Das rote Tuch - Hans Kämmerer - E-Book

Das rote Tuch E-Book

Hans Kämmerer

4,9

Beschreibung

Ein Kassierer verschwindet, ein russischer Mode-Investor wird ermordet. Kommissar Sven Tennat ermittelt in den Kreisen des Designers Francis Morgan, dem Star am Himmel der Berlin Fashion Week. Nur haben die beiden Fälle überhaupt etwas miteinander zu tun? Und ist der kauzige Designer, der kaum sein Atelier verlässt und Informationen verschweigt, in die Sache verwickelt oder ein Opfer der Ereignisse? Immer neue Verdächtige tauchen auf, darunter auch Tennats kleine Schwester Patricia. Bald wird der Kommissar sogar selbst beschuldigt, darin verstrickt zu sein. Wegen seiner eigenen Familiengeschichte – und weil er zu lange gewartet hat, vielleicht ein Leben lang. Nach und nach beginnt Tennat zu verstehen, dass er der Gegenwart nur Herr werden kann, wenn er die Vergangenheit verstehen lernt. Hans Kämmerers ausgeklügeltes Krimidebüt changiert meisterhaft zwischen der einstigen und heutigen Modestadt Berlin und treibt ein kunstvolles Spiel mit dem Schein und Sein. Dabei bannt der Autor einstige Milieus und jetzige Kieze aufs Trefflichste in Worte und Bilder. Vor allem aber gelingt ihm ein atmosphärisch packender Krimi, in dem alle ein Geheimnis haben und jeder der Mörder sein könnte.

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Hans Kämmerer

Das rote Tuch

Ein Berlin-Krimi

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-728-0

1. Auflage

© 2016 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © Photocase / madochab und iStock / Michel Ulman

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Es ist weder das eine noch das andere, es ist stets ein schwebender Zustand, der die Menschen am Leben erhält – ganz wie bei der Mode.

Teil I: Herbst / Winter

Kapitel 1

»Es liegen Leichenteile auf der Straße.«

Genau das hatte Konrad verstanden, bevor ihm klarwurde, dass die angenehm warme Stimme, die dies kurz nach neunzehn Uhr einen Hauch zu routiniert verkündete, bestimmt Reifen­teile gemeint haben musste. Es ergab im Kontext des RIAS-­Verkehrsfunks einfach mehr Sinn, und sofort erschienen vor Konrads innerem Auge abgefallene Radkappen, zerbeulte Stahlfelgen und aufgeplatzte Reifen, die quer über den Asphalt der Westberliner AVUS kullerten.

Doch der Verhörer ließ ihn, der er im Ostteil derselben Stadt war, nicht mehr so schnell los. Schließlich saß er ebenfalls in einem Auto. Kurz nach Sonnenuntergang. Umgeben von dunklen Abgasschwaden, die die Sicht durch die von innen beschlagenen Scheiben zusätzlich erschwerten. Auch der feine Nieselregen verlängerte bestimmt den Bremsweg auf einer für sonntags recht vollen Schönhauser Allee, deren immer weiter verfallende Altbauten wohl am offensichtlichsten den Zustand der Infrastruktur des ganzen Landes widerspiegelten.

Da Konrad nicht selbst Auto fahren konnte, hatte er keinen Einfluss auf potentielle Gefahren, und so sah er nach links zu seiner Frau, die wie immer am Steuer saß und äußerst souverän jedes Schlagloch umfuhr und ihn sofort auf einen anderen Aspekt des Wortes »Leichenteile« brachte. Hätte Vanessa ebenfalls das Wort »Leichenteile« im Radio vernommen, hätte sie sich bestimmt gefragt, ob und wie diese Leichenteile noch angezogen seien. Vanessas Gedanken betrafen immer zuerst das Optische, also primär Farbe, Form und Beschaffenheit einer Hülle. Ihr wäre es folglich niemals um das blanke, tote Fleisch oder blutige Innereien gegangen, sondern allein um jene von Menschen geschaffene zweite Haut und ob diese zum Beispiel aus einem Satin-, Tweed- oder Jersey-Stoff mit Nadelstreifen-, Hahnentritt- oder Glencheck-Muster gefertigt war. Dafür lebte Vanessa. Und dafür liebte Konrad sie. Ja, das tat er noch immer und ganz besonders an diesem Tag in seiner alten grauen Cordhose.

Sein Blick wanderte ein paarmal zwischen Vanessas aufwendig besticktem Rock, einem Unikat, und seinem eigenen einfallslosen Beinkleid hin und her, bis er beim Dederon-Einkaufsbeutel hängenblieb, der zwischen seinen Schuhen im Fußraum lag. Wenn ihr Wartburg unter einer Straßenlaterne herfuhr, schien es, als würde der Beutel das kalte Quecksilberlicht magisch anziehen und in ein warmes Leuchten umwandeln, so beschaffen war diese preiswerte Polyamidfaser, die im Westen Perlon genannt wurde, jedoch chemisch dieselbe Formel wie Dederon besaß. Dieser sehr billige thermoplastische Kunststoff war auch in Bezug auf den ­lila-pinkfarbenen Blumenmotiv-Druck nicht ganz das, womit ­Vanessa sonst arbeitete. Trotzdem verbarg gerade dieser massenweise produzierte Beutel ein wirklich einzigartiges Geheimnis, das ausgerechnet Vanessas ganzes Leben und Schaffen verändern könnte.

Wenn Konrad Morgenstern recht behielt und kein Spinner war. Dann würde er in diesem Herbst einen Frühling erleben, der ihm ermöglichte, sogar in dem von ihm als stets bedrückend em­pfundenen Winter über sich selbst hinauszuwachsen. Erst ein Mal hatte er diese Kraft erlebt. Und seit diesem Sonntag sah es danach aus, dass es wieder passieren könnte.

Nicht dass Konrads Leben mit Vanessa in den letzten dreißig Jahren unglücklich verlaufen wäre, im Gegenteil, was hätte er bloß ohne sie gemacht … Aber es gab nun mal selten ganz besondere Momente, die das eigene Leben durch dramatische Veränderungen entscheidend voranbrachten. Und diesmal wollte er die treibende Kraft sein. Denn beim ersten und bisher einzigen Mal, als Konrad einen Frühling im Herbst und auch im Winter erlebt hatte, war alles von Vanessa ausgegangen.

Es geschah an einem Montagmorgen um acht und genau dort, wo sie jetzt auf der Schönhauser Allee hinfuhren. Ohne Fernsehturm und manch anderem Betonguss sah der Alexanderplatz im Jahr ’59 noch leerer und flacher aus, als Vanessa schwerbepackt in der Karl-Liebkn Die Auswirkung der echt-Straße an der Bushaltestelle auftauchte.

Beide Arme waren voll mit diversen bunten Stoffballen, einer großen Zeichenmappe und sogar einem Regenschirm, obwohl seit Tagen die Sonne schien und sich kaum ein Wölkchen am Himmel blicken ließ. Doch vor allem starrte fast jeder der Wartenden Vanessa an, da sie einen feuerrot gefärbten Bubikopf trug, wie es sich damals sonst keiner traute. Ebenso wenig wie solch ultra­marinblaues Wollmäntelchen, jenen giftgrünen Filzrock oder die hohen schwarzen Reiterstiefel.

Konrad war derart fasziniert von dem Anblick dieser aller Tristesse trotzenden Erscheinung, dass er beschloss, am nächsten Tag wieder zur selben Uhrzeit an der Bushaltestelle zu stehen, obwohl er sonst erst später in der Uni sein musste. Und er tat es am darauffolgenden Mittwoch, Donnerstag und Freitag für einige Wochen lang in seinem grauen Einheitsanzug und einem tief ins Gesicht gezogenen Hut. Er versteckte sich in der wartenden Masse und beobachtete Vanessa auch im Bus ganz genau, jedoch stets mit gewissem Abstand, bis sie beide vier Stationen später Unter den Linden nacheinander ausstiegen. Konrad war ein großer, grauer Schatten von einem kleinen, bunten Kunstwerk, das dann quer gegenüber in der Staatsoper verschwand.

Bis Vanessa eines Morgens nicht um acht am Alexanderplatz auftauchte und Konrad sofort in Erwägung zog, dass sie nach einem zeitlich begrenzten Praktikum für immer aus seinem Leben verschwunden wäre. Es war aus, bevor es anfing. Es war aus, bevor er den Mund aufmachte. Konrad bereute zutiefst, ein der­artiger Feigling zu sein, und ließ einen weiteren Bus vorbeifahren, obwohl es stark regnete. Das tat es an diesem Tag zum ersten Mal seit Wochen. Es goss wie aus Eimern, doch er bekam das nur am Rande mit, da er in die vor ihm befindliche Pfütze starrte und all das aufzählte, was er an Eigenschaften nicht besaß oder nicht in seiner Umgebung zu entdecken meinte. Ihm fiel all das ein, was anders und bunter sein müsste. Nur hatte er jemals eine Wahl gehabt? Schließlich studierte er Mathematik und war Kopfmensch. Er saß meist in einem selbstgewählten Kämmerlein, und bevor er etwas entschied oder anging, rechnete er es gründlich durch. Wie nun gerade. Im Regen. Obwohl es sinnlos war. Die Wahrscheinlichkeit, dass er jemals mit solch einem Mädchen zusammenkam, tendierte gen Null. Nichts besaß er, was solch eine Lichtgestalt hätte interessieren können. Unendlich viel Nichts.

Ausgerechnet in diesem Moment, wo er seine pessimistische Rechnung gemacht und sich entschieden hatte, den nächsten Bus zu nehmen, wurde ihm plötzlich ein Regenschirm über den Kopf gehalten, den er aus den Wochen zuvor nur zugeklappt kannte. Vanessa stand auf Zehenspitzen hinter ihm, kippte leicht nach vorn, stützte sich mit einer Hand an seinem Arm ab und fragte, wie spät es sei, obwohl geradeaus, in bester Sicht, die Turmuhr des Roten Rathauses mit ihrem fünf Meter großen Ziffernblatt genau halb neun Uhr anzeigte.

»Danke«, sagte Konrad gedankenversunken, als ihr Wartburg auf der Schönhauser Allee an der Kreuzung zur Gleimstraße hielt, direkt neben dem Colosseum-Kino.

»Was?«, fragte Vanessa und drehte sich kurz zu ihm.

»Nichts«, sagte Konrad schnell. »War nur in Gedanken.«

»Du hast danke gesagt«, hakte Vanessa nach und stellte das Radio aus.

»Ach …«

»Ja, selber schuld«, fand Vanessa und legte ihre Hand auf seine graue Cordhose, knapp über den Knieansatz. »Danke ist gut. Nur wofür?«

»Für alles«, antwortete er und nahm ihre zarte Hand, um sie zu küssen.

Dann lief er rot an. Wie so oft. Immer noch. Selbst bei ihr. Oder vielleicht auch nur bei ihr. Immer noch.

Die Ampel sprang auf Grün. Zum Glück. Vanessa fuhr los, und Konrad drehte sein Gesicht zum Fußgängerweg nach rechts. Wie beim Wort »Leichenteile«verhielt es sich nun mit dem Wort »danke«. Ihm fiel vieles ein, wofür er wirklich dankbar sein konnte. Musste. Seit dreißig Jahren. Nie waren Vanessa und er räumlich getrennt. Nie gab es einen schlimmen Streit zwischen ihnen. Trotz der Unterschiede. Für ihn ging der Winter oftmals nur über in den nächsten Winter, für Vanessa schien stets Sommer. Aber sie zwei glichen dadurch eher den beiden unzertrennlichen Seiten einer Eine-Mark-Münze. Er war die Zahl, simpler Informationsgehalt, und Vanessa mit Hammer und Sichel die Bildseite.

Es gab seit jenem Herbst ’59, seinem ersten Frühling, kein besseres Bild dafür. Für sie beide und das System, in dem sie lebten. Denn wenn Konrad sich das, was sie jeden Tag umgab, genauer betrachtete, so konnte er allein schon durch Vanessas Kunst feststellen, dass das System ebenfalls von Widersprüchen lebte, es schien nicht anders zu gehen. Gewisse Teile der Gesellschaft gaben Unmengen an Geld für das aus, was sie eigentlich hätten bekämpfen sollen. Den reinen Schein. Für das, was vor allem dem Sinn unterlag, sich von anderen ganz offensichtlich zu unterscheiden. Dabei sollte es keine Klassen geben. Und ausgerechnet die höchsten Funktionäre, denen diese elementare Sache doch bereits in Fleisch und Blut übergegangen sein sollte, zelebrierten es. Sie kamen aus allen Ländern des Warschauer Paktes, gaben jeden Monat in Vanessas Atelier unter der Hand Tausende von Mark dafür aus. Und da sie Prêt-à-porter oder Haute Couture selten legal erwerben und schon gar nicht offiziell vor ihrem Volk tragen konnten, ließen sie es eben detailgetreu allein für sich privat und unter ihresgleichen nachfertigen. Vanessas Kunst hätte man früher als Hofschneiderei bezeichnet, obwohl sie natürlich noch mehr konnte. Wiederum er, der blasse Konrad, der weder als besonders modebewusst noch als guter Verkäufer in eigener Sache galt und sich seit seinem Studium ohne große Ambitionen als einfacher Angestellter allein für das Innenleben von Rechenmaschinen interessierte, hatte nun tatsächlich die dafür notwendigen Gesetz­mäßigkeiten entdeckt.

Wenn er sich nicht irrte. Wenn Konrad Morgenstern nicht wieder ein Muster in seiner Umwelt entdeckte, das es laut der anderen nicht gab. Ja, dann lag es wohl daran, dass er als Außenstehender dem Zirkus den ganzen Zauber nahm.

Mit zunehmendem Alter behielt er aber seine Ideen für sich, bis er sie hundertprozentig überprüft hatte. Und so war es auch in den letzten Wochen gewesen und besonders an diesem Tag, an dem ihn aufgrund seiner Erkenntnisse so viele Emotionen durchströmten. Selbst am Nachmittag, als sie Vanessas beste Freundin besucht hatten, war dies so gewesen. Eine Schneiderin, ein ­Mathematiker, die Chefredakteurin der Modezeitung Sibylle und ein Redakteur des Neuen Deutschland tranken in einer Pankower Villa Kaffee und Sekt, aßen Kuchen und Pralinen, spielten Karten und plauderten von alten, aktuellen und kommenden Zeiten. Zwar wäre Konrads Entdeckung für die Sibylle oder auch das Neue Deutschland geradezu eine perfekte Geschichte gewesen, doch er trug wie immer kaum etwas zur Konversation bei und hielt sich sogar noch mehr zurück als sonst. Er schaute sich die meiste Zeit einfach die Gesichter der anderen an, jedes Detail, als würde er zum ersten Mal jemand anders richtig ansehen können. Er hatte Menschen – also alle außer Vanessa – womöglich noch nie derart betrachtet. Sogar ihre Hände, wie sie etwas hielten, sich etwas in den Mund steckten oder beim Reden in der Luft herumwirbelten. Da spürte Konrad einen gewissen Frieden in sich. Es störte ihn somit auch nur marginal, als der erwachsene Sohn der Gastgeber, ein eitler Charité-Arzt, vorbeikam und Vanessas Freundin – die Gastgeberin, Mutter und nun auch Großmutter – ihren fetten Enkel ausgerechnet Vanessa auf den Schoß setzte. Nein, Konrad fühlte selbst in diesem Moment keinen Schmerz, obwohl Vanessa­ und er ihre eigene Tochter Coco im Jahre ’61 verloren hatten.

Er dachte allein an das Ziel. An seinen zweiten Frühling im Herbst und im Winter. Und was alles dadurch passieren könnte. Nicht nur in ihrem Staat, dem System, lag etwas in der Luft. Konrad spürte, dass der Kreis des Lebens sich bald auch in einem persönlichen Sinne schließen würde.

»Danke«, entfuhr es ihm wieder, als sie hinter der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz über eine Seitenstraße in die Karl-Liebknecht-Straße einbogen.

Doch Vanessa vernahm diesmal sein Danke nicht, obwohl er es wesentlich lauter und ganz bewusst ausgesprochen hatte. Es lag aber weder am in Sichtweite befindlichen Erinnerungsort ihres Kennenlernens noch am sich besonders imposant vom Abendhimmel absetzenden Fernsehturm am Alex, sondern allein an den vielen Menschen auf dem Fußgängerweg. Vanessa schüttelte den Kopf. Konrad ebenfalls.

Vor dem Verlagssitz der Berliner Zeitung hielten einige kirchliche Vollbarträger selbstgemalte Plakate hoch, wie es in Leipzig schon seit September zu den Montagsdemos der Fall war. Da ­Vanessa und er sich stets aus solchen Dingen heraushielten, sah seine Frau vermutlich wieder vor allem eine blau-schwarze Hülle, die aus Stonewashed-Jeans und Synthetik-Lederjacken mit Schulterpolstern bestand.

Da konnte Konrad sich nicht mehr zurückhalten und es platzte aus ihm heraus: »Im nächsten Jahr kommen die konträren Grundsilhouetten weit und wadenlang sowie hauteng und minikurz. Das heißt lange Pullover, Tuniken, weite Overshirts, strenge Blazer, Stretchanzüge, Lycra-Kleider, Jersey-Radlerhosen und strumpfhosenartige Leggins aus rotem Pannesamt oder schwarzem Strickstoff.«

Und siehe da, mitten auf der Kreuzung bekam er Vanessas volle Aufmerksamkeit. Sie drehte ihren Kopf nach rechts und schaute ihn mit großen Augen an.

Doch wollte er das?

Sie standen äußerst ungünstig in der Abbiegerspur zur Alexanderstraße. Bis Autos hupten. Und Menschen schrien. Denn ein anderes Auto raste plötzlich in ihre Richtung, bremste, kam ins Schlittern, rammte einen Bus, der dann … Das Letzte, was Konrad in diesem Moment dachte, war das, was er einige Minuten zuvor im Radio falsch verstanden hatte: »Leichenteile«.

Kapitel 2

Mensch, Sven, jetzt liegst du endlich im Bett und kriegst kein Auge zu. Sag mir: Warum? Du bist doch bereits seit über vierzig Stunden wach und hast ab morgen mehr als eine Woche frei, da du Überstunden abbauen sollst. Trotzdem schläfst du nicht ein. Es ist total absurd, denn wie oft wünschst du dir genau das? Daliegen, nichts tun, dösen. Jedenfalls hast du es gestern noch getan, als die Nacht zum Tag wurde. Ihr musstet schnell handeln. Na klar, die ersten Stunden sind immer entscheidend. Manche sprechen von zwölf, andere von achtundvierzig Stunden, in denen man eine heiße Spur haben muss. Ihr habt es in vierundzwanzig geschafft. Ihr kamt zum Tatort, die Spurensicherung ergab bis auf die vermeintliche Todesursache noch nicht viel, dann habt ihr die Wohnung durchsucht, im Papiermüll mittels zerrissenen Briefen einen Hinweis gefunden, nach einer kleinen Odyssee die betreffende Person nachts am Rosenthaler Platz abgefangen und zum LKA geschleppt. Es folgte ein zähes Ringen, das bis zum Vormittag dauerte, doch dann brach der Verdächtige schließlich heulend zusammen und gestand alles. Der Fall ist damit wie bald auch der ganze Schreibkram abgeschlossen und kann als klassische Beziehungstat aus deinem Kopf in den Aktenschrank für das laufende Jahr verschwinden. Also wieso kannst du jetzt nicht schlafen? Mensch, Tennat, sag, warum!

Genau das fragte sich Kommissar Sven Tennat. Er konnte sich sonst zu allen möglichen Tageszeiten auf der Couch seines Chefs, auf dem blanken Boden seines Büros oder der Rückbank seines grünen Fords zusammenkauern und von einer Sekunde auf die andere einfach wegratzen. Doch nun …

Vielleicht lag es an dem Lied »Das Model« von Kraftwerk. Es erschien erstmals 1978 auf dem Album »Die Mensch-Maschine«, wurde aber in Deutschland erst 1982 ein Nummer-eins-Hit. Sven Tennat mochte das Lied und hatte schon als Kind die Entwicklung der Düsseldorfer Band verfolgt, da sein Vater bereits in den Siebzigern gemeint hatte, bald klänge Musik nur noch so, dies sei die Zukunft. Sein Vater hatte sich also alles von denen gekauft, obwohl er sonst dem Jazz zugeneigt gewesen war. »Das Model« war in Sven Tennats eigene Plattensammlung übergegangen, doch nicht Kraftwerk waren an diesem Abend der Grund, warum das Lied in seinem Kopf herumschwirrte. Es lag vielmehr an der Ostberliner Band Rammstein und ihrer Coverversion von »Das Model« aus den Neunzigerjahren, welche an diesem tristen Januartag anlässlich eines Berichts über die in der Woche zuvor veranstalteten Fashion Week im Radio gespielt worden war. Tennat hatte sie nach Dienstschluss in seinem Auto gehört und war ein wenig enttäuscht gewesen, da ihm die unbekannte Version des weltberühmten Liedes keine nennenswerte neue Facette offenbart hatte. Das hinderte seinen Kopf jedoch nun zu Hause im Bett nicht daran, Rammsteins hämmernde Rhythmus-Gitarren und die dazu allzu stark kontrastierenden, fast lieblichen Keyboardsounds als Loop immer wieder in sein Bewusstsein zu spülen.

Ohrwürmer kannte Sven Tennat eigentlich gut, da er immer viel Musik hörte, selbst zum Einschlafen. Und »Das Model« konnte auch nicht den Wust an all den anderen Bewusstseinsinhalten erklären, die ebenfalls sein Gehirn durchfluteten. Da gab es zum Beispiel den Atem, den er beobachtete. Sein Atem glitt meist gleichmäßig über seine Brust. Nur einmal gab es leichte Irri­tationen wegen eines Gedankens an seinen Kollegen Udo Melzig, der in der Nacht zuvor wieder eine Stichelei zu Tennats Kleidung fallengelassen hatte, in diesem Fall hatte es seine neuen Schuhe getroffen: »Ökolatschen«. Ein fast antiquiertes Wort, wie Tennat befand, und doch ärgerte es ihn. Denn es waren echte Trippen, die er in der Woche zuvor im Outlet-Store in der Köpenicker Straße erworben hatte. Trippen waren handgemacht, sehr bequem, besaßen oftmals außen am Rand eine schöne Naht, hielten jahrelang und galten zum Beispiel in Japan als eine sehr begehrte Marke, auch wenn dieser Aspekt Tennat am wenigsten interessierte. Vielmehr mochte er den Gedanken, dass Trippen in einer eigenen Manufaktur in Zehdenick produzierte wurden, also hierzulande, wo es bereits zu DDR-Zeiten eine Schuhproduktion gab. Für Melzig, der neuerdings am liebsten online kaufte, waren Trippen aber nur Ökolatschen, und es ging auch nicht um die Schuhe an sich, sondern um Tennat als Person, oder um alle anderen Menschen, die so etwas trugen oder einfach anders als Melzig aussahen, dachten, waren, lebten. Und beim erneuten Gedanken an diese Situation ärgerte sich Tennat wieder, da er Melzig nicht darauf angesprochen hatte, dass sie als Polizisten Objektivität nicht nur nach außen zu verkörpern hätten, sondern auch verinnerlicht haben sollten. Im Idealfall. Jedenfalls ging es nicht ums Äußerliche, denn das führte bei ihrer Arbeit oftmals zu Trugschlüssen, Trugspuren und überhaupt … Es war wieder einer jener Momente gewesen, wo Tennat daran gedacht hatte, dass Melzig aus Königs Wusterhausen kam, dessen Abkürzung KW sich im Volksmund so gut durchgesetzt hatte, da KW eben auch für Kurzwelle stand und damit auch an die dereinst dort stehende große Rundfunk-Sendeanlage erinnerte. Nur zwischen Melzig und Tennat gab es immer wieder eine Sendestörung. Dabei kamen sie beide aus dem Osten, also Melzig östlich von Ostberlin und Tennat aus dem Osten von Westberlin, ergo Neukölln.

Da dies aber eigentlich nichts Neues war, versuchte Sven Tennat bald seinen Atem zu beruhigen. Er zog die Luft tief in den Bauch hinein und spürte sogar den Beckenboden. Er gab sich parallel dazu der Suggestion hin, dass sein Herz ruhiger schlagen sowie Arme und Beine ganz warm und schwer sein würden. All das eben, was man unter Autogenem Training zusammenfasst und er vor kurzem in einem auf der Straße gefundenen Ratgeber gelesen hatte. Das klappte auch, nur nicht mit dem Ziel, für Ruhe in seinem Kopf zu sorgen und endlich einzuschlafen. Es ergaben sich dafür neue Assoziationen. Bei Atem dachte Tennat bald an Luftzirkulationen, die es in der Natur gab. Brisen, Winde, Orkane. Bis er wieder zum Menschen, seinen Kollegen und dann jenem Begriff des Lebenshauchs kam. Sein Kollege Patrick Berner hatte gestern beim Anblick der Leiche die Formulierung gewählt, dass das Leben ausgehaucht sei. Ihr Chef Michael Wandt hatte ergänzt, dass der Atem generell eben nur ein Leben lang halten würde. Da hatte Udo Melzig gelacht, da er es zur vermeintlichen Todesart des Erwürgens passend fände. Aber es war weder ironisch noch sarkastisch gemeint gewesen, weder von Berner noch von Wandt, sondern melancholisch, das hatte Tennat ganz genau gewusst, aber für sich behalten. Und so kam er nun in seinem Bett und beim Wort Atem gleich noch auf Knoblauch, dessen Ausdünstungen manchmal unangenehm für andere aus dem Mund strömten, wenn sie noch lebten. Tennat hatte nämlich zwei Stunden zuvor, als er endlich zu Hause am Herrfurthplatz parkte, noch einen gemischten Teller bei Salids Imbiss gegessen. Und zu Makali, Falafel und ­Humus gehörte einfach neben einer anständigen Portion Sesam- und Mangosauce auch weiße Knoblauchpaste. Einfach himmlisch dieses Trio. Aber vielleicht vertrug er eben keinen Knoblauch mehr. Allergische Reaktionen konnten sich auch erst im Laufe des Lebens entwickeln, so wie es bei seinem Kollegen Berner gerade mit Tomaten, Zitronen oder zu viel Essig zu sein schien. Da bekam Patrick Berner von der Säure kleine Pusteln im Mund, die nicht für jemand anders ersichtlich, doch für ihn selbst unangenehm spürbar waren. Salat aß Tennat aber nicht. Dafür trank er zu Hause in der Badewanne ein Glas Rotwein. An dem konnte es gewiss nicht liegen, der machte ihn doch sonst todmüde. Eigentlich. Und ausgetrunken hatte er das Glas auch nicht, da die Hälfte ins Wasser schwappte. Das war das Gegenteil von Jesus, der bei der Hochzeit zu Kana angeblich Wasser zu Wein gemacht haben sollte. Mann, was ihm gerade alles einfiel …

Das mit Jesus kam aber bestimmt wegen des Fensterkreuzes, das seinen dicken Schatten verzerrt über die Bettdecke warf. Immer wieder sah Tennat dorthin. Zum Fenster und zum Kreuz auf der Bettdecke. Wenn er nicht gerade an Kraftwerk, Rammstein und »Das Model« dachte. Oder an Atem, Knoblauch und Schuhe. Oder an seine kleine Schwester. Ja, an das nicht erwachsen werden wollende Party-Girl dachte der sechzehn Jahre ältere Bruder ebenfalls oft. Das tat er auch sonst, weswegen er diesem Umstand in den letzten vierzig Minuten zunächst nicht viel Gewicht beilegte. Doch die Regelmäßigkeit, in der seine Gedanken immer wieder zu seiner Schwester führten, empfand er inzwischen als besonders auffällig. Als würde sie jeden Gedankensprung vorbereiten oder selbst etwas sagen wollen.

Tennat hatte sie jedenfalls seit Heiligabend nicht mehr gesehen. In dieser Länge kam das selten vor und bedeutete eigentlich ein gutes Zeichen. Sie war also weder pleite noch befand sie sich in einer anderen Krise. Heiligabend, als sie wie jedes Jahr bei ihm zu Hause mit viel Sekt gefeiert hatten, hatte sie auch von ihrem neuen Job geschwärmt. Die Leute dort waren anscheinend wirklich nett und der Laden lag so dicht bei ihrer Wohnung, ihrem Kiez in Friedrichshain. Und überhaupt lief alles gerade gut bei ihr, wie sie mehrmals betont hatte, auch wenn sie Heiligabend immer wieder ihr Smartphone zur Hand genommen hatte, als hätte sie auf eine wichtige Nachricht gewartet. Seine Schwester hatte aber partout nicht verraten wollen, wer ihr schreiben wollte, und so hatte er nur vermuten können, dass es vielleicht ein netter Junge wäre, der nun seit Heiligabend verstärkt ihre Zeit beanspruchte.

Genau das hätte Sven Tennat nun gern telefonisch geklärt. Manchmal hatte er einen Instinkt. Vielleicht konnte er auch darum nicht schlafen.

Es war nicht ein zu wacher Körper, es war nicht ein zu wacher Geist. Es war etwas, und das sagte er sich, obwohl er durch seine Arbeit ein Freund von logisch beweisbaren Dingen sein musste, es war etwas anderes. Vielleicht das Bauchhirn, das im Englischen wegen seiner vielen Neuronen second brain genannt wurde. Insbesondere auch seine eigene Kundschaft tat buchstäblich vieles aus dem Bauch heraus. Oder wegen einer anderen sich im Körper befindenden Antenne. Die soll es besonders zwischen Verwandten geben, egal wie weit entfernt sie sich befanden.

Das geht aber nicht, Sven. Du willst und musst jetzt schlafen, weil Silke Bartsch mit dir morgen auf einen Flohmarkt will. Ausgerechnet Flohmarkt. Du mit deinen Ökolatschen und deiner ­alten Plattensammlung. Und das ausgerechnet mit Silke Bartsch. So ziemlich jeder zweite Kerl im LKA hatte ein Auge auf die erst im Herbst aus Leipzig gekommene Kommissaranwärterin geworfen. Besonders Udo Melzig war sofort von ihr angetan gewesen und zeigte offensiv sein Interesse, was schließlich sogar zum Erfolg führte. Melzig schwärmte regelrecht von ihr, nannte sie … Ja, ein Model, nur nicht so groß. Also bis Silke nach zwei Monaten Schluss machte. Da sprach Udo Melzig ganz anders von ihr, und so, wie du es nicht magst, wenn man über Frauen spricht, Sven. Also wenn Melzig nun erfährt, dass ausgerechnet du mit Silke zum Flohmarkt … Nein, nein, worauf hast du dich da eingelassen …

Dabei ist Silke daran schuld, wenn es so etwas in diesem Sinne überhaupt gibt, und das Wort Schuld hast du schon allzu oft aus dem Munde besonders gefährlicher Menschen gehört. Aber schließlich kam Silke im Dezember auf die Idee, beim Julklapp in ihren Beutel ein Konzertticket von Modeselektor zu stecken, übrigens ebenfalls wie Kraftwerk eine Elektroband, nur moderner und wie Rammstein aus Berlin stammend. Und durch dieses Konzert, wofür natürlich auch sie eine Karte besaß, teilst du nun jetzt eben mit Silke Bartsch ein wenig mehr als mit anderen Kollegen, auch wenn du mit ihr nichts hast. Es ist einfach zu lange her, dass da etwas mit einer Frau passiert ist. Du hast dafür eigentlich keine Zeit. Und das mit Silke Bartsch ist sowieso nur eine kollegiale Freundschaft und ergab sich letztlich ohne großartiges Zutun beim Tanzen und anschließend, als du sie ganz brav bis zu ihrem Hauseingang gebracht hast. Sonst ist da nichts passiert. Null Komma nichts. Und es wird auch nichts sein. Auch wenn sie wie ein Model aussieht, wie Udo Melzig mal befand, nur kleiner. Oder auch gut tanzen kann, was dir immer sehr wichtig ist, Sven. Aber deswegen tanzen die Gedanken nicht in deinem Kopf herum. Da gibt es ­einen anderen Grund, weshalb du nicht einschlafen kannst.

Mensch. Tennat. Sag. Warum.

Kapitel 3

Es war nicht seine Schuld. Und es hatte auch niemand anders Schuld. Nein, die Schuld lag allein an einem ganz bestimmten Wasser, weswegen Francis Morgan an einem Samstagabend im Januar noch auf die Straße musste und eine Art Inspiration fand, die sein gesamtes Leben endgültig in gewisse Bahnen führte. Zunächst ahnte er aber nichts von diesem einschneidenden Erlebnis, zunächst war jeder Schritt mühsam.

Morgan ging generell ungern einkaufen und mied es, unnötig in der Öffentlichkeit zu sein. Nicht umsonst befand sich sein von hohen Mauern umrandetes Atelier abgelegen am Ende der circa einen Kilometer langen Revaler Straße, welche zwar im Bezirk Friedrichshain und damit für Geschäftstermine citynah lag, jedoch kaum normale Nachbarn besaß. Dieser herunterge­kommene Gewerbeabschnitt hinter den S-Bahngleisen verströmte mit seinen verfallenen Fassaden und brüchigen Fußgänger­wegen noch zu sehr das Flair des alten Ostens. Hier am Ende der Straße ging kaum jemand flanieren, shoppen oder ein gemütliches Café suchen. Hier lebte und arbeitete der Designer noch ungestört für sich.

Ein paar hundert Meter weiter westlich am Anfang der Revaler, wo sie die Warschauer Straße kreuzte und er nun hinmusste, sah es schon völlig anders aus. War Friedrichshain in den Neun­zigern ein schmutziges Hausbesetzer-Viertel gewesen, das ein Quartiersmanagement benötigte, so war der Bezirk nun eine sanierte Hochburg für Vergnügungssüchtige geworden, dessen mäandernde Grenze jedes Jahr neue Straßenzüge eroberte.

Als Francis Morgan das Tor seines Ateliers hinter sich schloss, wirkte darum für ihn bereits nach wenigen Schritten durch den frisch gefallenen Schnee alles stark verschmutzt, weil er in der Ferne Menschen erblickte. Egal zu welcher Jahreszeit, egal zu welcher Stunde, sie waren inzwischen immer da, und er musste sich vor ihnen schützen.

Im Winter trug der Designer dazu kniehohe Schnür­stiefel mit Stahlkappen zu einem anthrazitfarbenen Mantel im Military-Look, einem Prototypen seiner nächsten Kollektion. Bei 1,95 Meter Körpergröße ergab das mit der tief ins Gesicht hängenden Kapuze seines rostbraunen Hoodies und den um den Hals gewickelten grauen Alpakaschal eine stark vermummte Gestalt, der Passanten normalerweise schon von weitem aus dem Weg gingen.

Recht so. Alles widerte ihn an. Bis auf dieses Wasser. Das musste jetzt sein.

Morgan hatte es erst die Woche zuvor auf seiner Show bei der Berlin Fashion Week als Produkt eines neuen Sponsors kennen- und sofort schätzen gelernt. Es begeisterte ihn, da es für seinen Gaumen perfekt war – ohne Kohlensäure, leicht mineralisch, erfrischend auf der Zunge, mild im Abgang und natürlich aus einer streng kontrollierten Bergquelle in einem Landschaftsschutzgebiet. In seiner Reinheit kontrastierte dieses Lebenselixier geradezu die von Morgan gehasste Welt der Blitzlichter, roten Teppiche, schlecht geführten Interviews und des nur mit Lederhandschuhen möglichen Schüttelns ihm völlig fremder Hände. All das Gedrängel und Getue, weswegen die meisten sein Metier als besonders begehrenswert empfanden, war ihm wahrhaft ein Gräuel.

Francis Morgan suchte anders nach Anerkennung und glaubte auf eine urtümliche Art allein an das Produkt. An das, was mit dem Zeichenstift in seinen Skizzenbüchern entstand, von ihm persönlich und nicht durch ein Schneiderteam zu Prototypen genäht wurde und schließlich nach der massenweisen Reproduktion in Läden auf Schneiderpuppen saß. Er zweifelte niemals an dem, was er in seinem Atelier künstlerisch hervorbrachte, sondern nur an den anderen damit einhergehenden Verpflichtungen da draußen. Seine Managerin Tracy Kraft nannte es den Höhepunkt jeder Saison, seine persönliche Assistentin Catrinel Stan Öffentlichkeitsarbeit, für Morgan selbst war es die reinste Hölle. Er wusste zwar um die Notwendigkeit, wollte aber niemals in dieser Weise zu ihnen gehören, weder zu den oberen Zehntausend noch zu denen hier auf der Straße, und musste sich darum auch nicht wie andere Designer mit Alkohol, Kokain oder Methamphetamin pu­shen. Er sehnte sich vielmehr nach etwas, was seinen Körper bei all diesem Kontakt nicht noch weiter vergiftete, sondern davon reinwusch.

Wenn er es so betrachtete, gab es bei seinen auserkorenen Getränken eine kontinuierliche Entwicklung. Sie wurden bei jeder Fashion Week immer purer. Während der letzten sechs Jahre trank er Bionade, Smoothies, Kombucha, japanische Algentees … Mit immer weniger Zucker und Zusatzstoffen. Nun also ein einfaches stilles Wasser.

Ein Antiklimax, dachte er, als ihm die ersten Fußgänger entgegenkamen. H2O bestand nur aus den beiden simplen chemischen Elementen Wasserstoff und Sauerstoff, die für sich genommen zwar hochexplosiv waren, jedoch in ihrer molekularen Verbindung nichts anderes als den unschuldigen Puderschnee ergaben, der unter seinen Füßen knirschte.

Je weiter Morgan die Revaler Straße Richtung Warschauer hin­auflief und je voller der Fußgängerweg mit immer weniger vor ihm ausweichenden Menschen wurde, desto besser verstand er, wie ausgesprochen gut genau dieses eine Wasser die Hitze in ihm herunterfuhr. Oder zumindest bei der Fashion Week nicht herausließ. Und das bei steigenden Anforderungen an ihn. Doch er dirigierte mit seiner Assistentin Catrinel einigermaßen ruhig das Team im Backstage, wählte zu den Kollektionsteilen die passenden Models, gab genaueste Anweisungen bezüglich ihres ­Make-ups, Stylings und Auftritts. Er befand sich also fast die ganze Zeit bei der Crew, war unter ihnen, atmete dieselbe Luft und ertrug ihre Hektik. Und selbst beim noch anstrengenderen Teil vorn vor den Kameras der Mode- und Lifestyle-Redakteure, die jede Saison das gleiche blöde Zeug fragten, hielt er sich Silbe für Silbe an Tracys ausgeklügelte Pressetexte. Er führte nichts Eigenes an, nichts, was zu komplex sein konnte, nichts, was aus seiner inneren Welt kam und Endkunden verwirrte. Er hatte also den Verhaltenskodex eingehalten, war nicht ausgerastet, hatte keinen Mitarbeiter seines Teams zusammengestaucht und keinem Journalisten in seine verdammte Fresse gehauen.

Nicht dass der Designer Francis Morgan für derlei bekannt ­gewesen wäre. Nein, er, der oftmals auch in Büroräumen und Locations eine Kapuze aufhatte, galt als schüchtern, scheu, unnahbar. Doch innerlich … Da gab es sein Leben lang ein Meer an Bildern, das er kaum beherrschen konnte. Vor allem sobald ihm jemand zu nahe kam. Wie nun gerade auf der Straße.

Nach der Fashion Week dachte er noch, nun etwas Ruhe zu haben. Es war eigentlich stets die angenehmste Zeit im Jahr. Der Designer durfte völlig für sich sein, niemand wollte etwas von ihm und er tat seine eigentliche Arbeit: Entwerfen. Und jedes Teil selbst nähen, was kaum ein anderer Designer seines Formats noch tat, da sie es nicht konnten, wollten oder auch keine Zeit dafür hatten. Für ihn war das aber heilig, und so ließ er sich dazu extra die letzten Kisten Wasser vom Sponsorstand direkt zum Atelier liefern. Akkurat standen die kobaltblauen Flaschen nebeneinander in einem extra dafür vorgesehenen Kühlschrank. Mitten im Raum. Mit Glastür. Kondenswasser perlte an der Scheibe herab. Es verführte regelmäßig, Arbeitstische zu verlassen und eine neue Flasche herauszuholen. Er hielt sie sich an die Stirn und spürte das kühle Kondenswasser auf der Haut. Er atmete durch, wollte Kraft tanken und merkte mit jeder Verführung, dass die Abstände zwischen dem Krafttanken immer kürzer wurden.

Genau das war das Problem an der Situation. Er hatte vorgehabt, sein Atelier erst wieder zu verlassen, wenn die grundsätz­liche Konzeption der nächsten Kollektion entwickelt war, wie sonst auch. Doch das klappte rein rechnerisch nicht, da das Wasser bei seinem Trinktempo spätestens Samstag ausgehen musste. Und es langsamer oder gar anderes Wasser zu trinken, funktionierte erst recht nicht. Wenn er Zeichenstift oder Schere in die Hand nahm, misslang jeder Strich oder Schnitt. Seine Bewegungen wurden fahrig, seine Ideen unsicher. Er fiel in ein kreatives Loch und trennte Nähte immer wieder auf. Es kam ihm vor, als würde er mehr auftrennen als nähen. Das kannte er nicht, machte ihm Angst und umso mehr wollte er das eine Wasser in möglichst großen Mengen haben.

Also mailte er Catrinel, dass sie beim Sponsor nachfragen sollte, welcher Laden das Wasser bereits im Sortiment hätte. Schließlich war es eine Markteinführung gewesen. Und siehe da, ganz neu führte es ausgerechnet der kleine Biomarkt in der Warschauer Straße. Das war die Rettung. Nicht Getränke Hoffmann, die Metro oder der durchgehend geöffnete Kaiser’s. Nein, es war der kleine ­Laden, den Morgan kannte, da sein Lieferservice auf Firmenrechnung jede Woche Trockenwaren, frisches Obst und Gemüse auf den Hof seines Ateliers stellte, ohne dass er jemals einen Angestellten sehen musste.

Nur was taten sie am Samstag, obwohl die Bestellung recht­zeitig online um das Wasser erweitert worden war? Sie lieferten statt zwölf vollen Kisten nur eine mit zwölf Flaschen und zudem ein vollkommen falsches Wasser. Morgan wurde stinksauer, schickte Dutzende von E-Mails, nahm sogar das Telefon zur Hand, was er nur äußerst selten tat, bis endlich um zwanzig Uhr jemand abnahm. Eine junge Frau. Mit gereizter Stimme. Ganz dreist fragte sie immer wieder nach seinem Namen, hörte seinem Anliegen nur halb zu, tippte nebenbei auf eine Tastatur, um schließlich, da er weder Namen noch Geburtsdatum, sondern nur die Kundennummer nennen wollte, auf die regulären Öffnungszeiten zu verweisen. Und legte auf. Ohne sich für die Fehllieferung zu entschuldigen. Da musste er sein Atelier verlassen. Es war wirklich nicht seine Schuld.

Morgan erreichte das Nadelöhr am Anfang der Revaler Straße, wo sie die Warschauer kreuzte. Grell blinkende Bars, Imbissbuden und Spätkaufs buhlten zu seiner Rechten um die Gunst der Kunden. Zu seiner Linken befand sich das RAW-Gelände, das vor der Wende dem Reichsbahnausbesserungswerk gehört hatte. In den Neunzigern siedelten sich hier zahlreiche Clubs an, weshalb der Volksmund es passend Techno-Strich nannte. Der Großteil der Leute strömte von der Warschauer Brücke genau dorthin, kaufte in dunklen Ecken bei arabischen Dealern Drogen, stand vor verschlossenen Türen Schlange oder machte trotz winterlicher Minusgrade gleich Party auf dem gesamten Fußgängerweg. Die Menschen liefen dadurch viel zu langsam vor ihm her, hielten ihn auf seinem Weg zum Wasser auf, standen dumm herum, streiften im Vorbeigehen seine Ärmel, gafften sich mit glasigen Pupillen an, sogen an Bierflaschen und Joints, stanken nach fettigem Fleisch, billigem Alkohol und kaltem Rauch.

Morgan versuchte auf die Fahrbahn auszuweichen, doch ebenfalls genervte Autofahrer hupten sofort. Er sprang zurück, fluchte und ballte in seinen Manteltaschen die Fäuste. Ausgerechnet als ihm noch zwanzig Meter fehlten, um in die Warschauer einzubiegen, ging rein gar nichts mehr. Nicht zurück, nicht zur Seite und schon gar nicht geradeaus. Zwei nebeneinanderliegende Altbauten wurden saniert und klemmten ihn mit all den anderen Körpern im schmalen Gang von Baurüstungen ein. Als wäre er eine beliebige Ölsardine. Wie sie. Im Schneckentempo tippelte er. Er hätte jeden einzelnen Idioten, der ihm auf die Pelle rückte, eine Schneiderschere in den Hals rammen können. Besonders den vor ihm befindlichen Hipstern, da sie mit ihrem Look ein angeblich aufgeklärtes Anderssein vom Mainstream kultivieren wollten. Morgan widerten die Strickmützen, Hornbrillen, Röhrenjeans und mit blöden Sprüchen bedruckten Jutebeutel an. Was bildeten sich diese Fashion Victims eigentlich ein, nur weil sie Secondhand trugen und dabei wie jeder Zweite in Berlin aussahen? Sie waren um keinen Deut besser als diese Teenie-Gruppe in neonfarbenen H&M-Polyester-Miniröcken hinter Morgan, billige Klone britischer It-Girls. Sie knipsten sich mit ihren Smartphones und kreisch­ten wie kleine Ferkel beim Anblick ihrer Schnappschüsse. Sie fühlten sich lebendig, frei, ganz in der Gegenwart. Für Morgan waren sie aber allesamt nur reif zum Schlachten.

Irgendein Dealer, der hinter den Baurüstungen versteckt stand, fragte, ob jemand Drogen haben wolle.

»Wasser«, nuschelte Morgan, »Wasser.«

Kapitel 4

»Du bist nun der Letzte im Haus?«

»…«

Gleich hatte er es geschafft. Er war kurz vor der Zielgeraden nach einem langen Marathon. Bald war er fort. Es war viertel vor zehn.

»Hey, Tom.«

»…«

Patricias kratzende Stimme konnte nur schwer seine eigenen Gedanken verdrängen. Er achtete also haargenau auf jedes ihrer Worte, fasste ihr Gesagtes aber nur als Bestätigung seiner körperlichen Existenz auf. Und hier war er Tom. Der Kassierer. Noch. Denn eben riss sein hoffentlich letzter Kunde die Ladentür auf, während Patricia weiterredete und dieses Schauspiel wohl nicht bemerkte.

Es war eine Gestalt, wie sie hier sonst selten einkehrte. Die tief ins Gesicht gezogene Kapuze und der übertrieben lange Schal ließen einen DJ, Graphiker oder New-Economy-Typ vermuten. Solche stramm in den Laden marschierende, allein auf sich fixierte Männer waren zugleich angenehme Kunden, denn sie griffen sich einfach ihr Konsumgut, zahlten und verschwanden schnell, ohne bei der Belegschaft Fragen zu hinterlassen. Das sagte Toms ganze Erfahrung, die er in den letzten Jahren fast jeden Donnerstag, Freitag und Samstag bei den unangenehmen Spätschichten an der Kasse gewann. Oder bei denen er an Lebenszeit verlor. Doch bald war es vorbei. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Und senkte seinen Kopf. Um automatisch wieder auf seine Armbanduhr zu schauen.

Wieso trug er dieses funkelnde Geschenk seines Vaters? Weil es ein Gebrauchsgegenstand war und die Zeit anzeigte. Nur warum schaute er sie erneut an, wenn er es doch höchstens eine ­Minute später sein konnte seit dem letzten Draufblicken?

Tom hatte die teure Uhr beim Ausmisten ganz unten in einer Kiste mit Krimskrams gefunden. Er hatte sie vor zwei Jahren zu seinem Bachelor-Abschluss erhalten, längst vergessen und wollte sie schon zum Verkauf aussortieren, doch dann band er sie sich selbst um. Er versuchte es rein praktisch zu sehen. Ebay-Auktionen konnten sich als anstrengend erweisen, und schließlich war die Uhr mit einer speziellen Feder ausgestattet, so dass sie sich bei jeder Armbewegung nach und nach von allein aufzog. Diese Analoguhr konnte folglich nie stehen bleiben oder wie der Akku seines alten Nokia-Handys bereits nach einem Tag ausgehen. Nur darum trug er sie. Es war folglich nicht wegen des für seinen ­Vater viel wichtigeren monetären Wertes, der, für die Mitwelt zur Schau gestellt, einen Distinktionsgewinn bedeutete. Somit trug Tom diese Uhr auch ganz gewiss nicht wegen eines emotionalen Erinnerungswertes an seinen Vater. Nein, das zuallerletzt.

»Und die haben dich wirklich rausgekauft?«

Tom nickte.

Es war nicht nur viertel vor zehn, sondern auch wieder mal Zeit, eine Antwort zu geben. Patricia, die nur einige Meter entfernt stand, bemühte sich sehr, und er konnte nicht die ganze Zeit allzu unhöflich erscheinen. Nur was sollte er sagen?

Antwortete er zu kurz, hinterfragte sie weitere Aspekte. Antwortete er zu lang, dann fand sie in dem Gesagten etwas, das eine neue Frage hervorbrachte. Als hätte sie wie seine Armbanduhr eine sich selbst aufziehende Feder in sich. Eine, die auch unablässig Blicke warf. Oder schoss. Denn Patricias Blicke glichen Pfeilen, die mit einer giftigen Substanz eingeschmiert waren. Und dieses Lächeln mit einem für diesen Arbeitsort viel zu rot geschminkten Mund. Jedes Mal, wenn Patricia das über das Wochenende zu kühlende Obst auf den gelben Plastikrolli packte, sich wieder aufrichtete und eine ihrer dicken blonden Strähnen aus dem Gesicht blies, schaute sie so zu ihm rüber. Nein, sie schoss. Dabei hatten sie das doch nach der Weihnachtsfeier schon per SMS geklärt.

»Und für wie viel?«

»Genug«, antwortete Tom und fing an, EC-Belege zu sortieren. »Der Laden läuft.«

»Mensch, Tom, ich meine deine Wohnung«, präzisierte Pa­tricia und rieb sich mit dem Daumen über ihre unterschiedlich lackierten Fingernägel.

»Mit Zahlen jongliere ich nicht gern.«

»Hast doch BWL …«

»Eben nicht«, protestierte er und strich sich den Pony aus dem Gesicht.

»Oh, ja, sorry«, korrigierte Patricia schnell. »Falls du etwas in dieser Richtung erwähnt hast, dann war es natürlich Volkswirtschaft, nicht Betriebswirtschaft. Ein elementarer Unterschied. Ich weiß. Dich interessiert es nicht, wie einzelne Unternehmen mehr Gewinn erwirtschaften, sondern wie alle zusammen unser ökonomisches und damit politisches System diktieren.«

»Ungefähr so«, bestätigte Tom. Er kratzte sich am Bart und drehte seinen Körper frontal zu ihr. Er hätte keinerlei Definition aus ihrem Mund erwartet.

»Aber immerhin sitzt du an der Kasse«, fügte Patricia grinsend hinzu. »Und heißt mit Nachnamen …«

»Ich kann das nicht oft genug hören«, kürzte er ab. »Ich bin der Herr Kaufmann, wie es breit und fett auf meiner linken Brust steht.«

Und dann musste er lachen. Er konnte nicht anders. Sie beide lachten.

Sie beide lachten aber auch unterschiedlich, denn Patricia lachte ihn wieder mit stechenden Augen an und er, der Kaufmann, lachte mit fast verschlossenen in sich hinein. Verdammt bewusst war ihm das. Jeder Mensch saß in seinem eigenen Gefängnis und manch einer sogar in mehreren gleichzeitig.

»Also wenn du es unbedingt wissen willst …«, erklärte er deswegen und gab sich einen Ruck. »Ich habe durchgehalten, obwohl sie zum Ersten Ersten nun auch Gas und Strom abgestellt haben. Kann also nicht mehr kochen und habe kein richtiges Licht. Und das im Winter. Handy und Netbook lade ich entweder hier oder in der Uni auf. Im leeren Vorderhaus haben sie bereits letzten Sommer angefangen zu sanieren. Was für ein Krach ab halb sieben! Im Hinterhaus war ich, wie bereits gesagt, der Letzte, der dies verzögerte. Jeden Tag kostet das den Investoren Unsummen. Dafür sind sie aber günstig davongekommen … Zwölftausend, und hier hast du deine Summe, sind Peanuts für die.«

»Wow«, staunte Patricia und rieb sich die Hände. »Was würde ich bloß damit anstellen … Du Glückspilz!«

»Ich kenne nur meine Rechte.«

»Und nun?«, fragte sie. »Soll ich beim Umzug helfen?«

»Nicht nötig«, sagte Tom. »Meine Wohnung löst sich von selbst auf. Die wichtigsten Sachen habe ich bereits bei einer Selfstorage-Firma in der Stralauer Allee für mindestens zwölf Monate eingelagert. Den Rest lasse ich stehen und liegen. Ich muss nichts renovieren. In zwei Wochen entrümpeln und entkernen sie alles. Sie beseitigen jede Spur meiner alten Existenz, jeden Krümel, jede Schuppe meiner Haut, jedes Haar, jeden fremden Geruch, um für neue Menschen mit mehr Einkommen lukrative Eigentumswohnungen zu schaffen. So ist das momentan in Berlin, und die Abfindung dafür wird dann innerhalb des nächsten Jahres in Asien wieder dem Akkumulationsprozess zugeführt.«

»Und tatsächlich für ein ganzes Jahr …«, raunte Patricia, wobei ihr Gesicht nun einfror.

»Mindestens«, sagte Tom und legte den Stapel mit den EC-Belegen unter die Kasse. »Wenn nicht für immer.«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

»Und das ganz allein?«

»Nur ich und mein Rucksack«, bekräftigte er sein Vorhaben und sah kurz auf seine Armbanduhr, zum Ausgang und schließlich zum Getränkeregal, wo noch immer dieser eine Kunde stand.

»Asien?«

»Wohin sonst!«

»Davon hast du Weihnachten nichts erzählst«, fiel Patricia auf. Sie lächelte wieder, obwohl das Lächeln nun ganz anders wirkte. »Dabei bedeutet doch solch eine Reise bestimmt viel Vorbereitung, oder?«

»Es war ein Fehler!«

»Was?«, fragte Patricia mit gereizter Stimme.

»Die Betriebsfeier«, ergänzte Tom schnell, als er sich bewusst wurde, wie eindeutig sie seine Antwort auf sich bezog. »Ich dachte, ich müsste da mal hin. Sonst lästern die Kollegen.«

»Das verstehe ich«, sagte sie nun wieder amüsiert. »Und du warst ganz schön betrunken.«

»Das kann ich nicht leugnen.«

»Musst du auch nicht. Wieso auch? Manchmal muss das sein. Und dadurch war es auch gerade nach der Feier sehr nett. Vor allem am Morgen bei dir …«

»…«

Kapitel 5

Cut. Das war zu direkt, fiel Patricia auf. Mannomann, war der Junge … Verklemmt? Oder doch einfach nur unglaublich cool? Patricia wusste es immer weniger.

Toms dunkelbraune Rehaugen kullerten weg. Wären wohl am liebsten eine Etage tiefer gerutscht, um sich in seinem neuen Vollbart zu verstecken.

Sie wartete ab. Strich sich durchs Haar und band es mit einem Gummi zu einem Zopf. Sie hatte es echt nicht leicht. Mit diesem Jungen, mit diesem Tag.

Sie war wieder einmal zu spät gekommen, weil sie sich vormittags nicht hatte entscheiden können, was sie anziehen sollte, und hatte dann doch das Gleiche wie immer für die Arbeit gewählt, da sie in den letzten Monaten nichts Neues gekauft hatte. Dann klingelte im Laden ständig das Telefon und irgendein verrückter Kunde bombardierte den Posteingang mit Beschwerdemails wegen einer Fehlbestellung, was beides zusammenhängen konnte, aber eigentlich nicht in Patricias Aufgabenbereich gehörte. Ursprünglich sollte sie sich nur um die Obst- und Käse-Theke kümmern, für solche Dinge war sie nicht richtig eingearbeitet worden. Schließlich nahm sie aber irgendwann im Büro doch den Telefonhörer ab und erlebte nicht nur ein riesiges Theater, ­sondern es war ihr, als wollte dieser Tag ihr noch ganz andere Probleme bereiten.

Vor allem aber lief es bescheiden mit Tom. Dem Rehauge. Schade. Sie hatte sich extra einige Monate nicht in einem Club abschleppen lassen, sondern verfolgte die Idee, sich selbst jemanden auszusuchen, der viel gesünder wirkte. Ganz normal auf der Arbeit, statistisch gesehen machten es doch noch immer die meisten Menschen so, oder? Und dann war Tom auf der Betriebsfeier ziemlich beschwipst gewesen, vertrug ja auch nichts, und danach auf der Straße beim Anblick von Patricia und ihren Freundinnen, die sie abholten, ungewöhnlich unternehmungslustig. Na ja, sie schnappten ihn sich einfach und schleiften ihn mit. Im Berghain war er angeblich auch noch nie gewesen, kaum zu glauben als ebenfalls echter Berliner. Und dann küsste Patricia Tom mitten auf der Tanzfläche. Sie haben sich nicht mehr losgelassen und regelrecht nach allen Regeln der Kunst geknutscht. Seine schönen Hände glitten an ihrem Körper entlang, fassten sie beim Tanzen an Stellen, die sie genau in dieser Weise spüren wollte. Es war absolut real. Ohne MDMA und nur mit ein bisschen Speed, das er nicht mal sniefte, sondern sich bloß auf die Zunge strich. Bald zerrte Patricia ihn raus und bestellte ein Taxi zu ihm. Sie legten in seinen Öfen Kohlen nach, lagen auf seiner schmalen Matratze, ließen seine Lieblingsmusik laufen, tranken noch Sekt zum Runterkommen, zogen sich aus, wälzten sich hin und her, warfen leere Flaschen um, waren fast so weit …

Da musste Patricia kurz auf die Toilette. Als sie zurückkam, vernahm sie ein Schnarchen wie bei ihrem Jack Russell Terrier, nur dass Tom nicht wie Sharvi durch Rütteln aufwachte.