Das Rot der Stiefmütterchen - Susanne Arnold - E-Book
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Das Rot der Stiefmütterchen E-Book

Susanne Arnold

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Beschreibung

Die Überraschung ist groß, als das berühmte Winterbottom-Theater ausgerechnet im Dörfchen Rosefield gastiert. Für die betagten Freundinnen Margret und Elisabeth scheint an der Sache etwas faul zu sein. Und was hat eigentlich der Pfarrer damit zu tun? Margret beschäftigt unterdessen noch etwas anderes. In Canterbury treibt ein Mörder sein Unwesen, der seine Opfer zunächst ersticht und dann mit roten Stiefmütterchen schmückt. Ehe sich der Theatervorhang ein zweites Mal heben kann, schlägt der Stiefmütterchen-Mörder auch in Rosefield zu. Können die Freundinnen den Täter überführen und weitere Morde verhindern?

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meine Mama

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover

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Glady´s Fish and Chips mit Erbsenmus

Danksagung

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Textanfang

Impressum

1

Schon als ich den Krater über Margrets Nase sah, hätte mir dämmern müssen, dass auch dieser Frühling alles andere als geruhsam werden würde. Gefährlich kam der Sache sogar noch wesentlich näher. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und das war gut so. Seit ich mit Margret zusammen in ihrem Cottage lebte, schienen kriminelle Jahresanfänge zur allgemeingültigen Norm unserer kleinen WG geworden zu sein, zu einer gruseligen Routine, die besagte, dass wir im Frühjahr grundsätzlich Mordfälle zu lösen hatten. Das heißt, meine Freundin löste sie und ich assistierte ihr, denn sie war das geistige Genie von uns beiden. Sie war Sherlock Holmes, ich war Watson. Nur dass Watson sich neben seiner Assistenz um Patienten kümmerte und ich mich um den kulinarischen und den gesellschaftlichen Part. Nach dem Tod meines Mannes Harry war ich bei Margret eingezogen. Das Haus lag zwar am Rande von Rosefield und damit für meinen Geschmack etwas zu weit weg vom Ortsgeschehen, aber allein zu leben war nicht meine Sache. Ich war kommunikativ und brauchte Gesellschaft. Und obwohl Margret an manchen Tagen wenig gesprächig war, genoss ich unser Zusammenleben. Ich hatte inzwischen sogar die Vorzüge kennengelernt, die es mit sich brachte, wenn man am Ende der Hauptstraße wohnte, und wusste sie zu schätzen. Der Blick aus den hinteren Fenstern war Balsam für die Seele und brachte auch das hektischste Gemüt zur Ruhe. Nichts als Wiesen, Felder und Bäume schmeichelten dem Auge und in der Ferne bildete das Herrenhaus Old Mansion Hall ein Hintergrundbild, nach dem sich mancher Künstler die Finger lecken würde. Es war das Prunkstück unseres Örtchens. Wenn im Winter eine Schneeschicht die Landschaft bedeckte, sah man oft weit und breit keinen einzigen Fußabdruck. Wie in Acryl verewigt, lag die Umgebung Rosefields dann schlafend im weißen Gewand, bis sie im Frühling von den ersten Sonnenstrahlen wieder geweckt wurde. Im Sommer summten unzählige Insekten über den Wildblumen, die einen würzigen Duft verbreiteten. Manchmal stand ich einfach nur da, ließ meinen Blick über unseren Gemüsegarten schweifen und seufzte beglückt. Aber ich hatte auch gelernt, dass ich einem Trugschluss erlegen war, einem Idyll, das uns hin und wieder Lügen strafte. Denn so harmlos, wie sich die Landschaft dem Unwissenden darbot, war sie nicht …

Unser Cottage war eines dieser Bilderbuchhäuser, verwinkelt, mit Rosen bewachsen und mit einem Apfelbaum im Vorgarten, unter dem ein Tisch mit zwei schmiedeeisernen Stühlen stand. Wie man es von Postkarten her kennt oder von Wandkalendern mit Gartenmotiven und Achtsamkeitssprüchen darunter. Margrets Eltern hatten das Haus vor über siebzig Jahren gebaut und dem Dörfchen damit zu noch mehr Glanz verholfen. Es umarmte jeden, der zu Besuch kam und auch jeden, der die Absicht hatte, länger zu bleiben. Ich hatte mich in dem Moment wohlgefühlt, als ich mit den Rollen meiner Koffer über die Schwelle geruckelt war. Obwohl ich schon als Kind häufig im Wohnzimmer gesessen und auf Margret gewartet hatte, um mit ihr zu spielen, war es in mehr als einer Hinsicht ein ganz neues Ankommen gewesen. Ein neues Kapitel meiner Lebensgeschichte. Viele bezeichneten Margrets Elternhaus als das schönste Fleckchen des Ortes, und ich konnte dem nur aus tiefstem Herzen zustimmen. Aber es war nur das Cover meiner neuen Lebensgeschichte. Jedes Kapitel, das ich aufschlug, seit ich am Ende der Hauptstraße wohnte, schien mit einem Kriminalfall aufzuwarten. Ständig passierte etwas. Die einigermaßen ruhigen Passagen dazwischen hatten bislang lediglich für ein kurzes Durchatmen gereicht und mich an die große Pause auf unserem Dorfschulhof zwischen zwei unliebsamen Fächern erinnert. In diesen ruhigen Phasen hatten wir Scrabble gespielt, waren um den See spaziert oder hatten gelesen. Und dabei hatte ich mir eingeredet, dass nun alles ruhig bleiben würde, ohne es selbst zu glauben. Ich brauchte keinen Mord und keinen Totschlag, um mich lebendig zu fühlen. Ganz im Gegenteil. Gemütlichkeit war mein zweiter Vorname. Und wenn ich Betätigung suchte, hatten wir den Gemüsegarten hinter dem Haus und den Blumengarten vor dem Haus. In dem arbeitete ich besonders gerne, während meine Freundin auf einem der Stühle unter dem Apfelbaum saß und Zeitung las. Vorne am Gartentürchen hatte man einen guten Blick die Hauptstraße hinunter. Wir pflegten einen regen Kontakt zu unserer Nachbarschaft und manchmal bekamen wir Besuch. Margret war das zwar nicht so wichtig, aber ich hatte den Eindruck, dass es ihr guttat, nicht immer nur mit sich und ihren Gedanken allein zu sein. Zumindest konnte niemand abstreiten, dass sie aufgeblüht war, seit ich dafür sorgte, dass sie regelmäßiger aß und unter Menschen kam. Abends saßen wir meistens in unseren Ohrensesseln vor dem Kamin, Margret strickte und ich knabberte Kräcker oder Kekse und blätterte in einer Modezeitschrift. Schön waren diese Zeiten – aber erfahrungsgemäß eben nur von kurzer Dauer. Das sollten mich die bevorstehenden Tage aufs Neue lehren, denn ich hätte wissen müssen, dass die Schulglocke schneller wieder läutete, als mir lieb war. Dabei hatte ich bis heute keine Erklärung dafür, wieso wir ständig in brenzlige Situationen gerieten. Es war, als wären wir der Minuspol und Verbrechen aller Art der Pluspol. Das nannte man wohl Magnetismus. Ich wusste, dass Margret diesen Umstand auf ihre ganz eigene Margret-Art genoss, denn geistige Nahrung war ihr tägliches Brot. Allerdings nicht jede x-beliebige. Kreuzworträtsel unterforderten sie ebenso wie unseren Tischler Graham Mitchell das Einschlagen eines Nagels. Manchmal war Margret so genervt, dass sie die Rätselseite der Kent News in den Kamin pfefferte, um sie dem Feuertod zu übergeben. Ich hingegen hätte zu gerne einen ganz normalen ruhigen Frühling in unserem Garten erlebt. Meinetwegen auch mit Rätseln der Kent News. Dafür ohne Leiche! Wenigstens ein einziges Mal! Es stand nicht auf meiner To-do-Liste des Glücklichseins, Kriminelle zu jagen. Stattdessen genoss ich es, tagsüber Unkraut zu jäten und abends mit lieben Menschen zusammenzusitzen, etwas Leckeres zu essen und zu trinken und auch mal über andere Themen zu sprechen als über Mordmotive. Das letzte Verbrechen lag nur wenige Wochen zurück und hallte noch in jeder Faser meines Körpers nach. Denn leider hatte sich unsere Serie der Frühlingmorde ausgeweitet und zuletzt auch den Winter in Beschlag genommen.

Die Erinnerung an das schrecklichste Weihnachtsfest meines Lebens würde ich wohl nie ausradieren können. Demzufolge wünschte ich mir kein neues Abenteuer, weder zu Weihnachten noch zum Geburtstag! Es war also ein ganz natürlicher Reflex, dass ich Margrets Nasenfalte an diesem Vormittag keine Beachtung schenkte, ein Verdrängungsmechanismus, denn mein Körper wusste genau, was ich von ihm erwartete. Ich wollte diese Furche an selten dagewesener Tiefe einfach nicht sehen! Basta! Und wenn ich sie nicht sah, gab es sie auch nicht!

Aufgrund meiner Erfahrungen der letzten Jahre hätte ich natürlich wissen müssen, dass die Sache mit dem Verdrängen in Bezug auf Margret in den seltensten Fällen funktionierte … Und spätestens, als ich mir den ersten Schluck Tee an diesem Morgen als schlechtes Omen über die Bluse geschüttet hatte, katapultierte mich dann auch der theatralische Seufzer meiner Freundin unbarmherzig in die unausweichliche Akzeptanz meiner bösen Vorahnung. Unser Idyll gehörte mal wieder der Vergangenheit an. Die Pause war vorbei! Das mörderische Ausmaß, das uns erwarten sollte, erschloss sich mir in diesem Moment allerdings noch nicht und das war wahrscheinlich besser so! Vor allem für meine Nerven! Wir waren schließlich über 70, da steckte man die Aufregungen, die eine Mörderjagd zwangsläufig mit sich brachte, nicht mehr so leicht weg wie ein Teenager mit Energieüberschuss. Wobei Margret das in der Regel anders sah, so wie sie meistens alles anders sah als ich. Ich hatte sie trotzdem lieb!

Sie vertrat die Meinung, dass es jung und frisch hielt, einen Kriminalfall aufzuklären. Mich hingegen ließ es altern. Seit Weihnachten waren meine Augenringe violett! Da half keine Creme der Welt! Zudem glaubte ich nicht daran, dass mein Verstand für derlei knifflige Kombinationen überhaupt geschaffen war. Wahrscheinlich fehlten mir die entscheidenden Synapsen. Jedenfalls arbeitete er wesentlich langsamer als der von Margret und beschäftigte sich lieber mit Kulinarik und Dorfklatsch. Da war nichts zu machen! Aber es hatte auch sein Gutes! Was den Tratsch betraf, war ich up to date! Ganz weit vorne! Sämtliche Neuigkeiten aus Rosefield erfuhr ich spätestens bei meinen wöchentlichen Friseurbesuchen im Salon von Mrs Gibson und obwohl meine Freundin diesen niemals aufsuchte, weil sie ihren strengen Haarknoten seit unserer Kindheit trug und sich an ihrer Frisur im Laufe der Jahre lediglich die Farbe geändert hatte, musste sie zugeben, dass diese Informationsquelle durchaus ihre Vorteile hatte. Es gab kaum etwas, das Mrs Gibson nicht wusste. Margret legte zwar Wert auf Fakten, aber auch Friseurbesuche waren zweifellos aufschlussreich und hinter jedem Klatsch und Tratsch verbarg sich doch immer auch ein Fünkchen Wahrheit. Das sagte Margret selbst! Außerdem ließ sich aus scheinbar banalem Geplauder häufig mehr ableiten als aus einem offiziellen Verhör.

Lucy, unser Au-pair-Mädchen mit Oma-Betreuung, servierte das Frühstück, für mich die wichtigste Mahlzeit des Tages. Dabei war sie grundsätzlich schon zu sehen, bevor man sie überhaupt kommen hörte. Wie ein guter Geist, stets präsent, wenn man ihn brauchte. Ich atmete den Duft des Tees ein, meine zweite Tasse für diesen Tag. Ohne ein anständiges Frühstück konnte man keinen Pokal gewinnen, das stand für mich fest. Meistens begann ich mit Omelette. Lucy machte die besten! Sie kochte so ziemlich alles grandios und hatte tatsächlich ihr eigenes Kochbuch zusammengestellt, für das sie ihre Gerichte auch selbst fotografiert hatte. Lucy war ein Topf voller Talente! Eine Wundertüte! Das hatte auch ein Londoner Verlag bemerkt, der das Buch noch in diesem Jahr veröffentlichen wollte. Ich war stolz, denn dieses Kochbuch war meine Idee gewesen. Lucy hatte Margret und mir das Buch sogar gewidmet! Was für eine Ehre! Zum nächsten Weihnachtsfest würde ich es allen schenken! Ohne Ausnahme!

»Alles in Ordnung, Miss Miller?«, fragte unsere gute Seele mit Besorgnis in der Stimme, während sie das Omelette auf meinen Teller gleiten ließ. Lucys Augenwinkeln schrieb ich bisweilen überirdische Fähigkeiten zu, denn auch wenn man das Gefühl hatte, dass sie woanders hinschaute, entging ihr nur sehr wenig. Wie jetzt Margrets Nasenfalte, deren Existenz ich für mich ja schon abgehakt hatte. Meine aktuelle Realität war die vor mir liegende dampfende Masse, die wie immer mit Schinken, Käse, Champignons und Schnittlauch gefüllt war. Meine Lieblingskombination! Goldbraun und glänzend rief sie mir zu, dass sie gerne von mir verzehrt werden würde. Und zwar sofort! Der würzige Duft ließ den Speichel in meinem Mund zusammenlaufen und mein Magen gab ein Brummen von sich.

»Miss Miller? Was ist denn los? Kann ich Ihnen helfen?«, dämpfte Lucy in diesem Moment meine Vorfreude auf den ersten Bissen, indem sie meinen Verdrängungsmechanismus mit ihrer an Margret gerichteten Frage nun endgültig zur Kapitulation brachte. Ich versuchte noch einmal mich abzulenken, indem ich mir überlegte, welche Blumen ich in die großen Kübel pflanzen könnte, die ich im Schuppen neben dem Haus entdeckt hatte. Schön bunt sollten sie werden, vielleicht mit Geranien und Petunien, oder mit Hornveilchen bepflanzt. Ein Schnauben drang aus Margrets Richtung an meine Ohren. Ich schob meine Gabel in die Masse auf meinem Teller. Rosen, Tulpen, Nelken … was gab es noch für Blumen? Meine Freundin ließ die Kent News sinken und starrte passend zu meinen blumigen Gedanken auf die Ranken unserer Tapete. Das Zeitungspapier raschelte, als es auf dem Tisch aufkam. Jetzt würde gleich irgendetwas aus Margret heraussprudeln, das ich nicht hören wollte …

»Es ist immer das gleiche Muster, das muss dieser dusselige Inspector doch sehen! Er ist und bleibt eine Blockflöte! Etwas anderes fällt mir dazu nicht mehr ein!«, schimpfte sie und tippte dazu energisch auf die Überschrift eines Artikels, als könne sie damit Morsezeichen nach London telegrafieren, wo besagter Inspector sein Büro hatte. Es war kein Geheimnis, dass sie von der Blockflöte, wie sie Inspector Brown nannte, so viel hielt wie von Nagellackentferner. Margret hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie die Nägel lackiert. Daher gehörte Nagellackentferner für sie in die Rubrik: Dinge, die die Welt nicht braucht. Ebenso wie Inspector Brown! »Wann gibt es endlich einen Nachfolger, der sich des Postens als würdig erweist?« Sie warf den Kopf in den Nacken und sog geräuschvoll die Luft ein. Der Haarknoten hielt Stand. »Dieser Clown kann eins und eins einfach nicht zusammenzählen, konnte er noch nie! Wir sollten ihn zu Mr Mallowan in unsere Dorfschule schicken! Aber selbst da wäre er fehl am Platz!«

Es half alles nichts. Also zwang ich mich, meinen Kopf wieder zu Margret zu drehen, auch wenn ich gar nicht wissen wollte, was der Inspector mal wieder nicht auf die Reihe bekommen hatte.

»Was ist denn passiert?«, erkundigte ich mich brav, um ein Interesse vorzutäuschen, das mir ferner lag als eine Kohlsuppendiät. Ich wollte den Morgen mit meinem Omelette genießen, Tee trinken und dann zu einem Toast mit Marmelade übergehen. Und das Angebotsblättchen des Gemischtwarenladens wartete auch darauf, von mir studiert zu werden. Es rief mir die reduzierten Artikel bereits zu! Sally gestaltete den Prospekt immer überaus ansprechend und ich freute mich jede Woche darauf.

»Du hattest diesen Teil der Zeitung doch schon, also müsstest du es gelesen haben.« Margret neigte den Kopf wie ein Adler, der von seinem Nest nach Feinden Ausschau hält, verwandelte ihre Stirn in einen Fächer und schielte über ihre runden Brillengläser. Wir teilten uns die Zeitung allmorgendlich, was aber noch lange nicht bedeutete, dass wir sie in gleicher Intensität lasen. Meist überflog ich sie, um an der Promiseite hängenzubleiben. Margret überflog die Promiseite und studierte den Rest wie ein Mediziner ein Essay über Antibiotika, es sei denn, ein Prominenter war ermordet worden. Dann bekam auch er Margrets ungeteilte Aufmerksamkeit.

Ich wedelte abwehrend mit meiner Hand.

»Och, weißt du, da stand so vieles, wie soll ich denn wissen, auf was genau du …«

»Mathew Petherick ist tot!«, fiel sie mir ins Wort. Satzenden abzuwarten, lag ihr nicht. »Das kannst du unmöglich übersehen haben! Hier steht es schwarz auf weiß!« Sie hielt die Seite in die Höhe. Da meine Sehkraft langsam zu wünschen übrig ließ, konnte ich kaum etwas erkennen, zumal der Artikel einen Knick hatte.

»Wo? Bei den Todesanzeigen? Wer soll das überhaupt sein?« Ich ließ mich mit einem Seufzen gegen meine Stuhllehne fallen. Es machte keinen Sinn so zu tun, als ob man wüsste, von wem Margret sprach, wenn dem nicht so war. Sie durchschaute es sowieso. Selbst mit Pokerface konnte man ihr kein X für ein U vormachen, weder ich noch sonst jemand. Hatte ich mehrfach versucht. Ohne Erfolg, wohlgemerkt!

»Doch nicht in den Todesanzeigen, Elisabeth Wilson! Das wäre wenig spektakulär, davon gibt es mindestens zwanzig.« Die Missbilligung in ihrer Stimme hatte das oberste Level erreicht. »Nein, schau doch! Der Artikel bedeckt mehr als eine halbe Seite! Hier!« Sie drehte das zerknickte Blatt zu sich und tippte darauf.

»Ach, na klar, Mathew Petherick!« Lucy lugte über Margrets Schulter und schnippte mit den Fingern. »Ist das nicht dieser reiche Börsenexperte aus Canterbury? Der mit den Workshops zum Thema Geldanlage? Sie berichten schon den ganzen Morgen im Radio darüber. Unfassbare Geschichte, nicht wahr?«

In mir sträubte sich alles dagegen, zu erfahren, was daran so unfassbar sein sollte. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. Aber ich war dem Kindergartenalter seit mehreren Jahrzehnten entwachsen, also beschloss ich, mich am Riemen zu reißen. Ein Jammer!

»So ist es!« Meine Freundin schob ihre Nase wieder in die Zeitung. Wenn sie etwas interessierte, las sie einen Artikel auch mehrmals, bis sie ihn auswendig konnte. »Hier ist sogar ein Bild! Allerdings mit Balken über den Augen und in schwarz-weiß. Sehr undeutlich! Die Qualität der Kent News wird von Tag zu Tag schlechter, und zwar nicht nur wegen der Bilder, die aussehen, als hätte jemand Tee darüber gekippt.« Sie atmete geräuschvoll aus. »Nichtssagende Berichte und dann auch noch Rechtschreibfehler! Hat man da noch Worte?« Margret gab in jeder Situation ihr Bestes und das erwartete sie auch von anderen – auch vom Chefredakteur der Kent News! »Man sollte immer hundert Prozent anstreben, achtzig werden es von allein!«

»Ein Bild von einer Leiche? Habe ich nicht gesehen, wahrscheinlich habe ich zwei Seiten auf einmal umgeblättert«, resümierte ich und empfand nicht das geringste Bedauern darüber. »Macht aber nichts, ich mag so etwas ohnehin nicht. Ergibt doch gar keinen Sinn, so ein Foto.« Immer diese sensationslüsternen Bilder! Ich mochte ja Klatsch und Tratsch, aber über noch lebende Personen. »Wie muss das nur für die Angehörigen sein, wenn die ganze Welt sieht, wie ein Verwandter irgendwo tot rumliegt? Ich finde das pietätlos!« Meine Mundwinkel verzogen sich einem Automatismus folgend in Richtung Teppich.

»Nun, grundsätzlich stimme ich dir zu, aber in diesem Fall ist das Foto recht aufschlussreich«, hörte ich Margret hinter den Kent News, »wenn auch unscharf!«

»Wegen der Blüten?« Lucy trat hinter Margrets Stuhl und stierte über deren Schulter. »Im Radio hieß es, es hätten lauter Stiefmütterchen um den Toten herum gelegen. Rote! Zuerst dachte ich, der Moderator macht einen schlechten Scherz.« Sie beugte sich herunter, bis ihr Kopf neben dem meiner Freundin hinter der Zeitung verschwand und ich nur noch Stimmen hörte.

»Wie gesagt, man kann auf dem Foto nicht viel erkennen, aber wenn man es weiß, sieht man die Blüten. Hier, diese kleinen Punkte!« Ich hörte Margrets Zeigefinger, der über das Papier kratzte, und sah von meinem gegenüberliegenden Platz die Beule in der Zeitung, die sich dadurch bildete.

»Ach, das ist aber doch eine hübsche Idee«, überlegte ich laut, um etwas beizutragen. »Hat die Familie das arrangiert? Das mit den roten Stiefmütterchen? Aber wieso wird sowas in der Zeitung abgedruckt? Verstehe ich nicht. Waren das seine Lieblingsblumen? Oder sind es vielleicht die seiner Frau?«

Es war mir ein Rätsel, wieso Margret mich ansah, als hätte ich den Verstand verloren. Und auch Lucy klappte ihren Mund in Zeitlupe erst auf und dann wieder zu. Was hatte ich denn nun schon wieder falsch gemacht? Margrets Lippen wurden noch schmaler, als sie es ohnehin schon waren, und wirkten dadurch wie mit Fineliner gezeichnet.

»Elisabeth Wilson, das kann unmöglich dein Ernst sein!«

2

»Wieso? Blüten sind doch schön. Nicht so trostlos wie bei der Beerdigung von Monica Higgins neulich. Erinnerst du dich?« Wir hatten an einem regnerischen Tag auf dem Friedhof hinter unserer Kirche in Rosefield gestanden, gefroren und vor uns hin getropft. Alles war grau in grau gewesen, eine einzige Brühe, die Wolken, die Grabsteine, die dunkle Kleidung und die fahlen Gesichter der wenigen Besucher unter ihren Regenschirmen. Die tristen Töne waren ineinander verschwommen, wie beim Malen mit einem Pinsel, der zu viel Wasser aufgenommen hat. »Wenn ich mal sterbe, sollen alle in bunter Kleidung kommen und fröhlich sein.« Ich schaufelte mit meiner Gabel eine neue Ladung Omelette vom Teller und schob sie mir in den Mund. »Und Stiefmütterchen finde ich hübsch. Das sind auch nicht so typische Trauerblumen wie weiße Lilien oder so«, nuschelte ich, hielt mir die Hand vor den Mund und schluckte rasch meine Essensreste runter. »Wobei es bei Monica Higgins ja nicht mal die gegeben hat. Mr Pollit hätte in der Gärtnerei doch wirklich etwas Schönes vorbereiten können, aber offenbar war das nicht gewünscht. Manchen Leuten ist einfach nicht zu helfen.« Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich gerade mit jedem weiteren Satz zusätzliches Kanonenfutter lieferte. Einem Impuls folgend zupfte ich an dem Blatt einer Rose, die in einer schmalen Vase auf dem Tisch stand. Jonathan hatte sie mir vor zwei Tagen in Mr Pollit`s Laden gekauft. Einfach so. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, erstarb jedoch sofort, als Lucy neben mich trat und im Flüsterton erklärte: »Ähm, der Mann wurde ermordet, Mrs Wilson.« Mein Blick auf unsere Frühstücksfee verriet mir, dass sie die Zähne aufeinandergebissen und die Augen zusammengekniffen hatte, weil sie offensichtlich mit einem Margret-Tsunami rechnete. Ich wagte es, meinen Kopf in Richtung meiner Tischnachbarin zu drehen. Die Sturmgöttin starrte mich noch immer an, als hätte ich gerade verkündet, mein Haar zukünftig grün färben zu wollen. Ich saugte meine Lippen ein und beschloss, dass Reden zwar Silber, Schweigen in diesem Moment aber auf jeden Fall Gold war.

»Wenigstens eine Person, die weiß, worum es hier geht«, echauffierte sich meine Freundin. »Er wurde erstochen, und zwar auf bestialische Art und Weise. Dem Täter hat es nicht gereicht, einfach nur zuzustechen. Nein! Ein regelrechtes Gemetzel hat er veranstaltet!« Sie malte mit ihren Handflächen Kreise in die Luft.

»Oder sie!«, warf Lucy mit erhobenem Finger ein. »Es könnte ja auch eine Täterin sein. Gerade wegen der Blumen.«

»Nun, an den Blumen würde ich es zwar nicht unbedingt festmachen wollen, aber selbstverständlich könnte es auch eine Frau gewesen sein!« Margret nickte vor sich hin. »Sie müsste allerdings eine gewisse Kraft aufgebracht haben, um etwas Derartiges zu bewerkstelligen. Aber dann … ja, möglich wäre es.« Meine Freundin liebte es, wenn jemand mitdachte, was bei Lucy zugegebenermaßen häufiger der Fall war, als bei mir. Es war nicht so, dass ich mir keine Mühe gab, aber die für meine Begriffe absolut Sinn machenden Schlüsse, die ich aus Margrets Essays zog, waren leider meistens falsch. Oder ich verstand die Wegweiser in ihrem Irrgarten nicht und bog falsch ab. »Wenn du die Zeitung richtig gelesen und auch das Bild betrachtet hättest, meine liebe Elisabeth, dann wäre dir nicht entgangen, dass Mr Petherick in einer Blutlache liegt. Und zwar in einer ziemlich großen! Es ist sozusagen ein See.« Sie deutete mit ihren Armen die Ausmaße an und ich konnte ausmachen, wie ihr Kiefer dazu mahlte. »Hast du je von Elisabeth Báthory gehört?«

Mein Kopf bewegte sich stumm von links nach rechts und wieder zurück.

»Eine ungarische Gräfin. Sie hat irgendwann um 1600 herum gelebt.«

»Und?«

»Sie wird als Blutgräfin bezeichnet, weil sie viele junge Mädchen ermordet haben soll, von über 600 ist die Rede! Es tut mir leid, dass ihr den Vornamen teilt, meine Liebe.« Ich verzog die Mundwinkel. »Angeblich hat sie im Blut ihrer Opfer gebadet. Nun, das sind Gerüchte und mit Halbweisheiten kann ich nicht viel anfangen, wie du weißt. Aber die Geschichte kam mir beim Anblick des Fotos in den Sinn.«

»Oh …« Ich war erschüttert. Und auch peinlich berührt, denn ich hätte mir natürlich denken können, dass ein normaler Todesfall Margret nicht hinterm Ofen hervorlocken konnte. Und rote Stiefmütterchen auch nicht. Es sei denn, es steckte mehr dahinter, wie in diesem Fall.

»Tut mir leid. Das wusste ich nicht. Dann möchte ich das Bild erst recht nicht sehen.« Mein verneinendes Winken folgte einer inneren Anweisung und spiegelte meine Abwehrhaltung wider. »Aber wieso macht jemand so etwas, erst ermorden und dann mit Blumen schmücken? Das ist doch …«, ich suchte nach einem adäquaten Wort und rührte dazu mit der rechten Hand in der Luft herum, »bestialisch und geschmacklos zugleich!« Eine Gänsehaut kroch über meine Unterarme und schlängelte sich dann hoch bis zum Nacken. »Klingt nach einem Wahnsinnigen! Wie in einem Psychothriller.« Ich schüttelte mich. Plötzlich war mir eiskalt. »Ich weiß schon, warum ich mir so etwas niemals im Fernsehen ansehe. Und auch Bücher dieser Art möchte ich nicht lesen. Ich mache eine Woche lang kein Auge zu! Da schaue ich mir lieber Lucys Kochbuch an, sobald es fertig ist.«

»Das ist genau der Punkt!« Margret bohrte ihren Zeigefinger in die Tischdecke.

»Dass ich von Psychothrillern Albträume kriege, oder dass ich mir Kochbücher ansehe?«

»Nein! Dass es Menschen gibt, die sich offensichtlich nicht damit begnügen, jemanden einfach zu erschießen oder zu vergiften. Stattdessen wird das Ganze inszeniert!« Ein Zungenschnalzen folgte. »Und nun erinnere dich an den Fall von vor etwa einem Monat – dieses tote Mädchen, ebenfalls aus Canterbury. Summer Walsh war ihr Name!« Ihr Zeigefinger deutete jetzt auf mich. Eine Aufforderung, etwas zum Thema beizutragen.

»Ach ja, ich weiß, sie war doch noch so jung, Mitte 20, glaube ich. Wurde sie nicht auch erstochen?«, stammelte ich, während ich mein Gehirn fieberhaft nach Informationen durchforstete. An den Artikel konnte ich mich tatsächlich noch dumpf erinnern, was mich selbst überraschte. Die Buchstaben verschwammen zwar hinter Nebelschwaden, aber einige Worte schafften es dennoch, aus dem Dunst zu mir vorzudringen. Ein Foto von ihrer Leiche hatte es definitiv nicht gegeben, das hätte ich sonst unter Garantie noch gewusst. Solche Dinge brannten sich leider bei mir ein, während ich andere vergaß, die ich eigentlich gerne behalten würde.

»Exakt! Genau dasselbe Prozedere.« Margret rieb sich die Hände. »Wenn ich mich recht entsinne, hat man in Summer Walsh 30 Einstiche gefunden, zumindest stand es so in den Kent News. Ein wahrer Kraftakt! Auch sie wurde schlimm zugerichtet in einer Blutlache liegend aufgefunden.«

»Das ist ja gruselig!«

»Tödlich war bereits einer der ersten Stiche, der Rest wäre also gar nicht nötig gewesen. Aber der Mörder hat absichtlich weitergemacht, als wäre er danach erst richtig in Fahrt gekommen.«

Innerlich gab ich meiner Freundin in diesem Moment recht, denn sie pflegte zu sagen, dass die Abgründe der menschlichen Natur so tief wie der Meeresgrund waren. Bislang hatte ich immer für das Gute im Menschen gefochten und ihre Aussage relativiert, aber eine solche Tat …

»Meine Güte, wie groß muss der Hass eines Menschen auf einen anderen sein, um so etwas zu tun?« Als ich meinen Kopf schüttelte, spürte ich, wie meine Locken wackelten. Sie waren wohl zu wenig fixiert. Ich musste dringend eine neue Flasche Haarspray bei Mrs Gibson besorgen. Sie führte eine besondere Sorte, die zwar Halt bot, das Haar jedoch nicht verklebte. Wieder so ein abwegiger Gedanke in einer Situation, die von schrecklichen Themen überschattet wurde. Vielleicht schnappte ich ja allmählich über. Das wäre bei allem, was wir in den vergangenen Monaten erlebt hatten, wahrscheinlich gar nicht verwunderlich…

»Bei Mr Petherick war es ähnlich. Nicht einmal die Hälfte der Stiche wären nötig gewesen um ihn zu töten. Zum Glück verschont der Täter wenigstens die Gesichter seiner Opfer.« Margret klang immer so pragmatisch, als lese sie in der Bedienungsanleitung einer Spülmaschine nach, wie häufig man Salz einfüllen muss.

Lucy riss die Augen auf.

»Man stelle sich vor, wie das Foto ansonsten …«

»Oh, Lucy, mir kommt mein Frühstück gleich wieder hoch. Ich vertrage so etwas am frühen Morgen nicht«, sang ich mein Klagelied und drehte meine Pupillen in Richtung Deckenlampe.

»Was verstehst du unter einem frühen Morgen? Es ist gleich halb zehn!« War ja klar, dass Margret mich mal wieder zurechtweisen musste.

»Könnt ihr mir eure Ideen nicht einfach in homöopathischen Dosen verabreichen? Das wäre sehr freundlich. Ich bin zart besaitet wie ihr wisst.« Ich war enttäuscht von so wenig Rücksichtnahme.

»Mhm, ein wahnsinniger Serienkiller …«, ignorierte mich meine Freundin, »der Gesichter ausspart … sehr interessant. Und zudem überaus dubios. Sticht zu wie ein Irrer, obwohl das Opfer schon längst tot ist. Ein Besessener! Und gleichzeitig erzählt er eine Geschichte. Mit offenem Ende …«

»Nicht nur das!«, fiel Lucy ein, während sie Tee nachschenkte. »Ich meine, nicht nur die Einstiche waren bei den beiden Todesfällen vergleichbar. Um Summer Walsh herum lagen ebenfalls rote Stiefmütterchen, war es nicht so, Miss Miller? Ich glaube, Patrick hatte es erwähnt. Der Fall war für ihn natürlich auch mehr als ungewöhnlich. Hört man ja nicht alle Tage, dass ein Mörder so vorgeht. Im Grunde sind die Morde mit den Stichverletzungen und den Blumen fast deckungsgleich.« Unser ehemaliger Constable, der inzwischen als Sergeant eine eigene Wache in Rye betreute, war mit unserer Lucy liiert. Zu meiner großen Freude, denn eigentlich wollte Lucy schon längst auf Weltreise sein und anschließend studieren. Aber nun hatten sich ihre Prioritäten verschoben und ich würde den Teufel tun, sie an ihre alten zu erinnern.

»Ganz genau, rote Stiefmütterchen! Deckungsgleich, mhm …« Margret saugte ihre Unterlippe ein und gab dabei ein schmatzendes Geräusch von sich. »Aber die Blockflöte von Inspector Brown scheint diesen Aspekt mal wieder einfach so von sich zu schieben, zumindest ist in dem Artikel mit keiner Silbe davon die Rede, dass es Parallelen zwischen den beiden Mordfällen gibt, die ja offensichtlich auf der Hand liegen.« Sie schnappte sich ihren Löffel und rührte damit so resolut in ihrem Tee, dass es schepperte und ich Angst hatte, die Tasse könne vom Untersetzer hüpfen. »Unter normalen Umständen würde ich sagen, dass die Polizei nicht all ihre Gedanken und Informationen mit der Presse teilt!« Das Scheppern hatte aufgehört, denn sie war jetzt dazu übergegangen, mit dem Löffel Ausrufezeichen in die Luft zu malen. »Absolut verständlich. Wahrscheinlich eine sehr durchdachte Entscheidung von Fall zu Fall. Normalerweise, wohlgemerkt!« Sie deutete mit dem Stiel auf mich. »Aber bei diesem Komiker liegt der Verdacht leider nahe, dass er in der totalen Dunkelheit herumstochert! Denn taktisch kluge Entscheidungen hat er noch nie getroffen! Bei ihm ist nicht mal der Toilettengang durchdacht!«

»Margret!«, entfuhr es mir, denn ich hatte selten gehört, dass sie verbal derart entgleiste.

»Ist doch wahr! Die Dinge müssen beim Namen genannt werden!«

»Aber was hat denn dieser Mathew Petherick mit Summer Walsh zu tun?« Lucy hatte die Kanne abgestellt und kratzte sich nachdenklich an der Stirn. »Ich meine natürlich abgesehen von den Todesumständen.«

»Auf den ersten Blick nichts. Summer kam aus einer normalen Familie, wenn man das so bezeichnen kann. Keine besonders reichen Leute, Mittelstand würde ich vermuten«, dozierte Margret jetzt wieder so sachlich, als ob sie einen Geschichtsvortrag hielt. »Ihre Eltern leben in einem dieser typischen Reihenhäuser mit Erker zur Straße, überschaubare Wohnfläche. Stand zumindest in der Zeitung. Aber davon kann man ja heutzutage nur noch die Hälfte glauben, je nachdem, wer den Artikel verfasst hat.« Sie überprüfte abwesend den Sitz ihres Haarknotens, was unnötig war, denn er machte auf mich stets den Anschein, aus Beton zu sein. »Wahrscheinlich unten Wohnzimmer und Küche, oben zwei Schlafzimmer mit kleinem Verschlag unter der Treppe. Man kennt das. Schema F.« Eine Kunstpause folgte, bevor sie weitersprach. »Mr Petherick hingegen war überaus wohlhabend, hatte ein ganz anderes soziales Umfeld. In keiner Weise vergleichbar!« Mit geschürzten Lippen starrte sie auf die Tischdecke. »Man möchte meinen, dass er und Summer Walsh sich nie begegnet sind – andere Kontakte, anderer Wohnbereich. Und doch haben sie denselben Mörder.«

»Aber wenn beide auf dieselbe Weise ums Leben gebracht wurden, muss es doch irgendeine Verbindung geben«, warf ich ein, um auch etwas halbwegs Kluges zu sagen.

»So ist es, Elisabeth! Im Moment scheint die einzige Gemeinsamkeit der Wohnort zu sein, nämlich Canterbury – wenn auch in verschiedenen Bezirken! Aber das allein wird es nicht sein.«

»Nein, wohl nicht.«

»Ich bin mir sicher, es gibt eine Geschichte! Der Mörder ist der Autor. Er schreibt sie entweder für eine bestimmte Person oder vielleicht sogar für die ganze Welt. Er hat eine Botschaft. Man vermutet, dass er total irre ist, aber weit gefehlt!« Margret schnippte mit den Fingern und starrte auf ihren leeren Teller. »Er weiß genau, was er tut, ist sich seiner Sache völlig sicher. Alles ist geplant. Er hält die Welt zum Narren! Vielleicht will er in die Geschichte eingehen – wie Jack the Ripper!«

Ich wollte nichts mehr davon hören und beschloss, meinen Verdrängungsmotor wieder anzuwerfen und mich auf mein Frühstück zu konzentrieren. Würde ja sonst auch alles kalt werden. Und so tragisch diese Mordfälle auch sein mochten, sie waren nicht unser Problem. Das musste ich mir immer wieder sagen und versuchen, auch Margret davon zu überzeugen. Ich kannte weder Mathew Petherick noch Summer Walsh. Und Canterbury lag eine gute Ecke von Rosefield entfernt. Jeden Tag passierten überall auf der Welt schlimme Dinge. Man konnte sich unmöglich mit dem kompletten Leid der Menschheit beladen, damit wäre, davon mal abgesehen, auch niemandem geholfen. Aber wie ich es befürchtet hatte, sah Margret die Sache natürlich anders! Sie war bereits mitten im Einmischungsprozess! Einzig eine Naturkatastrophe würde sie jetzt noch aufhalten können.

»Ich wüsste zu gerne, wie weit Inspector Brown mit seinen Ermittlungen ist … Wahrscheinlich hat er nicht einmal richtig begonnen. Pah! Wie auch?« Sie winkte mit einem verächtlichen Lachen ab. »Er ist ein Hampelmann! Wenn niemand an seinem Faden zieht, kriegt er nichts auf die Reihe! Mhm…!« Margret erhob sich von ihrem Stuhl und begann Kornkreise in den Teppich zu laufen. »Die Opfer haben sich entweder persönlich gekannt oder sie waren in irgendeiner Form durch ihren Mörder miteinander verbunden. Wir müssen herausfinden, wie …«

Beinahe hätte ich mich an einem Käsefaden verschluckt.

»Margret Miller! Komm gar nicht erst auf Ideen! Damit haben wir nichts zu tun! Wir kennen diese Leute nicht einmal. Die Toten, meine ich. Das geht uns überhaupt nichts an!«

»Tja …« Sie ließ ihre Finger über ihre Ellenbogen gleiten wie über eine Tastatur. »Die Toten werden wir nun auch nicht mehr kennenlernen können, aber der Mörder dürfte …«

»Iss lieber, bevor alles kalt wird und genieß einfach mal diesen sonnigen, ruhigen Tag«, versuchte ich es weiter. »Wir könnten gleich eine Runde spazieren gehen. Oder möchtest du lieber Scrabble spielen? Diesmal gewinne ich!«

»Kommt Patrick heute noch, Lucy? Er hat doch ganz gute Kontakte zu anderen Polizeirevieren, oder? Was erzählt man sich denn so über die beiden Fälle?«

Ich seufzte. Wenn Margret sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte ich mir den Mund fusselig reden. Sie hörte mir ja nicht einmal mehr zu.

»Ja, er hat viele Kontakte. Und ja, er kommt heute noch, denn er hat ein paar Tage frei. Sein erster Urlaub, seit er die Wache in Rye übernommen hat.« Unsere Ziehtochter strahlte. »Vielleicht machen wir ein paar Ausflüge.«

»Sehr schön. Macht das. Wann wird er hier sein? Hoffentlich nicht so spät?« Meine Freundin riss gespielt unschuldig die Augen auf. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Resolut legte ich meine Gabel auf den Teller.

»Margret Miller! Dich interessiert das doch nur, weil du mit ihm über die Mordfälle sprechen willst! Und weil du hoffst, dass er über mehr Informationen verfügt, als die Zeitung hergibt!« Ich spürte, wie Hitze in meine Wangen stieg. »Der Junge hat Urlaub – hast du doch gerade gehört! Er und Lucy möchten etwas Schönes unternehmen! Nur, weil du dich wieder in Dinge einmischen musst, die …«

»Und wenn schon, ein kurzer Plausch wird doch wohl möglich sein. Patrick unterhält sich gerne mit uns. Ist doch so, oder Lucy?«

»Ja, aber nicht über dieses Thema!«, drängte ich mich vor die Antwort unserer Haushaltshilfe.

»Aber selbstverständlich! Er interessiert sich mindestens genauso für die Fälle wie wir. Da bin ich ganz sicher«, verteidigte meine Freundin ihren Wunsch.

Lucy grinste nur und verschwand in die Küche. Sie wusste, wann es besser war, sich rauszuhalten.

»Ich finde das ziemlich egoistisch von dir!« Mir war die Lust am Essen vergangen, und das sollte was heißen! Ich schleuderte meine Stoffserviette neben meinen Teller. Die fröhlichen Sonnenblumen, mit denen sie bestickt war, passten nicht zu meiner Stimmung. »Du interessierst dich für diese Fälle! Schön! Aber das kannst du nicht auf den Rest der Menschheit übertragen. Ich habe nämlich keinerlei Lust, mich damit zu befassen! So!«

»Nun mach doch nicht so ein Gezeter! Du weißt genau, was passiert, wenn niemand Inspector Brown unter die Arme greift.«

»Ist es denn so klar, dass er überhaupt zuständig ist? Immerhin kamen die Opfer aus Canterbury! Und Inspector Brown sitzt in London und schneidet sich die Fußnägel – oder was auch immer!« Alles an diesem Mann war mir zuwider.

»Er hat die Oberaufsicht über die Grafschaft. Canterbury zählt ebenso zu Kent wie Rosefield. Und ich sage dir, es endet in einem Fiasko, wenn wir ihn gewähren lassen! So wie alles, was er anfasst! Selbst seine Fußnägel – falls du mit deiner Annahme recht haben solltest.« Margret rümpfte die Nase. »Außerdem will ich mich ja auch erstmal nur informieren, lediglich herausfinden, ob die Opfer sich kannten. Selbst das schafft die Blockflöte ja offenbar nicht! Nun, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mich das wundert.«

Das war ihre Abmoderation. Punkt! Ende! Ohne weiteren Kommentar nahm sie wieder am Tisch Platz und vertiefte sich in die Kent News. Ich stöhnte und machte dabei keinen Versuch, die Lautstärke, in der mein Unmut herausschoss, zu drosseln. Sollte sie ruhig mitkriegen, wie genervt ich war. Aber wahrscheinlich würde sie es absichtlich überhören.

In solchen Momenten war sie stur wie ein Maulesel. Und selbst, wenn mir noch ein passender Konter auf der Zunge gelegen hätte, wäre sie bei ihrem Entschluss, sich in den Fall einzumischen, geblieben. Es war nicht nötig, dass sie diesen laut aussprach. Ich kannte Margret. Sie konnte gar nicht anders. Insbesondere dann nicht, wenn sie sah, wie alles aus dem Ruder lief. Aus den Erfahrungen heraus, die wir bereits mit Inspector Brown gemacht hatten, konnte ich sie leider verstehen, zumindest in gewisser Weise. Aber das bedeutete nicht, dass sie an seiner Stelle den Fall lösen sollte. Es half jedoch alles nichts, denn an dem Flackern in Margrets Augen erkannte ich die Unumkehrbarkeit ihres Gedankenzuges. Die Gleise führten nur in eine Richtung. Meine Freundin hatte Feuer gefangen und ehe ich auch nur bis drei zählen konnte, stand sie auch schon lichterloh in Flammen. Wie an manchen Tagen das Kreuzworträtsel der Kent News. Ich hätte unartikuliert schreien mögen …

3

»Dürfte ich um Ruhe bitten!«

Unser Pfarrer Mr Stonecastle ruderte hilflos mit den Armen. Wie ein Gestrandeter, der am Horizont ein Schiff gesichtet hat und mit allen Mitteln versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Ich hatte jedoch das Gefühl, die Einzige zu sein, die hinsah. »Entschuldigung, könnten Sie freundlicherweise etwas leiser … Verzeihung bitte! Aber ich würde gerne …« Sein Klatschen klang dumpf, weil seine Hemdsärmel zu lang waren. Ich hatte Mitleid mit ihm. Mr Stonecastle war einer der liebenswertesten Menschen, die ich kannte, immer am Wohl der anderen interessiert. Aber außerhalb der Kirche haperte es ihm an Durchsetzungsvermögen. Insbesondere, wenn es um eine Zusammenkunft im Pub ging, bei der das Ale in Strömen floss und einige sich bereits zwei Stunden früher dort eingefunden hatten, natürlich nur, um sich die besten Plätze zu sichern. Das verstand sich von selbst. Und weil man nicht einfach nur sitzen, warten und Plätze blockieren konnte, musste man natürlich auch etwas verzehren. Bevorzugt in flüssiger Form. War ja auch leichter, zwei Stunden lang zu trinken, als zu essen. Zumindest für die Herren, die es betraf. Für mich wäre ein zweistündiges Mahl keine Herausforderung gewesen. Man konnte ja auch langsam essen. Und sich einen Nachtisch gönnen. Und vorneweg ein Süppchen. Jedenfalls sah man denjenigen, die seit geraumer Zeit ihr Lager im Pub aufgeschlagen hatten, an, dass es sich um sehr anständige Menschen handelte. Sie hatten eifrig bestellt. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick zu einem der Fenster, an denen Gardinen baumelten, die irgendwann mal weiß gewesen waren. Ob man es einen Spalt öffnen könnte? Aber dann würde sich bestimmt wieder jemand beschweren, dass es wie Hechtsuppe ziehe. Man hätte die Luft im Pub schneiden können. Auch unser Pfarrer litt, vermutlich weniger an dem Mief, als vielmehr an der Tatsache, dass er gerade schlichtweg ignoriert wurde. Armer Mr Stonecastle. In der Kirche war er in seinem Element und die Gemeinde hing an seinen Lippen, wenn er predigte. Hier im Stimmengewirr, das dem Surren eines Bienenstocks glich, schien niemand zu bemerken, dass er überhaupt da war. Wie eine Zimmerpflanze in der hintersten Ecke eines schmucklos eingerichteten Büros, die niemand mehr sah, weil jemand einen Stapel Akten davor getürmt hatte. Dabei war er durchaus eine Erscheinung mit genug Körpermaterial, um aufzufallen. Es war schon erstaunlich, wie sich die Rolle eines Menschen mit der Räumlichkeit, in der er sich befand, verändern konnte. Der Geräuschpegel steigerte sich bis zu dem eines Volksfestes und wurde von lauten Lachern durchbrochen, weil Mr Collins aus der Garden-Street – einer der anständigen Herren, die viel Ale bestellt hatten – Witze durch den Schankraum brüllte. Dazu schlug er sich mit den Händen auf die Oberschenkel und kippte bei jeder Pointe mit seinem Stuhl gefährlich weit nach hinten. Ein Paradebeispiel für die These, dass der Mensch vom Affen abstammt. Wobei ein Affe vermutlich geschickter im Umgang mit einem wippenden Stuhl wäre, als Mr Collins. Einmal hielt ich mir sogar aus Reflex die Augen zu, weil ich ihn schon fallen sah …

Die meisten Einwohner von Rosefield waren dem Aufruf an diesem lauen Frühlingsabend gefolgt und unser einziger Pub platzte aus allen Nähten. Mr Moore würde ein nettes Plus in seiner Kasse verzeichnen können. Im Pub fanden Treffen und Veranstaltungen aller Art statt, sei es die monatliche Gemeinderatssitzung oder der wöchentliche Skat-Stammtisch. Auch Weihnachtsfeiern wurden jedes Jahr in Rosefields Wohnzimmer, wie einige Stammgäste die Lokalität von Mr Moore getauft hatten, abgehalten. Es gab auch schlichtweg keine andere Möglichkeit für Zusammenkünfte in unserem Dörfchen. Wir hatten weder Saal noch Gemeindehaus. Wenn man zu Fuß nach Hause kommen wollte, musste man für eine Feier, oder ein einfaches Treffen, entweder sein Haus zur Verfügung stellen oder mit dem Pub vorliebnehmen. Die dritte Möglichkeit, die es eigentlich gar nicht wirklich gab, bestand dann nur noch darin, einen nächtlichen Spaziergang von Candleham aus in Kauf zu nehmen. Das wollte niemand. Dafür war das Konkurrenzdenken der beiden Dörfer zu fest in den Köpfen verankert. Also schied die Möglichkeit aus, so wie vieles ausschied, was Candleham im zweiten Satz beinhaltete.

Trotz diverser Verbrechen, von denen Rosefield in den letzten Jahren heimgesucht worden war, führte man hier außerhalb von Diebstahl, Mord und Totschlag ein eher unspektakuläres Leben, weshalb Abwechslungen immer willkommen waren. Vor allem nach der dunklen Winterzeit, in der die Straßen leer gefegt waren, weil die meisten das Haus nur dann verließen, wenn es unbedingt sein musste. Jetzt war Frühling, die ersten Sonnenstrahlen lockten die Menschen nach draußen und alle waren plötzlich sehr geschäftig, arbeiteten in Vorgärten, gingen für jedes Teil separat einkaufen, für jeden Brief zur Post und einmal mehr zum Haareschneiden. Jede und jeder schien einen Energieüberschuss zu haben, und nach Ereignissen und Gesellschaft zu lechzen. Auf dem Weg hierher hatte es überall nach frisch gemähtem Gras gerochen und auf Höhe der Apotheke nach Farbe, weil Mr Walker sein Schild am Vormittag neu gestrichen hatte. Er war ein Mann, der Wert auf Traditionen legte. Das Schild hatte bereits sein Großvater angebracht und trotz der Leuchtreklame hielt Mr Walker daran fest und unterzog es in jedem Frühjahr einer Rundumerneuerung.

Seit Tagen war auf den Straßen kein anderes Gesprächsthema zu hören gewesen, als die heutige Versammlung. Überall hatten kleine Grüppchen gestanden und spekuliert, vor und im Gemischtwarenladen, im Salon von Mrs Gibson, vor der Bücherei, vor dem Schulhof, im Blumenladen und am letzten Sonntag nach dem Gottesdienst auf dem Kirchvorplatz. Denn was uns in dem Zusammenhang erwarten würde, wusste niemand so genau, und das war spannend! Nicht einmal Margret konnte sich einen Reim darauf machen. Alle fragten sich, was das für eine interessante Neuigkeit sein mochte, von der auf diversen Handzetteln, die wir in den letzten Tagen aus unseren Briefkästen gefischt hatten, so geheimnisvoll die Rede gewesen war. Umso erstaunlicher empfand ich es, dass sich der Großteil der Pub-Gäste nun seinen eigenen lallenden Weisheiten hingab, statt endlich die Wahrheit von unserem Pfarrer zu erfahren. Was Ale doch so alles anrichten konnte. Es wurde spekuliert, gescherzt, gefachsimpelt, gefrotzelt und behauptet, was das Zeug hielt, sodass Mr Stonecastle, obwohl er sich inzwischen von seinem Platz erhoben hatte, im allgemeinen Stimmengewirr unterging.

Seine Frau Olivia, die Margret, meinem Freund Jonathan und mir gegenübersaß, rollte mit den Augen und zog mit spitzen Fingern an seinem Ärmel, als ob sie eine Spinne beseitigen müsse.

»Du musst energischer sprechen, Godric!«, keifte sie nach oben. »Und warte, bis Mr Moore und Gladys mit der Bestellung durch sind! Das wird doch sonst nichts! Merkst du das denn nicht? Dir hört auch so schon niemand zu.« Ihr Blick verteilte einen Strafzettel nach dem anderen an ihren Mann, dessen Schultern schräg abfielen und seine Arme gummiartig baumeln ließen.

»Ja, meine Liebe, selbstverständlich. Du hast natürlich recht. Ah, Mr Moore«, er schafft es nun tatsächlich, einen Finger zu heben, »für mich bitte auch ein Ale! Und dazu noch ein kleines Glas Ihres fabelhaften Kräuterlikörs.«

»Nein, ein Wasser für meinen Mann«, korrigierte Olivia, reckte sich und bog den Arm unseres Pfarrers zurück nach unten.

»Armer Kerl«, hustete Jason Moore in seine Armbeuge und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Mr Stonecastle sah noch betretener drein als zuvor und erinnerte jetzt an einen Dackel. Wieso ließ er so mit sich umspringen? Am liebsten hätte ich ihn bei den Schultern gefasst und einmal kräftig durchgeschüttelt. Und Olivia würde ich eines Tages ein Pflaster über ihren verkniffenen Mund kleben. Definitiv! Was sie von sich gab, konnte sich auf Dauer kein Mensch anhören. Es schien eine Art zwanghaftes Verhalten von ihr zu sein, an ihrem Mann herumzukritisieren. Nie machte er in ihren Augen etwas richtig. Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit zu ihm ins Resilienz-Training gehen, er schien es zu beherrschen. Wie sonst war es möglich, dass er Olivia seit Jahrzehnten ertrug? Und zwar ohne durchzudrehen! Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob sie ihn jemals geliebt hatte. Was waren ihre Beweggründe gewesen, sich auf diese Ehe einzulassen? Wahrscheinlich hatte sie nur daran gedacht, dass sie als Pfarrersgattin einen ganz netten Stand haben würde, gesellschaftliches Ansehen und eine finanzielle Sicherheit, sodass sie nicht würde arbeiten müssen. Das hatte sie dann auch nie getan. Für ihren Mann als Mensch, schien sie nach all den Jahren jedoch nichts als Verachtung übrigzuhaben. Es war ein trauriges Schauspiel, das sich uns jeden Sonntag nach dem Gottesdienst bot, wenn sie seine Predigt durch den Kakao zog, während er seine Schäfchen an der Pforte verabschiedete. Meistens lobte ich ihn dann erst recht in den höchsten Tönen! Ich hatte schon immer ein Herz für diejenigen gehabt, die von anderen niedergemacht wurden.

Mr Moore balancierte ein mit Gläsern beladenes Tablett, als er zurück an unseren Tisch kam, während Gladys hinter dem Tresen ein weiteres belud. Es beeindruckte mich immer wieder, wie sicher Jason seine Last durch die Menge bugsierte, manchmal sogar mit ausgestrecktem Arm hoch über seinem Kopf. Es roch nach Bier, Wein und Frittierfett. Das Rauchen war hier schon lange nicht mehr erlaubt, aber auch dieser Dunst hing noch immer im uralten Mobiliar und mischte sich mit den übrigen Nuancen. Ein typischer Pub-Geruch! Auf den Tischen standen Schalen mit Erdnüssen neben klebrigen Rändern, die Gläser beim Abstellen hinterlassen hatten. Ein paar Nachbarn, die schon früh dagewesen waren und ebenfalls anständig sein wollten – allerdings in Bezug auf feste Nahrung, hatten benutzte Teller vor sich stehen, auf denen die hinterlassenen Spuren des Essens antrockneten. Jason Moore und Gladys hatten es anscheinend noch nicht geschafft, sie abzuräumen. Sie waren zu zweit definitiv unterbesetzt. Dennoch war Jason überaus glücklich darüber gewesen, überhaupt eine Hilfe gefunden zu haben, die länger als einen Monat blieb. Heute war Fish and Chips-Tag im Pub, der sich auch ohne eine Versammlung äußerster Beliebtheit erfreute. Ich selbst hatte alle Tagesgerichte bereits getestet – man musste ja schließlich informiert sein. Fish and Chips standen ganz hoch oben auf meiner Beliebtheitsliste. Zudem war ich der Meinung, dass man sich gegenseitig unterstützen musste, also half ich Jason und Gladys, indem ich für Umsatz sorgte und Werbung für ihre Tagesgerichte machte. Wenn ich eines konnte, dann Essen bewerten!

Graham Mitchell, unser Dorftischler und Lebensgefährte von Gladys, schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück und erhob sich, ein Glas Ale in seiner rechten Hand. Mit einem breiten Ring aus Edelstahl, den er an seinem linken Ringfinger trug, trommelte er gegen das Glas wie zum Auftakt einer Rede.

»Hey Leute, seid doch mal leise. Der Pfarrer will was sagen! Merkt das denn hier keiner, verdammt noch mal?«, tönte er in einem tiefen Bass. »Was ist das für ein Benehmen? Also ehrlich!« Das Gemurmel verstummte abrupt. Graham stellte etwas dar, das stand fest. Er war ein Hüne, groß, breitschultrig, gut aussehend. Sein leicht lockiges Haar, schien sich von nichts und niemandem bändigen zu lassen, ebenso wie er selbst. Unter seinem enganliegenden Shirt hoben sich seine Muskeln ab. Und wenn er den Arm hob, bewegten sich die Stränge an seinem nackten Unterarm. Graham Mitchell hatte etwas Verwegenes an sich. Er zeigte Stärke, wie eine Eiche, die jedem Sturm trotzt. So sahen Filmhelden aus, bei denen man mit der Nase am Bildschirm klebt! In jungen Jahren hätte ich ganz sicher auf ihn gestanden. Ebenso wie heute Gladys. Ich bemerkte den Besitzerstolz in ihren Augen, während sie Wasser einschenkte. Sie trug denselben Ring wie er. Hatte ich etwas verpasst? War es nur ein Freundschaftsring oder gar ein Verlobungsring? »Wenn ihr mit eueren wilden Spekulationen aufhört, erfahren wir vielleicht auch, warum wir hier sind.« Er nickte Mr Stonecastle zu. »Fangen Sie ruhig an, Herr Pfarrer! Wir sind jetzt alle ganz Ohr!«

»Oh, vielen Dank, Mr Mitchell, das ist wirklich sehr aufmerksam. Überaus freundlich, ich stehe in Ihrer Schuld.« Mr Stonecastle stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Ich musste schmunzeln. Der gute Herr Pfarrer. Immer höflich in seinen Formulierungen. Er wusste, was sich gehörte. Gegen ein Stimmengewirr anzuschreien, lag ihm einfach nicht. Er wurde niemals laut. Aber dass er nervös war, merkte man neben seiner leicht zittrigen Atmung auch an dem schmatzenden Geräusch, das seine Schuhe verursachten, als er begann, ohne Unterbrechung von einem Fuß auf den anderen zu treten, wobei er jedes Mal für den Bruchteil einer Sekunde am Boden kleben blieb. Offenbar war an dieser Stelle zuvor etwas verschüttet worden, Mr Moores Kräuterlikör vielleicht, den der Pfarrer hatte bestellen wollen. »Liebe Freunde, wie schön, dass so viele von Ihnen gekommen sind. Das zeigt wieder einmal den starken Zusammenhalt in unserer kleinen Gemeinde. Andere können sich eine Scheibe davon abschneiden. Ich bin stolz auf das Miteinander in Rosefield, auf die Hilfsbereitschaft, wenn jemand in Nöten ist, auf jedes freundliche Wort und …«

»Komm zur Sache, Godric«, spie Olivia aus, »wir sind hier nicht in der Kirche!«

Er räusperte sich.

»Wir haben uns heute hier versammelt, weil …«

»Es heiratet auch niemand!« Aus Olivias Augen sprühten Funken. »Reiß dich zusammen! Die Leute wollen wissen, warum du sie herzitiert hast! Was ihr gutes Recht ist!«

»…, weil ich eine ganz besondere Mitteilung zu verkünden habe. Etwas, dass es in Rosefield noch nie gegeben hat. Ein kulturelles Ereignis sondergleichen. Sie werden staunen.« Er rieb die Handflächen aneinander. »Es erfüllt mich mit großem Stolz, mit Dankbarkeit und Freude. Wir werden unseren Horizont erweitern und …«