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Nach mehr als dreißig Jahren, in denen unzählige Berichte, Dokumentationen, Filme und sogar Theaterstücke über den mutmaßlichen Serienmörder Jack Unterweger erschienen sind, kommt dieser hier erstmals selbst zu Wort: In Form des Tagebuchs, das er während des Jahrhundertprozesses verfasst hat. Zeilen voller Wut, Verzweiflung, aber auch Leidenschaft, die neue, ungeahnte Facetten des Menschen Jack Unterweger zum Vorschein bringen. Es ist eine Abrechnung mit falschen Freunden, Justiz und Polizei, die seiner Meinung nach einen Unschuldigen vorverurteilt haben. Und doch auch eine Ode an die Liebe, die er zeitlebens viel zu exzessiv ausgelebt hat. Ergänzt wird dieses brisante Zeitdokument durch Interviews mit den damaligen Verteidigern, einem Gutachten über die kriminalistische Arbeit und privaten Briefen Unterwegers an die Herausgeberin.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Prolog: Dreißig Jahre
Editorischer Hinweis und zitierte Quellen
TEIL 1
»ENTLASSUNG UND FREIHEIT ODER 673 TAGE SCHÖNHEIT«
TEIL 2
»DER PROZESS«
„Ich habe wie eine Ratte gelebt“
I nterview mit Dr. Georg Zanger, Juni 2024
Die Zweifel eines Kriminalisten
„Ich halte mehrere Täter für plausibel“
Telefon-Interview mit Dr. Hans Lehofer, Juni 2024
„Ich habe diese Kraft nicht mehr“
(Auszüge aus letzten Briefen von Jack Unterweger)
Dreißig Jahre sind genug Zeit. Genug Zeit, um alles aus nüchterner Distanz zu betrachten. Genug Zeit, um scheinbar unversöhnliche Differenzen überwinden zu können. Genug Zeit, um auch andere Sichtweisen zu akzeptieren.
In diesen dreißig Jahren ist so vieles über den mutmaßlichen Serienmörder Jack Unterweger (1950 – 1994) gesagt, geschrieben und gezeigt worden, dass es an der Zeit ist, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen. Deshalb habe ich mich – nach Klärung urheberrechtlicher Fragen – entschieden, das von ihm in der Untersuchungshaft verfasste Tagebuch wieder herauszugeben.
* * *
Das Leben des Jack Unterweger glich einer Hochschaubahn: Von ganz unten nach ganz oben und wieder zurück. Als unehelicher Sohn eines US-Besatzungssoldaten – Jack hat ihn nie kennengelernt – und einer Kärntnerin verbrachte er seine ersten Lebensjahre bei seinem gewalttätigen Großvater, der in einer Keusche in einem abgelegenen Tal Unterkärntens hauste. Die Mutter hatte sich nach der Geburt ihres Kindes aus dem Staub gemacht, der Großvater schimpfte den Buben »Hurenbankert«. Jack war sechs, als die Fürsorge eingriff. Pflegeplätze, Kinderheim, Erziehungsanstalt, Drogen, Jugendkriminalität. Mit vierundzwanzig dann der vorläufige Tiefpunkt seines Lebens: Ein brutaler Mord an einer jungen Frau, die ihn und seine Freundin bei einem Einbruch überrascht hatte. Er trieb das verängstigte Opfer in den Wald und erschlug es dort. Wenig später wurde er gefasst und vor ein Schwurgericht gestellt. Das Urteil: Lebenslang. Im Gefängnis begann er, sein verpfuschtes Leben aufzuarbeiten. Er gründete eine Gefängniszeitung, tauschte sich mit anderen Autoren aus, und allmählich wurde man auf seine literarische Begabung aufmerksam. Die Veröffentlichung seiner Autobiografie »Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus« machte ihn als »Häfenpoeten« im ganzen deutschen Sprachraum berühmt. Nach nur fünfzehn Jahren Haft wurde Jack Unterweger 1990 vorzeitig entlassen. Er zog in die österreichische Hauptstadt Wien, wo er sich ein neues Leben aufbaute und versuchte, als Schriftsteller Journalist und Schriftsteller Fuß zu fassen.
Nur zwei Jahre später dann ein ungeheuerlicher Verdacht: Ist der in den Medien als »Parade-Resozialisierter« gefeierte Literat ein lang gesuchter Serienkiller?
* * *
Dass der »Fall Unterweger« in die steirische Landeshauptstadt Graz kam, hat einen einfachen Grund: Es war ein Grazer Untersuchungsrichter gewesen, der am 14. Februar 1992 den Haftbefehl gegen Jack Unterweger erlassen hatte. Damit wurde gemäß den Bestimmungen der österreichischen Strafprozessordnung die Tatortzuständigkeit des Landesgerichts für Strafsachen Graz begründet.
Eine Indiskretion hatte die Nachricht vom Haftbefehl einer lokalen Zeitung zugespielt, und die ließ die Bombe platzen: »Der Häfenpoet ein Serienkiller?« titelte der Boulevard österreichweit. Der durch die Meldung aufgescheuchte Unterweger flüchtete mit seiner damaligen, erst 18-jährigen Geliebten über Paris nach Miami, wo er Wochen später, am 27. Februar 1992, vom FBI verhaftet wurde. Die Medien sollten bis zum Prozess eine zentrale Rolle spielen. Unterweger wurde zum Anti-Helden der Boulevardpresse, sein Sexualleben ausgewälzt, es wurde Jagd auf seine früheren Geliebten gemacht, und für die meisten Zeitgenossen stand es schon lange vor dem Prozess fest: Er ist es, der erste Serienkiller der österreichischen Kriminalgeschichte! Denn inzwischen wurde auch wegen der in den USA verübten Mordfälle gegen ihn ermittelt. Der US-Staatsanwalt sah jedoch keine ausreichende Grundlage für eine Anklage und stimmte einer Auslieferung nach Österreich zu. Am 28. Mai 1992 um Punkt 8.30 morgens landete die Maschine mit dem damals prominentesten Untersuchungshäftling Österreichs in Wien-Schwechat. Jack Unterweger entstieg dem Flugzeug und wurde umgehend in die Justizanstalt Graz-Jakomini eskortiert. Hier sollte er die nächsten zwei Jahre seines Lebens in Untersuchungshaft verbringen. In dieser Zeit verfasste er unter anderem das hier veröffentlichte Manuskript.
* * *
Jack Unterweger hat die ihm angelasteten Morde stets vehement geleugnet. »Es kann keinen Beweis geben. Weil ich es nicht war!«, hatte er den Journalisten nach seiner Verhaftung im »Miami Correctional Center« zugerufen. Doch die Ermittler hatten das Zeit-Weg-Diagramm längst penibel ausgearbeitet: Zu den jeweiligen Zeitpunkten des Verschwindens der insgesamt elf ermordeten Frauen war Unterweger – zumindest theoretisch – stets in zeitlicher und örtlicher Nähe jener Orte gewesen, an denen sie zuletzt gesehen worden waren:
Die 39-jährige Straßenprostituierte Brunhilde M. war von Zeugen zuletzt in der Nacht zum 26. Oktober 1990 an ihrem Standplatz am Grazer Entenplatz gesehen worden. Jack Unterweger hatte sich nachweislich bis Mitternacht in seinem neben seiner Wohnung gelegenen Stammlokal »Florianihof« in Wien-Josefstadt aufgehalten. Gegen vier Uhr morgens, so seine spätere Verantwortung, sei er ins kärntnerische St. Veit an der Glan aufgebrochen, um dort Vorbereitungen für die Aufführung seines Theaterstücks »Kerker – oder: Im Namen der Republik« zu treffen. Auf dem Weg hätte er einen Abstecher nach Graz machen und Brunhilde M. ermorden können. Die Grazer Straßenprostituierte Elfriede Sch. (35) war am späten Abend des 7. März 1991 von ihrem Standplatz beim Volksgarten verschwunden. Am selben Abend hatte Jack Unterweger in der vierzig Kilometer westlich von Graz gelegenen Kleinstadt Köflach eine Lesung in einem Jugendclub. Was den jungen Menschen sofort auffiel: Der Literat war in seinem weißen Ford Mustang Baujahr 1973 angereist. Ein richtiger »Ami-Schlitten«. Nicht minder auffallend: das Kennzeichen »W-JACK 1«. Die Lesung begann um 20 Uhr und dauerte bis zirka 23 Uhr. Auf dem Weg zurück nach Wien hätte Jack Unterweger theoretisch einen Abstecher nach Graz machen und Elfriede Sch. ermorden können.
Am 14. September gegen 23.45 Uhr verließ die Pragerin Blanka B. (20) gemeinsam mit ihrem Freund ein Weinlokal in der Nähe des Wenzelsplatzes. Noch vor der Eingangstüre stritt sie sich heftig mit ihrem Partner und lief davon – und ihrem Mörder in die Arme. Jack Unterweger befand sich an diesem Abend gemeinsam mit zwei Wienerinnen in Prag, um fernab von den Touristenklischees für das Wiener Magazin »Basta« zu recherchieren. Gegen Mitternacht begab er sich alleine ins heruntergekommene Bahnhofsviertel, um dort Fotos für seine Reportage zu schießen. Sie sollten das »andere Prag« zeigen, mit seinen Prostituierten, Obdachlosen und Drogensüchtigen. Jack Unterweger könnte theoretisch auf Blanka B. gestoßen sein und sie ermordet haben.
Als gebürtige Steirerin hatte es Heide H. (31) nach Bregenz verschlagen, wo man auf der »Goldmeile«, wie man den Straßenstrich dort damals nannte, gutes Geld verdienen konnte. In der »Krampusnacht« vom 5. auf den 6. Dezember 1990 kehrte sie nicht an ihren Standplatz zurück. Ihre Leiche wurde erst Wochen später in einem Waldstück gefunden. Jack Unterweger war gegen 22 Uhr, wie immer in seinem auffälligen weißen Mustang »W-JACK 1«, vor einer Pension in Dornbirn eingetroffen. Theoretisch hätte er zuvor oder danach einen Abstecher nach Bregenz machen können, um Heide H. zu ermorden. Tags darauf hatte er einen Interview-Termin im ORF-Landesstudio Vorarlberg.
Die 24-jährige Straßenprostituierte Silvia Z. wurde zuletzt von ihrer Kollegin am Abend des 8. April 1991 gegen 22.45 Uhr an ihrem Standplatz in der Wiener Hütteldorfer Straße gesehen. Eine Zeugin erreichte Jack Unterweger gegen Mitternacht telefonisch in seiner Wohnung. Rein theoretisch könnte er ein knappes Zeitfenster von rund einer Stunde genützt haben, um Silvia Z. in sein Auto einsteigen zu lassen, sodann zu ermorden und ihre Leiche in dem Wald bei Wien, in dem sie später gefunden wurde, abzulegen.
Die gebürtige Deutsche Sabine M. (25) wurde zuletzt am Abend des 16. April 1991 gegen 23 Uhr von ihrer Kollegin an ihrem Standplatz in Wien-Penzing gesichtet. Jack Unterweger erklärte später, in dieser Nacht bis drei Uhr morgens bei einer Geliebten in Wien-Brigittenau gewesen zu sein. Die Geliebte bestätigte drei Jahre später beim Prozess zwar die Uhrzeit und die Tatsache, dass sein Besuch an einem Wochentag im April gewesen sei, konnte sich aber nicht mehr auf den Tag festlegen. Damit kam Jack Unterweger auch für diesen Fall als Mörder in Frage.
Die 33-jährige Wiener Straßenprostituierte Regina P. war gegen 21.30 Uhr des 28. April 1991 von ihrem Ehemann an ihren Standplatz in der Linzerstraße gebracht worden. Sie konnte nicht lange dort gestanden sein: Als ihre Kollegin Erika um 22 Uhr eintraf, war Regina nicht mehr da. Erst rund ein Jahr später, im April 1992, fand ein Spaziergänger die skelettierte Leiche der Regina P. im Wienerwald.
Jack Unterweger konnte für die Nacht des 28. April 1991 mehrere Alibis vorweisen: Er war bis 22.30 Uhr mit einer Bekannten unterwegs gewesen, danach hatte er gemeinsam mit dem Kellner seines Stammlokals Sommerreifen in sein Auto verfrachtet. Trotzdem, so die Anklage, wäre sich ein Mord in dieser Nacht ausgegangen.
Die Wiener Prostituierte Karin E. war von einem Zeugen zuletzt am 8. Mai 1991 gegen 00.30 Uhr an ihrem Standplatz in Wien-Hütteldorf gesehen worden. Ihr Lebensgefährte erstattete erst zwei Tage später Abgängigkeitsanzeige. Nach rund zwei Wochen wurde ihre Leiche in einem Waldstück bei Wien gefunden. Jack Unterweger gab an, vom 6. bis 8. Mai 1991 bei seiner in München lebenden Mutter gewesen zu sein. Demnach sei er erst in den Abendstunden des 8. Mai nach Wien aufgebrochen, womit er für die Tatzeit ein Alibi hätte. Die Mutter jedoch konnte sich später bei ihrer Einvernahme »nicht mehr so genau erinnern«, wann ihr Sohn sie besucht hatte. Vom 11. Juni bis 16. Juli 1991 weilte Jack Unterweger im Raum Los Angeles.
Die Themen seiner journalistischen Recherchen für zwei österreichische Magazine konnten gegensätzlicher nicht sein: Es ging ihm um die Darstellung von Glanz und Elend der Filmmetropole Hollywood, um das bunte Treiben beim jährlichen Lesben- und Schwulenfestival, jedoch auch um Los Angeles als berüchtigter »Mordhauptstadt «. Es wurde nie recherchiert, wie viele Prostituierte im Raum Los Angeles während Unterwegers dortigem Aufenthalt ermordet worden waren, zweifellos waren es aber mehr als ein Dutzend. Drei dieser Morde wurden Jack Unterweger angelastet: Der Mord an der zuletzt am 20. Juni 1991 gegen vier Uhr morgens an ihrem Standplatz gesichteten Shannon E. (21), der Mord an der zuletzt am 28. Juni 1991 gegen 20 Uhr gesichteten Irene R. (33) und der Mord an der zuletzt am 3. Juli 1991 gesichteten Sherry Ann L. (27).
* * *
Dieses Zeit-Weg-Diagramm war zweifellos beeindruckend: »Er war ja immer in der Nähe, wenn ein Mord geschah«, wurde der Fall in der Öffentlichkeit diskutiert. Doch der zuständige Grazer Staatsanwalt Dr. Martin Wenzl haderte mit seinem Akt: »Die Suppe ist zu dünn«, wurde er in den Medien zitiert. Denn abgesehen vom Zeit-Weg-Diagramm gab es als einziges Indiz rote Stoff-Fasern, die an der Leiche der in Bregenz ermordeten Heide H. asserviert worden waren. Die mikroskopische Untersuchung hatte ergeben, dass sie in ihrer Struktur und Farbe ident mit jenen eines roten Schals waren, welchen die Polizei in Unterwegers Wohnung beschlagnahmt hatte. Allerdings: Es handelte sich um Kunstfasern, und damit um Massenware. Würde dies ausreichen, um die Geschworenen zu überzeugen? Jack Unterweger saß schon fast zwei Jahre in Untersuchungshaft, als die Ermittler endlich den lang ersehnten Sachbeweis in Händen hatten: in Form der DNA eines Haares. Es war auf einem Sitz eines verschrotteten, vormals im Besitz des Jack Unterweger gewesenen BMW sichergestellt worden. Mehrere Vergleichsuntersuchungen kamen gerade noch rechtzeitig – nur zwei Monate vor Prozessbeginn – zum Ergebnis, dass es zu »99,99 Prozent und damit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« mit der DNA eines auf dem Kopfpolster der ermordeten Pragerin Blanka B. gefundenen Haares übereinstimmt.
Dass Jack Unterweger aufgrund eines einzigen Haares in elf Fällen angeklagt wurde, war einem »Kunstgriff« zu verdanken. Für den »Jahrhundert-Prozess« hatte man einen Gerichtsmediziner mit der Erstellung eines »Generalgutachtens« beauftragt: Prof. Richard Dirnhofer war jahrelang als Dozent am Grazer Institut für gerichtliche Medizin tätig gewesen, bevor er als Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts in Bern international Karriere gemacht hatte. In seinem »Generalgutachten« kam er zum Schluss, dass die dem Angeklagten zur Last gelegten Mordfälle »unübersehbare Parallelen« aufweisen würden: Alle Opfer seien Straßenprostituierte gewesen, was mit Ausnahme der Pragerin Blanka B. zutrifft. Sie seien, so der Mediziner weiter, allesamt erdrosselt worden. Was jedoch nicht zwingend zutreffen muss: Die Leichen der ermordeten Prostituierten Brunhilde M., Elfriede Sch., Silvia Z. und Regina P. ließen aufgrund fortgeschrittener Verwesung keinerlei Rückschlüsse auf die Todesursache zu. Heide H. war nicht erdrosselt, sondern erstickt worden. Eine weitere »Parallelität« laut »Generalgutachten«: Die Leichen aller Opfer waren auf unzugänglichen Waldstücken abgelegt worden. Die Schlussfolgerung der Anklage lautete somit: Sollte der Angeklagte auch nur in einem einzigen Fall überführt werden, dann ist er zwingend auch in allen anderen Fällen der Mörder …
Eine scheinbar bestechende »Logik«, die wohl Eindruck auf die Laienrichter gemacht hat, zumal überdimensionale Bilder von den Leichen an ihren jeweiligen Fundorten während des ganzen Prozesses im Saal aufgehängt waren. Nicht minder eindrucksvoll waren die ausländischen Experten, allen voran der aus den USA eingeflogene FBI-Agent und Profiler Gregg McCrary, der ein exakt auf Jack Unterweger zutreffendes Täterprofil erstellt hatte. Die Biologin und Kriminalistin Lynne Herold aus Los Angeles präsentierte dem Gericht die Büstenhalter der ermordeten Amerikanerinnen, die sie vor den Augen der Geschworenen ebenso eindrucksvoll wie blitzschnell verknotete: Sehen Sie, der Mörder hat immer denselben Knoten gemacht! Ja, welchen eigentlich? Die Laienrichter haben nicht nachgefragt. Sie haben überhaupt kaum nachgefragt. Der Richter führte die Verhandlung zügig, straff, »souverän«, wie es manche Gerichtsreporter umschreiben, wenn sie sich bei ihm einschmeicheln wollen. Noch Fragen? Solche wären fast schon einer Majestätsbeleidigung gleichgekommen. Dabei hätte es so viele interessante Fragen gegeben, die man stellen hätte können. Wie zum Beispiel: Das Tä-terprofil des US-Profilers war erst nach Unterwegers Verhaftung erstellt worden – ist derlei nicht problematisch, da die Versuchung naheliegt, Merkmale auf den passenden Täter zuzuschneiden? Eine andere interessante Frage wäre jene nach den fehlenden Spuren gewesen: Es gab sehr wohl zahlreiche DNA-Spuren, die an den jeweiligen Tatorten sichergestellt worden waren. Bei elf Mordfällen füllten die dokumentierten Spermaspuren, Hautfetzen und Haare mehrere Ordner. Wie konnte es sein, dass in all diesen Mordfällen keine einzige Spur gefunden worden war, die zu Jack Unterweger geführt hätte? Jack Unterweger hatte einen Langhaar-Schäferhund besessen, der ihn oft auch im Auto begleitet hatte – wie konnte es sein, dass an den Tatorten keine Haare dieses Tieres sichergestellt worden waren? Die Prostituierten hatten sich aus Vorsichtsgründen längst die Autokennzeichen ihrer Freier notiert – wie konnte es sein, dass das auffallende Kennzeichen »W-JACK 1« seines nicht minder auffallenden Ford Mustang nicht dabei war? Jack Unterweger war zweifellos ein intelligenter und strukturierter Mensch – hätte sich einer wie er nicht vorsorglich Alibis verschafft?
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Am 28. Juni 1994 wurde Jack Unterweger im Stimmenverhältnis sechs zu zwei schuldig des neunfachen Mordes gesprochen. Es wäre naiv zu glauben, dass die von den Medien aufgeheizte öffentliche Stimmung dabei keine Rolle gespielt hatte.
Noch in der Nacht des Urteils erhängte er sich in seiner Zelle. Deshalb ist der Schuldspruch niemals rechtskräftig geworden.
Seitdem ranken sich Mythen um den Fall Unterweger. Etwa dass er ermordet worden sei – dafür gibt es freilich überhaupt keine Hinweise. Oder das hartnäckige, aber falsche Gerücht, dass der Knoten, mit dem er sich erhängt hat, auf dieselbe Art geknüpft worden sei wie das Strangulationswerkzeug bei den Mordopfern.
Nichts Genaues weiß man, aber man fällt ein Urteil. Weil es andere auch schon gefällt haben. Der Fall Unterweger ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Desinformation funktioniert…
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Das hier publizierte Tagebuch beginnt am 1. April 1992 und ist ein Rückblick Jack Unterwegers aus seiner Grazer Gefängniszelle auf die vergangenen Monate. Der Autor versetzt sich in seine Gefängniszelle im »Miami Correctional Center« zurück, wo er auf seine Auslieferung nach Österreich wartet. Die Erinnerungen an die hinter ihm liegenden zwei Jahre Freiheit, die er als die schönsten seines Lebens bezeichnete, sind noch ganz frisch. Er scheint in diese Zeit fliehen zu wollen, doch der Gefängnisalltag holt ihn ein. Und die Wut. Auf jene, die ihn in diese Lage gebracht haben: angeblich von Ehrgeiz getriebene Ermittler und der Grazer Untersuchungsrichter, der den Haftbefehl erlassen hatte.
Der zweite Teil beginnt mit dem 20. April 1992, dem ersten Tag des »Jahrhundertprozesses«, wie er bezeichnet wurde. Zweifellos war es ein »Monsterprozess«: Der gesamte Akt umfasste rund 15.000 Seiten, aufgeteilt auf 31 Bände à 500 Seiten. Der Prozess war auf zwei Monate anberaumt, zahlreiche Sachverständige und rund sechzig Zeugen sollten gehört werden, viele davon Freundinnen und Geliebte des Angeklagten, die dem Gericht über sein reges Sexualleben Auskunft geben sollten. Jack Unterweger machte sich während des Prozesses Notizen, die er später in seiner Zelle zu einem Manuskript verdichtete, dazwischen fügte er diverse Zeitungsausschnitte ein. Die Protagonisten des Jahrhundertprozesses betreten die Bühne: Verteidiger, Staatsanwälte, Polizisten, Zeugen und Sachverständige wechseln einander ab. Manche spielen Hauptrollen, andere geben nur ein kurzes Gastspiel. Begleitet wird das Spektakel von den täglichen Schlagzeilen des Boulevards. Blättert man weiter im Manuskript, vergehen nicht nur die Prozesstage. Auch die anfängliche Wut des Autors scheint sich aufzulösen. Sie weicht zusehends einer Verbitterung: »Es war ein Tag, der erste mit dem Gefühl, an einer abgesprochenen Hinrichtung teilnehmen zu müssen.« Und dennoch tauchen zwischen all dem Bedrückenden auch ganz andere Bilder auf: solche von Sehnsucht, Schönheit und Liebe. Man glaubt zu spüren, wie der Autor allmählich in diese ganz andere, zu seiner Lebenswirklichkeit absolut konträre Welt abtaucht …
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Und jetzt, werte Leserschaft, ziehe ich mich zurück und lasse Jack Unterweger zu Wort kommen. Die folgenden Seiten beinhalten ein authentisches Zeitdokument, das – abgesehen von wenigen erläuternden Bemerkungen – bewusst unkommentiert blieb.
Der Text entspricht der subjektiven Sichtweise von Jack Unterweger und gibt nicht meine Meinung wieder. Ich kenne die Akten und habe keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, die Korrektheit der Ermittlungen in Zweifel zu ziehen, wie es Jack Unterweger aus naheliegenden Gründen tut. Ja, die Ermittler mögen »ehrgeizig« gewesen und wohl auch unter Ermittlungsdruck gestanden sein, dennoch haben sie die Grenzen des Erlaubten niemals überschritten. Die Gründe dafür, dass es – aus meiner Sicht – kein faires Verfahren gewesen ist, liegen tiefer: Die öffentliche Meinung hatte Jack Unterweger verurteilt, lange bevor der Prozess gegen ihn überhaupt begonnen hatte.
Der Verteidigung kommt im österreichischen Strafrecht eine stiefmütterliche Rolle zu: Es fängt damit an, dass die Gutachten von der Staatsanwaltschaft bestellt werden und Privatgutachten nicht denselben Stellenwert haben. Anders als im anglo-amerikanischen Strafrecht gibt es kaum Möglichkeiten, die Auswahl der Geschworenen zu beeinflussen oder Geschworene als befangen abzulehnen. Es gibt kein Kreuzverhör, das geeignet wäre, die Glaubwürdigkeit von Zeugen zu hinterfragen. Der Richter ist der Herr des Verfahrens, der am Schluss den Geschworenen die Rechtsbelehrung erteilt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit – auch der am Verfahren beteiligten Parteien, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, wodurch sich diese Rechtsbelehrung einer Überprüfung entzieht.
Astrid Wagner, im Dezember 2024
Die Originalschreibung wurde an die neue Rechtschreibung angepasst, eindeutige Tipp-, Rechtschreib- und Grammatikfehler wurden korrigiert.
Wo ein fehlendes Wort rekonstruiert wurde, ist dieses, in Klammern gesetzt, hinzugefügt worden, ebenso die Anmerkungen der Herausgeberin.
Unterstreichungen und sonstige Hervorhebungen folgen dem Original.
Die Nachnamen von Privatpersonen wurden in den abgedruckten Faksimiles der handschrift lichen Original-Blätter aus dem Tagebuch aus datenschutzrechtlichen Gründen geschwärzt.
Dem Tagebuch lagen mehrere Zeitungsartikel bei. Für die Herausgabe wurden nur jene Artikel ausgewählt, die dem Zusammenhang der Geschichte und der Einordnung in den damaligen gesellschaft lichen und juristischen Rahmen dienlich sind, ohne dass es zu erheblichen Überschneidungen und Wiederholungen kommt.
Ich danke in diesem Zusammenhang folgenden Medien und Urhebern für die freundliche Genehmigung zum Abdruck:
PROFIL Nr. 14/1992: »Fiktion und Wirklichkeit vom Rechtsstaat Österreich, am Beispiel Unterweger« von Dr. Thomas Prader)
DER STANDARD vom 21. April: »Alles vergessen, was bisher war« (ungezeichneter Artikel) und »Nicht die Fratze, die Entsetzen auslöst« (ungezeichneter Artikel) sowie vom 25. April 1994: »Ein Meister der Selbstdarstellung« (Analyse von Daniel Glattauer)
- Oliver Schopf, Gerichtszeichnungen, Wien 1994, www.oliverschopf.com
La formule de la vie! Dum fata sinunt vivite laeti. (Seneca) Formel des Lebens! So lange das Schicksal es euch vergönnt, lebt heiter.
FÜR SIE, DIE WISSEND IST!
Blicke. Stimme und Haut. Duft , ein Traum. Während ich dich auf die raue Wolldecke lege, streichle, küsse ich deinen halb geöff neten, wartenden Mund, herze deinen Hals, die kleinen, dunklen Spitzen deiner Brüste, meine Hand gleitet über den Alabasterglanz deines Leibes, zu deinen Beinen, Innenschenkel, immer weiter nach oben, und zu dem eigentlichen Geheimnis: Schwarzes Gekräusel über einem harten Hügel …
Geschehnisse entsprachen der Wirklichkeit.
Zeit und Orte erscheinen, wegen der auft retenden Personen, nicht immer chronologisch zum Ereignis abgestimmt. Namen von Personen sind unkenntlich gemacht, wer sich betroff en fühlt, ist erstens selbst schuld, zweitens aus seiner Denkweise heraus dazu angehalten, drittens will er erkannt sein.
Als Autor distanziere ich mich von dieser Art von Identifi kationen und bestätige jedem eidesstaatlich, dass er/ sie keinen Grund hat, sich zu erkennen.
Jack Unterweger1
1. April 1992
Ausgelebt. Im Kreislauf der Gefühle eingekerkert. Aus dem Leben, einem wunderschönen Traum herausgerissen. Hingerichtet die erkämpfte Freiheit. Chaos, Visionen zertrümmert, Herbst im Frühling, Zerrissenheit. Miami. Ohne Vice. Appartement im Art-Deco-Viertel. Täglich on the Beach, Weite, nirgends Enge. High Noon. Dreißig Grad im Schatten. Hohe Luftfeuchtigkeit. The hell who loved me! Ein Alp. Ocean Drive, Noon-Time. Love and the end. Pünktlich. Collins Avenue, dann, Minuten nur, langsamer gehend, 11th Street, überquerend, weiter, bereits hektisch, wissend, nahe dem Finale, Washington Avenue. Nerven. Schneller, flatternd, am Ende. Miami Beach Court House, zu sehen, dahinter, ein betonierter Hof dazwischen, Miami Beach Police Station. Keine hundert Meter bis zum Ziel, das Nest, die Wohnung, umgeben von Kulissen zu Miami Vice. Von Don Johnson weit entfernt. Endstation nach weltweiter Hetzjagd: Wien, Zürich und Basel, Paris-Orly, New York, Miami International Airport.
Der kleine Knabe aus dem österreichischen Bergland flog die Route seiner Träume. Davongejagt, von Träumen blieb der Alp. Kein Kind mehr im Manne, nur noch alt gewordene Jugend. Ich! Flüchtig, einsam zu zweit, das Crescendo verzerrt das Mienenspiel. Wortlos. Bianca führte von Gossau nach Miami, drei Tage nach meiner Festnahme war sie zurückgekehrt, nicht allein, eingehakt beim Kriminalbeamten, lächelnd die Gangway betretend. Sie wurde abgeholt, die Beamtin teilte Ehebett und Zimmer mit ihr. Auf österreichische Staatskosten, ohne Haftbefehl, gesetzliche Grundlagen außer Kraft gesetzt und nach Wiener »WIR SIND WIR«-Mentalität, perfekte Amtshandlung in Miami, ohne Wissen der US-Behörden. Wien ist Wien und überall. Nach unserer Ankunft, am frühen Abend, in unserer Winterkleidung, aus Europa kommend, standen wir hilflos, fragend vor der Ankunftshalle des Airport. Ein Taxifahrer, Kubaner, entschied für uns, brachte uns in ein Hotel im Kubaner- Viertel auf Miami Beach, und er zeigte uns die Orte, die wir als Touristen meiden müssten, wollten wir nicht überfallen werden. Dreißig Dollar und keine Fragen. Er ahnte nichts vom Verdacht: Serial killer of prostitutes!
Seit Wochen erzeugen Schlagzeilen Kopfbilder, schmücken Titelseiten, weltweit, und niemand bringt Fakten. Many arguments, no proof. No evidence! Wen interessiert das noch? Verbissen, von Rache geführte, geplante Vernichtung, die konsequente soziale Hinrichtung: Ex-Polizist Schenn2, seit Jahren Pensionist, und sein ebenso altes Versprechen, ausgesprochen vor neun Jahren, am ersten April 1983, im Zuchthaus Stein, war Wirklichkeit geworden. »Solltest du je vom Zuchthaus freikommen, mach
ich dich fertig! Wenn die Leute schon so blöd sind und die Bücher eines Verbrechers kaufen, wirst du nichts davon haben! « Hass total. Ich hatte ihn nie ernst genommen, fast vergessen, und jetzt feiert er, überglücklich, unterstützt von schlagzeilengeilen Medien. Ich bin wieder, nach zwei herrlichen, wilden Jahren in Freiheit, verhaftet, in der Zelle. Innocent! Wenige Monate nach meiner Entlassung hatte er mit der Verfolgung begonnen, noch ohne konkrete Beschuldigungen treffen zu können. Er schwor, rief immer wieder an, versprach, » … und wenn nichts anderes geht, die zwei Jahre Untersuchungshaft machst!« Warum auch immer.
Monatelang terrorisierte er mich mit Anrufen, nur nachts, anonyme Kontrollanrufe, die ihm sagten, wo ich mich bewegte. Ich ärgerte mich, lachte, dachte und sagte allen: »Der kann mir nichts anhaben, weil ich nichts anstelle!« Errare humanum est. Journalisten wollten eine Geschichte daraus machen, ich lehnte ab. Ich ahnte nichts von seiner Gemeinheit, dem von ihm ausgesandten Aktenvermerk an alle Polizeidienststellen.
» … in Bezug auf die ungeklärten Prostituiertenmorde ergeht der Hinweis auf …, er habe bereits zwei Prostituierte mit ihren eigenen Kleidungsstücken erdrosselt und ist wegen zweifachen Prostituiertenmordes vorbestraft …, wurde er aus der Sonderanstalt Mittersteig entlassen …«3
Niemand prüfte, was vor achtzehn Jahren geschah. Nie hatte ich in seiner Stadt einen Mord begangen, nie hatte ich eine Prostituierte ermordet, nie hatte ich irgendwo zwei Menschen ermordet, und nie war ich auch nur einen Tag in dieser Sonderanstalt. Die Beamten nahmen den Hinweis dankbar auf, sie hechelten seit Jahren dem oder den unbekannten Frauenmördern nach. Später wurden die ungeklärten Morde, die vor meiner Entlassung passierten, ausgeschieden. So einfach. Polizeilicher Kunstgriff. Beamte hetzten im Rotlichtmilieu gegen mich, und sie nützten meine Vergangenheit dazu voll aus, wussten, dass mich viele im Milieu hassten, weil ich von ganz unten, mit Hilfe von Kraft, Hirn und Umdenken, einer neuen Lebenseinstellung, nach oben gekommen war. Neid fraß alle Vernunft. Die Jagd begann!
Hofferl4, Kripomann im Sicherheitsbüro, prüfte als Erster alle Angaben von Schenn und bezeichnete seinen Ex-Kollegen als » … nicht ganz richtig im Kopf!« Nach der Vernehmung ging ich nach Hause. Auch nach zwei weiteren Einvernahmen.
Schenn zog erfolglos von Wien ab. Sein Hass aber blieb. Als nächstes Zielgebiet kam Graz in Frage, auch hier warteten vier Dirnenmorde auf Aufklärung, zwei davon konnten zeitlich meinen Freiheitsaufenthalten zugeordnet werden. Die anderen beiden blieben abgelegt.
Ein Grazer Journalist, Hänschen Breitmaul, pickelgesichtig und Möchtegernpolizist, war sofort begeistert, gemeinsam mit einem Beamten, der seit Jahren erfolglos gejagt hatte und vor der Pensionszeit stand, wurden alle Karten neu gemischt, alles auf meine Person zurechtgebastelt.
Zeugen, Prostituierten wurden meine Bilder so lange vorgehalten, bis mich einige erkennen mussten …
Beamte, Kollegen und Vorgesetzte wurden in bester Art von Gehirnwäsche davon überzeugt, dass ich der Mörder sein muss!
Geigerlein, karrierescharfer Quereinsteiger im Wiener Sicherheitsbüro und wegen der vielen ungeklärten Morde unter starkem Druck von Politik, Vorgesetzten und Milieu, war dankbar für diesen neuen Rettungsanker. Die Öffentlichkeit musste ruhiggestellt werden, zwei kleine Mädchen fielen der Bestie erst vor wenigen Monaten in die Hände …
Die Wiener Staatsanwaltschaft bremste den Eifer der Jäger. Die vorgebrachten Behauptungen hatten keine Grundlage, nach dem Aktenstudium wurde ein Haftbefehl abgelehnt. Die Jäger, der rechten Reichshälfte zugehörig, sahen mich nie, sprachen nie mit mir, kannten mich nicht, aber sie jagten mich als Serienkiller. Endlich, wieder in Graz, erfüllte ihnen ein befreundeter Untersuchungsrichter den Wunsch: Haftbefehl! Er verlangte weder Akteneinsicht noch Beweise. Der Rest blieb den Medien, allen voran, exklusiv natürlich, Breitmaul, überlassen. Geigerlein lud etliche von ihnen ein, mit ihm in meine Wohnung zu fahren, live dabei zu sein …5