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Beschreibung

Ständig reden wir vom Patriarchat. Was es verantwortet, zerstört und verhindert. Doch was genau würde sich verändern, wenn tatsächlich Frauen unser Leben regeln? Wäre die Welt eine gerechtere, liebevollere, bessere? In 20 Originalbeiträgen gehen deutschsprachige Autor:innen diesen Fragen auf den Grund und beleuchten mal literarisch, mal essayistisch zahlreiche Lebensbereiche: die Familie, den Beruf, die Erziehung, den Journalismus, aber auch die Namensgebung oder die Superheld:innen in Comics. Die Texte sind hoffnungsvoll, ratlos, sie kehren um, sie überspitzen, überhöhen, sie dekonstruieren, aber sie zeigen in ihrer unglaublichen Bandbreite vor allem eines: Wir befinden uns gerade im Umbruch. Mit Beiträgen von Shida Bazyar, Mareike Fallwickl, Linus Giese, Kübra Gümüşay, Simone Hirth, Gertraud Klemm, Julia Korbik, Miku Sophie Kühmel, Kristof Magnusson, Nicolas Mahler, Barbara Rieger, Emilia Roig, Jaroslav Rudiš, Mithu Sanyal, Tonio Schachinger, Margit Schreiner, Anke Stelling, Sophia Süßmilch, Philipp Winkler und Feridun Zaimoglu.

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Seitenzahl: 262

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INHALT

» Über die Herausgeberin

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ÜBER DIE HERAUSGEBERIN

Tanja Raich wurde 1986 in Meran (Italien) geboren und lebt als Lektorin und Autorin in Wien. Ihr Debütroman Jesolo ist im März 2019 erschienen und wurde für den Österreichischen Buchpreis Debüt 2019 sowie für den Alpha Literaturpreis 2019 nominiert.

ÜBER DAS BUCH

Ständig reden wir von der Herrschaft der Männer. Was sie verantworten, zerstören und verhindern. Doch was genau würde sich verändern, wenn tatsächlich Frauen unser Leben regeln? In 20 Texten wird diese Frage aus den unterschiedlichsten Richtungen beleuchtet. Sie erhellen den Blick auf zahlreiche Lebensbereiche: die Familie, den Beruf, die Erziehung, die Kultur, aber auch die Namensgebung oder die Superheld:innen in Comics. Die Texte sind hoffnungsvoll, ratlos, sie kehren um, sie überspitzen, überhöhen, sie dekonstruieren, aber sie zeigen in ihrer unglaublichen Bandbreite vor allem eines: Wir befinden uns gerade im Umbruch.

TANJA RAICH

VORWORT

Ständig reden wir vom Patriarchat. Was es zerstört hat und weiter verhindert. Wir rufen das Ende aus, immer wieder aufs Neue, doch wir stecken noch zutiefst mittendrin, auch wenn es bröckelt, auch wenn es wankt. Es ist höchste Zeit, sich mit Alternativen zu beschäftigen. Es ist höchste Zeit, über eine Welt zu sprechen, in der Frauen das Sagen haben!

Das Matriarchat wird meist als krasses Gegenteil zum Patriarchat herbeibeschworen: männermordende Amazonen, skrupellose Herrscherinnen, die Männer unterdrücken, im Prinzip ein Mittelalter mit vertauschten Rollen. Oder wir begeben uns in verklärende Utopien, denen zufolge die Lösung all unserer Probleme im Matriarchat läge: Wären Frauen endlich an der Macht, wäre alles anders, alles besser, befänden wir uns im »weiblichen Paradies«. Doch zwischen den Dystopien und Utopien wird oft vergessen, dass es Matriarchate bereits gibt, etwa im chinesischen Mosuo oder im mexikanischen Juchitán, und dass es selbst in der Tierwelt spannende Formen von Geschlechterrollen und des matriarchalen Lebens gibt. Was strukturell gesetzt scheint, was gesellschaftlich als »Normalität« gilt, ist keineswegs naturgemäß oder unveränderlich, wir können alles infrage stellen, die Spielregeln verändern, wir können die Gesellschaft neu arrangieren, wir müssen es nur tun.

Im Wort Matriarchat steckt genauso wie im Patriarchat das Wort archē, ein Wort aus dem Altgriechischen. Es bedeutet Herrschaft, ja, aber es bedeutet auch Anfang, Ursprung und Ursache. Vielleicht könnte es darum gehen, wenn wir über das Matriarchat sprechen: um den Anfang, um Ursachen, um unseren Ursprung, aber vor allem: um den Aufbruch und den Beginn von etwas Neuem.

»Utopien sind keine naiven Spinnereien. Ganz im Gegenteil. Utopien sind die hoffnungsvollen Vorstellungen, die uns in eine bessere, gerechtere Zukunft treiben«, schreibt Emilia Roig. Utopien können Wunschvorstellungen visualisieren, Dystopien unsere Angstvorstellungen realisieren. Beides findet sich in diesem Band, manche Texte gehen weiter, verweigern sich oder stellen Grundsätzliches infrage. Zwanzig Autor:innen haben sich auf diese Reise eingelassen, haben verschiedenste Blickwinkel eingenommen, um über ein mögliches Matriarchat und – damit einhergehend – über unsere Gesellschaft nachzudenken. Wie sehen real existierende matriarchale Gesellschaften aus? Wie ist der Stand der Matriarchatsforschung, und warum hat sich das Matriarchat nicht durchgesetzt? Wie sieht das ganz persönliche Matriarchat aus, wie soll es nicht aussehen, und: Welche anderen Gesellschaftsformen wären jenseits von binären Geschlechtsvorstellungen denkbar? Die Texte sind vielstimmig und aufrüttelnd in ihrer Suche und in ihren Antworten.

Ausgehend von theoretischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in den Texten von Mithu Sanyal, Barbara Rieger und Emilia Roig, führen uns Feridun Zaimoglu, Kübra Gümüşay und Mareike Fallwickl in Szenerien dystopisch-utopischer Auswüchse, mit Philipp Winkler zweigen wir ab zu den Superheld:innen, während Gertraud Klemm uns in die Tierwelt bringt, Simone Hirth sich mit dem Literaturkanon beschäftigt. Wir folgen Tonio Schachinger, Shida Bazyar und Sophia Süßmilch ins ganz persönliche Matriarchat, und schlussendlich bringt uns Linus Giese in sein Queertopia. Die Formen, die die Autor:innen gewählt haben, sind genauso divers wie die Themen, die sie umreißen: Ein Reigen aus Literaturkritiken ist genauso zu finden wie Briefe und Abrechnungsschriften, ein Dramolett und ein Comicstrip. Die Texte sind ratlos, zynisch, hoffnungsvoll, sie kehren um, sie überspitzen, überhöhen, sie dekonstruieren, aber sie zeigen in ihrer unglaublichen Bandbreite vor allem eines: Wir befinden uns gerade im Umbruch.

MITHU SANYAL

WELCHES MATRIARCHAT HÄTTEN SIE DENN GERN?

Vor einer Weile wurde ich von einem Magazin um einen Artikel mit dem Arbeitstitel »Frauen an die Macht! Liegt das Heil im Matriarchat?« gebeten. Das Problem war nur, je länger ich auf den Titel starrte, desto weniger fiel mir dazu ein. Denn in diesem Titel war keine Frage, sondern eine Sehnsucht versteckt. Kleines Logik-Abc: a.) Wäre die Welt ein besserer Ort, wenn Frauen an der Macht wären? b.) In Matriarchaten herrschen Frauen. Also ergibt c.) Wäre die Welt ein besserer Ort, wenn wir im Matriarchat lebten?

Dabei ist die Frage doch: Herrschen in Matriarchaten wirklich die Frauen?

Für Simone de Beauvoir war die Sache klar: »Die Gesellschaft war immer männlich beherrscht.« Damit verwarf sie die Matriarchatsutopien, die durch linke Theorien als Gegenentwurf zum Patriarchat geisterten. Jetzt wäre es natürlich hilfreich zu wissen, wovon wir sprechen, wenn wir von Matriarchaten sprechen, und – da wir gerade dabei sind – warum wir überhaupt davon sprechen.

Angefangen hatte alles mit einem Schweizer, dem Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen, der 1861 seinen Bestseller Das Mutterrecht veröffentlichte. Überraschenderweise verwandte Bachofen darin das Wort Matriarchat kein einziges Mal – es existierte noch gar nicht. Dafür tat er etwas, was bis zu diesem Zeitpunkt in der Altertumsforschung undenkbar gewesen war: Er erklärte, dass die Geschlechterrollen nicht immer so waren wie zu seiner Zeit. Die Menschheit habe vielmehr vier Phasen durchlaufen: zuerst den Hetärismus, in dem alle mit allen Sex hatten, weshalb die Abstammung über die Mütter lief, weil die Männer nicht wussten, welche Kinder von ihnen waren. Doch, so fährt Bachofen fort: »Durch des Mannes Missbrauch entwürdigt, fühlt das Weib die Sehnsucht nach einer gesicherten Stellung und einem reineren Dasein.« Aha?

Anyway, weiter im Text: Deshalb würde das Weib in der zweiten Phase der Menschheit als Amazone gegen den Mann kämpfen, was schließlich die dritte Phase einleitete, die Gynaikokratie oder Frauenherrschaft. Bachofen betrachtete das als eine Art Evolution der Gesellschaftsordnungen, an deren Zielpunkt er die Ablösung des weiblich-stofflichen Prinzips durch das männlich-geistige setzte und damit die Zivilisation. So erstrebenswert er diese vierte Phase auch fand, beschrieb er die Frauenherrschaft dennoch als die erfreulichere Zeit, weil er Frauen für die moralischeren Menschen hielt: mütterlich und nährend und mit einer instinktiven Religiosität.

Bachofens Abhandlung fand enorme Resonanz, am prominentesten in Friedrich Engels Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, das dieser in nur zwei Monaten herunterschrieb und in dem er die Idee der Ursippe entwickelte, die in einer Art Urkommunismus lebte. »Kommunistischer Haushalt bedeutet aber Herrschaft der Weiber im Hause«, führte Engels in völliger Übereinstimmung mit der Geschlechterzuschreibung Frau/Haus und Mann/Öffentlichkeit aus. Und auch Engels kannte nur zwei klar voneinander getrennte, ja sich in gewisser Weise diametral gegenüberstehende Geschlechter. Der paradiesische Zustand der Weiberherrschaft hielt an, bis die Männer mit zunehmender Arbeitsproduktivität das Bedürfnis entwickelten, ihren Besitz an ihre leiblichen Kinder zu vererben, und begannen, die Fruchtbarkeit der Frauen durch die monogame Ehe zu kontrollieren. Ergo die Entstehung von Statusunterschieden, Klassen und schließlich Staaten.

Daran ist eine Menge bemerkenswert, nicht zuletzt, dass auch Engels fest an die höhere weibliche Moral, vor allem Sexualmoral glaubte. Während noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Frauen als das unmoralische Geschlecht galten, auf das alle Übel der Welt zurückgingen, angefangen mit der Vertreibung aus dem Paradies, gab es nun die Vorstellung eines matriarchalen Paradieses vor dem Sündenfall Patriarchat. Die Voraussetzung dafür war, dass in der späten Aufklärung, als sich die reale Stellung der Frauen ihrem Tiefpunkt näherte, ihnen stattdessen eine ideelle Position angeboten wurde: die der Hüterin der moralischen Flamme für den Mann, dessen brillanter Geist oder rohe Körperkraft ihn schon mal auf Abwege führen konnten.

Nun ist jede Forschung durchdrungen von den Ideologien und Vorstellungen ihrer jeweiligen Entstehungszeit, doch bei der Matriarchatsforschung ist das besonders eklatant, da es sich dabei um Vorstellungen von Geschlechter»identitäten« handelt. Der Begriff selbst wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenbegriff zum Patriarchat entwickelt. Patriarch ist ein hoher kirchlicher Amtstitel und setzt sich aus dem griechischen patriā, »Abstammung, Geschlecht« (vergleiche auch patēr, »Vater«) und archē, »Herrschaft« zusammen. Der Stammvater Israels (und des Islams) war der Patriarch Abraham, der seinen Bund mit Gott schloss und daraufhin dessen Offenbarung an die Gemeinde weitergab. Somit konnte nicht einfach jeder in direkten Kontakt zu seinem Gott treten, sondern war auf einen Experten, einen Patriarchen angewiesen. Das Matriarchat als Spiegelbild dazu – mit Frauen in den religiösen und politischen Schlüsselpositionen – unterschied sich nur durch einen als irgendwie mütterlich imaginierten Herrschaftsstil.

Dass es das so nie gegeben hat, ist der einzige Punkt, an dem sich Matriarchatsforscher:innen und Gegner:innen einig sind. Danach wird es spannend. Es ist richtig, dass man ein steinzeitliches Matriarchat mit archäologischen Mitteln weder beweisen noch widerlegen kann – doch gilt das genauso für das Patriarchat. Die berühmten Funde, wie die Venus von Willendorf oder die Göttin auf dem Leopardenthron aus Çatalhöyük, belegen, dass Frauen definitiv eine wichtige Rolle in der symbolischen Ordnung gespielt haben – nur welche? Inzwischen haben wir genügend Skelette von Kriegerinnen, um zu belegen, dass zumindest die mythologischen Amazonen keineswegs mythologisch, sondern sehr real waren. Das einzig Mythische – sprich: frei Erfundene – an ihnen war, dass sie sich eine Brust abschnitten, um besser Bogenschießen zu können. Bogenschießen: ja. Aber beide Brüste da. Doch wir wissen nichts über ihre faktische Macht in den sozialen Verhältnissen, über die wir ebenfalls nahezu nichts wissen. Doch was heißt hier überhaupt Macht? Die bekannteste Definition stammt von Max Weber. Er bezeichnet sie als die »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«. Indes müssen wir gar nicht bis in die Frühgeschichte zurückgehen, um Gesellschaften zu finden, die ein deutlich anderes Verständnis von Macht haben.

Die Minangkabau in Indonesien beispielsweise, die sich selbst als Matriarchat bezeichnen (von niederländisch matriarchaat), sind stolz darauf, dass ihr ungeschriebenes Recht, das jahrtausendealte Adat, die erste wahre Demokratie der Welt darstellt. Mit einem kleinen Unterschied: Wo Demokratie die Herrschaft der Mehrheit ist, basiert das Adat auf der Konsensethik. Das bedeutet eine Menge Diskussionen, denn Entscheidungen werden nur getroffen, wenn alle damit einverstanden sind. Aber auch: Die Fähigkeit, überhaupt über Bedürfnisse und Ansichten zu verhandeln und dabei die Bedürfnisse aller – und nicht nur die der Mehrheit – zu berücksichtigen. Da die Minangkabau mit mehreren Millionen Menschen die größte nicht-patriarchale Gruppe der Welt sind, geschieht dies über ein ausgeklügeltes System von regionalen und nationalen Räten in einem unglaublich aufwendigen und keineswegs immer friedlichen Prozess. Jedoch wird das Ergebnis dieser Verhandlungen dann auch wirklich von jedem Mitglied der Minangkabau mitgetragen, weil sich darin der Wille aller spiegelt. Ähnliches beschreibt der Philosoph Kwasi Wiredu für seine Volksgruppe, die Dogon in Westafrika: »Die Mehrheit ist keine ausreichende Basis zur Entscheidungsfindung und darf nicht das alleinige Recht auf Repräsentation haben. Denn repräsentiert zu sein ist ein Grundrecht.« Wenn Werte wie Repräsentation – und damit einhergehend Respekt und Ausgleich – im Zentrum einer Gesellschaft stehen, und deren Verstoß geahndet wird, gestaltet sich das Zusammenleben tatsächlich ethischer, ohne dass ihre Mitglieder – Frauen, Männer und alle weiteren Geschlechter – bessere Menschen sein müssen.

Es geht nicht um das Umkehren von Hierarchien, sondern um das Infragestellen derselben. Auch viele indigene Gesellschaften zeichnen sich durch Augenhöhe aus – und zwar nicht nur in Bezug auf die Geschlechter, sondern auch über die Grenzen der Spezies hinaus. Die Patawatomi in Nordamerika und Kanada beispielsweise verweisen bereits in ihrer Sprache auf die Verwandtschaft aller Lebewesen und die damit einhergehende Verpflichtung, allem Belebten – inklusive Pflanzen, Bäumen, Bergen und Flüssen – mit Respekt zu begegnen. Nicht-patriarchale Gesellschaften gibt es zudem in den unterschiedlichsten Geschlechterkonstellationen. In manchen sind die sozialen Positionen gemischt, in anderen gibt es getrennte Aufgabenbereiche, wodurch sich die unterschiedlichen Gruppen – seien sie nach Geschlecht oder nach Alter getrennt – respektieren müssen, da sie aufeinander angewiesen sind. Dabei sind die Rollen nicht festgelegt. Bei den Mosuo in Südwestchina etwa sind Männer für Fischerei und Handel zuständig, während die Frauen Garten- und Ackerbau betreiben. In Juchitán in Mexiko ist es genau umgekehrt. Und dann gibt es noch Gesellschaften mit sogenannter Dyarchie, was bedeutet, dass Ämter von jeweils zwei Personen ausgefüllt werden, einer Frau und einem Mann, wie etwa bei den Irokesen. Warum Frauen in diesen Gesellschaften das soziale und politische Leben maßgeblich mitgestalten, liegt gemäß einer großen vergleichenden Studie des Professors für Politikwissenschaften Marc Howard Ross nicht zuletzt daran, dass sie ihre emotionalen Beziehungen zu Verwandten und Freund:innen ihr Leben lang aufrechterhalten. Was für eine unmittelbar einleuchtende politische Handlung: Wenn wir wollen, dass die Zukunft egalitärer wird, sollten wir unsere Freundschaften pflegen und gesellschaftlich unterschiedliche Formen von Liebe und Solidarität unterstützen und wertschätzen. Es geht nicht um eine Herrschaft der Frauen, sondern um das Abschaffen von Herrschaft, und dann … Genau das ist in einer patriarchalen Logik schwer denkbar. Die beste Antwort ist wahrscheinlich: Das Erkunden anderer Formen des Zusammenlebens und Arbeitens, des gemeinsamen Herstellens von Kultur und Kult.

Der Artikel »Frauen an die Macht!« wurde damals übrigens nicht gedruckt, weil ich die falsche Antwort auf die Frage »Liegt das Heil im Matriarchat?« gegeben hatte. Wenn ich eines daraus gelernt habe, dann das: Sogar Klischees ändern sich mit der Zeit. Frauen sind nicht die besseren oder moralischeren oder auch nur mütterlicheren Menschen, zum Glück nicht! Aber andere Gesellschaftsverhältnisse sind denkbar.

FERIDUN ZAIMOGLU

MUTTERLAND

Asnath,

du sollst wissen: Es ruft mich nicht die hungrige Hölle. Gut bin ich in meinem neuen Land. Ich sah im Morgenglast der Sonne: Die Drossel fraß die Samen der Mistel. Später ließ sie sie mit ihrem Mist auf die Bäume fallen. Der Mist der Drossel zeugt die Mistel. Die Natur ist brutal unsauber, das gefällt mir. Du sollst wissen: Man hält mich nicht mit Gewalt hier fest. Du wirst meine Worte anzweifeln, denn wir wurden zu soliden Bürgern erzogen. Man hat uns eingehämmert: Es gibt die eine Seite und die andere Seite, es gibt uns, und es gibt sie. Ich bin jetzt bei denen, als Mann. Männer werden nicht unter Knüppelschlägen zur Arbeit in den Bergstollen angetrieben. Die Toten werden nicht in einer Zeltbahn weggetragen und auf einen Mistschlitten geladen. Sie werden nicht am Straßenrand verscharrt. Ich habe noch kein einziges Mal vor Sehnsucht den Blick zum Himmel gehoben und aufgeseufzt. Man lehrte uns: Ein überflüssiger Mensch muss erledigt werden, das ist die Linie der Natur.

Abends ist es hier schön still, es dröhnen keine Hymnen aus öffentlichen Lautsprechern. Ich kann in meinem Staubmantel auf einer Parkbank sitzen, ohne dass ich mich meiner Abgenutztheit schämen muss. In den Falten meines Mantels sammeln sich Flusen an. Man hält mich deshalb nicht für ein unsauberes Element. Ich weiß, dass die Offiziellen mein Verschwinden als feige Fahnenflucht bezeichnen. Sie lehren: Jeder Mann ist ein Kombattant. Ich aber wollte nicht die Fahne in den Wind recken. Hat man schon eine Belohnung für meine Ergreifung ausgesetzt? Ergriffe man mich, würde man mich martern und kastrieren. Ich gelte zu Recht als Überläufer. Ich bin zu den Frauen übergelaufen. Möchte ich wegen meiner heldischen Gesinnung gelobt werden? Es ist mir gleich, dass mich mein Volk hasst. Feinde überall, Feinde ringsum; daran glaubte ich als Kind. Ich nannte die Frauen jenseits der Grenze Pesthuren, das ist mir noch heute eine Peinlichkeit. Erinnerst du dich an die Sympathisantin des Mutterrechts? Man hat ihr die Hosenbeine abgeschnitten. Man hat sie barfuß durch die Gassen getrieben. Man hat sie nackt an den Schandpfahl gebunden. Sie wurde beglotzt und verhämt. Gegen alle Sympathisanten wollen die Kerlchen hart vorgehen. Hier messen die Frauen mir nicht einen Wert bei, weil ich ein treuer Gefolgsmann bin. Dort bei dir hat man zu gehorchen. Hier bei mir ist allein Dummheit unverzeihlich. Ich bin außerhalb der Geschichten der Kerlchen. Ich bin jetzt eine eigene Geschichte. Der Schutt ist unter dicker Asche begraben. Es stockt mir der Atem, wenn ich an all die Lügen denke, mit denen zu leben man eine Selbstverständlichkeit genannt hat. Dort drüben: fremdes Land und fremdes Leben. Hier hegt man keinen Hass auf einen Todfeind. Hier weiß aber die Frau: Die Menschen von großer Verkommenheit sind fast ausnahmslos Männer gewesen. Sie haben mit den Leichensäften ihrer Feinde die Felder gedüngt. Halte ich es für verwerflich, dass die Frauen in meinem neuen Land die Männer von der Führung ausschließen? Nein.

Heute bin ich erst auf den Stuhl, dann auf den Tisch gestiegen vor lauter Fröhlichkeit. Warum? Weil ich nicht ständig denken muss: Wen einweihen? Wem misstrauen? Ich muss vor keiner Frau die Augen niederschlagen. Ich stieg vom Tisch herunter, setzte mich hin und bekam einen Teller Berglinsen und einen schmalen Streifen Rindfleisch. Ich wurde wegen meines Anfalls von Herzverrücktheit nicht gerügt. In den Jahren vor meiner Flucht bekam ich oft Schläge – es hieß, ich würde meine Zeit mit Taschenspielereien vertun. Einmal habe ich heimlich auf eine Hausfassade die Worte »Tat zeugt Terror« gesprüht. Es war kein mörderischer Anschlag. Mörderisch sind die Parolen der Propagandisten. Sie fordern uns auf, dass man wittern solle den Feind, der in aller Stille rüste. Dass man ihm an die Kehle gehen solle, wenn man ihn aufspüre. Will ich ständig in rauflustiger Stimmung sein und die Muskeln spannen? Nein.

Oft erwache ich mit Staub im Haar nach einem traumlosen Schlaf. Meine Sachlichkeit erschüttert mich. Ich sehe manchmal fliegende Fäden in der Luft. Es gibt sie nicht wirklich, ich leide wohl an einer Sehstörung. Ich bin der unbestrumpfte Mestize im Land der vielen Wunder. Glaube bitte nicht, dass mich der Seelenjammer sticht. Ich bin keine verwischte Person. Wenn mir andere Männer begegnen, sind sie von einer leblosen Steifheit. Sie misstrauen mir. Es könnte ja sein, dass ich als Meldegänger der Kerlchenrepublik geschickt worden bin, um sie auszuhorchen. Ein Mann in der Nachbarschaft zerspringt fast vor Hass bei meinem Anblick. Er sieht dann aus, als würde er zu beiden Seiten durchplatzen. Das letzte Mal hat er mich mit einem einzigen Fausthieb niedergestreckt. Das Blut schoss mir in einem Schwall aus dem Mund. Hadassa (das ist nicht ihr wirklicher Name) schlug ihn zu Boden. Er wurde in Fesseln weggebracht. Er kam nach einigen Stunden zurück. Er träumt von meiner Vernichtung. Ich wurde zum Gespräch eingeladen. Vier Frauen saßen mir gegenüber. Sie erklärten, dass es schwierig sei, dem Schläger die Tollheit auszutreiben. Kannte ich den Grund für seinen Hass? Ich sagte: »Das ist ein defekter Mann. Man müsste ihn durch ein humanes Mittel beseitigen.« Sie haben mich getadelt, ich gelobte Besserung. Der Mann bekommt bei meinem Anblick eine saure Schnauze vor Ekel.

Asnath, ich bin gebeten worden, nicht allzu viele Geheimnisse preiszugeben. Bitte glaube den Kerlchen kein Wort. Sie lügen über die hiesigen Verhältnisse. Es ist nicht wahr, dass für Männer kleine Selbstmordzellen eingerichtet sind. Es ist nicht wahr, dass Frauen vor den Männern ausspeien, wenn sie sich auf offener Straße treffen. Es ist nicht wahr, dass man die Säuglinge einer geschlechtlichen Selektion unterwirft. Eine künstliche Zuchtwahl wird nicht vorgenommen. Die Buben lässt man am Leben. Man erlaubt ihnen aber nicht, dass sie sich in den Kinderspielen über die Mädchen erheben. Es stimmt nicht, dass die Mütter die Knaben wie minderes Material behandeln. Die Fotos der Knaben, die Mädchen beschimpft oder geschlagen haben, werden nicht in Schandschaukästen ausgestellt. Was geschieht mit Vergewaltigern? In meinen Augen sind sie Dreck. Man müsste ihnen zwischen den Schenkeln ein tiefes Loch schneiden. Auch für diese meine Worte gab es einen scharfen Tadel. Ich verstehe, dass ich nicht die Massen verhetzen darf. Es ist nicht erwünscht, dass ich wie ein Agitator kreische. Ich verrichte niedere Arbeiten, ich muss geduldig sein: Ich werde schon noch das Vertrauen der Frauen gewinnen. Mein Lehrer drüben sagte mir geradeheraus, dass er mich für ein ekles Geschöpf halte. Er sagte: »Gang, Haltung, Gebärde, alles spricht von einer niederen Daseinsart!«

Ich tue hier meine Pflicht in aller Stille. Eine Nachbarin hat mich, weil ich mich über Kleinigkeiten beklagte, einen wimmernden Männling genannt. Sie tut mir unrecht. Ich liebe mein neues Land mit dem Zwang meines Herzens. Man kann mich nicht mit Annehmlichkeiten bestechen. Ich will auch vergessen die Parole: Wir wollen mit dem Blut der Feinde das Eisen röten! Wer war lange Zeit mein Feind gewesen? Das Mutterland. Die Frauen dieses Landes. Natürlich dachte ich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft: Es muss, was die Abläufe anbetrifft, schneller gehen, sodass es am Ende heißt: Geklärt! Ich bin nach den Wochen der Eingewöhnung klüger geworden. Ich fühle mich auch nicht länger wie ein Soldat, der seinen Posten verlassen hat. Ich muss nur dieses leidige Zucken überwinden, es muss verschwinden.

Im Esssaal des Heims hängt das Bild eines langbärtigen Heiligen, der rote Tränen vergießt. Im Hintergrund sieht man vertierte Kerle, ihr Jubel wird ihm wohl in den Ohren gellen. Ist der Lärm derart unerträglich, dass er aus den Augen blutet? Ich fragte Zeruja (das ist nicht ihr wirklicher Name), weshalb man das Bild nicht abhänge, der Heilige sei in einer Gebärde der demütigsten Bettelei eingefroren, das vertrage sich doch nicht mit den Grundsätzen des Mutterlandes. Zeruja blickte mich lange an, dann drehte sie sich um und ging weg. Muss das Mutterland denn nicht der Befehlsraum der Frauen sein? Was duldet man das Bildnis eines jammerseligen Eremiten? Erst nach einem radikalen Bildersturm zerstiebt der Spuk der Jahrtausende. Ich fürchte, man hat kein sonderliches Zutrauen zu mir. Zeruja verwehrt mir ein klärendes Gespräch. Ich will ihr sagen, ich habe mir die Worte zurechtgelegt, ich möchte ihr sagen: »Ich wünsche mir innig, dass es ein Ende habe mit der Heulerei des Heiligen, er soll seine Seele aushauchen, auf einem anderen Bild.« Ich habe das Bild eingehend studiert. Ich entdeckte angenagte Baumrinde in den Händen des Heiligen. Er ist ein Mann, dem man die Augen ausstechen müsste, doch Vergehen dieser Art kann ich mir nicht leisten. Das Erste zuerst, das Letzte zuletzt. Soll ich unter Tränen Gedichte aufsagen? Würde es helfen gegen den Verdruss? Zeruja hat mich von der Tür gewiesen. Ich suchte sie auf, um Zweifel an meiner geistigen Gesundheit zu zerstreuen. Ich will die Verkehrtheit verkehren, dann liegt alles an seinem Platz. Die bessere Welt ist Mutterland. Es ist eine Gemeinheit, dass man mir … dass die Frauen mir eine Entsetzenstat zutrauen. Zeruja verwehrte mir den Einlass. Sie muss es mir nicht erst auf die Tafel malen – ich verstehe, dass mein brennender Eifer missverstanden wird. Ich öffnete ihr gern mein Herz. Man muss die Ordnung leben, dass man frei werde. Bin ich ein böser Träumer?

Ich habe den Maler aufgespürt, er saß am Springbrunnen im Herzen der Stadt, und ich fragte ihn: »Sind Sie ein böser Träumer?« Er war ein bebender Schatten. Er war fieberndes Fleisch. Erschlafft und trüb. Ich ließ mich nicht abwimmeln, ich bat um seine Deutung des Bildes. Er sagte: »Von Ihnen werden keine Heldentaten erwartet. Begreifen Sie das doch endlich! Sie sind in der Kerlchenrepublik aufgewachsen. Das ist das Gegenteil von dem hier! Lassen Sie mich in Ruhe!« Ich ließ von ihm ab, denn wegen seiner Erregung waren Frauen auf uns aufmerksam geworden. Ich bin kein betäubter Mann. Ich bin kein Extremist am äußersten Rand. Ich bin nicht gemütsstumpf. Ich kehrte zum Esssaal zurück, setzte mich auf einen niedrigen Hocker und betrachtete den Heiligen mit einem sachlicheren Blick: Der Schalkragen seines Fantasiekostüms war rot befleckt – rannen ihm aus den Augen zwei Strömchen Kirschwasser? Hetzte ihn der Pöbel, und bekümmerte ihn sein baldiger Tod? Ich entdeckte Brotkrümel in seinem Bart. Ich entdeckte die Vogelschwinge auf dem Kopf, sie stülpte sich über seine Stirn wie eine feste Kappe. Ich erschrak vor diesem sprießenden Unheil. Das konnte man doch im Mutterland nicht dulden. Man streute doch auch nicht Rostflocken oder Drosselmist über blütenweiße Tischdecken. Es täte den Frauen gut, wenn sie auf mich hörten, Asnath. Zur gegebenen Zeit bin ich für eine wichtige Aufgabe der gegebene Mann. Sie sollen meinen Kampfwert als hoch einschätzen. Es braucht einer ordentlichen planmäßigen Reinigung, und alles wird ohne Stockungen verlaufen.

Die kräftige Hadassa weigert sich nicht, mit mir zu sprechen, aber auch sie lehnt eine Abhängung des Bildes ab. Sie sagt, dass eine zu Propagandazwecken missbrauchte Kunst bei allen maßgeblichen Frauen Ekel errege; dass sie nicht an die Fabel der gerechten Gesellschaft glaubten und an Menschen, die allein mit Machtmitteln zu erziehen seien; dass man seine Mittelmäßigkeit nicht durch Anpassungsartistik ausgleichen könne. Sie meinte mich, natürlich. Sollten die Frauen in ihrem Land nicht das vorhandene Menschenmaterial bessern? Ich weiß: Man läutert drüben die widersetzlichen Männer mit Feuer. Man verbrennt ihre Hände im Kohleofen, sie schreien und schreien. Das verlange ich natürlich nicht. Aber der Heilige. Der Heilige beunruhigt mich, ich kann an fast nichts anderes denken.

Ich entdeckte, dass es sich bei den Kerlen im Hintergrund um Männer handelt, die jubeln. Sie jubeln, weil sie Schnecken auf einen Dom gespießt haben. Ein Mann hat sich eine zerrissene Kindertasche über den Kopf gestülpt, in ungefährer Nachahmung des Heiligen. Vielleicht steht der Feind im Land. Vielleicht sind die Frauen hier zu … weiblich. Sehen sie es denn nicht? Der Maler ist ein Agent: Er stiftet Zermürbung, er stiftet Schwermut, er stiftet Zersetzung. Der Friede hat dann einen bösen Klang, wenn verkappte Agenten der Kerlchenrepublik den Krieg propagieren. Ich bin doch nicht aus der Welt gefallen. Ich bin kein geübter Streitredner. Sonst könnte ich mich am Springbrunnen vor die Frauen und Männer stellen und mein Wissen mit ihnen teilen. Alles dunkel, kein Lichtschein. Zögern ist gefährlich. Ich drohe nicht, herzlos zu werden. Ich wünsche mir, dass sie mich nicht als bemalten Zinnsoldaten ansehen. Ich bin ein befähigter Tatmensch. Der Maler des Heiligenbildes ist ein büschelhaariger Kerl, er müsste sich öfter kämmen.

Saron (das ist nicht ihr wirklicher Name) hat mich aufgefordert, den morgendlichen Brauch der Frauen anzunehmen: Fülle die Schüssel, tauche das Gesicht bis zu den Schläfen hinein, lache einmal in das Wasser. Du kannst auch im Wasser lächeln, länger. Da ich mich keiner Widersetzlichkeit schuldig machen will, bin ich der Aufforderung gefolgt. Ich lachte ins Wasser hinein, dass es sprudelte. Ich verließ meine Kammer, ich trat ins Freie, und lachte die Männer an, die Mörtel vom Backstein schlugen, ich lachte sogar die guten Bürger mit dem zerschlissenen Hutrand an, ich lachte und lachte still, weil ich dachte: Nachgiebigkeit ist geboten, sonst muss ich mit den grässlichen Folgen leben. Auf diesem Gebiet kenne ich mich aus, ich verliere nicht den Kopf. Vor jeder Erkundigung versorge ich mich mit Mundvorrat. Ich bin einsichtig. An dem Tage also, an dem ich lachte und lachte, habe ich den Frauen gezeigt: Ich will gehorchen. Die große Berieselung durch den Feind zeigt bei mir keine Wirkung. Im Mutterland ist es verboten, Adelstitel zu führen. Die Frau spricht, wie auch die Ahnin gesprochen hat. In guten Verhältnissen argwöhnt der Maisch keine Unsauberkeit in fast jedem gesprochenen und geschriebenen Wort. Im Mutterland bemühen sich die Frauen um die dummen und bösen Männer. Wenn diese auf ihrer Blödheit oder Boshaftigkeit bestehen, werden sie entfernt. Es ist eine Lüge, dass sie durch Psychoterror zum Selbstmord getrieben werden. Das geschieht in der Kerlchenrepublik, das geschieht nicht im Mutterland. Wer mordet, verschwindet hinter Gittern. Wer durch Sturheit Schaden anrichtet, muss für den Gemeinnutz arbeiten.

Ich gelobte Besserung, Asnath, doch ich hielt mich nicht daran. Ich habe dem Heiligen die Augen ausgestochen, mit einem Pfriem, den ich dem Schuhmacher entwendet habe. Ich habe diese Tat kalten Sinnes begangen. Ich fühlte mich erlöst, ich ging zu Zeruja und gestand die Blendung des Kerlchens auf dem Bild. Ich sagte: »Ich bete für die Vernichtung der Feinde des Mutterlandes!« Ich wurde von Hadassa und Rahab (das ist nicht ihr wirklicher Name) festgenommen und fortgebracht. Ich höre seither Geflüster, ich höre ein schneidendes Gesumm, wie von Wespen nah an meinem Ohr. Habe ich mich wirklich ins Unrecht gesetzt? Werde ich mich bewähren müssen, bevor ich entlassen werde? Ich habe an manchen Abenden ein brennendes Verlangen nach … Gesellschaft. Rahab würde mich am liebsten mit Stiefeltritten zur Vernunft bringen, doch man lässt sie nicht. Ich sagte ihr: »Der Heilige, hören Sie, der Heilige war eine falsche Erscheinung, er war eine Fehlbildung. Die strenge Keuschheit, für die er insgeheim warb, kann doch nicht in Ihrem Sinne sein.« Der Geist ist in mir lebendig. Sie darf doch nicht meine Zerquetschung wünschen. Ich stehe unter Hausarrest, ich werde bewacht.

Heute Morgen bekam ich Besuch vom Maler. Wollte er sich an meinem Elend ergötzen? Nein. Er roch seltsamerweise nach Perückenpuder. Er sprach von »dem furchtbaren Vorkommnis«. Weshalb hatte ich sein Bild zerstört? Hatte mich der Blutfluss seiner Augen verstört? Das Büschel mit sechs Grashalmen, das mit dem siebten Halm umflochten war – hielt ich es für anstößig, dass der Heilige das Büschel mit der Sohle seiner linken Sandale zertrat? Ich sagte: »Ich hasse Rätsel. Die Welt ist erklärbar. Von dem Büschel weiß ich nichts.« War er gekommen, um mein krankes Gemüt zu heilen? Ich bin zum Dienen bestimmt, es müssen nur die Richtigen sein, denen ich diene. Der Maler ist eine Geburtsirrung. In diesem Land finde ich eine Umgebung, die einer reinen Seele entspricht. Ich werde keimen. Seine Betretenheit ob meines Jubelrufs war nicht auszuhalten, ich bat ihn zu gehen. Er nannte mich, bevor er die Kammer verließ, leise ein Hausschwein. Ich bin kein Tier, das man in seinem Gehege betrachtet. Von meinen Schreien angelockt, sperrte Hadassa die Tür auf. Sie bewachte mich bei reinem Marsch durch die Straßen. Blüht das Mutterland? Oder leben wir in einer Niedergangszeit? Auf meine Frage bekam ich keine Antwort, Asnath. Heiliger ohne Augen, Heiliger, in dessen Bart Läuse nisten, Heiliger, der Gebete herunterhaspelt: Bilder reiner wilder Träume. Kurz vor dem Aufwachen sah ich das Bild einer dreibusigen Frau, sie hatte zwei große Brüste, und einen Fettpfropf mit einer nässenden Warze. In reinem Kopf knackt ein loser Knorpel. Ich habe die Schmerztabletten abgelehnt. Ich verweigere das Essen, das Wasser trinke ich bedächtig in kleinen Schlucken, es kommt mir keine Verwünschung über die Lippen. Mein Gesicht ist eine Säuglingsfratze, rot und zerdrückt: Ich spiegele mich in glatten Oberflächen.

Zeruja erscheint ohne Ankündigung, in Gegenwart von zwei Frauen, die mich auf ein Wort von ihr zerfetzen könnten. Ich sage: »Ich bin immer schon ein gefügiger Mann gewesen.« Sie beschauen mich wie einen Handschmeichler, den man gelegentlich aus der Schublade holt. Ich sage: »Die lange Postenlosigkeit hat mich betrübt. Ich bin aber ein ehrlicher Mensch, der Schuhmacher hat seinen Pfriem zurückbekommen.« Sie muss mir nicht erst erzählen, dass ich mich wenig rühmlich benommen habe. Ich weiß von meiner Wächterin, dass bei dem schweren Sturm der Wind hundertdreiundneunzig Dächer abgedeckt hat. Ich könnte helfen. Man soll meinen Ausschluss aus dem Volke nicht für unabdingbar halten. Es dürstet mich nach Meistertaten. Ich glühe noch. Meine Bekenntnisse beeindrucken sie nicht, ich kann ihr nicht das Versprechen entlocken, dass ich bald freikomme. Ich schreie: »Kräftige, muskulöse, junge Frauen muss man malen! Versteht ihr das denn nicht?« Sie verlassen meine Kammer.

Das sind meine Tage, ich bin nicht ohne Zuversicht, Asnath. Oft sitze ich mit nassen Achseln auf meiner Pritsche, manchmal nur benutze ich den Waschlappen und mache mich sauber. Wozu auch? Ich werde nicht ermutigt, eine Bekanntschaft mit einer der verblühten Grazien zu schließen, die wegen schwerer Vergehen einsitzen. Ich rieche ihren Hass. Sie riechen meine Gier. Deshalb kann sich keine dieser Frauen mit mir vereinigen. Ich halte mich nicht für unentwurzelbar, das sollten sie erkennen. In meinen Träumen schwelgen meuchelnde Maschinen in Fantasien. Von Kummer bin ich fast vernichtet. Ich gäbe viel für einen heroischen Lebenslauf.

Es ist mir versichert worden, dass du diesen Brief bekommst. Ich büße. Ich sühne. Hoch lebe der entzündete Geist! Hoch lebe der versteckte Tod in den Obstgärten! Nieder mit meinen Träumen! Die Kerlchen unter meine Füße.

MARGIT SCHREINER

CLOWNFISCHE

Als Kind wäre ich gern ein Clownfisch gewesen. Obwohl ich damals noch gar nicht wusste, dass der Clownfisch sein Geschlecht ändern kann. Auch den Film