DAS PENTHESILEA-INTERNAT - Julia Mann - E-Book
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Julia Mann

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Beschreibung

Gertis größter Traum ist es, Rekrutin der heldenhaften Amazonen-Armee zu werden. Doch als ihr Wunsch sich endlich zu erfüllen scheint, endeckt sie das erschreckendste und strengst gehütete Geheimnis Matrias. Mitte des 21. Jahrhunderts in der Frauen-Diktatur Matria sind Jungs und Männer nur Sklaven. Die Frauen herrschen, die Amazonen-Armee verteidigt die Grenzen und sorgt für Ruhe und Ordnung. Zufolge der Matria-Ideologie bedeutet sexuelles Begehren, dass man jemanden besitzen will … und das führt zu Unterdrückung. Das PENTHESILEA-INTERNAT ist die Elite-Schule des Frauen-Staates. Gerti ist in der Abschlussklasse und linientreuer als sie kann frau kaum sein: Matria hat die Frauen befreit, Matria beschützt sie, Matria ist das beste Gesellschaftsmodell der gesamten Menschheitsgeschichte. Aber dann verliebt sich Gerti in Felix. Feministisch! Dystopisch! Aufwühlend!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Julia Mann

DAS PENTHESILEA-INTERNAT

für meine Tochter

Inhaltsverzeichnis

Das Penthesilea-Internat

EINLEITUNG

Muttergefühle

Er wird gefunden

Tagebuch Gerti von Droste-Hülshoff

Beratungen

Gertis Tagebuch

Iris Wedgwood, ehemalige Schülerin des Penthesilea-Internats

Gertis Tagebuch

Brunhilde Bauer

Albert

Antigone

Gertis Tagebuch

Maike

Zoe Vogel

Gertis Tagebuch

Kathrin

Gertis Tagebuch

Dr. Weber

Maulwurf

Konterrevolution

Gertis Tagebuch

Die Flüchtlinge

Bestien

Die Wissenschaftlerin

Keine Macht Ministerin Bauer

Gertis Tagebuch

Separierung

Dummheit

Strategen

Vergangenheit

Zweiter Teil

Tagebuch Gerti von Droste-Hülshoff

Matria-Aufarbeitung

Gertis Tagebuch

Gerard

Aus dem Tagebuch von Gerti von Droste-Hülshoff

Hilde Körner:

Gertis Tagebuch

Lydia Larissa:

Hilde Körner

Freya Weber

Jana Huch

Irene Wegdwood:

Gerlinde Swinton:

Jane Huch:

Aufarbeitung

Olivia:

Gertis Tagebuch

Tracey

Virginia:

Henriette von Isenheym, Staatssekretärin:

Brunhilde Bauer

Zoe:

Ulrike:

Zoe:

Jana Huch

Hilde Körner

Kino

Anonymes Mitglied der Regierung von Matria:

Hedwig Dohm-Krüger, damals so etwas wie Finanzministerin:

Gertis Tagebuch:

DRITTER TEIL

Hanna

Gertis Tagebuch

Hans Gerit Innermann, Autor

Tagebuch Gerti

Verordnung über berufliche Praktika der Abschlussklassen von MATRIA

Ricarda Sagan, Lehrerin am Penthesilea-Internat

Tagebuch Gerti von Droste-Hülshoff

Referendarin Ulrike

Sabine von Gaya oder Oppermann,

Günther

Tagebuch Gerti

Dr. Weber

Hilde Schmidt, Widerstandsgruppe

Gerti

Widerstandsgruppe, Nadine und Manuela

Gerti

Brunhilde Bauer

Körner

JVA Stammheim, ehemalige Oberste Amazonenschwester Sabine von Gaya (Oppermann)

Thekla Dornbusch, Anwältin der ehemaligen Obersten Amazonenschwester Sabine von Gaya (Oppermann), Berlin-Mitte

Tagebuch Gerti

Henriette von Isenheym

Vierter Teil

DER POESIECLUB

Körner

Gerti in einem Brief aus dem Amazonen-Stützpunkt Hof:

Frauke (Beiß) Baez

Radio-Diskussion Deutschland-Radio Kultur

Marien-Ritus

Gertrud Frey, damals Trudi Woolf, Mitschülerin von Gerti von Droste-Hülshoff

Gerti, Brief an Felix

Irene, Virgo

Gerti, Brief an Felix

Dr. Weber

Henriette von Isenheym, Schwestern der Rache

Ricarda Sagan, Referendarin, später Lehrerin am Penthesilea-Internat

Zoe, Mitschülerin von Gerti

Brunhilde Bauer

Hilde Schmidt, Widerstandsgruppe

Hannah, ehemalige Mitschülerin von Gerti

Brief von Gerti von Droste-Hülshoff

Iris Wedgewood

Gertis Tagebuch

Körner

Ricarda Sagan

Hannah

Carla von Kaleko,

Gertis Tagebuch

RA Dr. Dornbusch

Protokoll des Tribunals Matria/Schwesternschaft der Amazonen versus Anke Suttner

RA Dr. Dornbusch

Rebecca

Brunhilde Bauer

Hedwig Dohm-Krüger, Finanzen

Bericht unbekannter Quelle

Brief von Gerti von Droste-Hülshoff an Hilde Körner

Weber

Hilde Körner

Lozen, ehemalige Amazone, nun Gründerin und Geschäftsführerin einer rein weiblichen Security-Firma

Tagebuch Gerti

Körner

Tagebuch Gerti

Ricarda Sagan

Trudi

Tagebuch Gerti

Henriette von Isenheym

Sabine Oppermann

Olivia Dessler. Planungsstab Maifestspiele.

Francis Unterberg. Gynäkologin.

Hilde Körner

Dr. Weber

Hilde Körner (telefonisch)

Ulrike, Amazone

Sophie von Scholl, Oberste Schwesternschaft

Gerlinde, Anwohnerin des Schlosses Rosenau, Veranstaltungsort der jährlichen Maifestspiele Coburgs

Dr. Weber

Jana, Mitschülerin

Henriette von Isenheym

Nachwort des Berichterstatters

Stammheim

Impressum

Das Penthesilea-Internat

für meine Tochter

Copyright © 2025 Julia Mann

Alle Rechte vorbehalten

EINLEITUNG

Matria gilt bis heute als geradezu sagenumwobenes Mysterium der Zeitgeschichte. Nichts hat die Köpfe und Herzen der Menschen auf der ganzen Welt mehr bewegt als die erste und einzige Frauen-Republik der Neuzeit.

Der Freistaat Matria wurde nach einem kurzen Bürgerkrieg gegründet und brach 12 Jahre und 10 Monate später nach einigen Wochen gewaltlosen Protests von innen zusammen. Die defensiven Kräfte, die „Söhne der Mutter“, legten ihre Waffen nieder und wurden von den Siegermächten, der Europäischen Allianz, betreut, da sie allesamt massive posttraumatische Belastungsstörungen aufwiesen.

Nachdem die Europäische Allianz den Freistaat Matria eingenommen hatte, wurden alle öffentlichen Einrichtungen aufgelöst und eine Übergangsverwaltung aus verschiedenen Ländern der Allianz eingesetzt. Im Wesentlichen war das Leben nun wieder so organisiert wie vor der Revolution, die von der Regierung Matrias immer als „Umwälzung“ bezeichnet worden war.

Insbesondere das Bildungssystem des unterlegenen Freistaates wurde komplett neu strukturiert, denn hier hatte das Matriarchat, die Regierung von Matria die weitreichendsten Veränderungen vorgenommen. Internate, Kleinkinder-Nester und Amazonen-Schulen wurden aufgelöst.

Dass der Staat aber nicht nur auf einer Ideologie und einer Umerziehung fußte wie frühere totalitäre Regime, sondern direkt in die körperliche Unversehrtheit der Menschen eingriff, das kam erst nach und nach ans Licht.

Diese Dokumentation versucht die Ereignisse und Hintergründe nachzuzeichnen, die zum Zusammenbruch des Staates Matria geführt haben. Dazu werden größtenteils Original-Interviews und -Dokumente herangezogen.

Ingo: Auf Flaschen mit Steinen schmeißen konnte man. Malen, lesen, Sport treiben. Sonst nichts. Wir waren sauer. Ich war sauer. Stinksauer. Und wissen Sie, was mich am meisten auf die Palme brachte: Ich wusste, ich hatte eine Scheißwut, aber ich spürte sie nicht. Nicht mehr so wie früher. Verstehen Sie, was ich meine. Früher, wenn ich eine Stinkwut gehabt hatte, ja? Dann ging die durch Mark und Bein, ich war wütend von der Kopfhaut bis in die Fingerspitzen. Das Adrenalin pumpte durch meinen Körper wie Quecksilber durch ein Fieberthermometer in der Sonne. Aber jetzt: Im Kopf war ich sauer. Im Körper merkte ich nichts davon. Das machte mich noch wütender, aber ich spürte es nicht in meinem verdammten Leib. Verstehen Sie das? Das brachte mich fast um. Sie hatten uns kaltgestellt, kalter als kalt gestellt, wir waren schlaffe, tote Fische. Unsere Schwänze schlaff, unsere Körper schlaff, unser Wut schlaff. Wir waren quasi keine Männer mehr. Sie hatten uns kastriert, ohne an uns herumzuschnippeln, diese, naja. Wie war die Frage?

Achso, ja. Wir konnten ja nichts machen. Eigentlich nur Sport und Reden. Aber je länger der Zustand andauerte, desto aussichtsloser wurde unsere Lage. Ich ging jeden Abend rüber zu der Brache. Das war ein leeres Grundstück, nicht einsehbar. Nur durch Drohnen, aber so viele hatten sie davon ja nicht im Einsatz. Später hat man ja auch gehört, warum: Sie wurden an der Grenze gebraucht, um all die armen Burschen zu überwachen. Auch so eine Schweinerei dieser angeblich so moralisch-hochstehenden Weiber, wenn Sie mich fragen. Sagen Sie? Brauchen Sie diese Sachen wirklich alle für Ihr Buch?

Die Brache. Okay. Da schmiss ich mit Steinen auf Flaschen. Das war das einzige, was mir einfiel, was nicht dumpf vor sich hindämmern war. Ich joggte, machte allerlei altmodische Fitnesssachen, weil wir uns ja im Prinzip schon strafbar machten, wenn wir Hanteln stemmten. Ich stemmte Steine, machte Sit-ups, Klimmzüge, Treppensprints, aber es wurde immer schwerer, sich dazu aufzuraffen. Ich lief durch den Wald, das Wasser rann mir am Körper runter.

Ich war allein, wir waren abends fast immer allein, weil es war zu elend, einander beim Kastriertsein zuzusehen. Ich hatte es mit einer Skatrunde versucht, aber als einer der Männer angefangen hatte zu flennen, während ich mischte oder so, da spielten wir nicht mehr. Er fing an zu flennen, weil er sah wie ich die Karten mischte. Also, verstehen Sie das? Nicht so eine amerikanische Mischtechnik mit zwei Stapeln sondern die gute alte, deutsche, die ein bisschen ans Wichsen erinnert. Das hat er nicht verkraftet. Heulkrampf. Ich lief also viel. Am liebsten bei Regen, bisschen melodramatisch, klar, aber ich mochte das. Das spürte ich wenigstens was. Allein.

Mit anderen Männern war es immer schwerer geworden. Ganz besonders auf der Arbeit, denn wir wurden behandelt wie Sklaven, wir waren praktisch Untermenschen für die, und so behandelten sie uns auch. Wir wurden grundsätzlich geduzt. „Du da“, hieß es meist, „Mach das! Mach dies.“ Das hielt man nicht aus. Also, man hielt es aus, selber so behandelt zu werden, denn sie schlugen einen ja nicht, sie bellten nur so herum, und auch nicht alle, nur die Hardcore-Schlampen. Aber es war nicht auszuhalten, dass die anderen Typen so behandelt wurden und man dabei zugucken musste und nichts machen konnte.

Deshalb ging ich auf die Brache und warf mit Steinen auf Flaschen wie ein Bub. Klingt komisch, aber es erschien mir das einzige Mittel, um nicht den Rest meiner Männlichkeit zu verlieren: auf Flaschen mit Steinen zu schmeißen. Ins Kino konnte man nicht gehen. Einmal bin ich hin, ich saß zwischen massenhaft Frauen, die Popcorn fraßen und es lief ein Film über Rosa Luxemburg oder so. Alles andere war wahrscheinlich zensiert. Ich saß da und habe mich nicht bewegt, die Arme an mich gepresst, um ja keine der Frauen links und rechts von mir mit dem Ellbogen zu berühren. Problem für die gesamte Unterhaltungsbranche war sicher, dass die allermeisten Stories, die nicht nur Splatter und Horror, also Entertainment für Männer sind, irgendwie zentral oder wenigstens am Rande eine Liebesgeschichte enthalten. Und das interessierte einerseits keinen mehr so richtig und am Anfang waren solche Filme auch aus dem Programm verbannt, wahrscheinlich sollten die Leute nicht daran erinnert werden, was ihnen fehlte. Deshalb waren Fernsehen und Kino voll von Dokus. Und Männer hatten privat auch gar keinen Zugang zu Fernsehen oder Streaming oder sowas. Wir durften nicht mal Handys besitzen. Ganz zu schweigen von Smartphones. In den ersten Wochen zogen die Amazonen durch die Städte mit Ortungsgeräten. Wo sie ein Handy oder ein Smartphone fanden, wurde es konfisziert. Das war in der ersten Woche nachdem sie uns interniert hatten. In der zweiten Woche wurde man durch die Straßen geführt und musste dabei sein Handy oder sein Smartphone hochhalten. Das ist mir passiert. Nachdem wir aus dem Sportstadium entlassen worden waren, ging ich nach Hause. Wir wohnten in einer Eigentumswohnung, Paula und ich. Das übliche, es war ja die Zeit des Immobilienbooms. Ich verdiente gut. Es war nicht München, das Geld reichte für 100 Quadratmeter, 30 Quadratmeter Dachterrasse, wir hatten einen Kochaltar, wie wir diesen Tresen mit Herd in der Mitte der offenen Küche nannten. Paula saß am Tresen, einen Weißwein vor sich, ihre nackten Füße baumelten, sie sah mir zu wie ich kochte. Für Paula zu kochen war meine ganze Freude. Ich nutzte meine knappe Mittagspause oft nicht zum Lunch, sondern kaufte für sie und mich ein, düste dann um sieben nach Hause, duschte, schmiss mich in eine Jeans und ein frisches weißes Hemd, und wenn Paula aus der Agentur kam, dann stand ich da wie ihr persönlicher Traummann, der ich, glaub ich, auch war, reichte ihr ein Glas, werkelte in der Küche, während sie duschte und legte Musik auf und verwöhnte sie. Ich liebte meinen Job, ich war für die Leute in meiner Abteilung da, ich achtete sehr aufs Klima zwischen den Mitarbeitern und so weiter, anders ging es ja gar nicht mehr bei dem Fachkräftemangel, aber mir machte das nichts, ich war nicht so ein old school-Boss wie die Typen, die ich früher als Vorgesetzte gehabt hatte. Naja, Paula und ich … ich wurde dann ja weggebracht von ihr. Wir kamen aus dem Stadion gar nicht erst nach Hause, sondern in eine leerstehende Schule. Die hatten da eine Teeküche und in der fand ich Alufolie. Ich wickelte das Handy in Alufolie, ich wollte es nicht abgeben. Wegen Paula. Ich hatte höllische Angst, sie zu verlieren. Ich rief sie an, aber sie ging nie ran und rief nicht zurück und antwortete nicht auf Nachrichten. Später hörte ich von einem Mann, der in derselben Kolonne wie ich putzte, dass sie einige Tage nach der Machtergreifung alle Handynummern gelöscht hatten und jede Frau, nur Frauen, eine neue bekamen. Ich hackte also jede Nacht in der Toilette eingeschlossen auf dem Handy rum, weil ich verzweifelt war ohne Paula. Ich wusste ja nicht, wie es ihr ging, wie es mit mir weitergehen würde. Dann riss eines morgens eins dieser Mannweiber meine Decke weg, hieß mich auf den Boden legen, drückte mir einen Stock oder eine Reitpeitsche in den Nacken, da waren sie nicht anders als die Typen von der SS damals bei den Juden, und sie durchsuchten meine Sachen und fanden das Handy. Ich war barfuß, im Pyjama, und einem Unterhemd. Sie ließen uns antreten. Halten Sie mal drei Stunden die Hände in die Luft. Das ist Folter. Echt! So brachten sie uns auf den Marktplatz. Wir standen und standen wie bei einem Zählapell in einem KZ. Die Ober-Amazone bellte eine Ansprache über Härte und Konsequenz. Sie schrie: „Unsere Umwälzung hat nur Erfolg, wenn wir dem Mann zeigen, dass die Frau Ernst macht.“ Sie machte eine Pause, in der einige der anwesenden Frauen klatschten und schrien. „Ernst heißt, das wir nicht einknicken, nicht diskutieren, dass wir diesmal nicht an die gemeinsamen Kinder denken, dass wir uns nicht einlullen und einfangen lassen, nein! Das erste Mal in der Geschichte der Menschheit hat die Frau dem Mann gegenüber Ernst gemacht und dabei bleibt es.“ Sie machte eine Kunstpause, sah auf die angetretenen Männer herab, wir waren ungefähr fünfundzwanzig. „Werft die Dinger auf den Boden, ihr Schweine!“, schrie sie. Ich war noch nie so dankbar, meine Arme senken zu können und schmiss mein geliebtes iPhone auf das Pflaster. Dann begannen meine Arme und Hände zu kribbeln und zu pochen und zu schmerzen und ich bekam für ein paar Minuten nicht mehr viel mit. Es nieselte, schon vorher waren mir die Pfoten in der nassen, kalten Luft fast abgefroren, jetzt merkte ich, wie dünn ich angezogen war und dass meine Finger kurz davor waren abzusterben. Ich hatte Schmerzen und Angst, dass man mir die Hände würde amputieren müssen und ich traute diesen SS-Amazonen zu, das ohne Narkose mit einer Axt zu machen. Scheiße. Dann bemerkte ich dass einer der Typen bei seinem Handy in einer Pfütze kauerte und die Amazonenführerin mit ihrer Reitpeitsche vor ihm auf und ab spazierte: „Lauter!“, schrie sie. Und nach und nach prügelte sie aus ihm heraus, dass er im Internet Pornos geguckt hatte und bei Tinder war, um Sexpartnerinnen zu finden, denen er vorgaukelte, dass er eine ernsthafte Beziehung suchte. Das volle Programm eben. Ob das stimmte oder nur zum Teil, keine Ahnung. War ja auch sein Bier. So war es jedenfalls gewesen. Und so ist es wieder. Aber in Matria war das so: Smartphone gleich Sex, Sex gleich Unterdrückung.

Männer kriegten also keine Computer, keine Handys, keine Tablets, nichts, wir durften nicht ins Internet, wir durften nicht mal in die Nähe von PCs. Nachdem wir unsere Jobs an unsere Nachfolgerinnen übergeben hatten, war das auch nicht mehr nötig, denn wir verrichteten nur noch Sklavendienste.

Ich wurde nach Norden deportiert. An die äußerste Grenze von Bayern, sorry, von Matria, nach Coburg. Paula blieb, wo wir waren. Unsere Wohnung wurde ein Nest für Kleinkinder.

Ich war eigentlich Ingenieur gewesen vorher. Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass man uns so schnell ersetzen könnte, aber es ging. Locker. Das lief so: Jeder von uns bekam ein oder zwei Frauen zugeteilt. Denen sollte man den eigenen Job erklären. Das waren Absolventinnen, manchmal auch Gesellinnen oder so, junge Dinger größtenteils, viele der richtigen Ingenieurinnen kamen aus dem Ausland. Die waren gerade erst nach Bayern gekommen. Es setzte ja eine weltweite Begeisterung bei den Emanzen ein und Matria wurde überschwemmt von Aktivistinnen. Bizarre Situation war das: Amazonen mit Waffen in den Firmenbüros, Männer, die jungen Frauen etwas erklärten und panische Angst hatten. Einige von uns sind direkt an ihren PCs abgeknallt worden. Ich hab’s nicht selbst gesehen, aber jeder weiß das. Bei uns lief alles wie immer. Ich war nie der große Chauvi im Büro gewesen. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Ich war auch nicht der Bertriebsfeier-Baggerfahrer. Nicht nur wegen Paula. Einfach so. Macht die Dinge kompliziert. Und ich mag’s nicht kompliziert. Absurd: Tagsüber brachte ich jungen Frauen bei, wie man mich ersetzen konnte, abends schmiss ich Steine auf Flaschen und lief durch den Wald und sehnte mich nach meiner Frau.

Bis ich ging.

Das war so vier Wochen nach der Revolution. Ich nahm ein paar Sachen und ging aus der Tür. Es war kühl, der Morgen graute. Ich schlug den Weg über die Hügel ein, dann durchs Maintal nach Süden, links und rechts standen barocke Kirchen über dem Tal. Männerherrschaft, katholische Kirche. Ich hatte so einen Hass auf diese Typen. Ohne deren jahrhundertelange Verbohrtheit wäre es nie dazu gekommen, dass ich da war, wo ich war. Ich dachte an Paula. Ich dachte auch darüber nach, ob ich sie unterdrückt hätte oder so. Aber mir fiel nichts dazu ein. Wir führten eine gleichberechtigte Partnerschaft. In jeder Hinsicht. Als ich Bambergs Türme am Horizont erblickte, war es Nachmittag. Ich hatte nichts zu essen, ich wusste nicht, wo Paula war, wo ich hingehen sollte. Bayern ist verdammt riesig, wenn man zu Fuß unterwegs ist, ohne Geld, ohne Handy, ohne Essen. Aber ich war verzweifelt. Ich wollte nicht aufgeben. Es war Herbst, ich sammelte Nüsse und Beeren und trank aus Bächen. Am Abend näherte ich mich einem Bauernhof. Ich hatte keine Ahnung, was das neue Regime mit den Bauernhöfen angestellt hatte. Der Hof lag einsam vor mir, am Hang, so dass ich mich von oben aus dem Wald näherte. Es war schon dunkel. Ich wollte nicht wie ein Einbrecher wirken, deshalb sagte ich, als ich auf den Hof zwischen den Ställen, der Scheune und dem Wohnhaus trat, laut: „Guten Abend, Grüß Gott!“

Nach kurzer Zeit wurde die Tür des Wohnhauses aufgerissen. „Was wollen Sie?“ Die Stimme einer Frau. Sie zitterte leicht. Sie hatte Angst. Dann eine andere weibliche Stimme. „Kommen Sie ins Licht.“ Ich trat näher. Die Tür ging ganz auf. Da standen zwei Frauen, wahrscheinlich Mutter und Tochter des Hofes.

„Ich bin unterwegs und habe keinen Schlafplatz.“

Die ältere trat vor: „Kommen Sie.“

Sie setzten mich in die Küche, stellten mir Brot und heißen Tee hin und Margarine, eine richtige Brotzeit, dann ließen sie mich allein. Ich sah mich um. Es war eine typisch fränkische Bauernhofküche. Ein Tisch, an dem locker zwölf Personen Platz fanden, alles war blitzsauber, nicht neu, im Gegenteil, die Küchenzeile und die Arbeitsplatten waren Jahrzehnte alt, aber alles blinkte, die Töpfe, die Kellen, alles in Reih und Glied. Ich aß. Ich hatte Schmacht wie tausend Mann. Nach einer Weile kam die Mutter, ich sag jetzt einfach mal die Mutter, zurück. Sie setzte sich zu mir. „Wo wollen Sie hin?“, fragte sie.

Ich sah sie an. Sie war vielleicht fünfzig, nicht alt, aber sie hatte vermutlich Zeit ihres Lebens gearbeitet und mit Menschen zu tun gehabt. Sie sah nicht aus wie eine Frau, die sich etwas vormachen lässt. Mir taten die Füße, die Beine weh, eigentlich alles. Ich war am Arsch. Es war aussichtslos, einen Menschen finden zu wollen in diesem riesigen Gebiet. Ich kam mir vor wie Mad Max oder wer. „Ich hab keine Ahnung“, dann sagte ich leiser: „Ich suche meine Frau.“

„Wo kommen Sie denn her?“, fragte sie.

„Coburg.“

„Und wo wollen Sie hin?“

„Keine Ahnung.“

Sie stand auf und werkelte etwas in ihrer Küche.

„Ich suche meine Frau.“

Keine Ahnung, ob die Frau mir zuhörte. Sie werkelte weiter.

„Wir gehören zusammen.“

Sie nickte, ohne mich anzusehen.

Ich wusste nichts mehr zu sagen. Das wurde langsam peinlich.

„Ihre Frau ist da, wo sie immer war“, sagte sie.

Ich sah sie ungläubig an.

Sie erklärte es mir: „Die Männer werden umgesiedelt. Die Frauen nicht.“

Ich nickte, dabei kam ich mir unheimlich doof vor.

„Aber“, sagte sie. „Sind Sie sicher, dass Sie das machen sollten?“

„Wieso?“, fragte ich.

„Weil Sie sicher nicht das antreffen, was sie suchen“, sagte sie. Ich betrachtete ihre Hände. Das war harte Arbeit, ein Leben lang harte Arbeit. Vermutlich hatte sie nicht viel von der Welt gesehen, hatte wenig Ahnung von Trends und Moden und wenn, dann spielten sie in ihrer Welt keine Rolle. Es war merkwürdig, aber diese Frau, die in den Begriffen des 21. Jahrhunderts hinterm Mond lebte, erschien mir weise. Wahrscheinlich war ich todmüde. Das war alles.

Ich sah sie fragend an.

„Wenn Sie überhaupt bis dahin kommen.“

„Ich muss es versuchen“, sagt ich.

„Dann brauchen Sie Kraft“, sagte sie und stemmte beim Aufstehen die Hände auf den Tisch. Ich folgte ihr. Sie brachte mich nach oben, zeigte mir ein einfaches Zimmer und ein Bad auf dem Gang, dann ließ sie mich allein.

Am nächsten Morgen wachte ich als letzter auf dem Hof auf. Im Haus war niemand, ich sah jedenfalls niemanden und keiner antwortete auf mein mehrmaliges „Guten Morgen“. In der Küche fand ich ein Frühstück. Ich machte mich auf den Weg, ohne mich zu verabschieden. Ich wusste ja jetzt, wo ich hinmusste. Und der Weg war weit. Ich würde nicht jeden Abend so viel Glück haben.

Bis Mittag war ich in der Fränkischen Schweiz. Es war ein prachtvoller Altweibersommer. Das Wort schien seltsam treffend, oder? Ich umging die Dörfer, die Städte sowieso. Autos waren wenige unterwegs und ich vermied die Straßen eh, sondern nahm die Wander- und Waldwege. Naja, ich schaffte es jedenfalls in einer Woche bis runter nach Oberbayern. Dann stand ich nachts vor unserem Haus. Es war so ein typisches Apartmenthaus, wie sie um zwanzig-zwanzig überall gebaut wurden. Das bedeutet aber auch: Keine Möglichkeit, unbemerkt reinzukommen. Ich vermied es, direkt vor die Eingangstür zu treten, denn da ist eine Kamera. Ich suchte eine Telefonzelle, als ich endlich eine gefunden hatte, stellte ich fest, dass sie nur mit einer Telefonkarte funktionierte und ich wollte nicht riskieren, in einem Kiosk verhaftet zu werden, wo ich es schon so weit geschafft hatte. Anrufen war also keine Option. Heute weiß ich: Ich hatte nicht mal Paulas Nummer, weil ich mir die nie gemerkt hatte, sie war ja immer ganz oben im Smartphone gespeichert. Da stand ich auf der Straße, wie ein Penner. Ich WAR ein Penner!

Gegenüber befand sich ein kleiner Park, aber ich konnte nicht riskieren, auf der Straße vor dem Haus meiner Lebensgefährtin oder meiner ehemaligen Lebensgefährtin aufgegriffen zu werden. Ich war ein Stalker, sie hätten mich fertiggemacht. Einbrechen? Unmöglich, es war das Penthouse, das wir gekauft hatten, ganz oben also. Es brach mir das Herz, aber ich zog erstmal ab, latschte durch die Straßen trotz Ausgangssperre für Männer, das war riskant, aber ich schaffte es auf eine Brache, wo sie früher wohl Gebrauchtwagen angeboten hatten und schlief unter einem Vordach. Die eine Woche hatte mich gleichermaßen zermürbt als auch abgehärtet. Ich wusste ja, wann Paula täglich zur Arbeit ging. Da wollte ich sie abpassen. Dafür musste ich aber am frühen Morgen wieder zurück zu ihrem Haus, unserem Haus. Die Straßen würden voll sein mit Frauen auf dem Weg zur Arbeit und ich hätte keine Möglichkeit mich zu verstecken. Bei ihrer Arbeit aufzutauchen wäre totaler Wahnsinn gewesen. Ich brauchte einen Plan. Da kauerte ich auf einem Schrottplatz unter einer Wellblechhütte, im Oktober, fror und gierte nach etwas Essbarem und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Und da fanden sie mich auch. Und brachten mich weg.

Ulla Zumteufel ist Mitte 50, durchtrainiert wie eine Spitzensportlerin. Sie betreibt ein Fitness- und Kampfsport-Zentrum für Frauen und Mädchen. Wir treffen sie in ihrem Büro.

“Natürlich bin ich wütend. Ich bin immer noch wütend. Diese blöden Kühe haben den größten Sieg der Menschheit erkämpft und ihn sich dann wegen ihrer Naivität wieder wegnehmen lassen. Na gut, vielleicht ist der Mann doch das grundsätzlich Böse in der Evolutionsgeschichte. Wahrscheinlich. Klingt total mythologisch, religiös, aber wie soll man das anders deuten? Der Mann gewinnt immer. Er hat immer die Oberhand behalten und in Matria eben auch wieder. Was für die Frauen aussah wie ein Sieg, war für den Mann nur eine Kampfpause.

Der Mann ist gerissen. Er kam nicht Form einer waffenstarrenden Armee daher. Nein, ein Knabe war es, fast noch ein Kind. Als wenn wir nicht 2000 Jahre Christentum hinter uns gehabt hätten, wo auch ein Knabe zum Herrscher der Welt wurde. Ach, es ist zum sich die Augen auskratzen. Wenn ich daran denke, wie eine meiner Töchter zum ersten Mal von ihrer Amazonenausbildung nach Hause kam, wie stolz ich war. Sie ritt zu Pferde an der Grenze entlang. Wie bescheuert wir waren!

Jedenfalls gaben sie alles aus der Hand. Ich bin nicht der Meinung, dass Männer immer gewinnen. Jedenfalls nicht in der gesamten Natur. Wussten Sie, dass Mitochondrien nur durch Mütter weitergegeben werden? Sie wissen nicht, was Mitochondrien sind. Gut. Stellen Sie sich einfach als Kraftwerke der Zelle vor. Kraft - WERK, verstehen Sie. Diese winzigen Dinger sind überaus wichtig. Mitochondrien, so heißen sie. Mitochondrien. Und die sind wirklich entscheidend. Für jedes Lebewesen und vor allem für die Evolution. Denn anders als die männlichen Neo-Darwinisten uns immer glauben machen wollten, entstehen neue Arten nicht durch Auslese. Durch Auslese wird ausgelesen. Ausgeschieden, gekillt. Typisch männliches Prinzip. Ausschließen, wegbeißen, verdrängen, erobern, unterdrücken. Dadurch überleben stärkere Individuen, das ist korrekt, aber es erklärt nicht die Weiterentwicklung des Lebens geschweige denn die Entstehung neuer Arten. Das geschieht durch Symbiose, durch Vereinigung, Verschmelzung - Zusammenarbeit, wenn Sie so wollen. Warum ich das ausführe? Ganz einfach, die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle waren früher eigenständige Zellen, beziehungsweise Lebewesen - also Bakterien, die sich mit anderen zusammengetan haben, also in die Zellen aufgenommen wurden, erst dadurch entstand etwas Neues. Keine Auslese, sondern Zusammenarbeit!

Und dass diese Mitochondrien nur durch die Mutter weitergegeben werden, das hat ja einen Sinn. Es ist nämlich so, dass in einer weiblichen Eizelle hunderttausende von Mitochondrien enthalten sind, in einer männlichen allenfalls ein halbes Dutzend. Und kurz nach der Verschmelzung der Samen- mit der Eizelle werden die männlichen Mitochondrien eliminiert, vernichtet. Um wieder zum Anfang zu kommen: Das hätten die Weiber auch machen sollen: Die Männer alle eliminieren. Man hätte Kinder durch künstliche Befruchtung zeugen können. Oder wenn das technisch zu aufwendig gewesen wäre, dann hätte man ein paar Zuchtmänner halten können. Das wäre doch recht einfach gewesen. Man bräuchte eigentlich nur ein Gehege mit Auslauf, Sportmöglichkeiten, Futterstellen, aber vor allem Bäume, Hindernisse, sowas in der Art. Männer müssen sich ja ständig beweisen. Am besten hätte man sie in den Zoo gesperrt, wo sie immer von wilden Tieren bedroht gewesen wären, und dann hätte man ihnen einfach regelmäßig den Samen abgezapft. Naja, das machen sie ja selber. Es wäre also einfach gewesen, den einzusammeln und an ein paar fortpflanzungsbereite Kühe zu verteilen. Barbarisch? Unmenschlich?? Mag sein, aber da wir es mit dem gemeinsten, hinterhältigsten Wesen der Erdgeschichte zu tun haben, dem Mann, da glaube ich, dass jedes Mittel recht gewesen wäre.”

Dr. Freya Weber, ehemalige Leiterin des Penthesilea-Internats

Was soll ich dazu sagen? Ja, von uns ging irgendwie alles aus. Wir haben diesen Jungen reinbekommen. Damit fing es meiner Ansicht nach an. Faktisch. Äußerlich fing es damit an. Wahrscheinlich lag es daran, dass in unseren Köpfen die alte Ordnung, die Herrschaft der Männer über alle Bereiche des Lebens nie aufgehört hatte. Und selbst wenn wir uns schon seit vielen Jahren dagegen stemmten, wenn unser ganzes Tun, meine ganze Kraft als Internatsleiterin für die Abschlussklasse darauf ausgerichtet war, diese primitiven Triebe abzutöten, es hat letztendlich nicht funktioniert.

Aber ich wollte über den Jungen reden.

Felix, so nannten wir ihn erst später, aber naja, Felix war unter den anderen Neuzugängen. Ich weiß gar nicht mehr wie es genau dazu kam. Sicher war es eine Anordnung von oben.

Die Neuzugänge hatten sich mit allen, die schon seit ihrer Nestzeit bei uns waren, in der Halle versammelt. Ich trat also vor die versammelten Jugendlichen, die teils herumstanden, teils auf den Kissen am Boden saßen. Es hockten immer drei bis vier Mädchen und Jungen zusammen und tuschelten. Die Neuzugänge saßen ebenfalls in kleinen Gruppen oder paarweise zusammen. Nur dieser Junge war allein. Ich kannte ihn ja schon von der Krankenstation und den Befragungen. Beziehungsweise: ich kannte ihn nicht, denn er erzählte ja nichts, aber ich wusste, wer er war. Oder, dass er da war. Genau genommen wusste ich nichts, außer, dass er existierte. Und dass er kein Androide war. Er war auf alle möglichen Arten durchleuchtet worden. MRT, Ultraschall, Röntgen. Der Mütterrat war sehr misstrauisch. Einige der Wissenschaftlerinnen, der Machtzirkel bestand ja größtenteils aus Naturwissenschaftlerinnen, einige der Ältesten vermuteten nicht-metallische Nanopartikel, die ein Funknetz ergeben könnten, in seinem Körper und deshalb wurde er auch von Nachrichtentechnikerinnen überprüft. Aber er schien mit niemandem in Kontakt zu stehen. Es wurde vermutet, dass er über spezielle Gedächtnistechniken verfügte. Oder dass er ganz simpel, Nachrichten in Geheimschrift außer Landes brachte. Man vermutete einen Spion in ihm. Außerdem wurden alle Geburts- und Rekrutierungslisten genau durchgesehen, aber er stammte definitiv nicht von uns. Aus Matria. Beziehungsweise aus Bayern, das war Matria ja vorher gewesen. Er musste von außen gekommen sein. Die Frage war: Warum? War es ein Unfall? War er ein Soldat einer ausländischen Macht? Aber dafür bot sich kein Anhaltspunkt, denn er war Zivilist, soweit man sehen konnte. Außerdem war er nach Prüfung unserer Ärztinnen zu jung, um Soldat zu sein. Außer die gegen uns gerichteten Regime verpflichteten Minderjährige zum Kriegsdienst. Unserer Schätzung nach war er sechzehn, als wir ihn fanden und bei uns aufnahmen. Ungefähr.

Als ich hereinkam verstummten sie. Die Lehrer, die am Rand standen, sahen zu mir, ebenso die Schülerinnen und Schüler.

Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir Anweisungen von oben hatten, wie wir die Rede genau halten sollten. Also, wo wir zu stehen hatten. Ob an einem Rednerpult oder ob wir mit einem Handmikro locker zwischen den Anwesenden herumlaufen sollten. Oder ob wir uns in die Mitte der Halle setzen sollten. Das weiß ich nicht. Ich vermute, dass wir keine Anweisungen bekommen hatten. Das wäre allerdings ungewöhnlich gewesen, denn für gruppendynamische Situationen aller Art gab es genaue Erfahrungserzählungen. Diese Erfahrungserzählungen waren genaugenommen Vorschriften, sie erzählten in scheinbar lockerer Form, wie andere Frauen sich in ähnlichen Situationen gefühlt und verhalten hatten. Damit hatten sie den Rang von unumstößlichen Gesetzen. Was andere Frauen erfahren und erlitten und erstritten hatten, das war in Matria wie die Bibel in patriarchalen Gesellschaften vor der Industrialisierung. Vermutlich hatten wir Vorgaben für solche Reden. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe vieles vergessen. Es ist viel passiert.

Ich trug wie immer ein dunkelblaues Kostüm. Der Rock, der mir knapp bis über die Knie ging, hätte ein Sitzen auf dem Boden nicht ermöglicht. Ich nahm also das Rednerpult. Ehrlich gesagt konnte ich mich daran auch festhalten, denn ich war ziemlich nervös. Ich war immer sehr nervös. Ich war an jedem einzelnen Tag der Republik nervös, denn ich wusste, dass ich im Dienste eines außerordentlichen Projektes der Menschheit stand. Ich weiß, das klingt pathetisch. Aber ich war nervös. Verstehen Sie?

Ich stehe also am Pult und ziehe meine Karteikarten hervor. Ich sehe in ungefähr 200 erwartungsvolle Gesichter. Junge Gesichter. Kindergesichter. Unschuldige Kindergesichter auf den Körpern von jungen Erwachsenen. Einen kurzen Moment zuckt ein Bild durch meinen Kopf. Wie abgezockt, abgeklärt, abgebrüht wir als Jugendliche doch waren. Oder wie abgeklärt wir uns gaben, obwohl wir innerlich vibrierten. Und wie naiv und unschuldig diese 16jährigen aussehen!

Für einen Moment tauchen Bilder in mir auf. Von Feten, von Lichtorgeln, bunten Lampions, laute Musik, Zeltlager, Lagerfeuer, Schlafsäcke, Jugendherbergen, Pickel, Cremes, Angst, Aufregung. Das haben wir ihnen alles genommen, dachte ich in dem Moment - ohne Bedauern. Wir haben ihnen den Stress der ständig in einem jungen Menschen herumtobenden Sexualität genommen. Wir haben sie von der Gewalt befreit, die sie sich einander antun. Wir haben den Konkurrenzkampf zu Paarungszwecken abgestellt. Sie sind Menschen, denen nicht ständig das Tiersein in die Parade fährt. Das denke ich. Und ich bin zufrieden. Ich lasse meinen Blick über die Gesichter wandern und für einen kurzen, einen ganz kurzen Moment streicht meine Zungenspitze über meine Unterlippe und ich sehe vor meinem inneren Auge einen Jungen, den ich geküsst habe, auf einer Fete als ich vielleicht achtzehn war. Und ich sehe in die Gesichter und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich sie dafür bedauere, dass sie so etwas nie erleben werden.

Dann fange ich mich und als ich gerade die einleitenden Worte gesprochen habe, da geht hinten links die kleine Seitentür auf, die selten benutzt wird. Und die Große Schwester, Frau von Isenheym, schlüpft herein. Ich stocke kurz, blicke dann entschlossen, mich nicht ablenken zu lassen ein paar Schüler auf der anderen Seite des Saales an und richte meine nächsten Worte an sie. Was ich insgesamt gesagt habe, das weiß ich nicht mehr. Es wird eine Rede gewesen sein wie sie zu hunderten und tausenden in dieser Zeit gehalten worden ist. Als ich damit fertig bin, sehe ich den Jungen nicht mehr. Ich werde irgend etwas zu tun gehabt haben. Als Schulleiterin hat man ja immer irgend etwas zu tun.

Am nächsten Tag begann der Unterricht, der Junge verschwand schnell in der Schülerinnenschaft. Es gab überhaupt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Ich behielt ihn genau im Blick, erstattete Bericht, aber er fiel nicht auf. Wie man es sich von jedem Kind wünscht, wurde er in die Gemeinschaft aufgenommen. Er spielte mit den anderen im Garten, er aß mit ihnen, lachte, er schlief gemeinsam mit allen in den Nestern. Nur eine Sache war auffällig: Er schien nichts von seinem Leben, bevor wir ihn gefunden haben, zu wissen. Hilde Körner, eine unserer Lehrerinnen kam eines mittags zu mir, sie ließ sich ächzend auf ein Polster sinken und erwartete offensichtlich, dass ich mich neben sie setzte und sie in den Arm nahm oder so etwas. Das war etwas, mit dem ich mich nie anfreunden konnte: Die ständige Anfasserei in der Führungsschicht von Matria, das Schweigen, dieses demonstrative Schweigen, um Gemeinsamkeiten, stummes Einverständnis zu signalisieren. Ehrlich gesagt, und das hätte ich damals nicht mal mir selbst eingestanden, ist mir eine vernünftige Excel-Tabelle tausendmal lieber als das ganze Geschweige. Jedenfalls, Janina saß auf dem Polster, oder sie lag halb, und halb war sie darauf gefallen, jedenfalls war sie da. “Wie fühlst du dich?”, fragte ich. Das war unsere übliche Begrüßung damals.

“Ach”, stöhnte sie und winkte ab.

Ich blieb stehen und sah auf sie herab. Eine unhaltbare Situation für Matria. Allein die Hierarchie, die ich dadurch betonte. Man versuchte ja eigentlich immer alle gleichzumachen, ich hätte mich neben sie kauern müssen. Frau Körner sagte: Der Junge ist irgendwie anders.“

Muttergefühle

Sophie, Mitte 40, war eine der zahlreichen “Töchter”, Assistentinnen der Staatslenkerin. Sie wirkt noch immer sehr ergeben, wenngleich weder das System, noch die Institution der Obersten Mutterschaft weiterbestehen. Sie faltet während unseres Gesprächs unablässig kleine Figuren und Tierchen aus Papier und stellt sie auf. Sie spricht sehr langsam, mit ungewöhnlich langen Pausen zwischen den Sätzen.

Als wir merkten, dass die Substanz nicht nur die Libido ausschaltete, sondern auch die damit zusammenhängenden

sozialen Gefühle, waren wir erst einmal alarmiert.

Aber es war die Oberste Mutter, die die entscheidende

Eingebung hatte. Sie begrüßte diese Entdeckung als Umfassende Befreiung.

Sophie macht nun eine so lange Pause, dass das Befragungsteam schon vermutet, sie sei eingeschlafen oder weggetreten. Aber dann redet sie weiter.

Sie ordnete an, dass von nun an alle Kinder gemeinschaftlich erzogen werden sollten.

Nachdem sie drei weitere Figuren gefaltet und aufgestellt hat, spricht sie weiter.

Schnell etablierte sich das System der Nester, in denen mehrere Frauen gemeinsam die ihnen anvertrauten Kinder aufziehen, bis sie alt genug sind, um in eine der Wohnschulen zu wechseln.

Hier beendet Sophie das Interview.

Etwa zehn Tage später erhalten wir eine Email. Sophie schreibt einen Nachtrag:

Das System funktionierte nahezu optimal, denn es stellte sich heraus, dass ohne die Substanz das Besitzdenken der leiblichen Mutter komplett ausgeschaltet war. Die Babys und Kleinkinder bekamen natürlich keine Medikation und wie die Oberste Mutterschaft es vorausgesagt hatte, nahmen die Kleinen alle Frauen, die sich um sie kümmerten, gleichermaßen an. Es war, so scheint es mir heute, eine medikamentöse Korrektur einer evolutionär gesehen überflüssigen Funktion: Das Besitzen von Menschen hatte in unserer Gesellschaft ausgedient, es war funktionslos geworden, also schafften wir es ab.

Er wird gefunden

Ausschnitt aus einem Drehbuch-Entwurf für einen Action-Thriller, der die letzten Monate des Staates behandeln soll. Der Film befindet sich in Pre-Production, das heißt, es existiert eine erste Drehbuch-Fassung, Produzenten und Geldgeber prüfen die Erfolgschancen. Möglicherweise gibt es schon erste Anfragen an Schauspieler.

Der Drehbuchautor will anonym bleiben, aber es kursieren Gerüchte, dass er zu den „Söhnen der Mütter“ (Matrias nebulöser Eunuchen-Armee) gehörte.

Der Junge ist nackt. Er liegt im nassen Laub. Seine Haut ist braun. Schläft er?

Vorsicht!

Zwei Soldaten mit Exo-Skelett-Rüstungen nähern sich.

Scan

menschlich

unbewaffnet

Körperfunktionen normal

schlafend

Herkunft undefiniert (klären!)

Identität undefiniert (festsetzen!)

Hermaphrodit-Status zero (sofort festsetzen!)

Einer der Soldaten hebt den Jungen auf wie eine Puppe aus Styropor. Der Junge erwacht kurz. Er schlingt seine Arme um den Hals des Mannes. Ungeachtet der stahlummantelten Leitungen, die vom Helm zum Exo-Skelett verlaufen.

Im Visier des Soldaten leuchtet es gelb.

Der Soldat lässt den Jungen fallen.

Alarm gelb.

Ich ordere eine Drohne.

Okay. Der Soldat, der den Jungen trug, streckt seinen rechten Arm in Richtung des Jungen. Seine Unterarm-Waffe wird in Bereitschaft gebracht. Noch ist sie gesichert.

Mit einem leisen Bing kündigt die Drohne ihre Landung an. Sie setzt sanft auf dem Waldboden auf. In weiter Ferne kann man den Rennsteig erkennen. Das Mittelgebirge, das den Grenzverlauf zu Preußen-Pommern bildet. Wenn der Soldat sich nach Osten dreht, wird ihm in seinem Visier mit einer roten Markierung die Grenze zu Groß-West-Slavien, ehemals Tschechien, genauer gesagt, der Frontverlauf zwischen den Staaten gezeigt. Die Drohne öffnet mit leichtem Sirren eine gläserne Seitenabdeckung. Sie hat den Jungen und beide Soldaten schon im Landeanflug gescannt. Entweder hat sie die Informationen an eine Leitzentrale weitergegeben, wo eine Offizierin alle notwendigen Entscheidungen getroffen hat. Oder sie ist so programmiert, das sie automatisch handelt. Obwohl es nicht notwendig ist, wendet sich die Drohne mit einer mütterlichen Stimme, die sanft ist, dennoch keinen Widerspruch duldet, an die beiden Krieger: „Guten Morgen, ich bin Undine, eine Transportdrohne des Verteidigungsministeriums. Ich bin unbewaffnet. Wie geht es euch?“

Der Soldat, der den Jungen bewacht, lacht leise in sich hinein. Er weiß, dass die Kommunikationsfunktion der Drohne von Frauen programmiert wurde, deren oberstes Ziel Harmonie ist. Um sich nicht verdächtig zu machen, antwortet er: „Ich fühle mich ein bisschen gereizt, aber ich bin froh, dass du jetzt da bist, Undine. Danke.“

„Alles ist gut“, sagt die Drohne und fährt eine Krankentrage aus. „Könnt ihr das Objekt hier auflegen, bitte?“

„Klar, Schätzchen!“, sagt der andere Soldat mit einem spöttischen Unterton.

Die Drohne gibt einen Laut von sich, als wenn eine Frau scharf die Luft durch die Zähne einzieht.

„Aaargh!“ Der Soldat bekommt einen Stromschlag, den sein Exo-Skelett freisetzt, um ihn zu bestrafen.

„Pardon!“, sagt die Drohne freundlich.

„Schei ...“, Scheiße, will der Soldat sagen, aber er verkneift es sich. Im Kampfanzug des Soldaten wird ein leicht betäubendes Gas freigesetzt. Seine Augenlider schließen sich ein wenig.

„Bitte?“, fragt die Drohne scharf.

„Natürlich, Undine!“, sagt der bestrafte Soldat pflichtschuldig und verneigt sich leicht vor dem Roboter.

Die beiden Soldaten betten den Jungen auf die Krankentrage-Schublade der Drohne und treten dann zurück.

Die Drohne schließt die Schublade und sagt: „Danke, ihr. Machts gut. Ich wünsche euch einen schönen Tag, ja?“

„Dir auch, Undine!“, sagt der bestrafte Soldat.

„Machs gut und danke, ne?“, sagt der zweite Soldat und winkt mit einer mädchenhaften Geste als die Drohne davonschwirrt.

Als sie außer Sichtweite ist, sagt der bestrafte Soldat: „So eine Scheiße. Musstest du so ein Mistvieh ordern?“

„Halt den Mund, Kamerad“, sagt der andere. „Du weißt, dass jedes deiner Worte aufgezeichnet wird.“

Der gedemütigte Soldat senkt den Blick, schließt die Augen und denkt: Meine Gedanken könnt ihr nicht tracken, ihr Schlampen!

Tagebuch Gerti von Droste-Hülshoff

Gerti von Droste-Hülshoff weiß wie alle Menschen, die in Matria geboren wurden, nicht, wer ihre Eltern sind. Sie wurde in einem Schwesternhaus geboren und als Baby in eine Wohngruppe, ein sogenanntes Nest, gegeben. Im Anschluss an die Nestphase, in der die Kinder von den Müttern, also mehreren Frauen, die diese Wohngemeinschaft bildeten, gemeinsam erzogen wurden, wurden die Kinder auf Internate verteilt. In der Regel versetzte man sie in ein völlig anderes Gebiet von Matria und mischte die Kinder ganz neu. Die psychischen Belastungen kann man sich vorstellen.

Die Kinder bekamen nie den oder die Namen ihrer leiblichen Eltern, sondern wählten zu Beginn des Internatslebens selbst oder mit Hilfe der Pädagoginnen einen Nachnamen aus. Es verwundert nicht, dass die meisten Kinder politisch korrekte Namen wählten. Häufig finden wir Butlers, Walkers, auch Thatchers, Luxemburgs.

Das Tagebuch wurde uns von der zuständigen Staatsanwaltschaft überlassen. Die Einträge wurden nur orthographisch korrigiert. Sie sind in dem kleinen Büchlein undatiert. Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass sie kurz nach der Aufnahme von Felix in das Penthesilea-Internat beginnen und sich über den gesamten Zeitraum bis zur Auflösung von Matria erstrecken. Der Partikel „von“ in ihrem Nachnamen geht auf die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff zurück und bedeutet in Gertis Fall nicht, dass sie eine herausgehobene Stellung in Matrias Gesellschaft innehatte.

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Ich weiß nicht, warum ich ein Tagebuch schreiben will, aber ich habe das Gefühl, als ginge etwas vor, das ich anders nicht begreifen kann. Vielleicht ist es normal, vielleicht auch nicht. Ist es normal? Nein, es kann nicht normal sein, denn in Matria ist nichts normal. Heute hörten wir in der Geschichtsgruppe wieder von den unaussprechlichen Greueltaten der Männer in früheren Zeiten. Ich bin so, so glücklich, in dieser Zeit zu leben, das Glück, in Matria aufzuwachsen, ist unbeschreiblich. Da ärgert es mich um so mehr, dass meine Mitschülerin nicht erkennen, wie dankbar sie sein müssen. Gestern haben sie den halben Tag über unsere Frau Dr. Weber getratscht. Im Garten. Anstatt sich sinnvoll mit etwas zu beschäftigen, was unserer Sache dient, sitzen sie herum und ziehen über alles und jeden her. Ich finde, Dr. Weber lässt sich von ihnen täuschen. Die nutzen sie doch nur aus. Anstatt sich mit etwas zu befassen, sitzen sie rum. Wenn ich das sehe, dann zweifle ich an den Annahmen des Mütterrates, wonach alle Menschen, wenn sie frei sind, nach Entfaltung und Arbeit streben. Entfaltung zur Arbeit heißt es ja. Vielleicht muss ich auch nur mehr Vertrauen haben. Daran mangelt es mir, das weiß ich. Nicht an Vertrauen in die Richtigkeit unseres Tuns, ich misstraue der Einzelnen. Kann ich dem großen Ganzen eine Chance geben, wenn das Kleine, Einzelne mir schwach, wankelmütig, sogar fehlerhaft, falsch – um nicht zu sagen böse vorkommt? Wenn der Einzelne die Fähigkeit zum Bösen hat, dann kann das große Ganze nicht perfekt sein. Aber kann es wenigstens in groben Zügen richtig sein?

Beratungen

SCHRIFTLICHER BERICHT von Carla von Kaleko, „Tochter der Obersten Mutterschaft“ (Bezeichnung für die Funktion einer Staatssekretärin in Matria), eine der engsten Vertrauten von Brunhilde Bauer, der faktischen Diktatorin von Matria, unveröffentlichter Ausschnitt aus dem Entwurf ihrer Autobiografie. Anm. d. Befragenden: Der Partikel „von“ im Namen einer Frau in Matria bedeutet Zugehörigkeit zum engsten Zirkel um Brunhilde Bauer, die Große Mutter.

Ein Raum, der wie ein überdimensioniertes Wohnzimmer aussieht: Überall Sitzkissen und Sofas, ein paar Tischchen, aber auch Schreibpulte mit bunten Stiften, Glasperlen hängen von der Decke, Bilder von Frauen auf Fotos, Gemälden, Kinderbildern und Collagen zieren eine große Wand über einem Ohrensesseln, der mit einer Patch-Work-Arbeit gepolstert ist. Auf den Bildern erkennt man bekannte Frauen wie Simone de Beauvoir, Hillary Clinton, Susan Sontag, Anne Frank, Madonna, Maria, Emma Watson, aber auch ganz normale Frauen in Gruppen oder allein. Im Raum sitzen und liegen Frauen in kleinen Gruppen. Die Ministerin tritt ein. Alle Frauen wenden den Kopf zu ihr. Die Ministerin geht schlendernd durch den Raum und tätschelt Hände, streicht über Wangen, umarmt eine alte Weg - sprich Kampf-Gefährtin. „Na du?“, „Hallo, schön, dass du da bist.“ „Wie geht es deiner Mutter?“, „Gut siehst du aus.“ „Wir machen mal wieder was zusammen“. Die Ministerin hat für jede der Frauen ein Wort. Es dauert nahezu ewig, bis sich Brunhilde Bauer, die Ministerin für Harmonie, die eigentliche Regierungschefin, durch den Raum bewegt hat und in ihrem Ohrensessel Platz nimmt. Sie bekommt eine Tasse mit Kräutertee gereicht und lächelt die junge Adjutantin an. „Danke, mein Kind“

Die Adjutantin deutet einen Knicks an und erwidert: „Sie sind so gütig zu mir.“

Die Ministerin nimmt einen Schluck und stellt die Tasse auf das Tablett, das die Adjutantin ihr hinhält. Dann faltet sie die Hände im Schoß und blickt sich mit einem aufgesetzten, also falschen, milden Lächeln um. Sie breitet die Arme aus und sagt salbungsvoll: „Schwestern. Freundinnen. Frauen. Bevor wir unser heutiges Beisammensein beginnen, lasst uns der Frauen danken, die in Jahrtausenden unterdrückt wurden, die standhaft bleiben, die ihren Geist frei hielten, wenngleich ihre Körper versklavt waren, die dienen mussten und nicht frei denken durften. Gedenken wir aller Mädchen, die keine Schule besuchen durften, die verheiratet wurden an Männer, die sie beherrschten, die über sie verfügten, die sie knechteten und geringer achteten als ihre Pferde. Gedenken wir der Mütter, die uns voller Ekel empfingen, unter Schmerzen zur Welt brachten, uns das Leben schenkten und uns in die Obhut der Großen Mutter gaben, wissend, dass eine Mutter eine Mutter ist und Sorge, Liebe und Harmonie in jeder von ihr wohnt, wenn sie sich frei entfalten darf. Frei wie unter der Obhut der Großen Mutterschaft.“

Sie lässt die Hände sinken und blickt erwartungsvoll in die Runde.

Ein vielstimmiges „Aaach“, ein Seufzer der Wonne, der Erleichterung, der Zustimmung kommt aus den Mündern der gut zwei Dutzend Frauen. Woraufhin Brunhilde Bauer milde lächelt.

Dann sagt sie: „Wir haben einen Jungen gefunden.“

„Ahh“, machen die Frauen.

Die Tochter der Obersten Mutterschaft tritt vor: „Der Junge wurde von zwei Eunuchen im Waldgebiet hinter der Veste gefunden, schlafend. Nach medizinischer Untersuchung gilt er als gesund. Sein Hermaphrodit-Spiegel war Zero, was auf eine Nicht-Einnahme von mindestens drei Monaten hindeutet. Wahrscheinlicher sind sechs Monate bis ein Jahr.“

Ein Raunen geht durch den Raum.

Erschrockene Stimmen: „Wie kann das sein?“

„Was hat er vor?“

Brunhilde Bauer hebt beschwichtigend die Hand. Die Frauen verstummen sofort. Alle.

Henriette von Isenheym fährt fort: „Die Oberste Mutterschaft hat sich des Jungen angenommen. Er ist in der Obhut unseres besten Internats: Dem Coburger Penthesilea-Internat, das Ihr alle ja von euren Visitationen kennt. Einige von euch waren dort ja auch als Dozentinnen oder Lehrerinnen angestellt. Unsere liebe Freundin Dr. Freya Weber bekommt von uns jede erdenkliche Unterstützung. Da der Junge nun wieder einen normalen Hermaphrodit-Spiegel aufweist, haben wir Gelegenheit, die Sache in achtsamer Ruhe und mit sanfter Bedachtheit anzugehen. Habt ihr Fragen?“

Eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, mit mädchenhaften Zöpfen meldet sich wie in der Schule. Henriette von Isenheym sieht die Ministerin an, diese nickt. Henriette von Isenheym sagt: „Bitte, sprich, meine Liebe.“

Die Frau mit den Zöpfen steht auf und streicht sich den Rock glatt: „Ähm, ich sorge mich, also, ich habe das Gefühl, dass ...“

„Ja, das habe ich auch“, erklingt eine weitere Stimme aus dem schummerigen Versammlungsraum.

„Ich fühle mich irgendwie unbehaglich!“, sagt eine weitere Frau.

„Mein Gefühl sagt mir ...“

„Ich hab ein bisschen Angst, aber ich bin sicher die Oberste Mutterschaft passt auf uns auf“, sagt Zora Vogel, wie Von Isenheym eine von Brunhilde Bauers Staatssekretärinnen.

„Das tut sie ganz sicher, meine lieben, lieben Freundinnen“, sagt die Ministerin und erhebt sich. Sie zupft ihr buntes Kaftan-Kleid, das von ihrem mächtigen Busen gerade hinunter zu den Fußknöcheln reicht, ein wenig zurecht. „Jetzt wisst ihr Bescheid. Und die feminine Weisheit, die uns allen von der Mutter Natur geschenkt wurde, wird euch sagen, dass ihr und alle, die euren Schutz und eure Liebe brauchen, dass alle sicher sind. Ihr seid sicher durstig. Im Foyer haben meine Töchter eine Erfrischung für euch bereitgestellt.“

„Ohh, ahh“, unter Geraune verlassen die Frauen den Raum, denn es ist klar, dass weitere Fragen nicht gestattet sind. Die Ministerin bleibt mit Henriette von Isenheym und Zora Vogel zurück. „Kommt!“, sagt die Ministerin kalt und knapp zu den beiden. Die drei Frauen verlassen durch einen hinter ein paar großen Tüchern, die von der Decke hängen, den Raum über einen geheimen Gang und finden sich wenig später in einem kaltweißen Meeting-Room wieder. Freya Weber, die in einem der Bürostühle gewartet hat, erhebt sich. „Ministerin Bauer“, sagt sie. Die Ministerin geht zu ihr, schließt sie routiniert in die Arme und streicht ihr über die Haare. Sie hält sie mit gestreckten Armen auf Abstand und betrachtet wie eine Tochter, die von einem Auslandsaufenthalt zurückkehrt. „Gut siehst du aus, Kind!“

„Danke, Mutter!“, sagt Freya Weber.

Die Ministerin setzt sich. Daraufhin setzen sich die Staatssekretärin und die Internatsleiterin.

„Rapport“, sagt Ministerin Bauer.

Staatssekretärin Vogel legt ihr Smartphone auf den Tisch und streicht darüber. Holografisch erscheint in der Mitte des Tisches eine 3D-Darstellung des Jungen mit einer Reihe von medizinischen Werten zu beiden Seiten.

„Kommen Sie gleich auf den Punkt, Zora.“

„Ja, Mutter!“, sagt Zora Vogel und erläutert. „Name unbekannt, Herkunft unbekannt, Abstammung unbekannt, Nationalität unbekannt.“

„Danke“, unterbricht die Ministerin harsch. „Die Fakten sehen wir.“ Sie wendet sich an die Institutsleiterin, die sitzend Haltung annimmt.

“Freya, Kind, was ist über sein Verhalten im Alltag des Ortes, den die Oberste Mutterschaft dir anvertraut hat, zu berichten?“

Freya räuspert sich, senkt den Blick, hebt ihn wieder um die beiden Staatssekretärinnen scheinbar unterwürfig anzusehen. „Er spricht deutsch - ohne einen Dialekt, den wir einer Region zuordnen können. Seine übrigen Sprachkenntnisse überschreiten nicht die unserer Schüler.“

„Er hat keine ausländischen Bezugspersonen gehabt?“, fragt die Ministerin.

„Ich würde sagen: Nein. Darüber hinaus sondert er sich ab, aber er ist weder ängstlich, noch aufsässig. Er weist durch den Mangel an Hermaphroditen einige Merkmale auf, die unsere anderen Kinder“, sie überlegt, was sie sagen sollte.

„Merkmale?“, fragt Henriette von Isenheym spitz.

„Was für welche?“, setzt Zora Vogel nach, als ginge es darum, mit Freya Weber gemeinschaftlich eine Widersacherin niederzumachen.

Freya Weber atmet tief durch und sagt dann betont ruhig: „Er hat eine Stimme, die man früher als typisch männlich bezeichnet hätte. Er hat Bartwuchs. Er ist muskulös. Er ist männlich im Sinne von dem Begriff vor der Umwälzung. Das macht die Kinder nervös.“

„Und?“, fragt Staatssekretärin von Isenheym drohend.

„Nichts und. Ich beschreibe die Situation. Die Kinder beobachten, die Kinder fragen sich, die Kinder lernen, die Kinder bekommen Antworten von mir und emotionalen Halt.“

„Dessen bin ich sicher, meine liebe, liebe Tochter. Deshalb hat die Oberste Mutterschaft dir auch, trotz deines – oder vielleicht klugerweise – ob deines nahezu jugendlichen Alters die Obhut des Penthesilea-Internats übergeben.“

„Danke.“

„Was macht der Junge sonst?“

„Er lebt das ganz normale Leben im Internat.“

„Ihr lasst ihn an allen Aktivitäten frei teilnehmen?“, fragt Henriette von Isenheym entsetzt.

„Natürlich“, sagt Freya. „Er nimmt doch seinen Hermaphroditen.“

„Die Wirkung des Hermaphroditen tritt vollständig erst nach 72 kontinuierlicher Einnahme ein.“

„Das weiß ich“, sagt Freya. „Aber nicht jeder junge Mann ist ein rasender Vergewaltiger.“

„Was?“, kreischt Zora Vogel. „Das ist Hochverrat!“ Beifall heischend sieht sie die Ministerin an.

„Langsam, meine Kinder, langsam. Wir sind hier im kleinen Kreis zusammengekommen, um die Sache achtsam zu erörtern, nicht um zu streiten.“

„Ich streite nicht, ich erinnere an die Maximen der Großen Mutterschaft: „Jeder Mann ist ein Täter ...“

„Ja“, sagt die Ministerin mit ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen. „Ich kenne die Maximen, ich habe sie selbst verfasst.“

„Entschuldigung, Mutter“, sagt Zora Vogel mit gesenktem Blick.

„Ist schon gut, dir liegt ja nur die Harmonie am Herzen.“

Beflissen nickt Zora Vogel.

„Freya, bitte, fahr fort.“

„Der Junge lebt also mit uns zusammen. Und es ist nichts Auffälliges passiert. Zudem, ich danke euch für eure Anteilnahme, meine Schwester“, sagt sie an Zora gewandt. „Es ist so, dass die Kinder bei uns selten allein oder in Zweiergruppen zusammen sind, meistens sind sie zu viert oder fünft oder sechs mit etwas beschäftigt.“

„Die neue Generation ist so glücklich“, sagt die Ministerin ein wenig schwärmerisch. „Die verhängnisvolle Pärchen Bildung, die es früher gab, das ganze Besitz ergreifen, Revier verteidigen, unsere Kinder gehört das in die Mottenkiste der Geschichte. Ach, wenn man doch noch einmal jung wäre.“

Die drei jüngeren Frauen schweigen andächtig und nicken. Dann fährt Freya fort: „Wie gesagt, mittlerweile ist er seit ungefähr vier Tagen unter dem Einfluss des Hermaphroditen. Er ist recht still. Die anderen Kinder bemühen sich um ihn, er scheint aber sehr mit sich selbst beschäftigt. Zudem weiß er seinen eigenen Namen nicht. Wir also auch nicht.“

„Was? Er hat keinen Namen?“, fragt Henriette von Isenheym.

„Er hat wahrscheinlich einen, aber er kann sich nicht erinnern. Vermute ich.“

„Stammt er aus einem der Labors?“, fragt Zora Vogel.

Betretenes Schweigen breitet sich aus. Das Erwähnen der verborgenen Zuchtlaboratorien ist strengstens untersagt. Die Ministerin sieht die drei nacheinander an. „Ich erteile die offizielle Erlaubnis für die Dauer dieses Meetings und nur zwischen den jetzt anwesenden Personen über das gerade eben angesprochene Thema zu reden.“ Sie zieht von irgendwo unter ihrem Kaftan einen kleinen Apparat hervor, schaltet ihn ein und legt ihn neben sich auf den Tisch. „Ihr könnt frei sprechen. Alles bleibt unter uns, nichts wird mehr aufgezeichnet. Das Herz der Madonna“, sie deutet auf den kleinen Apparat. „Unterbricht die Verbindung zu allen unseren Behütungsvorrichtungen.“

Zora Vogel sagt zu Henriette von Isenheym: „Stammt er aus einem der Labors?“

Henriette von Isenheym schüttelt den Kopf, sagt aber kein Wort.

„Sicher?“, fragt Zora Vogel.

Henriette von Isenheym nickt.

Freya Weber sieht von einer zur anderen. Dann sieht sie die Ministerin an. Die Ministerin sagt ruhig zu ihr: „Das Forschungsministerium, die Verteidigungsministerin und das Harmonieministerium sorgen sich wie immer um die Zukunft. Wir wollen nicht für alle Zeiten die Bevölkerung unter Medikamente setzen. Das darf nur eine Übergangszeit so sein. Wir beschäftigen uns mit der Zucht von Menschen, die wieder im natürlichen Zustand existieren.“

„Im natürlichen Zustand?“, fragt Freya tonlos.

Zora Vogel sieht die Ministerin an. „Darf ich?“

„Gern“, sagt die Ministerin.

Zora Vogel wendet sich an Freya: „Jedes höher entwickelte Lebewesen auf dem Planeten hat verschiedene Lebenszyklen, einer davon ist die Brunft, die Zeit der Fortpflanzung, der Elternschaft und dann einer Ruhephase, in der alle zusammenleben, in Frieden und Eintracht.“

Freya denkt an den Rauhaardackel, den ihre Eltern besessen hatten, als sie ein Kind war, Waldi, der sich täglich mindestens 20 mal am Sofakissen befriedigte. Sie denkt an Affen, an Löwen, Hirsche, die sich ganze Harems hielten. Dann versucht sie die Gedanken aus ihrem Gehirn zu verbannen, denn sie sind sicher nicht statthaft.

Zora Vogel fährt fort: „Nun, ich will hier keinen Vortrag über Zoologie halten. Unser Ziel ist es, Menschen zu züchten, die ein einziges Mal in ihrem Leben eine Fortpflanzungsphase haben und danach völlig unbehelligt von den Qualen der Fleischeslust leben können.

---ENDE DER LESEPROBE---