Das Sanatorium - Sarah Pearse - E-Book
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Das Sanatorium E-Book

Sarah Pearse

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Beschreibung

Der Nr.-1-Bestseller aus Großbritannien: ein atmosphärischer Spannungsroman für alle Leser von Lucy Foley, »Neuschnee«

Mit farbigem Buchschnitt in limitierter Auflage.

Halb versteckt im Wald und überragt von dunkel drohenden Gipfeln war Le Sommet schon immer ein unheimlicher Ort. Einst diente es als Sanatorium für Tuberkulosepatienten, dann verfiel es mit den Jahren und wurde schließlich aufgegeben. Nun hat man es zu einem Luxushotel umgebaut, doch seine düstere Vergangenheit ist noch immer spürbar. Als Detective Inspector Elin Warner zur Verlobungsfeier ihres Bruders anreist, beginnt der Albtraum: Erst verschwindet Isaacs Verlobte, dann geschieht ein Mord. Schließlich schneidet auch noch ein Schneesturm das Hotel von der Außenwelt ab, und die Gäste sind mit einem Killer gefangen ...

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Buch

Halb versteckt im Wald und überragt von düster drohenden Gipfeln war Le Sommet schon immer ein unheimlicher Ort. Einst diente es als Sanatorium für Tuberkulosepatienten, dann verfiel es mit den Jahren und wurde schließlich aufgegeben. Nun hat man es zu einem Fünf-Sterne-Hotel umgebaut, doch seine düstere Vergangenheit ist noch immer spürbar. Und als Detective Inspector Elin Warner zur Verlobungsfeier ihres Bruders anreist, beginnt der Albtraum: Erst verschwindet Isaacs Verlobte, dann geschieht ein Mord. Schließlich schneidet auch noch ein Schneesturm das Hotel von der Außenwelt ab, und die Gäste sind mit einem Killer gefangen …

Autorin

Sarah Pearse wuchs in Devon, Großbritannien, auf und studierte englische Literatur und Creative Writing an der University of Warwick, bevor sie einen Diplomstudiengang in Rundfunk-Journalismus absolvierte. Sie lebte mehrere Jahre in der Schweiz, bevor sie nach Großbritannien zurückkehrte. Mit ihrem Debüt, »Das Sanatorium«, gelang ihr auf Anhieb ein internationaler Bestseller.

Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Buch unterhttps://sarahpearse.co.uk/https://twitter.com/sarahvpearsehttps://www.instagram.com/sarahpearseauthor

Sarah Pearse

Das Sanatorium

Thriller

Aus dem Englischen von Ivana Marinović

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Sanatorium« bei Bantam Press, an imprint of Transword Publishers, London, part of the Penguin Random House group of companies.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2023

Copyright © der Originalausgabe

2020 by Sarah Pearse Ltd 2020

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München,

nach einem Entwurf von R.Shailer/TW

Umschlagmotiv: Hotel und Berg © Alamy

Redaktion: Regina Carstensen

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28740-5V003

www.goldmann-verlag.de

Für meine Familie

Man lehrt uns zu leben, wenn das Leben vorüber ist.

Michel de Montaigne

Ich habe Beschränkungen geliebt. Sie vermitteln mir Geborgenheit.

Joseph Dirand

PROLOG

Januar 2015

Ausgediente medizinische Gerätschaften liegen auf dem Boden zerstreut: mit Rost übersätes Operationsbesteck, zerbrochene Glasflaschen, der zerschrammte Rahmen eines uralten Rollstuhls. Eine zerschlissene Matratze lehnt zusammengesackt an der Wand, gallegelbe Flecken bedecken pockenartig den Bezug.

Die Hand fest um den Griff seines Aktenkoffers geschlossen, verspürt Daniel Lemaitre einen heftigen Schwall von Abscheu: Es ist, als hätte die Zeit selbst die Seele des Gebäudes an sich gerissen und etwas Verrottetes, etwas Krankendes an ihrer Stelle zurückgelassen.

Er eilt den Korridor entlang, seine Schritte hallen auf dem Fliesenboden wider.

Halt die Augen auf die Tür gerichtet. Schau nicht zurück.

Doch die tristen Relikte zerren an seinem Blick; jedes von ihnen erzählt eine Geschichte. Es braucht nicht viel, um sich die Menschen vorzustellen, die einst hier untergebracht waren und sich die Lungen aus dem Leib husteten.

Manchmal glaubt er, er könne es sogar riechen, was dieser Ort einst war, diesen beißend scharfen Geruch von Chemikalien aus den OP-Sälen – noch immer hängt er in der Luft.

Daniel hat die Hälfte des Korridors hinter sich gebracht, als er stehen bleibt.

Eine Bewegung im Raum gegenüber – dunkel, verschwommen. Sein Magen zieht sich zusammen. Ohne sich zu rühren, späht er hinein, lässt seinen Blick über seine schemenhaften Umrisse wandern: ein Schwung auf dem Boden verstreuter Akten, die verdrehten Schläuche eines Beatmungsgeräts, ein zerbrochenes Bettgestell, schlaff herabhängende, ausgefranste Fixiergurte.

Seine Haut kribbelt vor Anspannung, doch er kann nichts Auffälliges erkennen. Im Gebäude ist es still, nichts regt sich.

Er atmet schwer aus, geht wieder weiter.

Sei nicht albern, ermahnt er sich. Du bist müde. Zu viele Überstunden, die kurzen Nächte.

Daniel öffnet die Eingangstür. Der Wind heult wütend auf und versucht, sie wieder zurückzudrücken. Als er hinaustritt, wird er von einer eisigen Schneeböe geblendet, dennoch ist es eine Erleichterung, draußen zu sein.

Das Sanatorium zerrt an seinen Nerven. Obwohl er weiß, was aus ihm werden wird – jede Tür, jedes Fenster, jeden Lichtschalter des neuen Hotels hat er selbst in die Pläne eingezeichnet –, kann er in diesem Moment nicht anders als die Vergangenheit sehen, das, was dieser Ort einst war.

Was das Äußere betrifft, denkt er, als er sich noch einmal umdreht und an dem Gebäude emporblickt, so ist es um dieses auch nicht viel besser bestellt. Der strenge, rechtwinklige Bau ist fleckig vom feuchten Schnee. Er wurde dem Verfall anheimgegeben, vernachlässigt – die Balkons und Balustraden, auch die lang gezogene Veranda, bröckelnd und marode. Einige der Fenster sind zwar noch intakt, doch der Großteil ist mit Brettern zugenagelt, die Fassade mit hässlichen Vierecken aus Spanplatten gespickt.

Was für ein Kontrast es doch ist, überlegt Daniel, zu seinem Zuhause in Vevey, das direkt am See liegt. Der kubische Entwurf besteht größtenteils aus Glas, um das Panorama einzubinden. Das moderne Haus verfügt zudem über eine Dachterrasse sowie einen kleinen Bootsliegeplatz.

Er selbst hat all das geschaffen.

Mit den Bildern taucht auch Jo auf, seine Frau. Sie wird wohl gerade von der Arbeit heimgekommen sein, im Kopf noch Werbebudgets und Briefings, während sie die Kinder bereits antreibt, ihre Hausaufgaben zu erledigen.

Er stellt sie sich in der Küche vor, wie sie das Abendessen zubereitet. Wie ihr kastanienbraunes Haar ihr beim Hantieren mit den Messern vors Gesicht fällt. Es wird etwas Einfaches werden – Pasta, Fisch oder eine Gemüsepfanne –, sie haben es beide nicht so mit den häuslichen Pflichten.

Der Gedanke heitert ihn auf, wenn auch nur kurz. Als er den Parkplatz überquert, verspürt Daniel bei der Aussicht auf die Heimfahrt Beklommenheit.

Zum Sanatorium, hoch zwischen den Berggipfeln, zu gelangen, ist schon bei optimalen Wetterverhältnissen nicht einfach. Als es erbaut wurde, war die isolierte Lage eine bewusste Entscheidung gewesen, um die Tuberkulosepatienten von der Luftverschmutzung der großen Städte wegzubringen, aber auch, um sie von der übrigen Bevölkerung fernzuhalten.

Der abgeschiedene Standort bedeutet aber auch, dass die Straße dorthin ein einziger Albtraum ist, eine Abfolge schwindelerregender Haarnadelkurven, die sich durch einen dichten Tannenwald fräsen. Auf der Hinfahrt am Morgen war die Straße kaum auszumachen gewesen; die Schneeflocken peitschten gegen die Windschutzscheibe wie weiße Eispfeile und machten es unmöglich, mehr als ein paar Meter weit zu sehen.

Daniel ist fast am Wagen angelangt, als sein Schuh gegen etwas stößt – zerfledderte Überreste eines Plakats, halb unter dem Schnee verborgen. Die Buchstaben mit roter Farbe grob hingeschmiert.

NONAUXTRAVAUX!NEINZUDENBAUARBEITEN!

Wütend zertritt er sie. Die Demonstranten waren erst letzte Woche hier oben aufgetaucht. Mehr als fünfzig von ihnen, wüst beschimpften sie ihn und wedelten mit ihren abgeschmackten Plakaten vor seiner Nase herum. Natürlich wurde das Ganze gefilmt und in den sozialen Medien geteilt.

Es war nur einer der endlosen Kämpfe gewesen, die sie hatten ausfechten müssen, um dieses Projekt zu verwirklichen. Die Leute, denkt Daniel, behaupten, dass sie den Fortschritt wollen – und natürlich das Geld der Touristen, das damit einhergeht. Aber wenn es darum geht, tatsächlich etwas aufzubauen, stellen sie sich quer.

Daniel weiß auch warum. Die Leute mögen keine Gewinner.

Sein Vater hatte es ihm einmal gesagt, und es stimmt. Die Bewohner unten im Ort waren anfangs stolz gewesen, hatten seine kleinen Triumphe gebilligt und sogar gutgeheißen – das Einkaufszentrum in Sitten, den Wohnkomplex in Siders mit Blick auf die Rhône –, aber dann wurde es ihnen zu viel. Zu viel an Erfolg, zu viel an Persönlichkeit seinerseits.

Er hatte damals den Eindruck gewonnen, dass er in ihren Augen genug vom Kuchen abbekommen hatte, dass er gierig geworden war, indem er sich mehr und mehr nahm. Dabei war er gerade erst dreiunddreißig und hatte ein florierendes Architekturbüro – mit Dependancen in Sitten, Lausanne, Genf. Eines in Planung für Zürich.

Das Gleiche galt für Lucas, Immobilienentwickler und einer seiner ältesten Freunde. Er war Mitte dreißig und besaß schon drei namhafte Hotels.

Die Leute verübelten ihnen ihren Erfolg.

Und dieses Projekt wurde zum letzten Sargnagel. Sie bekamen die volle Ladung ab: Trolle im Netz, E-Mails, Beschwerdebriefe, Widersprüche gegen Baugenehmigungen.

Ihn knöpften sie sich zuerst vor. In den regionalen Blogs und Social-Media-Kanälen kursierten plötzlich Gerüchte, dass sein Geschäft den Bach runterginge. Danach stürzten sie sich auf Lucas. Ähnliche Geschichten … Geschichten, die er, Daniel, problemlos zurückweisen konnte, doch eine hielt sich hartnäckig.

Sie nagte mehr an ihm, als er sich eingestehen wollte.

Gerede über Bestechungsgelder. Korruption.

Er hatte natürlich versucht, mit Lucas darüber zu reden, doch sein Freund hatte jegliches Gespräch abgeblockt. All das macht ihm weiterhin zu schaffen, ein beständiger Wermutstropfen, wie so vieles andere bei diesem Projekt. Doch er zwingt sich, ihn zu verdrängen. Er muss das ausblenden. Sich auf das Endergebnis fokussieren. Dieses Hotel wird seinen Ruf rehabilitieren und vollends zementieren. Lucas’ Ehrgeiz und Detailversessenheit haben ihn zu einem außergewöhnlich ambitionierten Design beflügelt, zu einem Resultat, das er so selbst nicht für möglich gehalten hatte.

Daniel erreicht seinen Wagen. Die Windschutzscheibe liegt unter einen dicken Schicht Pulverschnee; zu viel für die Scheibenwischer. Er wird ihn wegschaben müssen.

Doch als er nach dem Schlüssel in seiner Tasche greift, fällt ihm etwas ins Auge.

Ein Metallring, neben dem Vorderreifen im Schnee.

Er bückt sich und hebt ihn auf. Es ist ein Armreif, dünn, aus Kupfer. Daniel wendet ihn zwischen seinen Fingern. Auf der Innenseite kann er eine Reihe eingravierter Ziffern ausmachen … ein Datum?

Er runzelt die Stirn. Das Ding muss jemandem gehören, der es erst vor Kurzem verloren hat. Ansonsten wäre es längst vom Schnee bedeckt.

Aber was hatte sein Besitzer so nah am Auto zu suchen?

Bilder von den Demonstranten flackern erneut vor ihm auf, ihre wütenden, höhnischen Gesichter.

Könnte der Reif einem von ihnen gehören?

Daniel zwingt sich zu einem langen, tiefen Atemzug. Als er das Fundstück dann in seine Tasche schiebt, erhascht er aus dem Augenwinkel noch etwas anderes: eine Bewegung hinter der Schneewehe, die sich vor der Mauer des Parkplatzes aufgetürmt hat.

Ein schemenhaftes Profil.

Seine Hand, die sich fester um den Wagenschlüssel schließt, fängt an zu schwitzen. Energisch drückt er den Knopf, um den Kofferraum zu entriegeln, und erstarrt, als er aufschaut.

Vor ihm, direkt zwischen ihm und seinem Auto, hat sich eine Gestalt aufgebaut.

Für einen kurzen Moment schaut Daniel sie wie paralysiert an, während sein Gehirn hektisch versucht zu begreifen, was er da sieht – wie kann jemand sich derart schnell auf ihn zubewegt haben, ohne dass er es mitbekommen hat?

Die Gestalt ist schwarz gekleidet. Etwas bedeckt ihr Gesicht.

Etwas, das einer Gasmaske ähnelt; es hat eine vergleichbare Form, lässt aber den Filter an der Vorderseite vermissen. An seiner Stelle befindet sich ein dicker Gummischlauch, der vom Mund zur Nase führt. Eine Art Verbindungsstück. Der Schlauch ist geriffelt, schwarz; er erzittert leicht, als die Gestalt das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert.

Der Effekt ist grauenerregend. Monströs. Ein aus den dunkelsten Tiefen des Unterbewusstseins aufgeschürftes Etwas.

Denk nach, ermahnt er sich, denk nach. Sein Gehirn wühlt sich förmlich durch die Möglichkeiten – potenzielle Erklärungen, die das hier zu etwas Ungefährlichem, Harmlosem machen. Es ist bloß einen Streich, nichts weiter … einer der Demonstranten, der versucht, ihm Angst einzujagen.

Dann macht die Gestalt einen Schritt auf ihn zu. Eine präzise, kontrollierte Bewegung.

Alles, was Daniel sehen kann, ist die entsetzlich vergrößerte Nahaufnahme des schwarzen Gummis, das sich über das gesamte Gesicht spannt. Die geriffelten Linien des Schlauchs. Dann erst hört er das Geräusch: ein seltsam nasses Saugen, das von der Maske ausgeht. Flüssige Atemstöße.

Das Herz hämmert ihm gegen den Brustkorb.

»Was soll das?« Daniel kann die Furcht in seiner eigenen Stimme hören. Ein Zittern, das er auszumerzen versucht. »Wer sind Sie? Was wollen Sie damit bezwecken?« Ein Tropfen rinnt sein Gesicht hinab – Schnee, der an der Wärme seiner Haut schmilzt, oder Schweiß? Er kann es selbst nicht sagen.

Komm schon.Reiß dich am Riemen.Das ist nur irgendein dämliches Arschloch, das sich einen Scherz erlaubt.

Geh einfach an ihm vorbei und setz dich in dein Auto.

Doch in diesem Moment bemerkt er aus dem Augenwinkel einen anderen Wagen. Ein Auto, das bei seiner Ankunft noch nicht da war. Ein schwarzer Pick-up. Ein Nissan.

Mach schon, Daniel. Beweg dich.

Aber sein Körper ist wie versteinert, weigert sich zu gehorchen. Er kann nichts weiter tun, als dem sonderbaren Atemgeräusch der Maske zu lauschen. Mittlerweile ist es lauter, schneller, keuchender.

Erst ein leises Saugen, dann ein fiepender Pfeifton.

Wieder und wieder.

Die Gestalt bewegt sich wankend auf ihn zu, sie hat etwas in ihrer Hand. Ein Messer? Daniel kann es nicht erkennen. Die dicken Handschuhe verbergen es zum Großteil.

Rühr dich, los.

Es gelingt ihm, sich in Bewegung zu setzen – erst ein Schritt, dann zwei –, doch die Furcht lässt seine Muskeln verkrampfen. Er stolpert im Schnee, sein rechter Fuß rutscht unter ihm weg.

Bis er sich wieder aufgerichtet hat, ist es zu spät: Die dick eingepackte Hand klammert sich fest über seinen Mund. Daniel kann den schalen Muff des Handschuhs riechen, aber auch die Maske … jene merkwürdige Ausdünstung von Gummi, verbranntem Plastik, durchsetzt mit etwas anderem.

Etwas Vertrautem.

Doch bevor es seinem Gehirn gelingt, die Verbindung herzustellen, bohrt sich etwas in seinen Oberschenkel. Ein einzelner, stechender Schmerz. Dann verlieren sich seine Gedanken, und in seinem Geist kehrt Ruhe ein.

Eine Ruhe, die binnen weniger Sekunden hinüberkippt in ein Nichts.

Pressemitteilung – Sperrfrist: 5. März 2018, Mitternacht

Le Sommet

Hauts de Plumachit

3963 Crans-Montana

Wallis

Schweiz

Neues 5-Sterne-Hotel eröffnet in der Schweizer Urlaubsregion Crans-Montana

Hoch in den Schweizer Alpen, auf einem sonnigen Bergplateau oberhalb von Crans-Montana gelegen, erstrahlt Le Sommet, ein geniales Projekt des Schweizer Immobilienentwicklers Lucas Caron.

Nach acht Jahren umfangreicher Planungs- und Umbauarbeiten soll eines der ältesten Sanatorien der Gegend als Luxushotel wiedereröffnen.

Das Hauptgebäude wurde an der Schwelle zum 20. Jahrhundert von Carons Urgroßvater, Pierre Caron, entworfen. Es entwickelte sich zu einem weltweit anerkannten Zentrum für die Behandlung von Tuberkulosekranken, bevor das Aufkommen von Antibiotika es zur anderweitigen Nutzung nötigte.

In jüngerer Zeit erlangte es erneut internationale Aufmerksamkeit, diesmal für seine innovative Architektur, die dem älteren Caron im Jahr 1942 eine posthume Auszeichnung mit dem Schweizer Kunstpreis einbrachte. Mit seiner Kombination aus klaren Linien und großzügigen Panoramafenstern, Flachdächern und geometrischen Formen beschrieb es einer der Preisrichter als »bahnbrechend – ein zweckmäßiges Design, das seiner Funktion als Krankenhaus gerecht wurde, während es zugleich einen nahtlosen Übergang zwischen seinem Inneren und der Landschaft draußen herstellte«.

Lucas Caron sagt dazu: »Es war an der Zeit, dass wir dem Gebäude neues Leben einhauchen. Wir waren zuversichtlich, dass es uns, mit der passenden Vision, gelingen könnte, ein behutsam restauriertes Hotel entstehen zu lassen, das zudem eine Hommage an seine ruhmreiche Vergangenheit darstellt.«

Unter der Leitung des Schweizer Architekturbüros Lemaitre SA wurde ein Team zusammengestellt, um nicht nur das Gebäude zu renovieren, sondern dieses auch um ein zeitgemäßes Spa sowie Veranstaltungszentrum zu erweitern.

Bei seiner subtilen Instandsetzung will das Le Sommet auf innovative Weise Gebrauch von natürlichen, regionalen Materialen wie Holz, Schiefer und Stein machen. Das elegante Interieur des Hotels will dabei nicht nur mit dem eindrucksvollen Gelände der Umgebung in Resonanz gehen, sondern auch an die Geschichte des Gebäudes anknüpfen, um ein neues Narrativ zu kreieren.

Philippe Volkem, Leiter des Walliser Tourismusverbands: »Dies wird ohne Zweifel das Glanzstück einer Gegend, die jetzt schon zu einem der nobelsten Wintererholungsgebiete der Welt zählt.«

Für weitere Presseanfragen kontaktieren Sie bitte Leman PR, Lausanne.

Für allgemeine Fragen und Buchungen besuchen Sie bitte www.lesommetcransmontana.ch.

1

Januar 2020Tag eins

Die Standseilbahn, die das im Tal gelegene Siders mit Crans-Montana verbindet, beschreibt eine nahezu perfekte senkrechte Linie den Berg hinauf.

Eine Schneise durch schneebedeckte Weinberge und die kleinen Ortschaften Venthône, Chermignon, Mollens, Randogne und Bluche schlagend, befördert die über vier Kilometer lange Strecke ihre Passagiere in gerade mal zwölf Minuten über neunhundert Meter den Hang hoch.

In der Nebensaison ist die Drahtseilbahn für gewöhnlich halb leer. Die meisten Leute fahren mit dem Auto auf den Berg oder nehmen den Bus. Doch heute, da es aufgrund des dichten Verkehrs auf den Straßen kaum vorangeht, ist sie voll besetzt.

Elin Warner steht auf der linken Seite des überfüllten Waggons und nimmt das Ganze in sich auf: die dicken Schneeflocken, die sich an den Fensterscheiben sammeln, den mit grauem Schneematsch bedeckten Boden, auf dem sich die Reisetaschen stapeln, die schlaksigen Teenager, die sich durch die Türen drängeln.

Ihre Schultern sind verspannt. Sie hat ganz vergessen, wie Jugendliche in diesem Alter sein können: egoistisch und selbstvergessen, unfähig, jemand anders zu sehen als sich selbst.

Ein durchnässter Jackenärmel streift ihre Wange. Sie riecht Feuchtigkeit, Zigaretten, den Gestank nach Frittiertem, die penetrante Moschusnote eines billigen Aftershaves. Dazu gesellt sich ein kehliges Husten. Gelächter.

Eine Gruppe Männer schiebt sich lautstark diskutierend mit sperrigen North-Face-Sporttaschen auf dem Rücken durch die Tür. Sie drängen die Familie neben ihr weiter ins Innere. Und damit gegen sie. Ein Arm reibt sich an ihrem; sie spürt heißen Bieratem in ihrem Nacken.

Panik steigt in ihr auf. Ihr Herz rast, hämmert gegen ihren Brustkorb.

Wird das denn jemals aufhören?

Ein Jahr ist seit dem Hayler-Fall vergangen, und sie denkt immer noch über ihn nach, träumt von ihm. Wacht mitten in der Nacht in schweißgetränkten Laken auf, der Traum in ihrem Kopf noch ganz lebendig: die Hand, die ihre Kehle packt, die feuchten Wände, die sich zusammenziehen, immer näher kommen.

Dann Salzwasser – schäumend, über ihren Mund schwappend, über ihre Nase …

Kontrolliere es, ermahnt sie sich und zwingt sich, das Graffiti auf der Seilbahnwand zu entziffern. Lass nicht zu, dass es dich kontrolliert.

Ihre Augen zucken über die hingeschmierten Buchstaben, die sich über die Metalloberfläche aufwärtsziehen.

Michel 2010

BISOUS XXX

HELENE & RIC 2016

Als sie dem Verlauf der Worte zum Fenster folgt, erschrickt sie. Ihr Spiegelbild … es schmerzt hinzusehen. Sie ist dünn. Viel zu dünn.

Es ist, als hätte jemand sie ausgehöhlt, ihr Innerstes herausgeschabt. Ihre Wangenkochen treten messerscharf hervor, ihre schräg stehenden blaugrauen Augen sind geweitet, ausgeprägter als früher. Selbst das verwuschelte hellblonde Haar und die kaum sichtbare Narbe auf ihrer Oberlippe schaffen es nicht, ihrem Ausdruck die Härte zu nehmen.

Seit dem Tod ihrer Mutter hat sie ununterbrochen trainiert. Zehn-Kilometer-Läufe. Pilates. Krafttraining. Radtouren bei Wind und Wetter, die Küstenstraße zwischen Torquay und Exeter entlang. Zu viel des Guten, aber sie weiß nicht, wie sie sich bremsen soll, ja, noch nicht einmal, ob sie das wollte. Es ist alles, was sie hat, ihre einzige Taktik, um das, was in ihrem Kopf ist, zu verjagen.

Elin wendet sich ab. Der Schweiß brennt ihr im Nacken. Den Blick auf Will gerichtet, versucht sie, sich ganz auf ihn zu konzentrieren, den vertrauten Bartschatten an seinem Kinn, den widerspenstigen dunkelblonden Haarschopf. »Will, mir ist heiß …«

Seine Züge kräuseln sich. Sie kann die Blaupause zukünftiger Falten in seinem besorgten Gesicht sehen: ein Muster aus Linien, das sich um seine Augen auffächert, die feinen Furchen, die sich über seine Stirn ziehen.

»Geht’s dir gut?«

Elin schüttelt den Kopf, Tränen brennen bereits in ihren Augen. »Ich fühle mich unwohl.«

Will senkt die Stimme. »Wegen dem hier, oder …«

Sie ahnt, was er zu sagen versucht: Isaac. Es ist beides. Er, die Panik … Sie sind miteinander verwoben, verknüpft.

»Ich weiß nicht.« Unbehagen schnürt ihre Kehle zu. »Ich muss ständig darüber nachdenken – diese Einladung, so aus dem Blauen heraus. Vielleicht war herzukommen die falsche Entscheidung. Ich hätte es mir besser überlegen oder mich zumindest vernünftig mit ihm unterhalten müssen, bevor wir ihn buchen ließen.«

»Es ist nicht zu spät. Wir können jederzeit umkehren. Behaupten, dass ich Probleme bei der Arbeit hätte.« Grinsend stupst Will mit dem Zeigefinger seine Brille auf der Nase hoch. »Das könnte als der kürzeste Urlaub aller Zeiten in die Geschichte eingehen, aber wen juckt’s?«

Elin zwingt sich, sein Lächeln zu erwidern; kurz überfällt sie ein vernichtender Schmerz angesichts der Diskrepanz zwischen dem Damals und dem Heute. Wie leicht er sich doch damit abgefunden hat – mit der neuen Normalität. Es ist das genaue Gegenteil jener Zeit, als sie sich kennenlernten. Damals befand sie sich auf ihrem Höhepunkt – so jedenfalls denkt sie heute darüber. Der Gipfel ihres knapp über dreißigjährigen Lebens.

Sie hatte gerade erst ihre erste Wohnung in Strandnähe gekauft, die oberste Etage einer alten viktorianischen Villa. Klein, aber ein echtes Schmuckstück, mit hohen Decken und einem Ausblick, von dem aus man einen winzigen Abschnitt Meer zu sehen bekam.

Bei der Arbeit lief es gut – sie war zum Detective Sergeant befördert und mit einem großen, einem bedeutenden Fall betraut worden –, und ihre Mutter sprach auf den ersten Zyklus ihrer Chemotherapie an. Sie glaubte, sie hätte ihre Trauer um Sam überwunden und damit abgeschlossen, aber jetzt …

Ihr Leben hat sich in sich zurückgezogen. Ist zu etwas zusammengeschrumpft, das sie vor wenigen Jahren noch nicht einmal wiedererkannt hätte.

Zischend schieben sich die dicken Glasscheiben zu, die Türen schließen sich.

Mit einem Ruck setzt sich die Drahtseilbahn in Bewegung, lässt die Station hinter sich und beschleunigt.

Elin schließt die Augen, doch das macht es nur noch schlimmer. Jedes Geräusch, jede Vibration wird hinter ihren zuckenden Lidern um ein Vielfaches intensiviert.

Also öffnet sie die Augen wieder, um die vorüberziehende Landschaft zu betrachten: unscharfe Streifen schneebedeckter Weinberge, Chalets, Geschäfte.

Ihr wird schwummrig. »Ich möchte aussteigen.«

»Was?« Will dreht sich zu ihr um. Er versucht, es zu überspielen, aber sie kann den Frust in seiner Stimme hören.

»Ich muss hier raus.«

Die Seilbahn fährt in einen Tunnel. Sie tauchen in die Dunkelheit ein, was eine Frau mit einem Jubelruf quittiert.

Elin atmet ein, langsam, bedächtig, aber sie kann es kommen spüren – dieses unheilvolle Gefühl einer sich anbahnenden Katastrophe. Plötzlich ist es, als würde das Blut in ihrem Körper ins Stocken geraten und gleichzeitig in alle Richtungen davonschießen.

Noch ein paar Atemzüge. Langsamer, so wie sie es sich beigebracht hat. Vier Sekunden ein, anhalten, dann sieben Sekunden aus.

Doch es reicht nicht. Ihr Hals zieht sich zusammen. Ihr Atem kommt nun flacher, schneller. Ihre Lunge ringt verzweifelt darum, Sauerstoff aufzunehmen.

»Dein Inhalator«, erinnert Will sie drängend. »Wo ist er?«

Sie kramt in ihrer Jackentasche, zieht ihn heraus und drückt drauf: gut. Sie drückt noch einmal und spürt, wie das Gas in ihren Rachen dringt und ihre Luftröhre erreicht.

Innerhalb von Sekunden hat sich ihre Atmung wieder normalisiert.

Doch kaum hat sich ihr Kopf wieder geklärt, sind sie dort, vor ihrem geistigen Auge.

Ihre Brüder. Isaac. Sam.

Bilder in Endlosschleife.

Sie sieht weiche Kindergesichter, mit Sommersprossen übersäte Wangen. Die gleichen weit auseinanderstehenden blauen Augen – doch während Isaacs kalt sind, geradezu beunruhigend in ihrer Intensität, sprühen die von Sam nur so von Energie, ein Funkeln, dem sich die Leute nicht entziehen können.

Elin blinzelt, unfähig, die Erinnerung an jenes letzte Mal abzuschütteln, als sie diese Augen sah – leer, leblos, das Funkeln darin – ausgelöscht.

Sie dreht sich zum Fenster um, schafft es jedoch nicht, die Bilder ihrer Vergangenheit wegzuscheuchen: Isaac, der sie anlächelt – jenes so vertrauten Grinsen. Er hebt seine Hände hoch, doch die fünf gespreizten Finger sind voller Blut.

Elin streckt ihre Hand aus, aber sie kann ihn nicht erreichen. Das kann sie nie.

2

Der Minibus des Hotels wartet auf dem kleinen Parkplatz oben an der Seilbahnstation. Ein elegantes dunkelgraues Modell, die rauchig getönten Scheiben mit nassem Schnee verschmiert.

Am linken unteren Rand der Tür ist ein diskreter silberner Schriftzug angebracht: le sommet. Alles in Kleinbuchstaben, unaufdringlich, die Typo dezent, blockartig.

Elin lässt ein kleines Aufflackern von Vorfreude zu. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat sie sich in Gesprächen mit Freunden geradezu gedankenlos und abschätzig über das Hotel geäußert:

Prätentiös.

Mehr Schein als Sein.

Doch in Wahrheit hat sie behutsam Isaacs Post-its entfernt und sich an der makellosen Broschüre darunter erfreut, ist mit den Fingern über den dicken, matten Karton des Deckblatts gefahren und hat genussvoll jede neue minimalistisch gestaltete Seite in sich aufgesogen.

Dabei hat sie etwas Seltsames verspürt, eine ungewohnte Mischung aus Aufregung und Neid, das Gefühl, etwas Unbestimmtes verpasst zu haben, etwas, von dem sie noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie es sich wünschte.

Will hingegen hat mit offenem Überschwang reagiert und sich lang und breit über die Architektur und das Design ausgelassen. Er hat die Seiten genauestens durchforstet und ist dann direkt online gegangen, um mehr darüber zu erfahren.

Als sie an besagtem Abend bei einem Lammcurry Madras zusammensaßen, las er ihr Zitate zum Design der Inneneinrichtung vor: »Beeinflusst von Joseph Dirand … eine neue Form des Minimalismus, welche die Geschichte des Gebäudes wiedergibt … um ein neues Narrativ zu erschaffen.«

Sie hat Wills Fähigkeit, all diese komplizierten Details und Fakten in sich aufzunehmen, schon immer bewundert. Es gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit, eine Art von Vertrauen – das Vertrauen darauf, dass er all die Antworten hat.

»Miss Warner … Mr Riley?«

Elin dreht sich um. Ein hochgewachsener, drahtiger Mann kommt mit großen Schritten auf sie zu. Er trägt eine graue Fleecejacke mit dem gleichen silbernen Schriftzug.

le sommet

»Das sind wir.« Will lächelt. Es kommt zu einem unbeholfenen Handgemenge, als der Mann im selben Moment nach Elins Koffer greift wie Will, bevor Will ihm den Vortritt lässt.

»Gute Reise gehabt?«, erkundigt sich der Fahrer. »Von wo sind Sie denn her?« Mit Schwung packt der Mann ihre Koffer und wuchtet sie hinten in den Minibus.

Elin wirft Will einen Blick zu, damit er in die Bresche springt. Small Talk wie dieser fällt ihr unglaublich schwer.

»Aus South Devon, in England. Der Flieger war pünktlich … was sonst nie vorkommt. Ich habe Elin schon gesagt, dass es wohl die Schweizer Pünktlichkeit sein muss, die easyJet auf Zack hält.« Will lächelt reumütig, die Brauen seiner dunklen Augen entschuldigend angehoben. »Mist, das klang jetzt aber sehr klischeebeladen, was?«

Der Mann lacht. Das ist Wills übliche Strategie Fremden gegenüber – mit einer Mischung aus purer Begeisterung und Selbstironie nimmt er ihnen jegliche Angriffsfläche. Erst werden die Leute entwaffnet, dann für sich gewonnen. Will macht Momente wie diese so … leicht. Andererseits, so überlegt sie, während sie weiter hinter ihm stehen bleibt, ist es ja das, was auch sie als Erstes so anziehend an ihm fand – das ist doch sein Ding, oder nicht?

Diese Mühelosigkeit.

Für ihn gibt es nichts, was sich nicht überwinden ließe. Das hat nichts mit Draufgängertum oder Prahlerei zu tun, es ist schlicht die Art, wie sein Denken funktioniert – ein Anliegen wird rasch in logische, machbare Happen zerlegt. Dann eine Liste gemacht, ein paar Nachforschungen, ein Anruf oder zwei getätigt – und schon ist die Antwort gefunden, das Problem gelöst. Für sie hingegen werden selbst die simpelsten, alltäglichsten Dinge zu etwas, womit sie sich so lange abquält, bis sie völlig unverhältnismäßige Ausmaße angenommen haben.

Man nehme nur diese Reise. Sie hat sich wegen des Fluges schon im Vorfeld furchtbar gestresst: die unmittelbare Nähe zu anderen Menschen am Flughafen und im Flieger, die möglichen Turbulenzen, etwaige Verspätungen.

Sogar das Packen hat sie maßlos überfordert. Nicht nur, dass sie neue Sachen kaufen musste, da war ja auch die Frage, was genau sie kaufen sollte – für welche Wetterverhältnisse sie sich rüsten musste, welche Marken die geeignetsten waren.

Und so sind alle ihre Sachen nun brandneu, und genauso fühlen sie sich auch an, als sie mit den Fingern über den Bund ihrer Hose fährt und das kratzige Etikett zurückschiebt, das sie eigentlich zu Hause hatte abschneiden wollen.

Will hat einfach ein paar Sachen in seine Tasche geworfen. Es hat keine fünfzehn Minuten gedauert, und doch schafft er es irgendwie, passend gekleidet auszusehen: ramponierte Wanderstiefel, eine schwarze, gesteppte Patagonia-Daunenjacke, eine Hose von North Face, nicht zu neu und nicht zu abgetragen.

Irgendwie jedoch ergänzen sich ihre Unterschiede. Will akzeptiert sie und ihre Marotten, und Elin ist sich durchaus bewusst, dass das nicht jeder tun würde. Dafür ist sie dankbar.

Mit einer schwungvollen, mühelosen Geste lässt der Fahrer die Tür aufgleiten. Elin klettert hinein und wirft einen Blick nach hinten.

Eine der Familien aus der Seilbahn sitzt schon da: zwei Teenager mit glänzendem Haar, die Köpfe über ein Tablet gebeugt. Die Mutter mit einer Zeitschrift in den Händen. Der Vater mit dem Daumen über sein Handydisplay scrollend.

Elin und Will nehmen auf den beiden mittleren Sitzen Platz. »Besser?«, erkundig sich Will leise.

Definitiv. Saubere Ledersitze, keine lauten, brüsken Stimmen und, das Beste, keine dicht gedrängten, feuchten Körper, die sich gegen sie pressen.

Der Bus setzt sich kriechend in Bewegung. Er biegt nach rechts ab, rumpelt über den unebenen Boden und verlässt den Parkplatz.

In gemäßigtem Tempo erreichen sie das Ende der Straße und kommen an eine Gabelung. Der Fahrer nimmt die rechte Abzweigung, während die Scheibenwischer sich rasch hin- und herbewegen, um den beständig fallenden Schnee zu beseitigen.

Alles ist in bester Ordnung, bis sie auf die erste Kurve treffen. Mit einer einzigen schnellen Bewegung schwingt der Bus herum und zeigt nun in die entgegengesetzte Richtung.

Als er sich mit einem Ruck wieder ausrichtet, verkrampft Elin unwillkürlich auf ihrem Sitz.

Die Straße wird nicht länger von Schnee oder Bäumen gesäumt, ja, noch nicht einmal von einem Grünstreifen. Stattdessen klammert sie sich an den äußersten Rand des Berghangs, und da ist lediglich eine dünne metallene Leitplanke, die sie von dem schwindelerregenden Abgrund und dem Talboden darunter trennt.

Neben sich kann sie spüren, wie auch Will sich verspannt, und sie weiß schon, was er als Nächstes tun wird: sein Unbehagen mit einem Lachen überspielen und einen leisen Pfiff zwischen den Zähnen ausstoßen. »Heilige Scheiße, ich glaube nicht, dass ich Lust hätte, die Strecke bei Nacht zu fahren.«

»Bleibt einem nichts anderes übrig. Es ist der einzige Weg, um zum Hotel zu gelangen.« Der Fahrer wirft ihnen einen raschen Blick im Rückspiegel zu. »Manche Leute schreckt es tatsächlich von einem Besuch ab.«

»Wirklich?« Will legt eine Hand auf ihr Knie, drückt es zu fest und stößt ein weiteres gezwungenes Lachen aus.

Der Fahrer nickt. »Es gibt Online-Foren darüber. Ein paar Jugendliche haben Videos auf YouTube hochgeladen, wie sie kreischend die Kurven nehmen. Mit dem Kamerawinkel sieht es schlimmer aus, als es ist. Sie heben ihre Handys aus dem Fenster und richten sie direkt über den Rand, die Steilwand runter …« Der Satz bleibt unbeendet, da er sich auf die vor ihm liegende Strecke konzentrieren muss. »Das ist der schlimmste Teil. Sobald wir den hinter uns haben …«

Als sie aufschaut, wird Elin flau im Magen. Die Straße ist nun noch schmaler, kaum breit genug, um den Minibus zu fassen. Der Straßenbelag ist ein einziges schmutziges Grauweiß, an manchen Stellen glänzend vor Eis. Sie zwingt sich, geradeaus zu blicken, auf den zerklüfteten, schneebedeckten Gebirgskamm vor ihnen.

Nach wenigen Minuten ist es überstanden. Als die Straße wieder breiter wird, lässt auch Will ihr Knie los. Er fummelt an seinem Smartphone herum und beginnt damit, durch das Fenster Fotos zu schießen, wobei sich seine Stirn vor lauter Konzentration in Falten legt.

Elin lächelt, gerührt von der Aufmerksamkeit, die er an den Tag legt. Er hat auf diesen Augenblick gewartet – auf die Landschaft, das Panorama, den Moment, in dem er einen ersten Blick auf das Hotel erhascht. Sie weiß, dass später, auf seinem Laptop, an diesen Bildern herumgebastelt werden wird. Kritisch in Augenschein genommen. Nachjustiert. Um sie dann mit seinen kunstbesessenen Freunden zu teilen.

»Wie lange arbeiten Sie schon für das Hotel?«, wendet sich Will wieder an den Fahrer.

»Etwas über ein Jahr.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Das Gebäude, seine Geschichte, das hat etwas, das lässt einen im Kopf nicht mehr los.«

»Ich habe online recherchiert«, murmelt Elin. »Ich konnte nicht glauben, wie viele Patienten dort …«

»Darüber würde ich mir nicht allzu viele Gedanken machen«, unterbricht sie der Fahrer. »Die Vergangenheit auszugraben, insbesondere an diesem Ort, damit werden Sie sich nur verrückt machen. Sobald Sie sich hineinbegeben in das, was da wirklich vor sich ging …« Er zuckt mit den Schultern.

Elin greift nach ihrer Wasserflasche. Seine Worte klingen in ihr nach: Das lässt einen im Kopf nicht mehr los.

Schon passiert, denkt sie, wobei sie sich die Broschüre und die Bilder aus dem Internet in Erinnerung ruft.

Le Sommet.

Sie sind nur noch wenige Kilometer entfernt.

3

Das Handy in ihrer Hosentasche verstauend, schiebt Adele Bourg den Staubsauger durch die Tür von Zimmer 301.

Nicht dass es tatsächlich 301 hieße. Dafür ist das Le Sommet viel zu … selbstkritisch.

Man hat sich hier so gut wie jedem alpinen Klischee verweigert – kein mit Kunstfellen ausstaffiertes Pseudo-Chalet-Ambiente, keine »traditionellen« Menüs –, und dazu gehörte eben auch, sich von so etwas Banalem wie Zimmernummern zu verabschieden.

Stattdessen ist dieses Zimmer, wie alle anderen auch, nach einem Gipfel des gegenüberliegenden Gebirgszugs benannt.

Bella Tola.

Adele kann ihn sehen. Jenseits des riesigen Fensters reckt sich sein zerklüfteter Grat in den Himmel. Der Anblick schmerzt. Es war eine ihrer letzten Klettertouren gewesen, bevor sie mit Gabriel schwanger wurde. August 2015.

Sie kann sich noch an alles erinnern: Sonne, ein wolkenloser Himmel. Ihre neonbunte Sonnenbrille. Das Kratzen des Gurtzeugs an ihren Schenkeln. Das graue Gestein und wie kühl es sich unter ihren Fingern anfühlte. Estelles gebräunte Beine hoch über ihr in einer unmöglich anmutenden Haltung verrenkt.

Ihr mittlerweile dreijähriger Sohn kam im darauffolgenden Juni zur Welt, das Ergebnis eines kurzen Techtelmechtels mit Stéphane, einem Kommilitonen und Bergliebhaber wie sie, während eines Wochenendes in Chamonix. Damals fand alles ein Ende – das Klettern, das Wandern, ihr Wirtschaftsstudium, die feuchtfröhlichen Abende mit ihren Freunden.

Adele liebt Gabriel unbedingt und von ganzem Herzen, doch manchmal fällt es ihr schwer, sich daran zu erinnern, wer sie vor seiner Geburt gewesen war. Wie ihre Welt ausgesehen hatte, bevor sie komplett auseinandergenommen und zu etwas gänzlich Neuem zusammengesetzt wurde.

Verantwortung und Pflichten. Ständige Sorge. Zahlungsaufforderungen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapeln. Dann dieser Job, der stumpfe Trott ihrer Tage: Laken wechseln, Oberflächen abwischen, die Hinterlassenschaften anderer Menschen aufsaugen.

Adele schluckt schwer, während sie sich bückt, um den Staubsauger in der Wand einzustecken. Als sie sich wieder aufrichtet, blickt sie sich um. Das wird nicht lange dauern, denkt sie, während sie sich ein Bild vom Grad der Verunreinigung macht.

Dieser kleine Teil der Arbeit gefällt Adele: das Abschätzen des zeitlichen und energetischen Aufwands. Es ist eine Kunst und der einzige Aspekt an diesem Prozedere, der erfordert, dass sie ihr Gehirn einsetzt.

Ihr Blick schweift über die minimalistische Einrichtung: das massive Bett, die tiefen Sessel, die abstrakten Wirbel an der Wand zu ihrer Linken, die unter Gemälde laufen, die Kaschmirwolldecken in gedämpften Farbtönen.

Nicht schlimm.

Diese Leute sind ordentlich. Umsichtig. Das Bettzeug ist kaum zerknittert; das komplexe Arrangement von Plaids am Fußende noch unangetastet.

Die einzig sichtbare Unordnung besteht in den halb leeren Tassen auf den Nachttischen sowie einer über den Stuhl in der Ecke geworfenen schwarzen Jacke. Sie inspiziert das gewebte Logo am Oberarm. Moncler. Das Teil kostete sicher seine 3000 Franken.

Sie fand ja schon immer, dass eine solche Achtlosigkeit – die Jacke einfach so über den Stuhl zu werfen – nur mit einem gewissen Reichtum einhergeht. Das Gleiche gilt für die Zimmer selbst. Die meisten Gästen scheinen völlig blind für die Feinheiten und Details, die sie von anderen abheben – das maßgefertigte Mobiliar, die marmornen Bäder, die handgewebten getufteten Teppiche.

Ständig muss sie sich mit jemandes gedankenlosem Schmutz auseinandersetzen – fleckige Bettlaken oder klebrige, in die Teppiche eingetretene Essensreste. Adele hat dabei das labbrige, zerknitterten Kondom vor Augen, das sie erst letzte Woche aus einer Kloschüssel gefischt hat.

Der Gedanke brennt wie eine Schürfwunde. Sie schiebt ihn beiseite und steckt sich ihre Kopfhörer in die Ohren. Beim Arbeiten hört sie immer Musik, stimmt ihre Aufgaben auf den Takt ab.

Ihre Lieblings-Playlist besteht aus Hard Rock und Heavy Metal. Guns N’ Roses, Slash, Metallica.

Sie will sie gerade starten, hält dann aber inne, als sie draußen eine Veränderung wahrnimmt. Eine schleichende Verdunkelung des Himmels und das so typische bleierne Grau, das starkem Schneefall vorausgeht – unheilvoll in seiner dumpfen Dichte. Dabei schneit es bereits ohne Unterlass, und pulvrige Wehen sammeln sich um die Hotelbeschilderung und die davor geparkten Autos.

Winzige Pfeile der Angst schwirren durch ihre Brust. Sollte der Sturm heftiger werden, wird sie womöglich Schwierigkeiten haben, nach Hause zu kommen. An jedem anderen Abend wäre das nicht so schlimm – ihre Kinderbetreuung ist zeitlich flexibel –, aber heute geht Gabriel für eine Woche zu seinem Vater.

Sie muss rechtzeitig zurück sein, um sich verabschieden zu können – ein Abschied, der ihr immer im Hals stecken bleiben möchte, wenn Stéphane mit ungerührter Miene zuschaut und seine Hand bereits die von Gabriel umschließt.

Es ist eine dunkle, irrationale Angst, die sie jedes Mal aufs Neue überfällt, wenn er geht – die Furcht, dass er womöglich nicht mehr zurückkehrt, nicht mehr zurückkehren will, dass er sich womöglich doch dafür entscheiden könnte, bei Stéphane zu leben.

Adele kann diese Furcht auch jetzt sehen, sie spiegelt sich in der Fensterscheibe vor ihr wider. Ihr dunkles Haar ist zu einem straffen, hochsitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden und offenbart ein verhärmtes Gesicht, die mandelförmigen Augen vor Sorge verkniffen. Sie wendet sich ab. Sich so zu sehen – schemenhaft, verzerrt –, ist, als würde man in die düstersten Gefilde seiner Seele blicken.

Sie schaut auf ihr Display und will gerade »Play« drücken, als sie aus dem Augenwinkel etwas auf der Balustrade draußen wahrnimmt.

Etwas Kleines, Glänzendes, das im Schnee aufblitzt.

Neugierig schiebt Adele die Tür auf.

Eisige Luft strömt ins Zimmer, begleitet von winzigen Flocken des vom Wind verwirbelten Schnees. Sie begibt sich zur Balustrade und hebt es auf.

Ein Armreif.

Wie sie ihn zwischen ihren Fingern wendet, erkennt sie, dass er aus Kupfer ist, ein bisschen wie die Armreife, die manche Leute gegen Arthritis tragen. Winzige Ziffern ziehen sich geschwungen an der Innenseite entlang. Eine Gravur.

Sie wird ihn auf den Nachttisch legen, sodass der Gast ihn gleich bei seiner Ankunft sehen kann.

Adele kehrt ins Zimmer zurück und schließt die Tür hinter sich. Als sie den Armreif ablegt, wagt sie abermals einen Blick auf den dichten Schnee und die immer höher werdenden Verwehungen rings um den Balkon.

Falls sie zu spät kommt, wird Stéphane nicht auf sie warten. Das Einzige, was sie vorfinden wird, ist eine viel zu stille Wohnung und eine Leere, die an ihr zehren wird, bis Gabriel wieder zu Hause ist.

4

Elin, findest du nicht auch …?« Wills letztes Wort verliert sich im Geräusch der Flagge über ihnen, die in dem böigen Wind knattert.

Dicke Schneeflocken taumeln vom Himmel und lassen sich auf ihrem Gesicht nieder.

Ihr Magen krampft sich zusammen. Trotz Wills Gegenwart und dem erleuchteten Hotel vor ihr wird sie sich schlagartig ihrer Isolation bewusst – der absoluten Abgeschiedenheit dieses Orts. Die Fahrt hierher hat über anderthalb Stunden gedauert. Und mit jeder Minute, die sie von der gewundenen Straße weiter den Berg hinaufgezogen wurden, fiel es Elin schwerer, ihr zunehmendes Gefühl von Unbehagen zu unterdrücken.

Aufgrund des Wetters haben sie für die Fahrt deutlich länger gebraucht als üblich, aber dennoch kann sie nicht den Umstand ignorieren, wie weit entfernt von der Zivilisation sie sich befinden. Abgesehen von dem Hotel ist da nichts zu erkennen als eine Unzahl von Bäumen, Schnee und das schemenhaft über ihnen aufragende Gebirgsmassiv.

»Elin? Kommst du?« Will stapft los und zieht holpernd ihre Koffer durch das Weiß Richtung Eingang.

Sie nickt, ihre Hand fest um den Riemen ihrer Tasche geklammert. Wie sie so vor dem Hotel steht, verspürt sie ein ganz und gar merkwürdiges Gefühl – eine Störung in der Atmosphäre, eine sonderbare Unruhe, die nichts mit dem Schneegestöber zu tun hat.

Elin sieht sich um. Die Einfahrt und der dahinter befindliche Parkplatz liegen wie ausgestorben da.

Niemand ist da.

Alle Passagiere aus der Seilbahn haben sich bereits nach drinnen begeben.

Es ist das Gebäude, denkt sie, während sie den Anblick des gewaltigen weißen Bauwerks auf sich wirken lässt. Je länger sie es betrachtet, desto spürbarer wird eine gewisse Spannung.

Eine Anomalie.

In der Broschüre, die Isaac geschickt hatte, ist es ihr gar nicht aufgefallen. Aber andererseits, so überlegt sie, waren diese Aufnahmen aus der Ferne gemacht worden und betonten eher die malerische Kulisse im Hintergrund: die schneebedeckten Gipfel, den Wald aus weiß bereiften Tannen.

Sie haben sich dabei nicht auf das Gebäude selbst konzentriert, wie roh und schonungslos es eigentlich wirkt.

Es lässt keinen Zweifel an seiner Vergangenheit aufkommen, an das, was es einst war. Die Architektur hat etwas brutal Klinisches an sich; die Kargheit der Anstalt wird in seinen strengen Konturen spürbar, den gnadenlos rechtwinkligen Mauern und Fassaden sowie den modernistischen Flachdächern. Und überall ist Glas – ganze schwindelerregende Wände aus Glas, die ungehemmten Einblick ins Innere gewähren.

Und doch, so denkt Elin, während sie einen Schritt nach vorne macht, will etwas sich nicht ganz in diese klinische Aura fügen; da sind all diese Details, die in der Broschüre nicht zu sehen waren – die elegant gemeißelten Balustraden und Balkons, die wunderschöne lang gezogene Holzveranda im Erdgeschoss.

Das ist die Anomalie, kommt ihr der Gedanke. Die schwelende Spannung, die ihr nicht entgangen ist. Dieses Nebeneinander – es ist befremdlich. Anstalt und Schönheit, die unversöhnlich aufeinanderprallen.

Wahrscheinlich steckte da sogar Absicht dahinter, als das Gebäude entworfen wurde, sinniert sie – die ganzen kunstvollen Verzierungen als ein Versuch, die Tatsache zu kaschieren, dass es sich hierbei nicht um einen Ort handelte, den man zum Spaß besuchte.

Dies war ein Ort, an dem Menschen mit ihrer Krankheit rangen, ein Ort, an dem Menschen starben.

Nun ergibt es auch einen Sinn, warum ihr Bruder seine Verlobung ausgerechnet hier feiert.

An diesem Ort geht es, genau wie bei Isaac selbst, allein um die Fassade.

Darum, zu verbergen, was sich wirklich dahinter befindet.

5

Scheiße«, murmelt Adele und rüttelt mit ihrem Schlüssel im Schloss herum. Warum nur will er sich nicht drehen lassen? So ist es doch immer, wenn sie es eilig hat.

Die Tür zum Umkleideraum schwingt plötzlich auf und lässt einen Schwall kalter Luft herein. Adele schreckt zusammen, der Schlüssel fällt ihr aus der Hand.

»Alles okay?«

Ein Hauch von Erleichterung. Sie kennt diese Stimme: Mat, der weißblonde Schwede, einer der zahlreichen ausländischen Angestellten des Hotels. Er arbeitet hinter der Bar. Übermäßig selbstbewusst. Mit hellgrünen Augen, die einen zunächst von oben bis unten mustern, um dann geradewegs durch einen hindurchzuschauen.

»Alles super.« Sie geht in die Hocke und hebt den Schlüssel auf. »Ich hab’s nur eilig, das ist alles. Gabriel ist die Woche bei seinem Vater. Er holt ihn heute Abend ab. Ich wollte pünktlich zurück sein, um mich verabschieden zu können.« Endlich schafft sie es, ihren Spind zu öffnen, und zieht Tasche und Mantel heraus.

»Gerade haben sie durchgegeben, dass die Seilbahn ausgefallen ist.« Mat schiebt ebenfalls einen Schlüssel in seinen Spind. »Vor morgen früh geht nichts mehr.«

Adele schaut zum Fenster raus. Der Sturm tobt mittlerweile und wirft sich heulend gegen die Seitenflächen des Hotels.

»Was ist mit den Bussen?«

»Die fahren noch, aber sie werden gerammelt voll sein.«

Er hat recht. Sie beißt sich auf die Lippe und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.

In einer Stunde sollte sie unten im Tal sein. Wenn sie sich beeilt, schafft sie es vielleicht.

Nachdem sie sich verabschiedet hat, verlässt Adele das Hotel durch einen Seitenausgang. Zitternd bleibt sie stehen, verblüfft von der Heftigkeit des Windes, der ihr winzige Eiskügelchen ins Gesicht und in die Augen bläst. Ihre Wangen brennen von der Kälte.

Adele zieht sich den Schal über die Nase und betritt dann den schmalen Weg, der zur Vorderseite des Hotels führt.

Bei jedem Schritt versinken ihre Beine im Schnee. Schon dringt er durch das dünne Leder ihrer Stiefel. Idiotin. Sie hätte ihre wetterfesten Stiefel anziehen sollen. In wenigen Minuten werden ihre Füße komplett durchnässt sein.

Behutsam geht sie weiter, wobei sie einen Bogen um die größeren Schneeverwehungen macht. Als ihr Handy in der Tasche vibriert, bleibt sie stehen und zieht es hervor. Eine Nachricht von Stéphane. Mache mich jetzt von der Arbeit auf den Weg. Bis gleich.

Arbeit.

Allein das Wort weckt einen bekannten, bitteren Groll in ihr. Adele hasst sich selbst dafür.

Sie weiß, dass es nichts bringt, weiter dem nachzuhängen, was hätte sein können – eine steile Karriere, ein entsprechendes Gehalt, Geschäftsreisen. Aber sie kann nicht anders.

Ganz gleich, wie sie versucht, sich alles zurechtzulegen, Erklärungen und Rechtfertigungen zu finden, es bleibt doch offensichtlich, dass sie diejenige ist, die die Opfer gebracht hat, nicht Stéphane. Er hat bei Gabriels Geburt weder seine Pläne noch seinen Studienplatz aufgeben müssen. Er schloss mit Auszeichnung an der Uni ab und bekam direkt im Anschluss einen Job bei einem multinationalen Unternehmen in Vevey, wo er im Markenmanagement tätig ist. Stéphane wird hochgeschätzt und macht sich gut. Von seinem Gehalt ganz zu schweigen.

Seine Freundin arbeitet für dasselbe Unternehmen und bezieht ein ähnlich eindrucksvolles Gehalt, wie Adele nicht entgangen ist. Lise ist keineswegs protzig, doch ihr subtil teures, gepflegtes Auftreten und ihr natürliches Selbstvertrauen sprechen für sich.

Damit kommt sie ja noch zurecht – es ist schließlich nichts weiter als kleinlicher, alberner Neid ihrerseits. Was sie eigentlich stört, sind die möglichen Auswirkungen auf Gabriel. Sie weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis auch ihr Sohn die Unterschiede zwischen den Berufen seiner Eltern bemerken wird.

Ein Teil von ihr befürchtet, dass er dann auf sie herabschauen wird – dass er sie und das, was sie ihm gibt, im Vergleich zu dem, was Stéphane ihm bieten kann, als minderwertig betrachten könnte.

Adele ist klar, dass es dumm ist, im Vorhinein so zu denken, denn im Moment hat nichts von alldem, was Gabriel liebt, mit Geld zu tun: ein bisschen Kuscheln und Vorlesen vor dem Zubettgehen. Heiße Schokolade mit Schlagsahne. Gemeinsam im Sandkasten spielen. Schlittenfahren.

Sie muss lächeln, als ihr der Ausflug von letzter Woche einfällt. Zusammengequetscht auf einem Schlitten hatten die beiden so einen Schwung entwickelt, dass sie die Kontrolle verloren und in den Zaun am Fuß des Hügels gerauscht sind. Gabriel landete, sämtliche viere von sich gestreckt, auf ihr drauf und kringelte sich vor Lachen.

Diese Erinnerung rückt umgehend all ihre Sorgen und Ängste wieder ins rechte Licht. Reiß dich zusammen, ermahnt sie sich, während sie einen Schritt zur Seite macht, um einem herabgefallenen Ast auszuweichen. Hör auf, immer vom Schlimmsten auszugehen.

In diesem Augenblick spürt sie etwas an ihrem Knöchel, einen Druck.

Ist sie an etwas hängen geblieben? Noch ein Ast?

Als sie hinabblickt, erstarrt sie. Behandschuhte Finger umschließen ihren Knöchel.

Dann ein plötzlicher Ruck, der ihr Bein nach hinten wegreißt.

Sie landet mit dem Gesicht voran im weichen Pulverschnee.

Winzige eisige Partikel füllen ihren Mund, ihre Augen.

6

Die weißen Gehänge, die von der Decke baumeln, erinnern Elin an Galgenstricke.

Die Drähte sind so lang, dass sie mehrere Meter überbrücken; die Metallseile sacken in der Mitte durch, steigen wieder auf, nur um gleich noch tiefer abzufallen. Das Gebilde selbst ist nichts weiter als eine wild zuckende Ballung aus Drähten, die eine komplizierte Schlinge beschreiben.

Zweifelsohne unfassbar teuer, ein künstlerisches Statement, das sie nicht »versteht«, denkt Elin bei sich; aber wie auch immer man es dreht und wendet, es ist doch recht befremdlich, so etwas in die Empfangshalle eines Hotels zu hängen.

Etwas derart Beklemmendes an einem Ort, der eigentlich einladend sein soll.

Der Rest ist nicht viel besser – glatte Ledersessel, die um einen kargen, schmalen Holztisch gruppiert sind, eine große graue Steinplatte, die als Empfangstresen dient. Selbst das Gemälde über dem Kamin ist trist: Striemen grauer und schwarzer Farbe, die wütend über die Leinwand geschmiert wurden.

»Und, was denkst du?« Elin stupst Will an. »Sieht so der Traum eines Architekten aus?« Sie weiß schon jetzt, was er später sagen wird: grenzüberschreitend, beseelt, einbindend.

Elin hat diese Worte mittlerweile verinnerlicht, da sie für sie etwas geradezu Poetisches haben. Die Art, wie Will über Architektur redet, wie er es schafft, all das Wunderbare in Backstein und Mörtel aufzudecken – es verrät so viel darüber, wie er denkt und fühlt.

»Ich liebe es. Gebäude wie dieses hatten einen enormen Einfluss auf die Architektur des 20. Jahrhunderts. Typische Merkmale, welche die Leute gemeinhin mit dem Modernismus assoziieren, wurden zum ersten Mal in Einrichtungen wie dieser hier verwendet.« Will hält inne, mustert ihr Gesicht. »Du magst es nicht, stimmt’s?«

»Ich weiß nicht. Für mich fühlt es sich kalt an. Klinisch eben. So viel Platz, und doch befindet sich kaum etwas darin. Bloß ein paar Sessel und Tische.«

»Das ist Absicht.« Elin kann die Spur von Ungeduld in seinen Worten heraushören – er ist enttäuscht, dass es ihr nicht unmittelbar einleuchtet. »Die weißen Wände, das Holz, die natürlichen Materialien. Es ist ein Verweis auf die ursprüngliche Gestaltung des Sanatoriums.«

»Also wollen sie, dass es sich steril anfühlt?« Es erscheint ihr seltsam, dass jemand absichtlich etwas entwerfen würde, um ihm jegliche Wärme oder Behaglichkeit vorzuenthalten.

»Es war schlicht eine Sache der Hygiene, aber man glaubte damals auch, dass weiß getünchte Wände einer ›inneren Reinheit‹ förderlich wären.« Er setzt Anführungszeichen in die Luft. »Die Architekten experimentierten damals mit Design als einem Mittel, die Gefühle der Menschen zu beeinflussen. Ein Gebäude wie dieses hier wurde quasi selbst als medizinisches Instrument genutzt – jedes Detail extra darauf zugeschnitten, den Patienten bei seiner Genesung zu unterstützen.«

»Und das ganze Glas? Also, ich weiß nicht, ob mir das helfen würde.« Elin betrachtet durch die gewaltige Fensterfront den Schnee, der wütend vom Wind herumgepeitscht wird und an den Rahmen emporkriecht. Es gibt kaum so etwas wie eine Trennung zwischen ihr und der Außenwelt. Trotz der Wärme des Kaminfeuers muss sie frösteln.

Will folgt ihrem Blick. »Sie waren überzeugt, dass das natürliche Licht und die weitläufige Sicht auf die Landschaft heilsam seien.«

»Vielleicht.« Sie schaut an ihm vorbei, und ihre Augen verharren an einem kleinen Glaskasten, der an einem dünnen Metalldraht von der Decke hängt.

Elin geht hinüber und entdeckt in seinem Inneren eine Art kleinen versilberten Krug. Darunter stehen einige wenige Worte in mehreren Sprachen:

CRACHOIR – SPITTOON – SPUCKNAPF. Wurde ehemals von Patienten genutzt, um die Ausbreitung von Infektionen zu verringern.

Sie winkt Will herbei. »Und du willst mir erzählen, das hier wäre nicht schräg? Hängt hier rum wie so eine absurde Kunstinstallation.«

»Dieser gesamte Ort ist eine Installation.« Dann berührt er ihren Arm, wobei sein Ton sanfter wird. »Aber das ist es gar nicht, stimmt’s? Du bist nervös, oder? Weil du ihn wiedersehen wirst.«

Elin nickt, wobei sie sich an ihn lehnt und den wohlvertrauten, tröstlichen Geruch seines Aftershaves einatmet – pfeffriges Basilikum und Thymian, mit einer leicht rauchigen Note. »Es ist beinahe vier Jahre her, Will. Die Dinge ändern sich, oder? Ich habe keine Ahnung, wer er ist, jedenfalls nicht mehr.«

»Ich weiß.« Er hält sie fest in seinen Armen. »Aber denk nicht zu viel darüber nach. Lass die Vergangenheit vergangen sein. Dass du hergekommen bist, ist doch ein Neuanfang. Nicht nur mit Isaac, sondern auch nach dem Hayler-Fall. Es ist an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.«

Es ist so einfach für Will, überlegt Elin. Für ihn als Architekt ist jeder Tag ein unbeschriebenes Blatt. Er fängt ständig von vorne an und erschafft etwas Neues.

Es war genau diese Eigenschaft, die sie bei ihrem ersten Kennenlernen so beeindruckt hat. Wie … frisch er wirkte. So voller Elan. Sie fragte sich damals, ob sie je zuvor jemanden wie ihn getroffen hatte – so voller Optimismus, begeistert vom Leben an sich, begeistert von jeder Kleinigkeit.

An dem Tag, an dem sie sich begegneten, war sie joggen gewesen. Sie hatte gerade Feierabend gemacht, nach einer Schicht, die sie hauptsächlich an ihrem Schreibtisch damit verbracht hatte, Papierkram zu wälzen, und beschlossen, den Küstenweg von ihrer Wohnung in Torhun nach Brixham zu laufen. Locker zehn Kilometer hin und zurück.

Als sie eine Pause auf der Promenade oberhalb des Strands einlegte, um sich zu dehnen, fiel ihr vor der Mauer Will ins Auge; Rauchschwaden stiegen um ihm herum auf und hingen in der salzig reglosen Luft.

Er grillte – irgendwas mit Fisch, Paprika und Hühnchen, das nach Kreuzkümmel und Koriander roch.

Elin spürte seinen Blick auf sich sofort. Etwa eine Minute später rief er ihr etwas zu und machte einen Witz. Irgendein klischeehafter Spruch, nach dem Motto: Sieht aus, als hätte ich den leichteren Job als du. Sie musste lachen, und schon befanden sie sich in einer Unterhaltung.

Sie fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Sein Äußeres, sein gesamtes Auftreten hatten etwas unglaublich Vielschichtiges an sich, etwas, das sie gleichzeitig einschüchterte, aber auch erregte.

Strubbeliges blondbraunes Haar, schwarz gerahmte Brille in skandinavischem Design, kurzärmeliges marineblaues Chevron-Hemd, bis zum Hals zugeknöpft.

Nicht unbedingt ihr Typ.

Das Bild fügte sich erst, als er ihr erzählte, was er beruflich machte – er war Architekt. Er erzählte ihr bereitwillig von den Details seiner Arbeit, wobei seine Augen leuchteten. Er war Chefdesigner in einem Büro; sein besonderes Interesse galt Mischbebauungsprojekten und da vor allem der Sanierung ehemaliger Hafenanlagen.

Er deutete in Richtung des neuen Restaurant- und Wohnkomplexes, der sich am Ufer erstreckte – ein Bau wie ein glänzendes, gestrandetes Kreuzfahrtschiff, von dem sie wusste, dass es gefeiert und mit etlichen Preisen ausgezeichnet worden war. Außerdem gestand er ihr, dass er Erdnussbutter und Museen, Surfen und Cola mochte. Was ihr sofort auffiel, war, wie leicht und unbeschwert es lief. Keine Spur von dem üblichen Unbehagen, das sich gerne unter Fremden einstellt.

Elin war sofort klar, dass es daran lag, dass Will mit sich völlig im Reinen war. Sie musste kein Rätselraten betreiben – er war ein offenes Buch –, weshalb sie sich ihm gegenüber ebenfalls öffnete, und das auf eine Weise, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte.

Sie tauschten Nummern aus. Er rief sie noch am selben Abend an, dann am darauffolgenden. Keine Ängste. Keine Spielchen. Er stellte ihr Fragen: anspruchsvolle Fragen über die Polizeiarbeit an sich, Beamtenpolitik und ihre eigenen Erfahrungen als Ermittlerin.

Elin gewann bald das Gefühl, dass sein Bild von ihr nicht dem entsprach, das sie stets von sich gehabt hatte. Der Effekt auf sie war geradezu berauschend, denn nun wollte sie dem gerecht werden, was er in ihr sah – oder was er glaubte, in ihr zu sehen.

Mit Will unternahm sie ganz neue Sachen: Galerien, Museen, Weinkeller am Kai von Exeter. Sie unterhielten sich über Kunst, über Musik, über Ideen. Kauften Bildbände und lasen sie tatsächlich auch. Und planten Wochenendtrips mit minimalem Aufwand.

Nichts davon entsprach ihren bisherigen Gewohnheiten. Ihr Leben war bis zu diesem Zeitpunkt absolut unkultiviert verlaufen: samstagsabends vor der Glotze hängen, trashige Zeitschriften lesen. Hin und wieder was vom Inder bestellen. Ein Besuch im Pub.

Aber sie hätte wissen müssen, dass es nicht von Dauer sein konnte, dass die wahre Elin irgendwann zutage kommen würde. Die Einzelgängerin. Die Introvertierte. Diejenige, der es immer leichter fiel wegzurennen, als eine Bindung einzugehen.

Auf gewisse Weise macht es sie wütend, wie nachlässig und locker sie alles gehandhabt hatte, während jener ersten Monate, in denen es lief. Wenn sie bloß geahnt hätte, dass die ganze Sache so heikel ausbalanciert war, so knapp davor einzustürzen, dann hätte sie es viel fester, viel entschlossener festgehalten.

Innerhalb von Wochen änderte sich alles – eins kam zum anderen, ein gnadenloser Mahlstrom. Die Behandlung ihrer Mutter schlug nicht mehr an. Elin erhielt einen neuen Vorgesetzten und einen extrem fordernden Fall.

Unter Druck unterliefen ihr Fehler – sie machte dicht und weigerte sich, ihre Gefühle offenzulegen. Sofort spürte sie, wie sich etwas in ihrer Beziehung verschob. Diejenige, zu der sie geworden war, war ihm nicht genug, nicht nachvollziehbar.

Die Grenzen, die sie in ihrer Beziehung festgelegt hatte und die er zunächst auch gerne zu akzeptieren schien – so etwa, dass sie ihren Freiraum brauchte, ihre Unabhängigkeit, hin und wieder einen Abend, an dem sie einfach nur sein konnte –, sie wollten nicht länger funktionieren.

Elin merkte, wie er sie auf subtile Weise austestete, so wie ein Kind, das einen wackligen Zahn befühlt. Mal ging er unter der Woche alleine aus, mal verbrachte er einen freien Tag mit seinen Freunden. Es gab zusehends mehr Nächte, die er bei sich schlief.

Sie ahnte, dass, wenn er nicht länger haben konnte, was er bisher von ihr bekommen hatte, er dies durch etwas anderes ersetzt haben wollte – einen anderen Teil von ihr, den sie ihm bisher noch nicht gewährt hatte. Verbindlichkeit. Gewissheit.

Will wünschte sich, dass sich ihre Leben vermengten, verschmolzen, ineinander verstrickten.

Vor sechs Monaten dann kam es zur Krise. In ihrem liebsten Thai-Restaurant fragte er, was sie davon halten würde, ihre jeweilige Wohnung aufzugeben und sich gemeinsam etwas zu suchen.

Wir sind seit über zwei Jahren zusammen, Elin, das ist doch nicht so abwegig.

Sie hielt ihn hin, schob Ausreden vor, aber ihr ist bewusst, dass seine Geduld nicht ewig währen wird. Sie muss eine Entscheidung treffen. Die Zeit läuft ab.

»Elin …«

Sie dreht sich um, saugt tief die Luft ein.

Isaac.

Isaac ist da.

7

Nackte Furcht durchströmt Adele, während sie auf ihren Knien vorwärtskriecht.

Der Griff um ihren Knöchel lässt nach. Sie hört ein Knurren, hektisches Geraschel, kein Wort der Entschuldigung – nichts, was darauf hindeuten würde, dass es ein Unfall, ein Versehen war.

Jemand hat ihr in der Dunkelheit aufgelauert. Darauf gewartet, sie zu Fall zu bringen.

Wirre Fragen wirbeln durch ihren Kopf, doch sie schiebt sie beiseite. Sie muss hier weg. Fliehen.

Adele schleppt sich noch ein Stück weiter, rappelt sich auf und beginnt zu rennen. Sie wagt es nicht, sich umzudrehen. Ihr Blick zuckt über die pechschwarze Landschaft um sie herum.

Denk nach, Adele, denk nach.

Zum Hotel zurückzukehren wird nicht funktionieren. Selbst wenn sie die Tür erreicht, wird sie erst ihre Zugangskarte hervorkramen müssen – das dauert zu lange. Ihr Angreifer wird sie einholen.

Der Wald.

Wenn sie es bis zu den Bäumen schafft, unter das dunkle Dach der Tannen, kann sie ihn womöglich abschütteln. Während sie so rasch wie möglich die leichte Steigung zur Waldgrenze hinaufrennt, kann sie hinter sich Schritte hören, lautes Keuchen.

Hier könnte der Vorteil auf ihrer Seite sein, denn sie kennt diesen Weg – im Sommer war sie hier oft spazieren. Der Pfad schlängelt sich gemächlich durch den Wald und über die Bäche hinweg, die den Berg hinabsprudeln und das Schmelzwasser des Gletschers ins Tal befördern.

Mehrere Pfade gehen vom Hauptweg ab. Im Sommer werden sie als Mountainbike-Strecken genutzt.

Sie wird auf einen von ihnen ausweichen und so versuchen, ihren Verfolger abzuhängen.

Adele hetzt den Weg hoch; Adrenalin pumpt durch sie hindurch, ihre Stiefel arbeiten sich durch den nassen Schnee. Schon nach wenigen Minuten hebt sich ihre Brust schwer, ihr Atem geht schnell und ungleichmäßig, aber sie merkt auch, dass sie ihren Peiniger hinter sich lässt. Sie kann ihn nicht mehr hören.

Zwanzig Meter weiter setzt sie ihren Plan in die Tat um. Sie schlägt einen Haken nach links, versteckt sich hinter einer Gruppe Tannen und taucht in ihren Schatten ab. Schweiß rinnt ihr den Rücken hinab und versickert in ihrem Mantel. Sie wagt kaum zu atmen.

Was, wenn er ihre Fußspuren im Schnee entdeckt? Sie könnten ihn direkt zu ihr führen … Sie kann nur hoffen, dass die unregelmäßigen Wehen, die sich um die Felsen und herabgefallenen Äste aufgehäuft haben, ihr als Tarndecke dienen.

Endlich hört sie ihn vorbeirennen: das dumpfe, monotone Geräusch von Schritten, die Schnee aufwirbeln. Mit einer Hundertachtziggraddrehung hechtet sie über den Weg und sprintet den schmalen Pfad zu ihrer Rechten los. Rasch wirft sie einen Blick hinter sich, um sich nach ihrem Verfolger umzuschauen, doch ihre Augen bekommen nur noch mehr Bäume, noch mehr Schnee zu sehen. Der Wald ist zu dicht.

Die Äste mit den Armen beiseiteschiebend, windet sie sich vorsichtig zwischen den Stämmen hindurch. Sie erstarrt. Eine plötzliche Bewegung zu ihrer Linken. Panisch schnellt ihr Kopf herum.

Erleichterung durchströmt sie, als ein Murmeltier aus einem Schneehaufen herausgesprungen kommt. Mit einem Zucken seines Fells entledigt es sich einiger weißer Flocken, hält mit einem Blick in ihre Richtung inne, bevor es zwischen den Tannen davonflitzt.

Noch eine Bewegung. Ein anderes Geräusch.

Dieses Mal ein gedämpftes Husten.

Scheiße. Er hat sie gefunden.

Ihre Gedanken überschlagen sich.

Die Hütte … die Hütte, die vom Hotel während der Renovierungsarbeiten als Lager genutzt wurde. Adele ist sich sicher, dass sie sich nur ein kleines Stück weiter unterhalb befindet, parallel zu diesem Pfad. Wenn sie noch ein paar Meter schafft, könnte sie sich dort verstecken. Womöglich ist sie abgeschlossen, aber es besteht die Chance …

Weitere Geräusche. Atmen.

Bleib ruhig.Du bist fast da.

Adele bewegt sich Zentimeter für Zentimeter rückwärts.

Stille.