DAS RÄTSEL SALOMONS - Daphne Niko - E-Book

DAS RÄTSEL SALOMONS E-Book

Daphne Niko

4,5

Beschreibung

Zehntausende begeisterte Leser!Erleben Sie ein weiteres spannendes Abenteuer mit Sarah Weston und Daniel Madigan in dieser rasanten, fesselnden Geschichte, welche Sie dieses Mal nach Israel, Saudi-Arabien und Indien entführt. Cambridge Archäologin Sarah Weston und der amerikanische Anthropologe Daniel Madigan arbeiten an der Qaryat al-Fau Ausgrabungsstätte in Saudi-Arabien, als sie eine mysteriöse Schriftrolle geschrieben in Form eines Rätsels finden. Während sie versuchen, die Schriftrolle zu bestimmen und zu entschlüsseln – eine Aneinanderreihung von Katastrophen, darunter ein gewaltiges Feuer –, wird ihr Camp überfallen und die Schriftrolle gestohlen.Sarah und Daniel folgen einer Reihe von Hinweisen, die nach Indien, Jerusalem und in die judäische Wüste führen, wo sie die Wahrheit über die Schriftrolle entdecken: Sie ist eine Art Karte, geschrieben von König Salomon, und führt zu einer alten Handschrift, die eine erstaunliche Offenbarung enthält.Aber Sarah und Daniel sind nicht die einzigen, die nach der alten Schrift suchen. Trent Sacks, ein privilegierter junger Brite, hat viele Jahre damit verbracht und ein Vermögen investiert, um dieses Manuskript zu finden. Der Mann glaubt, dass er der letzte Nachkomme Davids und König Salomons ist, und er wird vor nichts zurückschrecken, die alten Relikte zu sammeln, um der Welt zu beweisen, dass er der wahre Messias ist. Auf ihrer Reise durch die Welt des Okkulten, menschlicher Gier, geopolitischer Konflikte, judäischer Mystik und biblischer Archäologie, finden sich Sarah und Daniel im Wettlauf gegen die Zeit und einen gewaltigen Feind wieder, um eine mächtige alte Nachricht aufzudecken, die explosive Auswirkungen auf das moderne Israel haben könnte. Aber ist die Welt bereit für eine solche Offenbarung?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 501

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (100 Bewertungen)
63
19
18
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




DAS RÄTSEL SALOMONS

Daphne Niko

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Madeleine Seither

Copyright © 2013 by Daphne Niko

Die Originalausgabe erschien 2013 bei Medallion Press, Inc., USA, unter dem Titel THE RIDDLE OF SOLOMON. Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de), in Zusammenarbeit mit Gloria Goodman.

The original edition was published in 2013 at Medallion Press, Inc., USA, under the title THE RIDDLE OF SOLOMON.

Impressum

überarbeitete Ausgabe

Originaltitel: THE RIDDLE OF SOLOMON Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Madeleine Seither

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-157-8

Folgen Sie dem LUZIFER Verlag auf Facebook

Für weitere spannende Bücher besuchen Sie bitte 

unsere Verlagsseite unter luzifer-verlag.de

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen und senden Ihnen kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

DAS RÄTSEL SALOMONS
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Epilog
Danksagungen
Über die Autorin
LUZIFER Verlag

Prolog

Davidstadt Zehntes Jahrhundert v. Chr.

Der alte Priester Zadok stand am Rand der Quelle und hatte seine Augen auf das Antlitz des Mondes gerichtet, das sich auf dem reglosen Wasser spiegelte. Lichtschwanger und intensiver als gewöhnlich, war er der geeignete Mond für das, was Zadok zu tun gedachte. Er hob seinen Blick zum Himmel. Dort befand sich nicht eine einzige Wolke.

Er betrachtete die Königsstadt, die sich im Tal erstreckte. Die Gebäude, die sich wie steinerne Finger zum äußersten Wüstenrand reckten, waren in ein helles, graublaues Licht getaucht, das nur von den Schatten der Dattelpalmen durchbrochen wurde, die aus der steinigen Erde wuchsen. Über den gedrungenen Flachdachhäusern erhob sich die königliche Festung, einst von jenem Schafhirten errichtet, der die zwölf Stämme Israels zu einem Reich vereint hatte. Steinterrassen führten zu einer befestigten Plattform, auf welcher ein von phönizischen Steinmetzen gebauter Palast stand: der höchste Punkt der Stadt, und dem Himmel am nächsten gelegen.

Hinter Zadok schmiegten sich die Obstgärten Siloahs an die grünen Hänge. Reife Feigen hingen von den Bäumen und erfüllten die Nacht mit honigsüßem Duft. Er schloss die Augen und sog den lieblichen Geruch ein, der ihn umgab. Eine Wohltat für seinen zur Ruhe kommenden Geist. Er spürte, wie der Atem des Wüstensommers ihn wärmte. Auf diese Weise stand er da, bis alle Gedanken aus seinem Bewusstsein schwanden und er zu einem leeren Gefäß wurde, das bereit war, gefüllt zu werden. Er wandte sich an seinen Schüler.

»Es ist so weit, mein König.«

Der junge Herrscher, der kaum sein drittes Jahr auf dem Thron vollendet hatte, neigte den Kopf vor dem Hohepriester seines Hofes und dem seines Vaters vor ihm. Die Demut seines Souveräns stimmte Zadok freudig. Es waren erst einundzwanzig Jahre vergangen, seit seine Mutter ihn geboren hatte, und doch war Salomon bereits weise genug, um zu wissen, wann er ein König zu sein hatte und wann ein Schüler.

Zadok streifte seine Gewänder ab und trat in den Teich. Es war das Wasser ebendieser Quelle, das die Könige Judas weihte, und nun würde es seinen Körper und den Salomons für das Ritual läutern, auf dessen Durchführung sie sich vorbereiteten. Zadok füllte eine irdene Schüssel mit dem Wasser und hielt sie hoch über seinen Kopf, als reiche er sie dem Himmel dar.

»Oh weiser und mächtigster Gott, dieser Diener steht vor Dir mit reiner Absicht und bittet um nichts als Gnade. Mit diesem heiligen Wasser reinige ich diesen unwürdigen Leib und wasche meine Schuld hinfort, um in Deiner Gegenwart unbefleckt zu sein.«

Er neigte die Schüssel und ließ das Wasser über seinen Scheitel fließen, durchnässte sein glattes, mit Silber durchzogenes, schwarzes Haar, das ihm bis zur Mitte des Rückens herabhing, und den drahtigen grauen Bart, der sein Gesicht und seine Kehle bedeckte. Er füllte die Schüssel erneut und ließ das Wasser die braune Haut säubern, die schlaff an seinen alten Knochen hing. Und als er mit seiner Reinheit zufrieden war, trocknete er sich ab und schlüpfte in ein Gewand aus frisch gewebtem weißen Leinen, das von der Nadel einer Jungfrau bestickt worden war.

Salomon spürte sein Herz gleich einer Militärtrommel schlagen, als er sein königliches blaues Gewand abstreifte und seine vollen schwarzen Locken aus dem Goldband löste, das seinen Kopf wie ein Heiligenschein umgab. Nackt stand er vor seinem Gott, demselben Gott, der ihm die Weisheit gewährt hatte, die Stämme Israels mit Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit zu regieren, und trat in den Teich. Dank des eisigen Wassers fuhr ihm ein angenehmes Frösteln durch den Körper. Er gedachte seines Vaters. König David war nur noch eine Erinnerung, aber für Salomon blieb er ein Gigant. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er ihm wenige Stunden vor seinem Tod gegeben hatte.

Mein Vater, gehet in Frieden, denn ich, Euer Sohn Salomon, gelobe, das eine und glorreiche gesegnete Heiligtum zu errichten und es mit den heiligen Gefäßen zu versehen, so wie von Gott befohlen und von den Prophezeiungen vorausgesagt.

Heute würde er den ersten Schritt zur Erfüllung dieses Versprechens unternehmen.

Mit einer Robe aus purem weißen Leinen bekleidet, folgte Salomon Zadok die Steinstufen zu einer Lichtung im Obstgarten hinauf, wo der Priester eigens für diesen Anlass einen aus Zedernholz gefertigten Altar errichtet hatte. Unter den Schatten der Obstbäume knieten sie vor diesem Altar nieder und baten um Führung, denn was sie zu tun gedachten, war nur jenen vorbehalten, deren Seelen vor dem Himmel makellos waren. Zadok erhob sich als Erster und bot dem König seine Hand zum Kuss; Salomon folgte dieser Aufforderung pflichtbewusst und ohne Vorbehalt.

Zadok näherte sich der Vielfalt an Objekten, die auf dem Altar lagen, und blieb vor dem mittleren stehen. Er entfernte eine weiße Hülle aus gewobener Spinnenseide, unter der ein steinerner Räucherkelch zum Vorschein kam. Dann schüttete er den Inhalt eines kleinen, weißen, mit einem goldenen Löwen bestickten Beutels in seine Handfläche. Diese Körnchen rieb er aneinander, sodass die Wärme seiner Hände ihre ätherischen Öle freisetzen konnte. Dann legte er sie in den Räucherkelch und entzündete sie mithilfe zweier Feuersteine. Ein zaghafter Rauchfaden stieg von dem Gefäß auf.

»Dieser Duft soll die Sinne Deiner demütigen Diener klären, oh Allmächtiger, sodass sie den Visionen, die kommen mögen, offenliegen.« Mit beiden Händen drängte Zadok den Rauch zu seinem Gesicht hin und atmete tief ein. Dann schwenkte er das Räuchergefäß vor Salomon und ließ die Dämpfe von Myrre und Mastix in den König dringen.

Die Nacht war so still, dass sich nicht einmal die Blätter an den Feigen- und Granatapfelbäumen rührten. Salomon war so ruhig wie die Luft, die über seines Vaters Stadt hing, ohne Begehr oder Erwartungen in das Ritual. Er hatte sich ganz fallen lassen, vertraute darauf, dass das Göttliche ihm alles gewährte, dessen er bereit war, und ihm verweigerte, was er noch nicht begreifen konnte.

Trotz aller Rituale und Zeremonien, die seine königliche Herrschaft bestimmten, hatte er niemals an etwas Derartigem teilgenommen. Das Anrufen von Geistern und die Verständigung mit der Anderswelt waren das Hoheitsgebiet Zadoks, des Königreichs Priester und Seher. Salomon hatte vollstes Vertrauen in ihn. Schließlich war er es gewesen, der ihm geholfen hatte, jenen Thron zu besteigen, der ihm nicht rechtmäßig zustand. Der alte Priester hatte seine Loyalität viele Male bewiesen, vor allem als er König David davon überzeugte, dass es Salomon und nicht etwa Davids älterer Sohn Adonia sei, der über Israel herrschen und den heiligen Tempel errichten solle. Und so war es geschehen.

Vorsichtig entfaltete Zadok einige Lagen reinen, weißen Gewebes, das von den Hofdamen aus der Seide tausender Spinnen gewoben worden war, um eine runde Platte aus Kalkstein zu enthüllen, deren Größe und Gewicht an den Kopf eines Mannes erinnerte. Da hineingraviert war der göttliche Kreis, symbolisch für alle Schöpfung, und in dessen Mitte stand der höchst geweihte und unaussprechliche Name Yahwehs.

Die Stimme des Priesters zerriss den Schleier der Stille, der über dem Obstgarten hing. »Oh David, mächtiger und gerechter Herrscher und Vater König Salomons, ich rufe dich beim Namen, der nicht ausgesprochen werden darf und der Furcht in den Herzen der Gottlosen sät. Ich beschwöre deine Anwesenheit durch die zwei Schrifttafeln, auf welchen der ehrwürdige Schwur unseres Volkes geschrieben steht, und durch das heilige Tabernakel, in welchem der Allmächtige wohnt, und durch das Allerheiligste, in welches nur der Hohepriester einzutreten vermag. Zeige dich, oh David, und führe deinen Nachfolger, sodass er sich dem Vermächtnis, das ihm gegeben ward, würdig erweisen möge.«

Die Stille war vollkommen. Zadok nahm eine Handvoll Erde vom Boden auf. Er streckte sie dem Firmament entgegen, und während er sich rechtsherum drehte, streute er ein wenig der Erde in jede Himmelsrichtung, bis sie ganz verteilt war. Dann fiel er auf die Knie. Mit in die Luft erhobenen Händen und zurückgeworfenem Kopf sagte er: »Nachsichtiger und sanftester Geist Davids, ich bitte dich, komme in Frieden. Im höchst geheiligten Namen des Einen, der im Himmel wohnt, der allwaltende Macht besitzt über Kreaturen groß und klein, der das Volk Israels zu Überbringern und Zeugen seines Wortes auserkoren hat, und der die göttliche Gewalt innehat über die Seelen der Menschen, lebend und tot, rufe ich dich, oh David. Tritt hervor und enthülle die Geheimnisse der Engel, die zu dir gesprochen haben, sodass der Wille des Herrn geschehen möge.«

Ein leichter Wind flüsterte durch die Obstbäume und ließ die Blätter für einen Moment – kaum länger als der Herzschlag eines Menschen – erzittern. Salomon entging das Zeichen nicht. Er spürte die Anwesenheit seines Vaters, pur und gestaltlos wie der Chamsin, so deutlich wie er das An- und Abschwellen seines eigenen Atems spüren konnte. Er sog die wohlriechenden Dämpfe ein, die aus dem Räucherkelch aufstiegen, bis sein Kopf ganz leicht wurde, sein Verstand offen und gefügig. Heute Nacht hatte er nur ein einziges Anliegen: den Schlüssel zum Bau des heiligen Tempels auf dem Berg Moriah zu erhalten. Diese monumentale Aufgabe war allein ihm anvertraut worden.

»Mein Sohn, alles, was ich während meines Lebens auf dieser Erde getan habe – jede Schlacht, die ich gewagt, jeden Sieg, den ich errungen, jedes Gebäude, das ich errichtet habe –, geschah in Vorbereitung auf die eine wahre Aufgabe, die da lautet, einen Tempel für den Herrn, unseren Gott, zu bauen, der das alte Zeltheiligtum, welches unser Volk lange auf seiner Reise begleitete, ersetzen wird, um die Dauerhaftigkeit unseres Volkes in diesem Land zu begründen«, hatte sein Vater ihm gesagt. »Viele Jahre lang glaubte ich, diese Aufgabe sei meine Bestimmung. Doch der Herr erschien mir in einem Traum und sagte: David, baue du nicht mein Haus, denn großes Blutvergießen kennzeichnet deine Herrschaft. Einer deiner Söhne soll König werden, und zu seiner Zeit wird Israel den Frieden erleben. Er allein wird würdig sein, eine solch glanzvolle Aufgabe zu erfüllen. Es ist vorherbestimmt, mein Sohn. Du bist es, der diesen Tempel bauen wird.«

Salomon hatte dabei zugesehen, wie König David, der um die Jugend und Unerfahrenheit seines Sohnes wusste, Vorbereitungen für die Umsetzung dieser göttlichen Verfügung traf. In den letzten Tagen seines Lebens hatte der alte König seinen Steinmetzen befohlen, Steine für Bauzwecke zu schneiden, verfügt, dass Zedernholz aus den Ländern im Norden herbeigebracht wurde, und große Mengen an Gold, Kupfer, Eisen und Bronze angehäuft.

Als sein Vater im Sterben lag, erhielt Salomon das wertvollste aller Geschenke: Eine Sammlung von Pergamenten, auf denen die Baupläne des Tempelkomplexes verzeichnet waren, welche David von den vom Himmel herabgestiegenen Engeln offenbart worden waren. Die Pläne zeigten das Vestibül und die inneren Kammern, die Höfe und Schatzlager, die Räume für Priester und Leviten, die zur Durchführung der heiligen Riten benötigten Gefäße und Altare, die Säulen namens Boas und Jachin, das beeindruckende Bronzebecken, und das Allerheiligste, das die Bundeslade beheimaten sollte.

Doch zum Unmut des jungen Salomon enthüllte David nicht alles. Da der alte König gefürchtet hatte, dass die Pläne in die Hände der Unwissenden fallen könnten, gab er die Abmessungen für jede Kammer in einer mysteriösen Maßeinheit an und sagte, die Engel hätten ihn instruiert, die Wahrheit vor Salomon verborgen zu halten bis es an der Zeit sei, die Vision zu realisieren. Und so hatte er das Wissen mit in sein Grab genommen. In den frühen Tagen seiner Herrschaft hatte Salomon die Pläne jeden Tag und jede Nacht studiert, in seiner jugendlichen Arroganz davon überzeugt, dass er sie letztlich verstehen würde. Doch dies geschah nicht.

Dann, eines Nachts, als die Flamme seiner Kerze in einem See aus Wachs erstickte, schloss er die Augen und hörte eine Stimme in seinem Kopf donnern.

»Einen Wunsch will ich dir gewähren. Was ist es, das du mehr als alles andere begehrst?«

Salomon fiel auf die Knie und neigte seine Stirn zur Erde. Kaum hatte er das getan, spürte er, wie eine Macht ihn aufrichtete.

»Stehe als König vor mir. Welches ist dein Wunsch?«

Obwohl niemand mit Salomon in seiner Kammer war, verstand er in diesem Augenblick, dass er niemals allein sein würde. Er würde stets geführt werden. So stand es geschrieben.

»Gewähre mir Weisheit, oh Herr«, flüsterte er.

In jener Nacht änderte sich alles. Der junge König strotzte nicht länger vor Ungeduld. Er rollte die Pergamente auf und legte sie in eine Alabastertruhe in seinem Privatgemach.

Die Truhe blieb drei Jahre lang versiegelt.

Jetzt war Salomons Zeit gekommen. Das wusste er so sicher, wie er wusste, dass die Sonne im Osten aufgehen würde. Doch er brauchte seinen Vater ein letztes Mal.

Zadok bedeutet seinem König mit einem Nicken, dass die Seele unter ihnen weilte. Er überreichte Salomon das einzige in ein rotes Seidentuch eingeschlagene Objekt und trat vom Altar zurück. Er hatte getan, was er konnte; alles Weitere oblag dem jungen König.

Langsam löste Salomon die schützende Hülle ab und erblickte ein Messer mit einem aus Widderhorn gefertigten Griff und einer sichelförmig geschwungenen Klinge. Er streckte es zum Himmel, und die Schneide glänzte im Mondlicht. Dann, ohne Emotion und ohne Zögern, führte er die Spitze zur Innenseite seines linken Unterarms und fügte seiner straffen, karamellfarbenen Haut einen diagonalen Schnitt zu. Weder das Brennen des Einstichs noch der pochende Schmerz, den er spürte, als der warme, dunkelrote Inhalt seiner Venen hervorquoll und seinen Unterarm hinabrann – über den knochigen Hügel seines Handgelenks hinweg und in das Tal seiner Handfläche hinein – ließen ihn zusammenzucken. Einige Augenblicke lang sammelte er das Blut in seiner Handfläche, dann leitete er es seinen Mittelfinger entlang und ließ es in eine aus reinweißem Marmor geschnitzten und zu geschmeidiger Glätte polierten Schale tropfen. Als sie voll war, trat er vom Altar zurück und goss das Blut in einem Kreis um sich herum auf die Erde.

»Oh, Geist meines Vaters, tritt hervor und erkenne dein eigen Blut.« Salomons tiefe Stimme drang durch den Obstgarten. »Betritt diesen Kreis, in den nur diejenigen vordringen können, welche dieselbe königliche Abstammung teilen, und enthülle die dir gewährten Geheimnisse der Engel, denn die Zeit ist angebrochen, den Namen des Herrn, unseres Gottes, durch die Errichtung eines Tempels auf dem heiligen Hügel zu ehren. Enthülle, oh erhabener Geist, den Schlüssel zum Schatz, der den Kindern Israels gehört, und hilf deinem demütigen Sohn, zu dem Werkzeug zu werden, zu dem der Herr ihn auserkoren hat.«

Reglos, wartend, stand Salomon im Inneren des Blutkreises. Er befand sich in einem Zustand tiefster Meditation. Sein Verstand war wie fruchtbare Erde, bereit, den Samen der Erleuchtung zu empfangen. Er widerstand dem Verlangen, Gedanken in die vollkommene Ruhe eindringen zu lassen, die ihn umgab.

Lange Zeit herrschte Stille. Er wusste, dass er geprüft wurde; er erwartete nichts Geringeres von seinem scharfsinnigen und weisen Vater. Erst wenn er die wilden Pferde des jugendlichen Verstandes zügeln und sie sich gefügig machen könnte, würde er als würdig erachtet werden. Dies war kein Leichtes für den König, der gerade an der Schwelle zum Mannesalter stand, und von dem so früh in seiner Herrschaft so viel erwartet wurde.

Salomon spürte Schwäche durch die Mauern seiner geistigen Festung dringen; in den Mantel des Zweifels gehüllt stand sie vor ihm. Gedanken trieben in den Äther seines Verstandes und bedrohten seine Ruhe. Wird er kommen? Zürnt er mir? Bin ich wahrlich bereit? Er konzentrierte sich auf seinen Atem und machte sich dessen Rhythmus bewusst, ein Anschwellen und Abebben wie von weit entfernten Meereswellen. Jedes Einatmen war mit Myrreduft durchzogen, einem leicht süßen Geruch, der an Moschus und Gewürze erinnerte. Der Augenblick umfing ihn, schirmte ihn gegen die Eindringlinge ab, und schon bald wurde jede Macht, die sie über ihn zu haben behaupteten, schwach wie ein letzter Winteratem.

Er spürte, wie ein einzelner Windhauch in sein Gesicht blies und ihm die Locken zerzauste.

Ich bin hier.

Die Stimme Davids hallte im Verstand des jungen Königs nach wie ein Fanfarenstoß und erfüllte auch die dunkelsten Nischen. In diesem Augenblick war Salomon vollständig ausgelöscht; alles, was von ihm verblieb, diente dem Empfang der Nachricht.

Was vier ist, ist fünf. Was fünf ist, ist eins. Blicke hinter das Sichtbare und das Spürbare, und du wirst deine Antwort erhalten.

Mit einem Mal wurde der Äther totenstill und Schweigen füllte Salomons Kopf. Langsam öffnete er seine Augen und sah zum Himmel auf. Eine einzelne Sternschnuppe schoss über die wolkenlose, indigoblaue Fläche und verschwand beinahe so schnell, wie sie erschienen war. Er spürte die Kühle der Erde unter seinen nackten Füßen und wurde sich deutlich seiner Pflichten dem oberen und dem unteren Himmel gegenüber bewusst. Er senkte den Blick und bemerkte ein glänzendes, rotes Objekt durch die Erde innerhalb des Blutkreises lugen. Als er den Schmutz abwischte, fand er einen aus Eisen geschmiedeten Ring mit vier Steinen, die innerhalb eines vollkommenen Kreises eingelassen waren. Er erkannte ihre Signifikanz: ein Rubin für das Feuer, ein Aquamarin für das Wasser, ein Tigerauge für die Erde, ein Diamant für den Wind.

Die vier Elemente. Das Sichtbare und das Spürbare.

Salomon drehte den Ring, sodass er ihn von allen Seiten betrachten konnte, und bemerkte ein winziges Scharnier. Er hob den edelsteinübersäten Deckel an und fand darunter einen goldenen Kreis, in welchen ein fünfzackiger Stern eingraviert war – das Symbol des Himmels und der Quintessenz aller Dinge: Das fünfte Element, das nur die wenigen Auserwählten sehen konnten. Er wusste, dass der Schlüssel, den er suchte, in diesem Symbol lag.

Was fünf ist, ist eins.

Ein schwaches Lächeln huschte über die Lippen des weisen Königs, als die Nachricht seines Vaters eine Bedeutung erhielt. Er streifte den Ring an den Zeigefinger seiner linken Hand, die noch immer mit seinem Blut beschmiert war. Das Wissen und die Macht waren sein, und nur sein. Und so sollte es für lange Zeiten bleiben, bis ein Würdiger käme, sie einzufordern.

Kapitel 1

Nordwestliche Grenze der Wüste Rub al-Chali Saudi-Arabien

Die steilen Sandsteinklippen des Tuwaiq Escarpments erhoben sich aus den sandigen Weiten Zentralarabiens wie felsige Stalaktiten und warfen lange Schatten auf das ausgedörrte Niemandsland unter ihnen. Die Morgensonne ließ die Landschaft wie Pharaonengold glänzen und verlieh den sanft geformten Dünen im Blick der Felswand Konturen. Am fernen Horizont verloren sich die Gipfel und Täler des Sandmeeres in umbrabraunem Nebel.

Sarah Weston hielt ihr Pferd an und musterte das Terrain. Durch den feinen Sandschleier, der in der Luft hing, erschienen die Bergmassive im Osten ein wenig verschwommen, wie von einem antiken Spiegel reflektiert. Dieser Teil der Rub al-Chali unterlag dem Schamal, der manchmal harmlos war und andere Male alles in seinem Weg auslöschte. Abgesehen von den zähesten Nomaden mieden Menschen diesen Ort, an dem sich Sturmwinde ohne Vorwarnung – und ohne Gnade – erhoben.

Sarah spürte, wie das Flüstern einer Brise ihren weißen Florturban zum Flattern brachte, der die unbarmherzige Julisonne abwehrte, die mit Temperaturen von oft über fünfzig Grad auf das Land herabbrannte. Sie benutzte ein Ende des Turbans, um eine Mischung aus Schweiß und Sand von ihrem Gesicht zu wischen. Die winzigen Körnchen zerkratzten ihre helle Haut: ein vertrautes Gefühl.

Die Verhältnisse vor Ort konnten sich kaum deutlicher von denen ihrer privilegierten britischen Erziehung unterscheiden. Die Hausparties auf dem Landsitz ihrer Familie, die geistlose Gesellschaft, die Prominenz und der Einfluss ihres Vaters, das tragische Ende ihrer Mutter, ihre eigene kurzweilige Karriere unter den Gelehrten ihrer Alma Mater, der Universität Cambridge – sie alle waren Überreste einer weit entfernten Vergangenheit. Und so wollte sie es haben.

Sarah nahm die Weite des abgelegenen, ungastlichen Ortes in sich auf, den zu lieben sie gelernt hatte. Sie verspürte Ehrfurcht vor der ausgedehnten Wildnis von Sand und Stein, die so viele Geheimnisse früherer Zivilisation barg, und Demut vor der Unbeständigkeit der Wüste, die sich drehte und wendete wie eine kapriziöse Nymphe, die man flüchtig fassen, doch niemals besitzen konnte.

In dieser unwirtlichen Gegend hatte sie sieben Monate lang als die leitende Archäologin einer von den Universitäten Rutgers und König-Saud gemeinsam finanzierten Ausgrabung gearbeitet, deren Ziel es war, die antike kinditische Stadt Qaryat-al-Fau zu ergraben, die vom veränderlichen Sand der Rub al-Chali verschlungen worden war. Ins Boot geholt wurde Sarah vom Kulturanthropologen Daniel Madigan, der die Expedition vor sieben Jahren zusammengestellt und bedeutende neue Bereiche dieses einst stolzen Handelszentrums entdeckt hatte, dessen Blütezeit im ersten bis vierten Jahrhundert nach Christus gewesen war.

Heute allerdings hatten sich die beiden von der Fundstelle entfernt. Der Hitze wegen operierte die al-Fau-Ausgrabung mit einer reduzierten Crew nur zwei Stunden am Tag, wodurch ihnen viel Freizeit zur Verfügung stand. Zu Anfang des Sommers hatten Sarah und Daniel im Stillen damit begonnen, zwei Meilen nördlich von al-Fau zu graben, an jenem trostlosen Ort, den die beduinischen Nomaden das Tal des Windes nannten.

Dieser Vorstoß war von einer Abweichung auf ihren Satellitenbildern angeregt worden, welche die Möglichkeit eines unter dem Sand begrabenen Areals voller Überreste suggerierte. Tatsächlich war ihr Timing ein glücklicher Zufall: Wenige Monate zuvor hatte ein heftiger Sandsturm im Tal gewütet. Der unbändige Schamal hatte riesige Dünen fortgeweht und den Sand in alle Himmelsrichtungen verteilt. Auf diese Weise regenerierte sich die Wüste.

Und so enthüllte sie auch ihre Geheimnisse.

Daniel ließ sein Pferd neben Sarah zum Stehen kommen. Er verschob die schwarze Baseballmütze auf seinen schulterlangen, mahagonifarbenen Locken, die gerade von so viel Grau durchzogen waren, wie es seinen dreiundvierzig Jahren entsprach. Er sah seine Partnerin durch die dunkelgrüne Fliegersonnenbrille hindurch an und sprach in einem melodischen Tennessee-Akzent. »Ziemlich heiß hier draußen für ein englisches Mädchen. Geht's dir gut?«

»Ich könnte auf die Sauna verzichten. Abgesehen davon ging's mir nie besser.«

»Ja dann. Bereit zum Probensammeln?«

»Los geht's.«

Heute war der erste Tag, an dem sie Proben zur Analyse sammeln konnten, seit sie die über eine gute halbe Meile in der Wüste verteilten Knochen entdeckt hatten. Es gab hunderte von ihnen – porös, zerbrochen, halb im Sand begraben. Manche stammten von Kamelen, andere von Menschen, aber alle waren außergewöhnlich gut in der trockenen, keimfreien Umgebung ihrer Wüstengräber konserviert worden.

Handelte es sich um eine Karawane oder um eine Streitmacht? Die Fragen wirbelten durch Sarahs Kopf und steigerten ihre Aufregung, während sich eine Theorie zusammenzufügen begann.

Gemeinsam stiegen sie ab. Daniel griff in seine Satteltasche und zog ein Set Walkie-Talkies heraus, das einzige Kommunikationsmittel zwischen ihnen und den zwei Crewmitgliedern im Camp. Eines warf er Sarah zu.

Sie streichelte den Hals ihrer grauen Araberstute und klemmte das Walkie-Talkie an den Bund ihrer armeegrünen Cargohose, die in verwitterten Lederreitstiefeln steckte.

Geplant war, nach Süden zu gehen, wo sich die Felsenpassage zu einer Art Mulde verengte. Dort lagen die meisten der Knochen. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie die Kamele und ihre Reiter im Durchgang gefangen wurden, als sich große Sandsäulen erhoben, die ihre Verzweiflungsschreie zermalmten und sie ohne Gnade verschlangen. Seit Äonen verfuhr die Wüste so, erhob mitleidlos Anspruch auf alle Kreaturen, die sich durch ihren Sand bewegten. Es war ein Kräftemessen, das kein Mensch für sich entscheiden konnte – damals nicht, und auch nicht heute.

Innerhalb der natürlichen Senke inmitten des Kalksteinmassivs war der Sand von steten Winden zu Wellen geweht worden. So symmetrisch und gleichmäßig auseinander liegend, dass kein Bauzeichner sie mit größerer Präzision hätte planen können, wogten diese Wellen über einen abgeflachten Teil der Wüste, dessen gehärtete Oberfläche mit einem Knirschen unter den Füßen nachgab. Als Sarah auf ihre Fußspuren zurückblickte, bedauerte sie es, einen Abdruck in der Perfektion der Natur hinterlassen zu haben.

Aus dem Sand wuchsen vereinzelte Steppenläuferbüschel, die einzige Lebensform, die sich an das unfruchtbare Ödland klammerte. Eine Pflanze, von ihrer Wurzel getrennt, rollte über die goldene Fläche, als eine heiße Brise darüber wehte. Sarah konnte die leicht salzigen Sandkörnchen zwischen ihren Zähnen schmecken.

Sobald sie ihre Forschungsstätte erreicht hatten, streifte Daniel seinen Rucksack ab und warf ihn auf den Boden. »Ich glaube, wir haben nicht viel Zeit. Sieht aus, als würde der Wind auffrischen.« Er deutete auf die Grube, die sie als Lagerstätte für ergrabene menschliche Knochenfragmente ausgehoben hatten. Den Großteil eines männlichen Arms hatten sie bereits rekonstruiert. »Ich kann mich um das hier kümmern, wenn du am Sattel arbeiten willst.«

Ein paar Tage zuvor hatten sie einen hölzernen Knauf erspäht, nur wenig dunkler als die Wüste selbst, der etwa fünfzehn Meter von der Knochengrube entfernt aus dem Boden geragt hatte. Sie hatten genug Sand beseitigt, um die Rückseite eines Sattelbaums aus Akazienholz freizulegen, an dem noch immer ein Stück schwarzen Seils heftete.

Als Daniel das ausgefranste Seilende untersucht hatte, war Sand herabgerieselt, wo er seinen Daumen über die Stränge gleiten ließ. Ziegenhaar, hatte er festgestellt. Es war ihr erster Hinweis darauf gewesen, dass die Karawane Jahrhunderte alt war. Seile aus Ziegenhaar, die zu weben außerordentlich viel Zeit beanspruchte, waren seit Generationen nicht mehr von den Wüstenbewohnern benutzt worden.

Sarahs heutige Aufgabe war es, einen größeren Teil des grauen Webstoffes freizulegen, der am Sattelbaum angebracht war. Wie auch die Knochen war er so gut erhalten, als sei er gestern erst vergraben worden. Sie kniete sich vor das Objekt und zog Pinsel und Kelle aus ihrem Rucksack.

Die Kamelwolle fühlte sich grob an. Die Fasern waren dick und die Bindung eng, als ob der Stoff ein Gewicht hatte tragen müssen. Einige rote Stickereien verzierten die graue Wolle. Die Farbe war intensiv und die Muster recht aufwendig, was Sarah zu der Annahme veranlasste, dass dies keine Karawane gewöhnlicher Nomaden gewesen war.

Daniels Einschätzung nach war das Gewebe sabäisch. Als Experte für südarabische Völker hatte er den Stich als einen erkannt, der vor der christlichen Zeitrechnung und nur von sehr geübten Stickern angewendet wurde, vielleicht von Hofdamen. Sarah stellte seine Erkenntnis nicht infrage. Ohne Zweifel hatte der Stoff etwas Königliches.

Ein Windstoß zischte durch die Passage. Sarah hielt ihren Turban fest und richtete den Blick nach unten, um sich dem Angriff der Sandkörner zu entziehen. Daniel hatte recht: Ihre Zeit war begrenzt.

Sie bürstete den Sand schneller ab, bis sie fand, worauf sie gehofft hatte: Eine Klappe aus demselben Stoff, die auf eine Satteltasche hinwies. Die Wölbung darunter verriet ihr, dass sich die Fracht noch immer darin befand. Ihr Puls beschleunigte sich.

Sie hielt das Walkie-Talkie an ihre Lippen und schaltete es ein. »Danny, das solltest du sehen.«

»Unterwegs.« Seine Stimme am anderen Ende knisterte.

Sie griff in die Satteltasche. Ihre Hand schloss sich um einen runden Gegenstand, dessen Oberfläche sich porös und schartig anfühlte. Sie zog ihn heraus und hielt ihn in ihrer Handfläche. Es war ein rotglasiertes Tongefäß, nicht größer als die Faust eines Mannes, mit winzigen, geschwungenen Henkeln und einem dünnen Hals, in welchem ein Pfropfen aus demselben Ton steckte. Sie drehte ihn langsam und bemerkte einen verblichenen Abdruck auf der irdenen Oberfläche.

Daniel hockte sich neben sie. »Sieht aus, als wärst du auf eine Goldgrube gestoßen.«

»Sieh dir das an.« Sie drehte ihm den Abdruck zu.

Er nahm seine Sonnenbrille ab und betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen. »Geflügelte Löwen mit Menschenköpfen … die Cherubim der Antike. Ich glaub's ja nicht.«

»Hätten wir noch einen weiteren Beweis dafür gebraucht, dass es sich hier um eine antike Karawane handelt … das wäre er wohl.«

»Die Form dieses Gefäßes ist kanaanitisch«, sagte er. Das Wort tanzte über seine Zunge. »Vielleicht etwas, das sie eingetauscht haben.«

Sie wog das Gefäß, indem sie ihre Hand leicht federte. »Ziemlich schwer für seine Größe. Vielleicht ist etwas drin.«

Er zwinkerte. »Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden.«

Sarah zog am Pfropfen, doch dieser hatte sich leicht verkeilt. Sie drehte ihn abwechselnd nach links und rechts, bis er nachgab. Dann blickte sie in den dunklen Hals des Gefäßes. »Sehen kann ich nichts.« Sie brachte es an ihre Nase und setzte sich kerzengerade auf, als sie den unerwarteten Geruch einatmete.

Sie drehte sich zu Daniel um. »Es ist süß.« Sarah schnupperte wieder und sog einen Duft ein, der an Feigenblüten erinnerte. »Honig. Definitiv Honig.«

Daniel streckte eine Hand aus und sie reichte ihm das Gefäß. Auch er schnupperte daran, dann neigte er das Behältnis, bis ein kleiner Tropfen goldener, zäher Flüssigkeit an dessen Rand erschien. Er lächelte ihr zu. »Eine großartige Entdeckung, Dr. Weston.«

»Ja, das ist es«, donnerte eine tiefe Stimme hinter ihnen.

Beide drehten die Köpfe in Richtung dieser Stimme herum.

Vier Männer saßen hinter ihnen auf Kamelen. Sie trugen lange, schwarze, hochgeschlossene Thoben mit Sarongs darunter und ärmellose wollene Kibrs, die um die Taille herum zweifach gegürtet waren. Rotkarierte Kufiyas verhüllten ihre Köpfe und Schultern. Die beiden hinteren Männer hielten Gewehre und die Zügel von Sarahs und Daniels Pferden in den Händen. Daniels Pferd, ein feuriger schwarzer Hengst, stieg aus Protest auf die Hinterbeine.

»Ihr habt hier nichts verloren«, sagte der Anführer auf Arabisch. Er hob eine Hand und die Schützen richteten ihre Waffen auf die vermeintlichen Eindringlinge. »Dieses Land gehört uns. Und ebenso alles darin.«

Daniel erhob sich langsam und sprach den Mann auf Arabisch an. »Die Al Murra sind ein friedliebendes Volk. Weshalb bedroht ihr uns?«

»Wir beschützen unser Erbe.«

»Aber wir sind Wissenschaftler. Wir können euch helfen, den Ursprung und die Chronologie dieser Hinterlassenschaften zu bestimmen.«

»Wir brauchen euch nicht. Wir wissen, was wir wissen müssen.« Er und ein weiterer Mann stiegen ab. »Eure Wissenschaft wird nie die ganze Wahrheit enthüllen. Jetzt knie dich neben sie.«

Daniel ging auf die Knie.

»Hände hinter den Kopf. Alle beide.«

Sarah warf erst den beiden Schützen, deren Waffen noch immer auf sie gerichtet waren, dann Daniel einen Blick zu. Sein Ausdruck war angespannt, sein Kiefer verkrampft. Schweiß rann seine Schläfe hinab und grub einen Fluss in den sandigen Film, der seine sonnengebräunte Haut bedeckte. Sie sah zu, wie die beiden Stammesangehörigen den Sattel ächzend anhoben.

Klumpen sonnengebrannten Sandes fielen von ihm ab, als er sein Wüstengrab verließ. Die Männer stopften den Honigtopf in die Satteltasche und hoben den Sattel auf eines der Kamele.

»Das ist kriminell«, sagte Sarah. »Er steht euch nicht zu. Er gehört dem Volk.«

Ihr Anführer durchbohrte sie mit wütendem Blick und richtete einen braunen, staubverkrusteten Finger auf sie. »In diesem Land reden Frauen nur, wenn man sie anspricht. Stelle niemals die Autorität eines Mannes infrage. Du bist nicht ebenbürtig.«

Sie errötete. Obwohl sie die Regeln hierzulande kannte, hatte sie Schwierigkeiten damit, die Rolle der unterwürfigen Frau zu spielen. Es war die Art von Ungerechtigkeit, die sie nicht ertragen konnte. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen.

Der Stammesangehörige ballte seine Fäuste. Sie gab sich keinen Illusionen hin: Er würde es tun.

Sarah biss sich so fest auf die Lippe, dass der metallische Geschmack ihres eigenen Blutes ihren Mund füllte. Sie warf Daniel einen verstohlenen Blick zu. Er sah stur geradeaus, ausdruckslos und sich ihrer Notlage scheinbar nicht bewusst.

Der Stammesangehörige wandte sich an Daniel. »Nehmt nichts mehr von diesem Ort an euch, oder wir werden zurückkehren … mit mehr als nur einer Warnung.«

Er bestieg sein Kamel und gab seinen Männern das Zeichen zum Aufbruch. Eilig ritten sie davon, die Pferde im Schlepptau. Die Hufe der Tiere wirbelten große Staubwolken auf, als sie über die sandigen Ebenen auf die Bergmassive im Westen zu galoppierten.

Daniel erhob sich und atmete hörbar aus. »Was zur Hölle sollte das, Sarah? Du weißt es besser, als solche Kerle zu reizen.«

»Ich weiß, was Frauen hierzulande dürfen und was nicht. Reden ist kein Verbrechen.«

»Du und ich, wir wissen das, aber die sind vom alten Schlag. Die hätten dich umbringen können.«

Auch wenn sie den ganzen Tag über Saudi-Arabiens Entmündigung von Frauen hätte diskutieren können, so war dies doch keine gewinnbringende Debatte. Sie ließ die Sache auf sich beruhen. »Wer waren die überhaupt?«

»Al Murra. Sie sind Nomaden. Kamelhirten.« Er schüttelte den Kopf. »Die Al Murra stammen vom beduinischen Adel ab und sind für gewöhnlich ehrenwerte Menschen. Ich nehme an, diese Typen sind Teil eines Klans, einer Art militärischer Fraktion. Die gibt es in jedem Stamm.«

Sarah beobachtete, wie sie hinter den Felswänden verschwanden, während die Staubwolke hinter ihnen zurückblieb. »Denkst du, das hier ist eine Karawane ihrer Vorfahren?«

»Das ist diesen Rohlingen völlig egal.« Daniel spuckte auf die Erde. »Wahrscheinlich verkaufen sie den Kram und benutzen das Geld, um Waffen zu finanzieren.«

Sarah stand auf. Ihr weites Chambray-T-Shirt flatterte wie eine Flagge im aufkommenden Wind. »Wie weit bist du in der Knochengrube gekommen?«

»Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen.« Daniel zeigte mit dem Daumen auf die Felswände, hinter denen die Kamelreiter verschwunden waren. »Ich schlage vor, wir reizen sie nicht noch mehr.«

»Ich geh hier nicht ohne die Knochen weg. Außerdem wird es deine Freunde an der König-Saud wenig glücklich machen, wenn wir mit leeren Händen heimkommen.«

Er schenkte ihr ein schmallippiges Lächeln, das die Falten um seine Augen herum tiefer erscheinen ließ. »Eines Tages wird dich deine Sturheit noch in Teufels Küche bringen.«

Sie verstand seinen Kommentar als Einwilligung, packte ihre Ausrüstung in den Rucksack zurück und hängte ihn sich über die Schulter. »Dann los. Unsere Proben warten.«

»Tatsächlich«, sagte er im Gehen, »hatte ich gerade die Fingerknochen gefunden, als du mich angefunkt hast. Sie waren überraschend unversehrt. So kleine Knochen zerbrechen normalerweise.«

»Das ist das Schöne an der Konservierung in Sand. Ich frage mich, was sonst noch in diesem Tal vergraben liegt.«

An der Ausgrabungsstelle waren die größeren Armknochen schon geborgen, klassifiziert und bereit fürs Labor. Der Rest – die Mittelhand- und Fingerknochen – lagen mit bernsteinfarbenen Sand verkrustet in situ.

»Lass uns einfach einpacken, was wir haben, und zurückgehen.« Daniel funkte das Hauptlager an und bat eines ihrer Crewmitglieder, sie am Rand des Tals abzuholen, da Fahrzeuge nicht weiter vordringen konnten. Er machte das Walkie-Talkie an seinem Gürtel fest und begann, die vorbereiteten Proben einzusammeln.

Sarah starrte in die Sandgrube, die die Handknochen enthielt. Etwas sprang ihr ins Auge: Ein schwacher Schimmer von Weiß, dessen Form auf eine Kante hindeutete. »Warte kurz.« Sie winkte ihn zu sich. »Hast du das gesehen?«

Er kam herüber, um einen Blick darauf zu werfen. »Das sind die Fingerknochen, von denen ich dir erzählt hab.«

»Nein.« Sie kniete sich hin und wischte den Bereich mit einem Pinsel sauber. Eine glatte, weiße Fläche kam zum Vorschein. »Das ist kein Knochen.«

Ein weiterer Windstoß fegte durch das Tal und blies den Sand in heftigen Wirbeln nach oben. Der Angriff schmerzte in Sarahs Augen. Sie zog sich ein Ende ihres Turbans ins Gesicht und arbeitete weiter, während der Wind peitschte.

»Sarah, wir müssen von hier verschwinden.« Daniel betrachtete die unheilvolle Staubwolke, die sich um sie herum zusammenzog. »Das könnte hässlich werden.«

»Nicht ohne das hier«, sagte sie, noch immer grabend.

»Ich meine es ernst, Sarah.«

»Warum schnappst du dir nicht ein Werkzeug und hilfst mir? Es würde schneller gehen.«

Er schnaufte. »Verdammt, Sarah Weston. Wie schaffst du es eigentlich immer, mich zu solchen Sachen zu überreden?«

»Später wirst du mir dankbar sein.«

Daniel nahm einen Pinsel in die Hand und half ihr, mehr und mehr des weißen Objekts freizulegen.

»Da! Das ist Alabaster. Eine Schatulle aus Alabaster.«

»Lass sie liegen«, rief er über den Wind hinweg. »Wir holen sie ein anderes Mal.«

»Auf keinen Fall. Sie könnte dann nicht mehr hier sein. Willst du das riskieren?«

Während der Schamal in ihren Ohren fauchte, arbeitete Sarah wie wild weiter, bis sie den gesamten Deckel freigelegt hatte. Und dort waren sie, so zuverlässig und feierlich wie ein Gebet: Dieselben Insignien geflügelter Löwen, die auf den Honigtopf geprägt gewesen waren.

Daniel sah Sarah mit geweiteten Augen an.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schoben sie schnell den Rest des Sandes mit Kellen beiseite. Gemeinsam arbeiteten sie in einem so mühelosen Rhythmus, dass es an Telepathie grenzte. Sarah genoss das Gefühl, ihn an ihrer Seite zu haben, auch wenn er ihr manchmal so weit weg schien.

Schließlich zeigte sich die Schatulle. Sie war nicht größer als ein Federetui. Der Sandfilm, der nach all diesen Jahren noch immer an ihrer Oberfläche haftete, konnte ihren durchscheinenden Glanz kaum verbergen.

Sarah hob die Schatulle auf und schüttelte sie behutsam. »Da ist etwas drin.« Obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, pulsierte das Verlangen, die Schatulle zu öffnen, durch ihre Nerven.

Daniel hielt ihr einen Probenbeutel hin. »Pack sie rein.«

Nicht gewillt, das Kistchen loszulassen, wenn auch nur vorübergehend, umklammerte sie es.

»Sarah …«

Er hatte recht. Mit einer an Obsession grenzenden Ehrfurcht legte sie die Schatulle in den Beutel und sah dabei zu, wie Daniel das Bündel in seinen Rucksack steckte, der nach seinen Vorgaben zum Sammeln von Artefakten unterteilt und gepolstert worden war.

Sie wusste, wie unorthodox dieses Verfahren war, aber ihrer Meinung nach gab es keine andere Möglichkeit. Wenn sie jetzt nicht handelten, könnten sie den Gegenstand für immer verlieren, entweder an Plünderer oder an den gierigen Schlund der stets veränderlichen Wüste.

Und damit auch das Wissen, das möglicherweise darin lag.

Trotz des eifrigen Bestrebens des Windes, sie gebückt zu halten, stand Sarah auf und schob ihre Arme durch die Riemen ihres Rucksacks. Sie drückte ihren Turban fest und zeigte Daniel einen erhobenen Daumen.

Mit geneigten Köpfen kämpften sich die beiden gegen die heftigen Windstöße und durch den aufgewühlten Sand zum Rand des Tals.

Kapitel 2

Sarah ließ ihre langen, schlanken Finger über die Oberfläche der Schatulle gleiten. Sie fühlte sich glatt und kalt an. Die Kanten waren noch immer scharf, als wäre sie gerade erst gemeißelt worden.

Das Licht der Kerosinlampe ließ den Alabaster in einer schwachgoldenen Tönung schimmern und brachte die Flecken und Adern des durchscheinenden Steins zum Vorschein. Sarah hatte die Leuchtstoffröhren im Labor absichtlich ausgeschaltet und arbeitete unter dem Lampenlicht, sodass der Stein zu ihr sprechen konnte. Am Alabaster selbst fand sie nichts Außergewöhnliches, abgesehen von der Prägung auf dem Deckel.

Die Konturen waren verblasst, aber unverkennbar: zwei Löwen im Profil. Ihre humanoiden Gesichter waren einander zugewandt, weniger feindselig als vielmehr in offensichtlicher Verehrung der leeren Fläche zwischen ihnen. Aus ihren Rücken wuchsen Flügel, die zum Flug bereit ausgebreitet waren. Sie waren die Cherubim der Antike – nicht die engelsgleichen Kreaturen des Christentums, sondern Tierhybriden, die spirituelle Wesen oder Wächter repräsentierten.

Sarah schob sich eine Locke hinters Ohr, die sich in ihre Augen verirrt hatte.

Sie sah zu Daniel hinüber. Die flackernde Flamme tanzte über die harten Kanten seines Gesichts und betonte die Falten unter seinen Augen, die von seinen Jahren des praktischen Einsatzes zeugten.

»Okay, Sarah«, sagte er. »Du hast lang genug mit diesem Ding geflirtet. Es wird Zeit nachzusehen, was drin ist.«

Sarahs Vorfreude war über die Tage hinweg gewachsen, in denen sie die Schatulle aus jeder Perspektive studiert und erfasst hatte. Sie hatte den Drang unterdrücken müssen, sich schnell zu ihrem Inhalt vorzuarbeiten, da Eile sie Informationen kosten könnte, die ihnen helfen würden, den Fund auszuwerten. Jetzt wurde die unerträgliche Geduldsprobe endlich belohnt.

Langsam hob sie den Deckel an. Er ließ sich nicht sofort öffnen; eine Sandkruste hatte sich in den Nuten gebildet und fungierte als natürliches Siegel. Behutsam drehte sie daran, und er gab nach. Als sie den Deckel entfernte, verspürte sie einen vertrauten Taumel, eine Mischung aus Spannung und Faszination.

Daniel lehnte sich zurück und rieb sich den Nacken. »Das ist so ziemlich das Letzte, was ich inmitten dieser Wüste zu finden erwarten würde.«

Sarahs Blick flog über die Bahn des zusammengerollten Papyrus und registrierte die Dichte der Fasern. Während ihrer Karriere hatte sie viele Schriftrollen gesehen, aber die meisten waren in Fetzen gewesen. Dieses Exemplar war sowohl von guter Verarbeitung als auch in gutem Zustand. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden.

»Es ist höchst ungewöhnlich, hier Papyri zu finden«, fuhr er fort. »Ich habe jede Menge Pergament aus Tierhäuten gesehen, aber das … das ist außergewöhnlich.«

»Ich stimme dir zu. Das stammt wahrscheinlich nicht von hier. Vielleicht kommt es von einer Händlerkarawane.«

»Vielleicht. Es ist zu früh, um das bestimmen zu können.« Er starrte die Schriftrolle lange an. »Lass uns nachsehen, was der Schreiber zu sagen hatte. Das wird uns einen Hinweis geben.«

Nachdem sie die Abmessungen und Besonderheiten der Schriftrolle fotografiert und protokolliert hatte, löste Sarah die schmutzige Kordel, die dreimal um ihre Mitte geschlungen war, und legte das zerbrechliche Schriftstück auf ein Tablett. Mit extremer Vorsicht, um das alte Dokument nicht zu zerbrechen oder anderweitig zu beschädigen, rollte sie es mit behandschuhten Händen auseinander.

Der Papyrus war dick, was vermutlich erklärte, warum er so wenig Schaden erlitten hatte. Sie nahm an, dass derjenige, der ihn gefertigt hatte, ein Experte gewesen war. Die Ränder waren ausgefranst und wiesen einige kleine Risse auf, aber ansonsten war die Schriftrolle intakt, was die Interpretation der ausführlichen Handschrift vereinfachen würde.

Sarah begutachtete die in schwarzer Tinte geschriebenen Schriftzeichen. »Hieratisch. So gut wie jedes Wort ist lesbar. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.«

»Das ist merkwürdig«, sagte Daniel. »Hieratisch wurde fast ausschließlich für heilige Texte in Ägypten verwendet. Was hat Derartiges hier zu suchen?«

Sarah erinnerte sich daran, wie nahe das Kistchen an den Fingerknochen gelegen hatte. »Was immer es ist, jemand hielt es fest, als er starb. Das ist ziemlich vielsagend, findest du nicht?«

»Richtig. Ich bin gespannt, wie der 14C aussieht. Es gibt ein Labor in Arizona, das Papyri durch AMS datieren kann. Wir brauchen nur eine winzige Probe.«

Obwohl sie noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, davon Gebrauch zu machen, wusste sie alles über die Beschleuniger-Massenspektrometrie, welche die University of Arizona verwendete. In dieser Einrichtung waren auch die Schriftrollen vom Toten Meer und andere biblische Texte durch die Zählung von 14C-Atomen – anstelle der Messung ihres Zerfalls – datiert worden. Das Verfahren war zu einem der bedeutendsten Hilfsmittel der Archäologie geworden.

Sie richtete ihren Blick auf die hieratischen Zeichen. Die Schrift war so fließend und elegant, dass sie annahm, sie war von einem äußerst erfahrenen Schreiber verfasst worden – möglicherweise jemandem an einem königlichen Hof oder aus der Priesterschaft. »Was ist mit der Übersetzung des Textes? Irgendwelche Ideen?«

»Ich werde ihn der besten Linguistin der König-Saud schicken, die Expertin in antiken Sprachen ist. Sie ist gut und sie ist schnell. Ich wette, sie kann das in zwei Monaten erledigen.«

Angesichts des möglichen Ausmaßes des Fundes erschienen zwei Monate wie eine Ewigkeit. Aber so war die Realität eines Archäologen nun einmal: Die ultimative Übung in Geduld stellte das wahre Übel des Vorgangs dar.

Geduld allerdings war nie eine von Sarahs Stärken gewesen. Sie hatte einen eigenen Plan.

Kapitel 3

Mein Sohn, Die Dämmerung des Lebens bricht über mir herein. Ich wandere barfuß durch die Wüste, auf der Suche nach meiner Liebsten. Mit Besitztümern und Weisheit und Ehefrauen war ich reichlich gesegnet, Doch nun, da meine Jugend schwindet und meine Kräfte mich verlassen, Suche ich Trost an ihrer Brust. Was nutzt ein Wissen, dessen einziger Bewahrer du selbst nur bist? Was nutzt ein göttliches Geheimnis, das ins Grab du tragen musst? Höre mich an, mein Sohn, und werde dessen würdig, was ich dir gewähre, Denn es wird erblühen und Früchte tragen für alle Zeit und immerdar.

Der Obstgarten trägt Feigen im Überfluss, die Reben sind von Trauben schwer. Wenn das Gesicht meiner Liebsten sich aus den Schatten löst, Werden alle Geheimnisse gelüftet. Ihre Schönheit erhellt den Pfad und die schwarzen Steine, Und ich, zu machtlos, um zu widerstehen, folge ihr.

Welche Gewalt besitzt du über mich, oh holde Nymphe? Und sie saget, All was verborgen, will ich dir zeigen, Mit all was dich hungert, will ich dich sättigen, Doch nur, wenn du treu mir bist. Folge mir nun zu den Wällen unter dem Blick des Berges, Und habe teil an meiner Liebe, denn wenn der Hahn kräht, so bin ich fort, Doch du wirst haben, all was du begehrst. Unsere Liebe ist ein vollkommner Ring, aus weltlicher Substanz geschmiedet, Doch von himmlischer Gnade geweiht. Sein Geheimnis offenbart sich, und siehe! die Verzückung im Himmel. Deine Schatztruhe reiche mir, und ich reiche dir den Schlüssel, der sie aufsperrt.

Unter dem dunkelsten Schleier der Nacht erscheint die Verführerin. Sie duftet nach Balsam und feinen Gewürzen, und ihre Finger sind goldbestäubt. Sterbliche Männer sind wehrlos ob ihrer Schönheit Und werden von ihr angezogen wie Nachtfalter vom Feuer. Hütet euch, Brüder, denn sie wird euch fangen und euch ihrer Armee aus Bestien zum Fraß vorwerfen! Ihre Löwen werden ihre Klauen ausfahren und an eurem Fleisch reißen. Ihre Ochsen werden euch durchbohren und ihre Adler werden euch mit ihren Schreien betäuben. Ihre Dämonen werden euch mit ihren gespaltenen Zungen niederstechen, Und ihre Schlangen werden sich um eure Füße winden und euch lähmen. Nur der, der reinen Herzens ist und sanfter Natur, Kann ihre Bestien zähmen und die Frucht ihres Leibes besitzen. Doch bist du der Auserwählte, So wird sie dich mit einem Schatz belohnen, der seinesgleichen sucht, geschmiedet aus Engelsflüstern und von Königen in alle Ewigkeit bewacht.

Dies, mein Sohn, ist deines Vaters Geschenk an dich. Öffne deine Hand und empfange es mit dankbarem Herzen. Öffne deinen Verstand, und du sollst seinen Wert erkennen. Suche stets das Göttliche inmitten des Irdischen Und folge der Führung des hellen Sterns, Dessen fünf Lichtstrahlen zur einen himmlischen Wahrheit deuten, Die dich durch Wirren geleiten und dich in deiner dunkelsten Stunde erlösen wird, So wie auch deinen Vater und dessen Vater zuvor.

Vom Gewicht der Worte aufgewühlt, deren Bedeutung sie noch nicht vollständig begreifen konnte, las Sarah die übersetzten Passagen wieder und wieder. Sie verschränkte die Arme und sank in den schwarzen Ledersessel mit Knopfpolsterung, der so tief und hochlehnig wie ein Thron war.

Mit seinem langen, glänzenden Walnussholztisch, um den vierundzwanzig dieser Ledersessel aufgestellt waren, sah der Konferenzraum der König-Saud-Universität eher wie ein Firmensitzungssaal aus. Die Wände waren grau gestrichen und frei von jeglicher Kunst – mit Ausnahme eines Porträts des Königs –, was dem Raum trotz der Fülle des Mobiliars eine klinische Atmosphäre bescherte.

Sie sah Daniel über den Konferenztisch hinweg an. Er hatte sein markantes Kinn, das mit einem Zweitagebart bedeckt war, auf eine Hand gestützt, und seine sonnengebräunten Züge waren verhärtet, als ob er versuchte, aus seiner Lektüre schlau zu werden.

Am Ende des Tisches saß ihre Gastgeberin. Mariah Banai, sprachwissenschaftliche Leiterin der Fakultät für Sprachen und Übersetzung der König-Saud und eine der führenden Gelehrten für althebräische Studien in der wissenschaftlichen Welt, war über ihr Mobiltelefon gebeugt und tippte auf den Bildschirm.

Mariah, die aus Israel stammte, trug eine bodenlange türkisfarbene Djellaba mit dazugehörigem Hidschab, der lose um ihren Kopf geschlungen war. Da sie mit überschlagenen Beinen dasaß, blitzten ihre Zehn-Zentimeter-Absätze in stummem Trotz unter dem Stoff hervor. Sie sah aus, als sei sie Anfang vierzig, aber aufgrund ihrer straffen, honiggoldenen Haut ließ sich ihr Alter schwer schätzen. Ihre Nase war so gerade und spitz wie die einer römischen Statue und ihr mahagonifarbenes Haar war wie das eines Jungen geschnitten und so zerzaust, als sei sie gerade aus einem Sturm gekommen. Ihre tief liegenden braunen Augen waren von geschwungenen Brauen überspannt, die wie dicke, schwarze Pinselstriche aussahen.

Mariah legte ihr Telefon beiseite und musterte Sarah. »Sie scheinen verwirrt, Dr. Weston. Kann ich Ihnen etwas erläutern?«

Ihr Blick war so hypnotisierend, dass Sarah sich veranlasst sah, wegzusehen. »Es gibt eine Sache, die ich nicht verstehe. Warum landet eine in ägyptischem Hieratisch verfasste Papyrusrolle mitten in der Wüste? Es gibt nichts, das darauf hindeutet, dass diese Sprache hier gesprochen oder geschrieben wurde.«

»Zuallererst muss ich Sie korrigieren«, entgegnete Mariah. »Bei der Sprache handelt es sich um spätägyptisches Hieratisch. Die Hochsprache, um genau zu sein. Es gab verschiedene Formen des Hieratischen im alten Ägypten und die Unterschiede zwischen ihnen sind erheblich.«

Sarah bemerkte die Spitze in Mariahs Stimme. Sie schien es sehr zu genießen, sie zu verbessern.

Sarah ignorierte es. »Gut, okay. Spätägyptisches Hieratisch. Das war in schriftlicher Form seit Beginn des vierzehnten Jahrhunderts vor Christus weit verbreitet.«

»Bis etwa 600 vor Christus, ja.«

»In diesem Zeitrahmen hatten die Ägypter mehrere Feldzüge im Nahen Osten geführt, aber so weit herunter wagten sie sich nie. Also wurde diese Schriftrolle wahrscheinlich aus dem Heiligen Land mitgenommen. Die Frage ist, warum?«

»Ich bin Sprachwissenschaftlerin, keine Historikerin«, sagte Mariah. »Das ist Ihr Job.«

Daniel meldete sich zu Wort. »Das Tal des Windes war Teil einer Handelsroute. Meiner Vermutung nach kamen diese Menschen aus dem Süden, am wahrscheinlichsten aus Saba, und waren nach einer Handelsreise im Nahen Osten – Kanaan, Israel, Assyrien, Phönizien – auf dem Weg nach Hause. Die von uns gefundenen Gegenstände, die ägyptischen Ursprungs sein könnten oder auch nicht, waren vermutlich Teil eines Tauschgeschäfts.«

»Es ist höchst unwahrscheinlich, dass jemand etwas gegen eine Schriftrolle eintauschen würde«, fiel Sarah ihm ins Wort. »Es sei denn, sie enthielt bedeutendes Wissen.«

Daniel wandte sich an Mariah. »Sarah hat recht. Das hier wurde ganz offensichtlich von einem Vater an seinen Sohn verfasst. Damals war das Schreiben eine so große Sache, dass niemand es einfach nur zum Spaß getan hätte. Irgendetwas Wichtiges steckt in diesem Text – eine Anweisung vielleicht –, aber es wird durch die Sprache verschleiert. Das ist vielsagend, weil nicht jeder gebildet genug war, um eine Nachricht in Versen zu verbergen – oder so anspruchsvolle Prosa zu verfassen. Wer immer das schrieb, hatte einen hohen Stand in der Gesellschaft. Davon bin ich überzeugt.«

»Die einzige Gesellschaft, die zu so etwas fähig gewesen wäre – falls diese Schriftrolle aus der späten Bronze- oder Eisenzeit stammt, wie der Text es nahelegt –, ist die ägyptische«, sagte Mariah.

»Ich glaube das nicht.«

Daniel und Mariah drehten sich beide zu Sarah um. Tiefe Stille hing über dem Raum.

Sarah kreuzte ihre Arme auf dem Tisch und beugte sich vor. »In dem Text gab es einen Verweis auf Engel. Die Ägypter glaubten nicht an Engel. Die Menschen Mesopotamiens aber schon. Sumerer … Israeliten …«

Mariah bedachte sie mit einem kühlen Blick. »Es gibt viele geflügelte Kreaturen in der frühen ägyptischen Ikonografie. Sie mögen nicht die Art Engel gewesen sein, wie wir sie kennen, aber sie waren göttliche Wesen.«

»Aber Sie haben ausdrücklich das Wort Engel benutzt. Wollen Sie sagen, das sei nicht vollkommen akkurat?«

Mariah wandte sich an Daniel, als sei Sarah nicht im Raum. »Zufällig bin ich Expertin in Althebraistik und Judaistik. Ich kann Ihnen versichern: Die Schrifttradition des alten Israels und seiner Nachbarn war weder derart hoch entwickelt, noch fand sie Ausdruck in einer ägyptischen Sprache. Meiner Meinung nach ist der Fall eindeutig. Dies ist ein ägyptisches Dokument.«

Sarah hatte noch mehr zu sagen, behielt ihre Gedanken aber für sich. Sie war sich sicher, dass dies weder die rechte Zeit noch die rechte Gesellschaft dafür war. Sie fing Daniels Blick und hielt ihn für einen langen Augenblick fest. An der Eindringlichkeit in seinen karamellfarbenen Augen konnte sie erkennen, dass er versuchte, ihre Gedanken zu lesen – und scheiterte.

Mariah sah auf ihre Uhr. »Vielleicht sollten wir das ein andermal fortsetzen. In fünf Minuten halte ich eine Vorlesung am anderen Ende des Campus.« Sie stand auf und sammelte ihren Stapel Bücher und Ordner zusammen, dann reichte sie Daniel die Hand. »Das war ein faszinierender Austausch. Halten Sie mich über die Datierung der Schriftrolle auf dem Laufenden. Vielleicht wird sie uns die Information liefern, die uns helfen wird, den Autor zu identifizieren.«

»Und die Bedeutung«, fügte Daniel hinzu, während er ihre Hand schüttelte.

Sie lächelte ihn an. Mit wieder ernstem Ausdruck warf sie Sarah einen flüchtigen Blick zu und verließ den Raum.

Daniel drehte sich zu Sarah um. »Was sollte das denn alles?«

Sie lauschte dem Echo von Mariahs Schritten im Flur. »Das erklär ich dir später.«

In dieser Nacht sah die Qaryat-al-Fau Ausgrabung wie eine Geisterstadt aus. Ihre kalten Steine nahmen die silberne Färbung des zunehmenden Mondes an, der über der Hochebene des Tuwaiq Escarpments aufging. Die dachlosen Kammern lagen dem forschenden Mondlicht offen wie Bienenstöcke, die lange schon ihres Zwecks beraubt waren, nicht aber ihrer Würde. Am Tag ähnelte der Komplex mit seinen Wällen und Türmen und steinumrandeten Grenzen der Sandburg eines Kindes, die von den langen Fingern einer strafenden Sonne in einer vertrockneten Landschaft zum Erstarren gebracht worden war.

In Nächten wie diesen war Sarah gern für sich allein und malte sich das Leben der Bewohner al-Faus in alten Zeiten aus. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Gewohnheiten – ihr tägliches Schlendern über den Marktplatz, um Öl für ihre Lampen und Gewürze für ihre Eintöpfe zu kaufen, die Pflege ihrer Herden auf entfernt liegenden Weiden, die von den Flüssen der Antike genährt wurden, ihre lebhaften Verhandlungen mit den Himjaren und Sabäern und anderen Stämmen, die nordwärts gen Mesopotamien reisten.

Es war September, und da die Temperaturen etwas erträglicher wurden, war das Projekt wieder in vollem Gange. Zu dieser Jahreszeit arbeitete die Crew am Suq und den beiden Begräbnisstätten außerhalb der Stadtgrenzen, wo sie neue Überreste prächtiger Wandarbeiten freilegten, die während des Anbruchs der christlichen Zeitrechnung von Grabkünstlern in rotem Eisenerz auf mittlerweile abblätternden Gips gemalt worden waren.

In dieser Nacht dachte sie allerdings nicht wie gewöhnlich über die Ausgrabung nach. Sie lag auf der Seite, auf den rechten Ellbogen gestützt, auf einem alten Kelim, der vorm Lagerfeuer ausgebreitet war. Ein Schal aus weißem Flor war um ihre Schultern gewickelt, um die Kälte der Nacht abzuwehren. Sie nahm das Bandana ab, das ihren Kopf bedeckte, sodass ihre Lockenmähne wild um ihr Gesicht fiel. Gedankenverloren starrte sie in den Bauch der sterbenden Flammen; ihre ganze Aufmerksamkeit galt einzig der Papyrusrolle.

»Ein Riyal für deine Gedanken.«

Daniels Stimme riss sie aus ihren Überlegungen und sie setzte sich mit einem Ruck auf.

»Sorry, Liebes«, sagte er mit einem näselnden Singsang. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Sie winkte seine Entschuldigung ab. »Unsinn. Komm. Leiste mir Gesellschaft.«

Daniel schürte das Feuer, um es zu neuem Leben zu erwecken, und setzte sich neben sie. Mit stillem Abstand zwischen ihnen starrten beide in die Flammen.

Er sprach zuerst. »Du hast heute Abend kaum zwei Worte gesagt. Jetzt aber mal raus mit der Sprache.«

Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln. »Ich glaube, du weißt, worüber ich nachdenke.«

»Ich weiß. Es beschäftigt mich auch.«

»Denkst du wirklich, dass der Text von einem Ägypter geschrieben wurde?«

»Es ist eine Theorie, das ist alles. Warum? Hast du eine bessere?«

»Ich glaube nur einfach nicht, dass wir die Möglichkeit ausschließen sollten, dass er aus dem Euphrat-Tal oder vielleicht sogar der Negev stammt. Es wurden kanaanitische und israelitische Ostraka mit hieratischen Schriftzeichen gefunden.«

»Stimmt. Aber Mariah hat recht. Die Schrifttradition des antiken Nahen Ostens war kein Vergleich zu der Ägyptens. Ich habe keinen Grund, ihre Worte anzuzweifeln.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht so überzeugt von ihr, wie du es bist.«

Er warf ihr einen überraschten Blick zu. Sein Gesicht – unrasiert und von langen, dunklen Haarwogen eingerahmt – wirkte im Feuerschein beinahe primitiv. »Mariah ist auf unserer Seite, Sarah. Sie ist Mitglied des Kollegiums unserer Partneruniversität. Wenn sie etwas wüsste, dass für unseren Fall relevant wäre, dann würde sie es uns sagen.«

Sarah erwähnte ihre weiteren Vorbehalte nicht, aber Mariah hatte etwas an sich, dem sie nicht traute. Vielleicht war es eine emotionale Reaktion auf Mariahs herablassende Haltung ihr gegenüber. Sie riss sich zusammen und nahm sich vor, vorerst das Beste von der israelischen Professorin anzunehmen. Abgesehen davon traute Daniel ihr offensichtlich, und seine Instinkte waren selten fehlgeleitet.

Sarah hatte begonnen, Daniel weit mehr zu vertrauen, als sie das je erwartet hätte. Als sie sich vor etwas über einem Jahr in Aksum, Äthiopien, kennengelernt hatten, hatte er wie ein wichtigtuerischer Amerikaner mit künstlichem Südstaatenakzent und einer überlebensgroß aufgeblasenen Persönlichkeit gewirkt. Zu jener Zeit war sie ihm gegenüber verhalten gewesen, hatte seine Absichten nicht durchschaut. Doch systematisch hatte er alle ihre Schranken durchbrochen.

Sie erinnerte sich an den exakten Augenblick, in dem sie alle Zweifel hatte fahren lassen. Sie waren allein im Sämen-Gebirge gewesen, wo ein Auftragsmörder sie während ihrer umstrittenen Beschäftigung mit Äthiopiens zehntem Heiligen hingekarrt und zum Sterben zurückgelassen hatte. Nach ein paar Tagen des Überlebenskampfes in der trostlosen Wildnis war sie an der Ruhr erkrankt und konnte nicht weiterlaufen.

»Geh ohne mich«, hatte sie ihm gesagt und es auch so gemeint.

»Selbst wenn ich deine Leiche hier raustragen muss, werde ich nicht ohne dich gehen«, hatte er gesagt. »Ich lasse dich nicht zurück.«

Er war nicht nur bei ihr geblieben: Er hatte ihren kranken Körper über abschüssige Felswände und zerklüftete Bergzüge getragen, wo ein einzelner Fehltritt einen Sturz in eine jähe Schlucht bedeutet hätte. Seine Handlungen sprachen eine deutliche Sprache: Wir stehen das gemeinsam durch. Und genau so war es seitdem gewesen.

Als er sie eingeladen hatte, an seiner Expedition in Saudi-Arabien teilzunehmen, konnte sie nicht ablehnen. Nach allem, was sie in Äthiopien und danach erlebt hatten, hatte sie begonnen, ihn als verwandten Geist und wahren Partner zu betrachten. Und sofern sie sich die Regungen in der Tiefe ihres Herzens zugestand, sehnte sie sich nach seiner Nähe.

»Du hast recht, Danny. Warum sollte sie uns etwas vorenthalten?« Sie richtete die Frage ebenso an sich selbst wie an ihn. »Ich kaufe ihr ihre Theorie ab – fürs Erste.«

Er zeigte ein strahlendes Lächeln. »Das klingt schon besser.« Er stand auf und bot ihr seine Hand an. »Na los, hauen wir uns aufs Ohr. Wir haben einen langen Tag vor uns.«

Am nächsten Morgen arbeitete Sarah mit einer kleinen Mannschaft an einer der Grabstellen an den äußeren Stadtgrenzen. Eine trockene, saunaartige Hitze hatte sich über das Tal gelegt, während die Sonne zum Zenit gewandert war. Zu dieser Tageszeit fiel nicht ein einzelner Schatten auf die endlosen Sandweiten. In diesem gnadenlosen Gelände gab es meilenweit keine Spur von etwas Grünem. Die einzigen Lebewesen waren die Skorpione und Skarabäen, und sogar die versteckten sich tief unter der versengten Oberfläche.

Sarah trug ein Langarmshirt und eine Cargohose, beide in wüstenbraun, und einen Hut mit breiter Krempe über dem Bandana, das um ihren Kopf geschlungen war. Es war zu heiß für so viele Kleidungsstücke, aber Haut zu zeigen war im ländlichen Saudi-Arabien ein schwerwiegendes Vergehen. Ihre Arbeiter waren Landbewohner oder Stammesmitglieder, die fest in den Regeln ihrer patriarchischen Gesellschaft verwurzelt waren. Es hatte mehrere Monate gedauert und jede Menge Diplomatie erfordert, bis sie sie dazu gebracht hatte, Anweisungen von ihr, der einzigen Frau der Expedition, anzunehmen, geschweige denn sie zu respektieren.

Die schwarzhaarigen, braunhäutigen Männer, die Seite an Seite mit Sarah arbeiteten, tratschten harmlos über sie. Einer der Männer deutete auf sie und flüsterte einem anderen etwas zu. Dieser brach in ein schallendes Gelächter aus, das tabakfleckige Zähne enthüllte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, zufrieden, dass die Männer sie so weit akzeptiert hatten, um sich über sie zu amüsieren.

Daniels weißer, stets staubbedeckter Land Rover näherte sich mit gehörigem Lärm. Daniel stieg aus und sagte etwas auf Arabisch zu den Männern, was eine weitere Runde schallenden Gelächters auslöste.

Sie ging zu ihm hin. »Lachen sie über dein Arabisch?«

»Nein«, sagte er. »Ich hab ihnen nur erzählt, dass ich dich für deinen täglichen Hamam-Termin in die Stadt bringe.«

»Wie nett.«

»Ich dachte, der würde dir gefallen. Komm. Ich will dir etwas zeigen.«