Das Rachespiel - Arno Strobel - E-Book + Hörbuch

Das Rachespiel Hörbuch

Arno Strobel

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Beschreibung

»Erfüllst du deine Aufgabe, kommt er frei. Erfüllst du sie nicht, wird er sterben.« Frank Geissler glaubt an einen Scherz, als er die Website aufruft: Ein Mann, nackt, am Boden festgekettet, in Todesangst. Daneben ein Käfig voller Ratten, unruhig, ausgehungert. Frank kann den Mann retten, heißt es. Aber nur wenn er Teil des »Spiels« wird und seine erste Aufgabe erfüllt. Angewidert schließt er die Website, doch kurz darauf ist der Mann tot. Und Frank beginnt zu zweifeln. Hätte er dem Unbekannten helfen können? Hätte er nicht sofort die Polizei informieren müssen? Aber es ist zu spät. Und nicht nur für den Toten. Auch Frank ist schon mittendrin. Mittendrin in einem Spiel, in dem er einer der Vier ist, einer der vier Kandidaten, für die es um alles geht. Um ihr eigenes Leben. Aber auch um das Leben aller, die ihnen etwas bedeuten … »Meisterhaft spielt Arno Strobel mit den Nerven seiner Leser. Hochspannung pur!« Nele Neuhaus zu »Der Sarg« »Arno Strobel gehört zu den besten deutschen Thrillerautoren.« Für Sie

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Zeit:7 Std. 22 min

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Arno Strobel

Das Rachespiel

Psychothriller

FISCHER E-Books

Inhalt

Für all die lieben [...]Schuld stirbt in VergebungProlog12345Damals …6789Damals …101112Damals …131415Damals …16Damals …1718Damals …192021222324252627282930313233343536373839Damals … Manu1Damals … Manu2Damals … Manu3Damals … Manu44041DankLeseprobeProlog1

Für all die lieben Menschen,

die mich bis hierher begleitet

und unterstützt haben.

Schuld stirbt in Vergebung

oder tötet

Manfred Hinrich

Prolog

Er betrachtete sein Werk und war zufrieden.

Alles war so, wie es ihm aufgetragen worden war. Seit Tagen hatte er kaum geschlafen, zu viel war zu tun gewesen. Aber nun waren fast alle Vorbereitungen getroffen. Fast. Eine fehlte noch. Aber darum würde er sich jetzt kümmern. Nicht mehr lange, dann würde alles perfekt sein.

Er betrachtete das hektische Treiben im Käfig. Es wurde Zeit. Sie begannen schon, sich gegenseitig anzugreifen, weil der Hunger sie fast wahnsinnig machte.

Er grinste. Bald …

Er wandte sich ab, zog den Wollschal enger am Hals zusammen. Verdammte Schweinekälte. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über die aufgebauten Geräte schweifen, folgte den Kabeln auf ihrem Weg über den grauen Betonboden bis hin zur Wand. Alles war so, wie es sein sollte.

Er verließ den Raum, nahm den schmalen Gang, der gleich hinter der Stahltür nach rechts führte. Die Wände waren vor kurzem erst neu getüncht worden. Nach wenigen Metern waren zu beiden Seiten weitere Stahltüren in die Wände eingelassen. Er überlegte, wie viele davon es in der Anlage wohl geben mochte, während er sich nach links wandte und die Tür entriegelte. Sorgfältig vergewisserte er sich, dass die erste Spielfigur noch an ihrem Platz lag und unversehrt war, dann schloss er die Tür wieder und ging. Mittlerweile kannte er sich in dem Labyrinth aus schmalen Gängen aus, wusste, wann er wie abbiegen musste. Dann hatte er die Treppe erreicht. Ja, er war zufrieden.

Das Spiel konnte beginnen.

1

Frank Geissler erhielt den Umschlag am Samstagvormittag.

Es war ein herrlicher Septembertag, und es schien, als hätte die Sonne sich nach dem verregneten und viel zu kalten Sommer doch noch auf ihre Aufgabe besonnen und versuche nun nachzuholen, was sie in den vergangenen Wochen versäumt hatte. Als Frank gegen elf Uhr den Rasenmäher abstellte, um eine kleine Pause zu machen und einen Schluck zu trinken, zeigte das Thermometer auf der schattigen Seite des Gartenhauses schon 25 Grad an. Frank würde noch ein, zwei Stunden brauchen, bis er die über 2000 Quadratmeter große Fläche fertiggemäht hatte, doch das machte ihm nichts aus. Natürlich hätte er die Arbeit von einem Gärtner erledigen lassen können, aber er genoss am Wochenende die Beschäftigung an der frischen Luft, da er von montags bis freitags meist den ganzen Tag über im Büro seiner Softwarefirma hockte.

Das gelbe Fahrzeug hielt gerade vor dem Haus, als Frank über die schon gemähte Rasenfläche im vorderen Bereich ging, um die Gartengeräte aufzusammeln, die dort noch herumlagen. Er schlenderte der Postbotin entgegen und nahm den Stapel Briefe an, den sie für ihn hatte. Obenauf lag ein brauner DIN-A5-Luftpolsterumschlag ohne Absender, den restlichen Umschlägen sah man von außen an, dass sie Rechnungen oder Werbung enthielten. Frank ging zum Haus zurück, legte die Briefe auf der Fensterbank ab und riss den braunen Umschlag an der Oberseite auf. Im ersten Moment sah es so aus, als sei er leer, doch als Frank die Öffnung weiter auseinanderzog, entdeckte er einen kleinen Gegenstand, der ganz unten zwischen den luftgepolsterten Seitenteilen steckte. Ein Memorystick. Frank nahm ihn heraus und vergewisserte sich noch einmal, dass der Umschlag sonst nichts enthielt, bevor er ihn zu den Briefen auf der Fensterbank legte. Den silbernen Stick behielt er in der Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Es gab weder einen Werbeaufdruck noch sonst einen Hinweis auf seine Herkunft. Frank überlegte, wer ihm einen Speicherstick ohne Absender und Begleitschreiben schicken könnte. Es fiel ihm niemand ein. Er würde sich den Inhalt ansehen müssen, wenn er mehr erfahren wollte. Frank nahm die anderen Briefe und den leeren Umschlag von der Fensterbank und ging ums Haus herum zur Terrassentür. Auf dem Weg überlegte er sich, dass der Stick Schadsoftware enthalten konnte, einen Trojaner zum Beispiel, dessen Zweck es war, sich auf dem PC festzusetzen, sobald der Stick in den USB-Anschluss gesteckt wurde. Diese Programme spähten den Rechner aus, auf dem sie sich installierten, und schickten dann alle möglichen Daten an einen im Quellcode hinterlegten Adressaten. Nicht zum ersten Mal wollte jemand so an Betriebsgeheimnisse seiner Firma herankommen.

Auf der Terrasse zog Frank die Schuhe aus und betrat das Wohnzimmer. Beate war mit Laura zum Shoppen in der Stadt unterwegs, weil die Fünfzehnjährige neue Schuhe brauchte. Frank wusste aus Erfahrung, dass er vor dem späten Nachmittag nicht mit den beiden rechnen konnte.

Er ging über den Flur in sein Büro, zog den Schreibtischstuhl heran und setzte sich an einen schmalen Tisch, der gegenüber von seinem Schreibtisch an der Wand stand. Auf dem Tisch befand sich ein Rechner älteren Baujahres, den er speziell zu dem Zweck aufgebaut hatte, sich den Inhalt fremder Datenträger anzuschauen. Dieser Computer war nicht mit dem Internet verbunden und enthielt keinerlei persönliche Daten. Franks neuer Arbeitsrechner war zwar mit den aktuellsten Updates verschiedener Virenschutzprogramme geschützt, und die wirklich sensiblen Daten lagen verschlüsselt in gesicherten Verzeichnissen, aber er ging lieber auf Nummer sicher. Die Bankensoftware, die in seiner Firma entwickelt wurde, war auf dem Markt sehr erfolgreich, und schon mehrfach hatten Hacker versucht, in sein Firmennetzwerk einzudringen.

Frank schaltete den Monitor ein und drückte die Leertaste auf der Tastatur. Der PC lief permanent, und so dauerte es nur einen Moment, bis die Windows-Oberfläche zu sehen war. Er zögerte kurz, dann steckte er den Stick in einen der USB-Anschlüsse an der Vorderseite des Rechners, öffnete den Explorer und klickte das Symbol für den externen Speicher an. Es befand sich nur eine einzige Datei auf dem Stick, eine Textdatei von einem Kilobyte Größe. Frank öffnete sie mit einem Doppelklick. Der Text bestand aus drei Zeilen:

Gehe morgen, Sonntag, um Punkt zwölf auf diese Seite.

Und kein Wort. Zu niemandem. Es geht um ein Leben.

http://www.das-spiel.to

Frank las die Worte ein zweites Mal, bevor er sich zurücklehnte. Was war das denn? Es geht um ein Leben … Und dazu eine Internetadresse in Tonga, der bevorzugten Heimat illegaler Webseiten, weil die Besitzer dieser Domains nicht identifiziert werden konnten, wenn sie sich halbwegs clever anstellten.

Frank rollte mit dem Stuhl zu seinem eigentlichen Schreibtisch und öffnete den Browser seines Arbeits-PCs. Er gab die angegebene Adresse ein und gelangte auf eine schwarze Seite, in deren Mitte in großen roten Buchstaben stand:

Morgen …

Sonst nichts. Frank bewegte den Mauszeiger auf der Suche nach einem versteckten Link kreuz und quer über den Monitor, aber es gab nichts auf der Seite außer diesem einen Wort.

Was sollte das? Wenn sich jemand einen Scherz erlaubte, dann war das mehr als geschmacklos, fand Frank. Für einen Moment dachte er darüber nach, die Polizei zu verständigen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Er würde sich ja lächerlich machen, wenn er wegen eines solchen Blödsinns anrief. Das Spiel … Wahrscheinlich ein paar jugendliche Computerfreaks, die sich wichtig machen wollten.

Mit einem entschlossenen Ruck stand Frank auf, ging wieder zu dem älteren Rechner und zog den Stick aus dem Anschluss. Er warf ihn auf den Schreibtisch und nahm sich vor, der Sache keine weitere Beachtung zu schenken.

 

Um kurz vor drei war er mit dem Mähen fertig, gegen fünf hatte er eine Seite der Kirschlorbeerhecke geschnitten, die einen Teil des Gartens säumte. Den Rest würde er am darauffolgenden Wochenende erledigen, für diesen Tag hatte er genug von der Gartenarbeit.

Frank räumte alle Gerätschaften zusammen und wunderte sich, dass seine Frau und seine Tochter noch nicht zurück waren. Er versuchte, Beate auf dem Handy zu erreichen, doch die Mailbox schaltete sich gleich nach dem ersten Klingeln ein. Er bat sie, ihn zurückzurufen, und ging unter die Dusche.

Als die beiden um sieben noch immer nicht aufgetaucht waren und sich auch nicht gemeldet hatten, dachte Frank zum ersten Mal wieder an den Memorystick.

Er wurde unruhig. Warum kamen sie nicht? Er verließ die Küche, wo er sich gerade einen kleinen Käsetoast gemacht hatte, und ging, noch am ersten Bissen kauend, wieder in sein Büro. Dort rief er erneut die Adresse der seltsamen Webseite auf. Auch dieses Mal leuchtete ihm nur dieses eine Wort in blutroten Buchstaben entgegen: Morgen.

Frank ließ sich gegen die hohe, gepolsterte Rückenlehne seines Schreibtischstuhls fallen, die Augen noch immer auf den Bildschirm gerichtet. Sein Blick wanderte in die untere, rechte Ecke. 19:17 Uhr. Wo um alles in der Welt blieben Beate und Laura? Gut, es dauerte immer ziemlich lange, wenn die beiden durch die Läden der Trierer Innenstadt bummelten, aber es war merkwürdig, dass sie sich noch nicht gemeldet hatten, weil es spät werden würde. Frank griff nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch und wählte erneut Beates Handynummer aus dem Speicher. Ungeduldig wartete er, bis die Ansage der Mailbox beendet war, und sagte: »Ja, ich bin’s.« Er bemerkte einen aggressiven Unterton in seiner Stimme, der ihm im gleichen Moment leidtat. Darauf bedacht, ruhig weiterzusprechen, fuhr er fort: »Sagt mal, ihr beiden, habt ihr die Trierer Läden bald leergekauft? Wir wollten doch zusammen was essen gehen. Es ist gleich halb acht, und wenn ihr nicht bald nach Hause kommt, brauchen wir uns nicht mehr auf den Weg zu machen. Melde dich doch bitte wenigstens mal bei mir, Beate.«

Frank legte auf und dachte wieder an den letzten Satz des Textes: Es geht um ein Leben … So ein Blödsinn! Mit einem letzten Blick auf den Monitor schloss er den Browser, stand auf und verließ das Büro.

Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich auf die schwarze Ledercouch fallen, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme. Nichts von dem, was er auf den Sendern in den zwei, drei Sekunden sah, bevor er zum nächsten Kanal weiterschaltete, interessierte ihn. Etwa eine Minute und unzählige Programmschnipsel später gab er es auf und schaltete das Gerät wieder ab. Die Fernbedienung warf er unwillig auf den Tisch, wo sie scheppernd liegen blieb. Verwundert blickte er auf das schwarze Kunststoffteil und fragte sich, was mit ihm los war. War es diese Nachricht, die ihn so nervös machte, oder lag es daran, dass seine Frau und seine Tochter noch nicht zu Hause waren? Oder … Frank spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Oder war es vielleicht beides zusammen? Gab es einen Zusammenhang zwischen dieser merkwürdigen Nachricht und der Tatsache, dass Beate und Laura bisher nicht aufgetaucht waren, nicht einmal zurückriefen?

Ihm wurde bewusst, dass es genau dieser Gedanke gewesen war, der ihn unterbewusst schon die ganze Zeit über unruhig gemacht hatte. Seine Frau und seine Tochter kamen nicht nach Hause. Er konnte Beate nicht erreichen.

Es geht um ein Leben …

2

Frank sprang auf und nahm das Telefon aus der Ladestation auf dem Sideboard. Er hatte zwar schon einige Male Beates Handynummer gewählt, aber noch kein einziges Mal die seiner Tochter. Es dauerte zwei, drei lange Sekunden, bis er das erste Tuten im Telefonhörer und fast zeitgleich den gedämpften elektronischen Klingelton von Lauras Handy irgendwo in seiner Nähe hörte, wahrscheinlich aus der Küche. »Mist«, stieß er aus und stellte das Gerät zurück auf die Station. Seine Tochter hatte ihr Smartphone zu Hause liegen lassen. Seltsam, dachte Frank, das passierte ihr sonst nie. Schließlich war sie pausenlos damit beschäftigt, Nachrichten an ihre Freunde zu schicken.

Sollte er doch die Polizei anrufen? Frank war unschlüssig, verwarf den Gedanken dann aber ein weiteres Mal und wunderte sich, dass er überhaupt auf die Idee kam. Er würde – zu Recht – höchstens einen Kommentar zum Thema Frauen und Einkaufen zu hören bekommen, wenn er erzählte, dass er sich Sorgen machte, weil seine Frau und seine Tochter noch nicht von ihrem nachmittäglichen Stadtbummel zurück waren. Und auch die Tatsache, dass er ausgerechnet an diesem Tag neben der üblichen Anzahl an Rechnungen und Werbebriefen einen Memorystick bekommen hatte, der … Frank stockte kurz, bevor er sich wieder auf die Couch niederließ. Werbebriefe … Marketing …

»Virales Marketing«, sagte er laut und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. Dass ihm das nicht gleich eingefallen war. Es war erst wenige Wochen her, dass er einen Vortrag zu diesem Thema gehört hatte. Es ging dabei um möglichst rätselhafte Nachrichten, ausgefallene Spiele oder Videoclips, die gezielt über soziale Netze, Videoplattformen oder auch per Post verbreitet wurden und bei denen die Empfänger oft lange Zeit gar nicht erkannten, dass es sich um eine Werbemaßnahme handelte. Der Erfolg dieser Methode war meist groß und mit geringem finanziellen Einsatz zu erreichen, da die rätselhaften Informationen sich über das Netz ähnlich wie ein Virus innerhalb kürzester Zeit verbreiteten. Wahrscheinlich würde er morgen auf dieser Website … Ein Geräusch unterbrach Franks Gedanken, und im nächsten Augenblick durchzog ihn ein wohliger Schauer der Erleichterung, als er das helle Lachen seiner Tochter erkannte. Er erhob sich und verließ das Wohnzimmer.

Beate und Laura standen in der geräumigen Diele inmitten einer bunten Insel aus Tragetaschen und kicherten albern, als er auf sie zukam. »Hallo Schatz«, begrüßte Beate ihn und deutete mit beiden Händen auf den Boden vor sich. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist, aber du siehst ja, wir hatten wirklich viel zu tun.«

Er blieb kurz vor ihr stehen und betrachtete ihre Einkäufe. »Ja, das sehe ich … aber warum bist du nicht an dein Handy gegangen? Ich habe einige Male versucht, dich zu erreichen. Wir wollten doch heute Abend zusammen essen gehen.« Beate warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und lächelte ihn wieder an. »Kein Problem, von mir aus können wir um acht los.« Sie sah zu ihrer Tochter hinüber. »Das sind noch zwanzig Minuten, schaffst du das, junge Dame?« Laura strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und winkte lässig ab. »Klar, kein Problem. Ich ziehe nur schnell meine neue Jeans an.«

Sie schnappte sich den größeren Teil der Tüten und verschwand in ihr Zimmer.

Als Laura die Tür hinter sich geschlossen hatte, dachte Frank kurz darüber nach, ob er Beate von der Nachricht auf dem Memorystick erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass sie sich Sorgen machen und den ganzen Abend über nichts anderes mehr sprechen würde.

Auf der Fahrt zum Restaurant in Nittel erfuhr er alle Einzelheiten der langen Einkaufstour, wobei Laura und Beate vor Begeisterung zeitweise gleichzeitig redeten. An die Nachricht auf dem Stick dachte er an diesem Abend nicht mehr.

 

Den Sonntag starteten sie mit einem gemeinsamen Frühstück auf der Terrasse. Frank hatte den großen Sonnenschirm aufgespannt und genoss das gemütliche Zusammensein mit seiner kleinen Familie. Liebend gern hätte er das jedes Wochenende so gemacht, aber es war eher selten, dass sie gemeinsam frühstückten, weil entweder Laura zu lange schlief oder weil er selbst an den Wochenenden oft schon am frühen Morgen am Schreibtisch saß und arbeitete.

Um Viertel nach zehn dachte Frank zum ersten Mal wieder an den Memorystick, als Laura nach einem Blick auf die Uhr verkündete, dass sie ihre Freundin Saskia anrufen und sie fragen wolle, ob sie mit ins Freibad käme. Um Punkt zwölf hatte es in der Nachricht geheißen. Frank beschloss, zumindest kurz nachzusehen, wie dieses Spiel weitergehen sollte. Er war neugierig und konnte sich jetzt, da er wusste, dass es sich nur um einen Marketinggag handelte, ganz gelassen anschauen, was die Werbeleute sich hatten einfallen lassen, um die potentiellen Spieler bei Laune zu halten.

Beate erzählte er weiterhin nichts davon, weil er zumindest am Anfang mitspielen wollte.

Kein Wort, zu niemandem, hatte es geheißen. Eigentlich sonderbar, aber für den Moment beschloss Frank sich daran zu halten.

Beate stand unter der Dusche, als Laura um zwanzig vor zwölf von Saskias Mutter abgeholt wurde. Sie wollte die beiden Mädchen ins Trierer Freibad begleiten. »Hast du dein Handy dabei?«, fragte Frank, als seine Tochter ihm im Vorbeigehen einen schnellen Kuss auf die Wange drückte.

»Hab ich, und ich komme auch nicht zu spät nach Hause, und ich lasse mich nicht von fremden Männern ansprechen. Alkohol trinke ich auch nicht, und rauchen würde mir im Traum nicht einfallen. Tschü-hüüs.«

Während er Laura lächelnd dabei zusah, wie sie zum silberfarbenen Golf von Saskias Mutter ging, stellte Frank nicht zum ersten Mal fest, dass aus ihr rasend schnell eine junge Frau wurde. Das löste ein Gefühl von Stolz, aber auch von Sorge in ihm aus. Genau das könnten auch irgendwelche Typen bemerken.

Die neue Jeans stand ihr sehr gut und betonte ihre sportliche Figur. Die langen hellblonden Haare, die sie von ihrer Mutter hatte, trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der beim Gehen hin und her wippte. Laura warf ihre Tasche auf die Rückbank des Wagens und winkte ihm noch einmal zu, während sie einstieg. Im nächsten Moment unterhielt sie sich schon aufgeregt mit Saskia, die auf dem Beifahrersitz saß. Frank wartete, bis der Golf losgefahren war, dann ging er wieder ins Haus. Als er an der Treppe vorbeikam, öffnete Beate in der ersten Etage gerade die Badezimmertür. »Schatz, ich gehe mal für eine halbe Stunde an den Schreibtisch«, rief er nach oben.

 

Um acht Minuten vor zwölf saß Frank vor seinem Computer und rief die Website www.das-spiel.to auf. Noch immer dominierte der schwarze Hintergrund, aber das Wort Morgen in der Mitte war verschwunden. Stattdessen lief an gleicher Stelle jetzt ein Countdown in roten Zahlen. Gerade stand er bei 00h:07m:34s.

Wie gebannt sah Frank zu, wie die Sekunden heruntergezählt wurden. 33s … 32s … 31s …

Als der Countdown bei drei Minuten angelangt war, drückte er die F5-Taste, wodurch die Webseite neu geladen und aufgebaut wurde, aber das Bild blieb das gleiche. Frank wunderte sich über seine Unruhe.

00h:01m:02s

Erneut drückte er die Taste, das Bild blieb gleich. Er überlegte, warum die Initiatoren dieser Aktion wohl ausgerechnet ihm einen ihrer Memorysticks geschickt hatten, und gab sich selbst die Antwort: weil ihm eine Softwarefirma gehörte und er als Informatiker vielleicht zur Zielgruppe gehörte.

00h:00m:01s … jetzt!

Wieder führte Frank den sogenannten Refresh durch, und als sich der Bildschirminhalt nun neu aufbaute, hatte er sich verändert. Franks Puls beschleunigte sich, als er die Eingabemaske sah, die in der Mitte des Monitors eingeblendet wurde. Über einem Feld, in dem der Cursor blinkte, stand:

Willkommen, Spieler. Gib deinen Namen ein, damit das Spiel beginnen kann.

Frank überlegte einen Augenblick, dann tippte er Peter ein und klickte anschließend auf OK, woraufhin die Eingabemaske verschwand und durch einen Satz in roter Schrift ersetzt wurde, der auf dem schwarzen Hintergrund wirkte, als sei er mit Blut geschrieben:

Peter ist nicht korrekt. Gib deinen richtigen Namen ein, oder du verlierst eine Spielfigur. Du hast nur noch einen Versuch.

Frank schürzte die Lippen und fragte sich, mit welchem Algorithmus sie herausgefunden hatten, dass er nicht seinen richtigen Name eingegeben hatte. Vielleicht kam diese Aktion ja von einer Seite, die er öfter besuchte und auf der er seinen korrekten Namen angegeben hatte, ein Internetshop. Wenn man dort seinen Namen und seine IP-Adresse in einer Datenbank gespeichert hatte und das nun mit seiner Eingabe abglich … Wie auch immer, er wollte wissen, wie es weiterging und gab seinen richtigen Namen ein. Damit allein konnte kein Datensammler etwas anfangen. Frank betätigte die ENTER-Taste und starrte gebannt auf den Monitor. Erst tat sich eine Weile nichts, dann verschwand die Eingabemaske. Sekunden später schien der schwarze Hintergrund sich langsam aufzulösen, immer durchscheinender wurde er und gab dabei mehr und mehr den Blick auf eine verwirrende Szene frei. Lange Zeit konnte Frank nicht einordnen, was er sah. Schemenhaft, von dem langsam durchscheinender werdenden Schwarz noch verfremdet, wie mit einem engmaschigen Netz bedeckt, glaubte er eine menschliche Gestalt zu erkennen, ein Gesicht mit einem langen Bart, lange Haare … die Perspektive, in der er diesen … Mann? … sah, war ihm noch unklar, aber es konnte nur noch Sekunden dauern, dann … Der Mann war offenbar nackt, schien auf einem grauen Untergrund zu liegen. Die letzten Schlieren verschwanden, und Frank konnte alle Einzelheiten der bizarren Szene erkennen. Der Mann war hager, wirkte verwahrlost. Er lag mit panisch aufgerissenen Augen auf einem grauen Betonboden. Die Arme waren über dem Kopf an den Handgelenken aneinandergefesselt und mit einem Seil irgendwo außerhalb des Bildausschnittes festgebunden. Auch um die schmutzigen Fußgelenke konnte Frank einen groben Strick erkennen, dessen Ende auf der anderen Seite aus dem sichtbaren Bereich verschwand. Die Rippen stachen deutlich unter der dünn erscheinenden Haut hervor, der Körper war übersät mit dunklen Flecken, die wie Blutergüsse aussahen. Die langen Haare lagen strähnig um den Kopf des Mannes, vermengten sich teilweise mit seinem verfilzten Bart. Inmitten dieses Gestrüpps klaffte ein lippenloser Mund wie eine schwarze Spalte auseinander, zu einem irren Schrei geöffnet. Der Anblick war schrecklich, aber das Schlimmste war nicht die ausgemergelte, jämmerliche Gestalt, die gefesselt dalag. Was Franks Magen rebellieren und ihn ein »O mein Gott« ausstoßen ließ, war etwas anderes.

3

Das Spiel hatte begonnen, alle Spieler hatten sich erwartungsgemäß angemeldet.

Es war ihm egal, ob einer von ihnen seine erste Aufgabe erfüllen würde, wahrscheinlich würde es keiner versuchen. Aber das würde sich ändern, wenn sie ihre nächste Aufgabe bekamen. Er würde dafür sorgen, dass das Spiel so verlief, wie es geplant war. Zumindest jetzt noch.

Bald schon würde er keinen Einfluss mehr darauf haben. Dann, wenn sie gegeneinander spielen würden.

Er sah sich um, betrachtete die grauen Betonwände, die Einrichtung des Raumes, in dem er saß, die Gerätschaften, die hier überall herumstanden. Relikte einer vergangenen Ära. Dann stand er auf und öffnete die stählerne Tür. Er musste sich bald um die erste Spielfigur kümmern und überlegte, ob sie schreien würde, wenn ihr Leben erlosch. Er dachte in einer Weise darüber nach, wie er sich Gedanken über das Wetter am nächsten Tag machen würde.

Das kalte Neonlicht des schmalen Flurs ergoss sich über die kahlen Wände und ließ sie abweisend und unwirklich erscheinen, aber davon spürte er nichts.

So, wie er auch sonst nichts spürte.

Schon lange nicht mehr.

4

Um den gefesselten Mann herum standen große Käfige, und diese Käfige waren so vollgestopft mit ineinander verschlungenen und hektisch zuckenden Körpern, dass es eine Weile gedauert hatte, bis Frank in den schmutzig-pelzigen Knäueln Ratten erkannt hatte. Die Tiere schienen wie von Sinnen zu sein, sie krabbelten wild um sich beißend übereinander, bekämpften sich gegenseitig. Manche Körper waren verstümmelt und wurden, noch zuckend, von Artgenossen aufgefressen. Es war ein ekelerregender Anblick, und doch schaffte Frank es nur unter größter Anstrengung, den Blick abzuwenden. »Mein Gott«, wiederholte er flüsternd. »Was ist das?« Dass es kein Marketinggag sein konnte, war ihm schon beim Anblick des Mannes klar gewesen.

Jetzt erschien in der unteren Hälfte des Monitors ein neuer Text:

Ihr seid die Kandidaten. Ihr seid vier, und ihr habt sechs Spielfiguren. Das ist eure erste.

Erfüllt ihr eure Aufgabe, kommt eure Spielfigur frei. Erfüllt auch nur einer von euch seine Aufgabe nicht, kommen SIE frei. Sie sind wahnsinnig vor Hunger.

 

Das Spiel ist geheim. Erzählt ihr auch nur einem Menschen davon, werden sechs Leben ausgelöscht. Erzählt ihr der Polizei davon, werden es mehr sein.

Hier ist deine Aufgabe, Spieler Frank:

Beweise deinen Mut. Begib dich sofort zur Römerbrücke, klettere auf das Geländer und balanciere darauf die 200 Meter bis zur anderen Seite der Mosel. Du musst den ganzen Weg auf dem Geländer zurücklegen. Ohne Hilfe. Du hast Zeit bis heute, 14:00 Uhr. Beeil dich.

Frank las den Text ein weiteres Mal und versuchte dabei zu begreifen, was dort stand. Auf dem Geländer der Römerbrücke 200 Meter über die Mosel balancieren. Das erste Leben? Sie waren vier?

Er war gerade am letzten Satz angekommen, als das Bild erlosch und der schwarze Hintergrund wieder erschien. Ohne Schrift, ohne die Uhr, nur schwarz. Frank drückte die F5-Taste, es tat sich nichts. Er versuchte es mit der Leertaste, auf die er mehrmals mit dem Mittelfinger tippte, dann die Entertaste … das Fenster blieb schwarz.

Frank ließ sich im Stuhl zurückfallen und schnaufte. Was war das? Ein neues Onlinespiel, bei dem die Macher in dem Bestreben, alles möglichst realitätsnah zu gestalten, über das Ziel hinausgeschossen waren? Aber warum sollte ausgerechnet er dieses Spiel testen? Oder konnte es sein – Frank wagte es kaum, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Konnte es wirklich sein, dass das alles … ernst war?

»So ein Quatsch«, sagte er laut. Irgendjemand hatte sich einen ganz blöden Scherz mit ihm erlaubt. Aber er würde sich nicht den freien Sonntag davon verderben lassen. Frank schloss den Browser, schob den Bürostuhl mit einer energischen Bewegung zurück und stand auf.

Ihr seid vier, und ihr habt sechs Spielfiguren …

»Wenn überhaupt, dann seid ihr höchstens drei«, dachte Frank, schon auf dem Weg aus seinem Büro. Nummer vier hat nämlich keine Lust auf diesen Mist.

Er hörte ein Geräusch aus der Küche und ging zu Beate, die gerade dabei war, Zwiebeln für einen Salat zu schneiden. Er umschlang sie von hinten mit den Armen, zog sie an sich und küsste sie in die Halsbeuge.

»Hey, Casanova«, sagte sie und wand sich spielerisch aus seiner Umarmung. »Keine Ablenkungsmanöver, wenn ich mit scharfen Messern hantiere.« Er gab sie frei und hob schnell die Hände. »Auf keinen Fall, am Ende schneidest du dich noch und kannst mir dann nichts Leckeres mehr zu essen machen.« Sie lachten beide, dann wandte Frank sich ab. Er bekam dieses Spiel nicht aus dem Kopf.

Auf der Terrasse versuchte er im Schatten des Sonnenschirms ein wenig in der Sonntagszeitung zu lesen, doch er konnte sich nicht konzentrieren, fragte sich immer wieder, wer dieser schrecklich dürre, nackte Mann auf dem Boden war und welche Rolle er bei der ganzen Sache wohl wirklich einnahm. Bis Beate sich zu ihm setzte und er sich endlich ablenken konnte.

Sie verbrachten einen gemütlichen Sonntagnachmittag zu zweit, hin und wieder schweiften Franks Gedanken zu dem, was er auf dem Monitor gesehen hatte – zu dem Mann, zu den Ratten. Doch beim Abendessen erzählte Laura dann ohne Pause von ihrem Tag im Freibad, und Frank kam nicht mehr dazu, an die Website zu denken. Erst später, als er neben Beate im Bett lag und ihren gleichmäßigen Atemzügen lauschte, hatte er wieder dieses Bild vor Augen. Doch jetzt erschien es ihm vollkommen unwirklich. Diese ausgemergelte, nackte Gestalt, die Ratten, diese … Mutprobe … Nein, sagte Frank sich, es ist ein Spiel, es ist nicht real. Er lag noch eine Weile wach, bis er schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

Die Sonne kündigte sich schon mit ihrem rötlich-gelben Licht am Horizont an, als Frank am Montagmorgen um kurz nach sieben die Haustür öffnete, um den Trierischen Volksfreund aus der Zeitungsrolle unter dem Briefkasten zu holen. Das Außenthermometer zeigte sechzehn Grad an. Frank blieb für einen Moment in der geöffneten Tür stehen und atmete ein paarmal tief durch. Es roch nach frischer Morgenluft, durchsetzt mit dem Duft erwachender Blüten. Das weckte seine Lebensgeister, und er fühlte sich schon gleich etwas besser. Die Nacht war nicht erholsam gewesen, immer wieder hatte er sich hin und her gewälzt und dem roten Display des Radioweckers im Zwanzigminutentakt dabei zugesehen, wie es den quälend langsamen Fluss der nächtlichen Zeit dokumentierte. Doch jetzt fühlte er sich besser. Mit Schwung zog er die zusammengerollte Tageszeitung aus dem Halter und hielt abrupt inne, als ein brauner Umschlag sich daraus löste und zu Boden fiel. Er sah genauso aus wie der, den er am Vortag von der Postbotin bekommen hatte. Langsam bückte er sich und hob ihn auf. Es gab keinen Absender, und die Empfängeradresse fehlte ebenso wie eine Briefmarke. Der Umschlag musste also persönlich von jemandem dort deponiert worden sein. Von dem Zeitungsausträger vielleicht? Frank hatte eine Ahnung, was er in dem Umschlag finden würde, und verwarf den Gedanken an den Zeitungsboten sofort wieder.

Er ging hinein und schloss die Haustür, den Blick weiterhin auf den Umschlag geheftet. Die Küche betrat er nicht, dort saßen Beate und Laura schon am Frühstückstisch. Wenn sich seine Vermutung bewahrheitete, sollten sie auf keinen Fall dabei sein, wenn er den Umschlag öffnete, das hätte nur Fragen zur Folge gehabt, auf die er selbst keine Antwort wusste. Als er schon fast in seinem Büro war, rief Beate: »Frank, wo bleibst du denn? Wir möchten frühstücken.«

»Fangt schon mal an«, gab er zur Antwort. »Ich komme gleich, muss nur kurz was im Büro nachsehen.«

Er legte die Zeitung achtlos auf dem Schreibtisch ab und öffnete den Umschlag. Seine Vermutung war richtig gewesen. Der Memorystick, den er erst sehen konnte, als er die beiden Seiten des Umschlags weit auseinanderzog, sah genauso aus wie der vom Vortag. Ohne Zögern ging Frank um seinen Schreibtisch herum zu dem alten PC an der gegenüberliegenden Wand, steckte den Stick in den USB-Anschluss, öffnete den Explorer und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sich dieses Mal keine Textdatei, sondern ein Film darauf befand. Eine Weile starrte er auf den Dateinamen spielfigur1.avi, dann öffnete er den Film mit einem Doppelklick.

Das Bild, das nach wenigen Sekunden erschien, glich dem, das Frank bei seinem Besuch auf der Website am Vortag gesehen hatte. Die ausgemergelte Gestalt auf dem Boden, die überfüllten Käfige mit den Ratten. Dann jedoch tauchte eine Hand aus dem Bereich außerhalb des Bildausschnittes auf. Sie steckte in einem groben Arbeitshandschuh, der Teil des Unterarms, den Frank sehen konnte, war von einem hellblauen Stoff bedeckt, wie man ihn von Arbeitskleidung kannte. Die Hand griff über einen der Käfige hinweg und schob an dessen Vorderseite einen Riegel zurück. In dem Moment, in dem die ersten pelzigen Körper durch die Öffnung nach draußen gepresst wurden, verschwand das Bild, und es erschien ein Text:

Du hast deine Mutprobe nicht bestanden. Damit verliert ihr die erste Spielfigur. Es bleiben fünf.

Die nächste Aufgabe erhältst du um Punkt 13 Uhr. Verpasse sie nicht.

Ihr müsst sie gemeinsam erfüllen.

Festus

Frank starrte wie gebannt auf den Namen. Festus. Die Erinnerung war sofort wieder da. Wie hätte er auch vergessen können?

5

Frank war zu keinem klaren Gedanken fähig, er schüttelte den Kopf, als könne er damit seinen Verstand wachrütteln. In rascher Folge strömten die Bilder auf ihn ein, Bilder aus der Vergangenheit – kindliche Gesichter, die alte Fabrikhalle – das alles lag Jahrzehnte zurück, wurde überlagert von diesem Namen … Dann verschwand die Botschaft auf dem Monitor, für wenige Sekunden war noch das Standbild zu sehen – verdrehte Rattenkörper, die aus dem Käfig quollen, lange, fleischige Schwänze. Dann lief der Film weiter, die Körper trafen auf dem Boden auf, orientierten sich blitzschnell mit kalt glitzernden Augen und rannten dann sofort zu dem nackten Körper des Mannes. Die Hand tauchte wieder auf und öffnete den nächsten Käfig. Und einen weiteren. Der Mann auf dem Boden riss in panischer Angst die Augen auf, sein Mund öffnete sich … Ohne darüber nachzudenken, schaltete Frank mit einem Knopfdruck die Lautsprecher ein, die zu beiden Seiten des Monitors platziert waren, und sofort wurde sein Büro von einer psychedelischen Geräuschkulisse aus tausendfachem Fiepen und dem Trippeln unzähliger kleiner Füße durchdrungen. Die Geräusche wurden im Sekundenintervall unterbrochen von gestammelten Worten des Mannes. »Nein«, wimmerte er. »Bitte nicht. Nein. Bitte …« Trotz des Durcheinanders konnte Frank genau sehen, welche Ratte zuerst zubiss. Als sie ihre Zähne in die Leiste des Mannes grub und eine kleine, blutende Wunde hinterließ, schien sie damit das Startsignal für ihre Artgenossen gegeben zu haben. Wie im Rausch fielen die Tiere über den Mann her, innerhalb weniger Sekunden bedeckte eine Flut schmutzig-pelziger Tiere seinen nackten Körper. Wahnsinnig vor Angst und Schmerzen zerrte der Mann an seinen Fesseln, wand sich, soweit es die Seile zuließen, sein angsterfülltes Gestammel ging in panische, markerschütternde Schreie über. Frank erstarrte. Schnell schaltete er die Lautsprecher aus, war jedoch nicht in der Lage, den Blick von der unfassbaren Szene vor sich auf dem Monitor abzuwenden. Regungslos saß er da und starrte auf das unerträgliche Geschehen, wurde stummer Zeuge, wie Hunderte von Ratten sich in den Körper eines lebendigen Menschen hineinfraßen. Bald waren ihre Felle mit Blut getränkt, und das schien sie noch wilder zu machen. Sie …

»Frank!« Wie in Watte gepackt drang die Stimme seiner Frau zu ihm durch. »Was tust du denn da?« Erschrocken riss er seinen Blick vom Monitor los, wandte sich um und sah Beate im Eingang seines Büros stehen. Sie beugte sich ein wenig zur Seite und versuchte, einen Blick auf den Monitor zu erhaschen, den er mit seinem Oberkörper verdeckte. »Nichts, ich schau mir nur bei YouTube einen Film an«, log er und schaltete hastig erst den Monitor, dann den PC aus. »Über eine neue Software. Bin schon fertig.« Beate runzelte die Stirn. »Schön, wir sind nämlich bald mit dem Frühstück fertig.« Während er aufstand, glitt ihr skeptischer Blick wieder an ihm vorbei auf den nun schwarzen Monitor, und ihm fiel ein, dass Beate wusste, dass dieser Rechner keinen Zugang zum Internet besaß. Offenbar dachte sie in diesem Moment aber nicht daran, denn sie verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und stemmte die Hände in die Seiten. »Du siehst so aus, als hätte ich dich gerade bei etwas ertappt. Hast du dir etwa gerade einen Porno angesehen?«

»Nein, ähm …«, stammelte Frank. »Nein, keinen … Porno.« Es war ihm unmöglich, den Schock über das, was er gerade gesehen hatte, zu überspielen. Er suchte nach einer einfachen Erklärung, aber ihm fiel nichts ein, was er Beate hätte sagen können. Er schaffte es nicht, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. So konnte er sich unmöglich an den Frühstückstisch setzen. »Ich … äh … ich komme gleich. Muss noch schnell zur … Toilette.«

Er drückte sich an seiner verblüfft dreinschauenden Frau vorbei und hoffte, sie würde ihm keine weiteren Fragen stellen. Im Badezimmer ging er zum Waschbecken und sah in den großen Spiegel. Es war kein Wunder, dass Beate argwöhnisch geworden war, er sah tatsächlich aus, als wäre er gerade einem Geist begegnet. Die kurzen, leicht gegelten blonden Haare wirkten stumpf, und auch der Glanz seiner blauen Augen war verschwunden. Die Haut wirkte fahl und sah schlaff aus. Alles in allem bot er einen erbärmlichen Anblick.

Er stellte die Mischbatterie auf kalt, drehte den Hahn auf und schaufelte sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht.

Nachdem er sich abgetrocknet hatte, warf er erneut einen kurzen Blick in den Spiegel und ließ sich dann auf den geschlossenen Toilettendeckel sinken.

Seine Gedanken waren wieder etwas klarer, er war zwar immer noch geschockt, aber zugleich auch niedergeschlagen.

Hatte er tatsächlich vor wenigen Minuten in diesem Film gesehen, wie ein Mensch bei lebendigem Leib von Ratten aufgefressen wurde? Aber warum? Wer kam auf eine solch perverse Idee, und vor allem, wie war er in diese Sache hineingeraten? Der Name … Festus … Wie war das möglich nach all den Jahren? Sein Verstand suchte fieberhaft nach einer Erklärung für das, was er gerade erlebte. Es dauerte eine Weile, aber nach langem Hin und Her fand Frank schließlich einen Ansatz, an dem er sich festhalten, mit dem er den Tag überstehen konnte: Das Ganze musste ein computeranimierter Videoclip sein, der täuschend echt wirkte. Jemand wollte damit Aufmerksamkeit gewinnen, für was auch immer. Nur dieser Name … wie passte der ins Bild? Kannte der Macher des Films Frank vielleicht von früher? Hatte er eine Ahnung von … Ein energisches Klopfen gegen die Badezimmertür ließ Frank zusammenfahren. »Frank?«

Er schüttelte die Gedanken von sich ab und erhob sich. »Ja, ich komme.« Er trat wieder ans Waschbecken, wusch sich die Hände, begutachtete sein immer noch recht blass wirkendes Gesicht im Spiegel und verließ dann das Badezimmer. Beate saß alleine am Frühstückstisch und sah ihm fragend entgegen, als er die Küche betrat. Ein Blick auf die Uhr über der Arbeitsplatte zeigte Frank, dass es schon halb acht war, Laura war um diese Zeit schon unterwegs zur Schule. »Entschuldige«, sagte er, während er sich setzte. »Ich fühle mich nicht so gut.« Das war nicht gelogen. Beates Gesichtsausdruck änderte sich, aus fragend wurde sorgenvoll. »Was ist denn los? Bist du krank?«

Frank schüttelte den Kopf. Nachdem er dieses Video gesehen hatte, wollte er noch viel weniger als zuvor, dass Beate etwas von dieser ganzen Geschichte erfuhr. »Nein, schon gut, ich habe schlecht geschlafen und wieder mal Probleme mit dem Magen. Das wird bestimmt besser, wenn ich gefrühstückt habe.«

Beate bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick, nickte dann aber und wandte sich ihrem Frühstücksei zu.

 

Der zwanzigminütige Weg zu seinem Büro begann mit dem Anruf eines freien Mitarbeiters, der am Wochenende mit dem Geschäftsführer der Auslandsfiliale eines großen deutschen Bankinstitutes in Luxemburg auf dem Golfplatz gewesen war. Das Resultat war, dass er nun einen Termin in der Konzernzentrale in Frankfurt bekam, wo er das neue Core Banking System aus Franks Softwarefirma präsentieren sollte. Mit diesem Programm gelang es, alle Kernprozesse einer Bank abzubilden. Falls er es schaffte, die Leute dort von dem Programm zu überzeugen, konnte ein millionenschwerer Deal zustande kommen. Frank bedankte sich für die Info und legte auf. Gute Neuigkeiten, die ihn etwas aufmunterten.

Er schaltete das Radio ein, ertrug einige Sekunden lang einen fürchterlichen Hip-Hop-Song und schaltete wieder aus. Während der weiteren Fahrt konzentrierte er sich auf die Frage, was es für seine Firma langfristig bedeuten würde, wenn die Bank seine Software tatsächlich konzernweit einsetzte. Ein Auftrag in dieser Größenordnung konnte sogar dazu führen, dass er seinen Personalstamm von zwölf festen Mitarbeitern noch erweitern musste.

Als er die renovierte Stadtvilla in der Südallee erreichte, in deren Erdgeschoss die Büroräume seiner Firma untergebracht waren, hatte er die Gedanken an die Website und an den Film zumindest für den Moment aus dem Kopf. In seinem Büro angekommen, bat er seine Assistentin Sandra um einen großen, starken Kaffee und fuhr seinen PC hoch.

Nur wenige Minuten später stellte die etwas pummelige Dreißigjährige eine große Tasse auf dem Schreibtisch vor ihm ab, lächelte ihm freundlich zu und verließ das Büro.

Frank hatte gerade den ersten Schluck genommen, als sein Telefon läutete. »Da ist ein Jens Eberhard in der Leitung«, ließ ihn Sandra wissen. »Er sagt, er müsse Sie dringend sprechen, wollte mir aber nicht sagen, worum es geht. Das sei privat.« Frank saß einen Moment wie erstarrt da, den Hörer ans Ohr gepresst, und schwieg. Jens Eberhard. Wie lange war es her, dass er diesen Namen zuletzt gehört hatte? 30 Jahre? Ihre Wege hatten sich damals getrennt, kurz nachdem … diese Sache passiert war. Hier und da waren sie sich anfänglich zwar noch begegnet, in der Schule, im Schwimmbad, aber geredet hatten sie nicht mehr miteinander. Sie hatten sich nicht mehr in die Augen sehen können. Dass er sich ausgerechnet jetzt meldete, an diesem Morgen, konnte nur bedeuten, dass er … »Herr Geissler? Alles in Ordnung?«

»Ja, sicher, bitte, ähm … stellen Sie ihn durch.«

»Kleinen Moment …« Ein knackendes Geräusch war zu hören, dann war die Verbindung zu dem Anrufer offenbar hergestellt.

»Frank Geissler, guten Tag.« Frank bemerkte, wie kühl und unpersönlich er klang.

»Hallo, Frank«, antwortete eine Stimme, die er nie dem sommersprossigen Rotschopf von damals zugeordnet hätte, aber die Stimme in seiner Erinnerung war auch die eines dreizehnjährigen Jungen. Das Einzige, was sich nicht verändert hatte, war die zaghafte, fast schon vorsichtige Art, mit der Jens Wort an Wort aneinanderreihte. »Hast du …«, fuhr Jens fort und räusperte sich. »Hast du auch diese Nachricht bekommen?«

»Ja, habe ich.«

Wie geht es dir, wäre eine Möglichkeit gewesen, das erste Gespräch nach so langer Zeit zu beginnen. Aber danach schien Jens ebenso wenig der Sinn zu stehen wie ihm selbst. »Und den Film auch?«, wollte Frank wissen.

»Ja. Du also auch. Ich hab’s geahnt. Er lag heute Morgen auf einem Stick in meinem Briefkasten. Nackter Mann, Ratten?«

Frank nickte, obwohl Jens das nicht sehen konnte. »Ja, genau. Wenn das ein Scherz sein soll, hat jemand einen verdammt abartigen Humor. Das Ganze wirkt täuschend echt.«

Eine kurze Pause entstand, bis Jens ungläubig sagte: »Was meinst du mit täuschend echt?«

»Na ja, das ist doch … Moment, du glaubst doch nicht, dass das, was wir da gesehen haben, tatsächlich passiert ist? Das ist doch eine Computeranimation! Ich meine, Ratten, die einen lebendigen …«

»Hast du heute Morgen noch nicht in die Zeitung geschaut?«

Frank musste einen Moment nachdenken. »Nein, warum?«

»Es steht im Trierischen Volksfreund direkt auf der ersten Seite. Und ganz groß im Innenteil unter Trier. Gestern Abend hat man am Moselufer direkt unter der Römerbrücke eine Leiche gefunden.« Jens sprach nun noch langsamer, gerade so, als müsse er nach jedem einzelnen Wort suchen. »Eine … stark entstellte Leiche. Ein Mann. Sie … wissen nicht, wer er war. Da steht, so, wie er aussieht, sei er wohl von … von Nagetieren angefressen worden.«

»Mein Gott!« Franks Blick suchte seinen Schreibtisch ab, den niedrigen Tisch in der Besprechungsecke. Nichts. Er hatte den TV, wie der Trierische Volksfreund kurz genannt wurde, auch für die Firma abonniert, weil er häufig am Morgen nicht mehr dazu kam, ihn zu Hause zu lesen. Sandra war meist vor ihm im Büro und legte ihm die Zeitung hin, nachdem sie sie durchgeblättert hatte. Er würde sie gleich fragen.

»Frank?« Es kam zögerlich, fast ängstlich.

»Ja?«

»Denkst du … Glaubst du, das Ganze hat was mit … damals zu tun?«

»Mit Festus?« Franks Stimme klang rau.

»Ja.«

Frank sackte kraftlos in sich zusammen, als hätte man ihm sämtliche Energie aus dem Körper gesaugt. »Ich weiß es nicht. Hast du die anderen schon angerufen?«

»Nein, ich wollte zuerst dich … Du warst doch damals der …« Er stockte.

»Der was?«, hakte Frank scharf nach, obwohl er ahnte, was Jens meinte.

»Na, der Anführer.« Es klang noch immer zaghaft.

»Was soll das heißen? Dass ich schuld war, oder was?«

»Nein. Wir alle waren schuld.« Nach einigen Sekunden, in denen sie beide dem Atem des anderen lauschten, sprach Jens leise weiter: »Da stand, die nächste Aufgabe, die wir heute um 13 Uhr bekommen, müssen wir gemeinsam lösen. Wir müssen uns mit den anderen treffen.«

»Ich denke, wir sollten die Polizei informieren.« Frank merkte selbst, dass sein Vorschlag halbherzig klang, und versuchte, nicht zuletzt für sich selbst, ihm mehr Nachdruck zu verleihen. »Es geht schließlich um einen Mord.«

»Und dann?« Pause. »Möchtest du denen erklären, warum … ausgerechnet wir da hineingezogen werden? Möchtest du ihnen von Festus erzählen?« Erneute Pause. »Aber auch wenn du es nicht tust, werden die früher oder später die Zusammenhänge herausfinden. Was dann?«

»Ich …«, Frank war durcheinander und wusste nicht, was er tun sollte. Er dachte an sein Leben, seine Familie. Im nächsten Moment wurde er wütend. Er hatte eine erfolgreiche Firma aufgebaut, trug die Verantwortung für seine Mitarbeiter und deren Familien. Seit Jahren setzte er sich erfolgreich mit allen möglichen Konkurrenten, Ämtern und sich selbst überschätzenden Firmenbossen auseinander, wenn nötig auch mit der gebührenden Härte. Und nun saß er an seinem Schreibtisch wie ein Häufchen Elend und wusste nicht, was er tun sollte. Weil sich auf bizarre Weise ein dunkles Kapitel seiner Vergangenheit wieder in Erinnerung rief, das er eigentlich für alle Zeit aus seinem Gedächtnis gestrichen zu haben glaubte. »Verdammter Mist«, presste er hervor. Alles in ihm sträubte sich dagegen, mit den anderen beiden Kontakt aufzunehmen. Sie hatten nichts in seinem Leben zu suchen. Ebenso wenig wie Jens. Das von damals hatte nichts in seinem jetzigen Leben zu suchen. Es gehörte in eine andere Zeit. Sie waren doch noch Kinder gewesen.

»Rufst du sie an?«

»Ich … mein Gott, ich weiß es nicht. Lass uns abwarten, was da um 13 Uhr kommt. Dann können wir immer noch sehen.«

»Frank?« Jens sprach jetzt so leise, dass Frank seinen Namen fast nicht verstand.

»Was?«

»Hältst du es für möglich … Denkst du … er ist wieder da?«

Eine heiße Woge fuhr durch Franks Körper. »So ein Blödsinn. Du weißt genau, dass das Quatsch ist. Ich muss jetzt aufhören.« Er legte abrupt auf und starrte das Telefon an. Eine Weile saß er so da, bevor er einen Knopf drückte und die angezeigte Nummer unter J. Eberhard in seinem Handy speicherte.

Wer steckte wirklich hinter dieser Sache? Und vor allem, wer konnte etwas von damals wissen? Diese Aufgabe. Wie hatte es in der Nachricht geheißen? Du hast deine Mutprobe nicht bestanden?

Frank zweifelte keine Sekunde mehr daran, dass auch die anderen beiden den Memorystick und den Film erhalten hatten.

Ihr seid vier, und ihr habt sechs Spielfiguren! Was das mit den sechs Figuren sollte, verstand Frank nicht, aber ja, sie waren vier gewesen. Damals.

Es gab nur eine Möglichkeit: Einer der anderen drei musste irgendwann jemandem davon erzählt haben. So gesehen hatte Jens wohl recht. Sie mussten sich treffen, allein schon um herauszufinden, wer derjenige war, der sie mit diesem Namen konfrontierte, den sie alle nie mehr hatten hören wollen. Festus.

Damals …

Sie treffen sich immer in einer alten Fabrikhalle in Trier-Euren. Sie steht weit draußen im Wald, Richtung Herresthal, und stammt noch aus den Anfängen des vorigen Jahrhunderts. Seit Jahrzehnten verfällt sie vor sich hin. In einem der ehemaligen Büroräume im hinteren Bereich der heruntergekommenen großen Haupthalle haben sie ihr Hauptquartier errichtet. Sie nennen sich Die Bande. Ihnen war kein passender Name eingefallen, also sprechen sie einfach von ihrer Bande. Sie sind zu viert.

Jens, der dreizehnjährige, schmächtige Junge, den alle wegen seiner rötlichen Haare nur Kupfer nennen und der normalerweise sehr zurückhaltend ist. Zumindest solange man ihm nicht wehtut oder ihn reizt. Dann kann es passieren, dass er vollkommen ausrastet und wie besessen um sich schlägt, beißt und tritt.

Torsten ist das genaue Gegenteil von Jens. Mit seinen vierzehn Jahren ist er der Älteste von ihnen. Er ist groß, übergewichtig und hat immer und zu allem was zu sagen. Sie nennen ihn Fozzie, nach dem Fozzie Bär der Muppet Show. Meist ist das, was er sagt, nicht sehr geistreich. Seine kurzgeschorenen blonden Haare lassen die rundlichen Wangen mit den roten Flecken darauf noch feister erscheinen. Bei Unstimmigkeiten genügt es meist, dass Torsten sich vor dem Gegner aufbaut, um die Sache zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Dann ist da noch Manuela, das einzige Mädchen. Sie ist ebenfalls dreizehn. Lange hat sie versucht, Mitglied der Bande zu werden, aber die anderen drei haben sie immer für ein verwöhntes Püppchen gehalten. Bis sie dem dicken Torsten auf dem Schulhof ohne Zögern derart gegen das Schienbein getreten hatte, dass er tagelang nicht laufen konnte. Er hatte sie dämliche Kuh genannt. Zwei Tage später haben sie sie gegen Torstens Protest in die Bande aufgenommen.

Und schließlich er, Frank, den sie Fränkie nennen. Er hat sich nicht darum gerissen, Bandenchef zu werden. Es hat sich einfach so ergeben, weil ihm in brenzligen Situationen meist etwas Gutes einfällt. Fozzie und Kupfer hatten es sich angewöhnt, Fränkie zu fragen, wann immer eine Entscheidung zu treffen war, und als Manu wissen will, wer der Anführer ist, antworten die beiden gleichzeitig: Fränkie.

Sie treffen sich fast jeden Nachmittag in ihrem Hauptquartier, hängen dort rum, paffen Zigaretten, die sie ihren Eltern geklaut haben, und erzählen sich von Abenteuern, die sie erleben wollen. Hier und da gibt es schon mal Krieg mit anderen Banden. Einmal haben ein paar Jungs aus Trier-West in der Halle ein Feuer gemacht und alte Decken und herumliegende Gummiteile verbrannt. Es gab einen Riesenqualm, und irgendwann kam die Feuerwehr mit Blaulicht und Sirene angefahren. Ihr Hauptquartier haben die nicht entdeckt, aber die Eingänge der Halle wurden verrammelt, und sie hatten einige Mühe, wieder einen Zugang zu schaffen.

Es ist ein unbeschwerter Sommer, den die vier zusammen verbringen, und sie haben das Gefühl, dass es nichts gibt, was sie trennen kann. Bis eines Tages Gerd Köhler in ihrem Hauptquartier auftaucht, den alle nur Festus nennen.

6

Nachdem Frank den Artikel im TV gelesen hatte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr daran: Der Mann aus dem Film war der, dessen Leiche man am Moselufer gefunden hatte. Wieder dachte er darüber nach, die Polizei zu informieren, doch auch jetzt verwarf er den Gedanken.

Erzählt ihr der Polizei davon, werden mehr sterben.