nacken sinken zu lassen, damit sich die Schultern öffnen. Ich wiederhole es und zeige es noch ein drittes Mal.

»Okay, Suzanne, kein Problem«, sagt er und fügt selbstbewusst hinzu, das sei ja ein Kinderspiel und wir müssten rasch zur nächsten Stufe übergehen.

Dicht nebeneinander machen wir einen langsamen Schritt nach vorn, einen zweiten, nicht ganz so langsamen, wieder nach vorn und dann einen Schritt zur Seite. Ich bleibe stehen, damit er es allein übt. Seine Füße schleifen über das Parkett. Er macht einen Fehler, fängt neu an. Ein langsamer Schritt, noch einer, er vergisst die Pause vor dem Seitwärtsschritt. Er denkt nach, setzt energisch neu an, vertut sich wieder und fragt mich dann verlegen, was er falsch macht.

Zunächst muss man den Schüler immer loben, so ge­­winnt man sein Vertrauen und vermittelt ihm die Hoffnung, er habe das Zeug zu einem guten Tanguero. Um ihm dann die weniger schönen Wahrheiten ins Gesicht zu sagen, immer noch lächelnd – das ist meine Unterrichtsmethode.

Was mir an ihm gefällt, ist seine unübersehbare Motivation. Was mir missfällt und sofort korrigiert werden muss, ist seine Art, die Gelenke wie ein Panzerknacker rollen zu lassen. Ich sage es ihm.

Er schätzt es nicht besonders, mit einem Kriminellen verg­lichen zu werden. Wenn ich weiterhin frech zu ihm bin, wird er mich ebenso schnell wegschicken, wie er mich engagiert hat. Ich reiße mich zusammen: Er solle versuchen, nicht wie ein Gaucho an die Sache heranzugehen.

Ob ihm das Bild des Rinderhirten in der Pampa besser gefalle?

Er antwortet nicht.

Ich ahme seine schwerfälligen Bewegungen nach und führe es ihm dann noch einmal richtig vor. Er folgt mir, langsam, langsam, Passo, Passo und der Schritt zur Seite. Er fasst Mut und wird schneller.