Die Wildnis - Sarah Pearse - E-Book

Die Wildnis E-Book

Sarah Pearse

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Beschreibung

Sie wollte allein sein. Doch das ist sie nicht ...

Atemberaubende Berge, unberührte Wälder, die Stille der Natur. Detective Elin Warner unternimmt einen Hiking-Trip in einen portugiesischen Nationalpark, um sich in der Einsamkeit von den schrecklichen Ereignissen der letzten Zeit zu erholen. Es ist ein Ort zum Auftanken. Oder um spurlos zu verschwinden. Denn in dem Park wird eine Backpackerin vermisst. Als Elin von dem Fall erfährt und eine mysteriöse Landkarte entdeckt, die die junge Frau zurückließ, geht sie auf die Suche. Doch in der Gemeinschaft aus Fremden im abgelegenen Camp des Parks stößt sie auf eine Mauer des Schweigens. Fieberhaft versucht Elin, die Hinweise zu entschlüsseln und die Vermisste zu finden. Doch schon bald wird die Wildnis zur tödlichen Bedrohung und Elin zur Gejagten …

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Seitenzahl: 544

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Atemberaubende Berge, unberührte Wälder, die Stille der Natur. Detective Elin Warner unternimmt einen Hiking-Trip in einen portugiesischen Nationalpark, um sich in der Einsamkeit von den schrecklichen Ereignissen der letzten Zeit zu erholen. Es ist ein Ort zum Auftanken. Oder um spurlos zu verschwinden. Denn in dem Park wird eine Backpackerin vermisst. Als Elin von dem Fall erfährt und eine mysteriöse Landkarte entdeckt, die die junge Frau zurückgelassen hat, geht sie auf die Suche. Doch in der Gemeinschaft aus Fremden im abgelegenen Camp des Parks stößt sie auf eine Mauer des Schweigens. Fieberhaft versucht Elin, die Hinweise zu entschlüsseln und die Vermisste zu finden. Doch schon bald wird die Wildnis zur tödlichen Bedrohung und Elin zur Gejagten …

Weitere Informationen zu Sarah Pearse sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Sarah Pearse

Die Wildnis

Thriller

Aus dem Englischen von Thomas Bauer

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Wilds« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2025

Copyright der Originalausgabe © Sarah Pearse Ltd. 2024

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

by agreement with Johnson & Alcock Ltd.

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur nach einem Entwurf von Sean Garrehy und unter Verwendung von Bildmaterial von Arcangel Images (Mehul Patel)

Redaktion: Regina Carstensen

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32366-0V003

www.goldmann-verlag.de

Für meinen Vater, den liebenswertesten und mutigsten Menschen, den ich kenne.

Der Rastaman denkt, zeichne mir eine Karte von dem, was du siehst,

dann zeichne ich dir eine Karte von dem, was du nie sehen wirst.

Und rate, wessen Karte die größere sein wird!

Rate, wessen Karte die größere Wahrheit erzählen wird!

Kei Miller, The Cartographer Tries to Map a Way to Zion

PROLOG

Abends erwacht der Van zum Leben: In seinem Inneren herrscht Wärme, wenn das Licht eingeschaltet ist, Vertrautheit. Dann fühle ich mich wie in einem Kokon. Das Licht weicht die harten Kanten der Einrichtung auf, die eckigen, zweckmäßigen Formen des Herds und des Kühlschranks, der Packungen mit Nahrungsmitteln, die sich neben der Spüle stapeln.

Aber es ist auch die Tageszeit, zu der ich mich am verletzlichsten fühle.

Der Van legt alles offen, wenn draußen die ersten Schatten über die Landschaft kriechen, wenn das Licht genau beleuchtet, wer ich bin, was mich bewegt. Nicht nur meine Habseligkeiten, meine Bücher und meine Bilder, sondern auch meine Marotten und meine Gewohnheiten. Jede noch so kleine Bewegung, die ich mache.

Auch wenn ich versuche, nicht darüber nachzudenken, bereitet mir die Vorstellung Angst, wie der Van von außen aussieht: klein, einsam, das Einzige, was in der Dunkelheit erleuchtet ist.

Ich werfe einen Blick zum Fenster hinaus. Im Nationalpark ist es inzwischen fast dunkel, die Bäume sind nur noch undurchsichtige Schemen vor dem Himmel. Die Nacht scheint sich hier schneller über die Landschaft zu legen, sie unvermittelt in Finsternis zu tauchen.

Selbst in der Dämmerung mag ich das inzwischen am liebsten an diesem Ort: den Ausblick auf den Fluss, der sich durchs Tal schlängelt, und den Wald dahinter, der zu den Dörfern am Fuß des Berges ansteigt. Über den Dächern scheint ständig eine Wolke zu schweben, als hätten die Häuser Luft geholt und kollektiv ausgeatmet.

Ich drehe mich wieder um, und mein Blick wird von dem Blatt Papier angezogen, das vor mir auf dem Tisch liegt.

Mit jeder Linie, die ich gezeichnet habe, habe ich Teile von mir zurückgelassen. Erste Küsse. Das Versteck auf dem Dachboden. Felder mit Lagerfeuern, die den Himmel glühen lassen.

Für einen Moment fühle ich mich in die Zeit zurückversetzt, als ich hier ankam. Klebrige Flecken von verschüttetem warmem Bier. Lachen.

Ich lächle. Mein Lächeln schwindet.

Ein Geräusch von draußen. Nicht die übliche Geräuschkulisse des Nationalparks – Vogelgezwitscher, Laub, das im Wind raschelt –, sondern etwas Vorsätzliches.

Schritte auf unbefestigtem Untergrund.

Mit einem Mal wird die Enge im Van noch enger, die Wände ziehen sich zusammen, rücken näher. Der Innenraum wirkt nicht mehr gemütlich, sondern stickig, wie eine Zelle.

Ich halte den Atem an, werfe noch einmal einen Blick zum Fenster hinaus.

Die Dunkelheit draußen gibt nichts preis. Nur veränderliche Formen, die undeutlichen Umrisse von Zweigen, die sich zueinander ausstrecken.

Doch dann ist ein Klappern zu hören. Metall auf Metall.

In mir faltet sich alles zusammen, dann faltet es sich noch einmal. Mir fällt ein, was Mum dazu sagte: Eingeweide-Origami.

Ich stehe auf, schnappe mir das Blatt Papier, das auf dem Tisch liegt, blicke mich verzweifelt um.

Ich muss es verstecken.

Ich beuge mich zum Geschirrschrank hinunter, stoße mit dem Kopf gegen das Regal und werfe den Salzstreuer um. Der Deckel ist nicht richtig aufgeschraubt, und Salz verteilt sich auf dem Fußboden.

Als ich mich zwinge, wieder nach oben zu schauen, sehe ich ein Gesicht am Fenster.

Mein ganzer Körper kommt abrupt zum Stillstand. Blut, Atem, Herz – nichts bewegt sich mehr.

Trotz der Dunkelheit sehe ich sie: die Wut.

Ich hole tief Luft, mache aber keine Anstalten, wegzurennen. Nicht, weil ich vor Schreck erstarre, eher aus Resignation.

Vielleicht wusste ich tief in mir drin, dass es so enden würde.

Vielleicht war bei dieser Geschichte von Beginn an klar, wie sie ausgeht.

Vor einem Monster kann man nicht davonlaufen.

Das hätte ich von Anfang an wissen müssen.

1 Kier

Devon, Juli 2018

Neulich habe ich gelesen, dass Menschen, die gern reisen, ein bestimmtes Gen besitzen. Ein echtes, nachweisliches Fernweh-Gen.

Es trägt die Bezeichnung DRD4-7R und hat anscheinend einen Einfluss auf den Dopaminspiegel und auf die Risikobereitschaft – im Grunde genommen auf all die Verhaltensweisen, die bei reiselustigen Menschen besonders ausgeprägt sind.

Seitdem nehme ich alle unter die Lupe, ganz egal, welcher Gruppe sie angehören – Luxusreisende, Kulturfanatiker, die Vanlife-Gemeinde –, und stelle mir vor, dass wir alle denselben fehlerhaften Strang DNA gemeinsam haben.

Ich habe Zeph gestern davon erzählt, und er hat gelacht. Meinte, das Einzige, was wir alle gemeinsam hätten, wäre, dass wir vor irgendetwas davonlaufen. Oder vor irgendjemandem. Typisch Zeph, so etwas zu sagen, ins Melodramatische abzudriften. Das sei der Küchenchef in ihm, meint ein Freund von ihm. Küchenchefs sind Kreative, sie gedeihen durch Emotionen, durch Drama.

Ich glaube, sein Freund hat recht: Zeph bereitet gerade unser Frühstück zu, mit großen, schwungvollen Gesten, die keinen Platz für Zweifel lassen. Er schlägt die Eier geräuschvoll an der Pfanne auf und gibt sie in den Tomateneintopf, um sie darin zu pochieren.

Huevos rancheros. Unser Favorit. Das perfekte Campingbus-Gericht. Zeph wirft die Eierschalen in den Müll, dann streicht er sich mit der Hand über sein kurz geschorenes Haar. Seine Gesichtszüge entspannen sich, nachdem er den schwierigen Teil der Arbeit erledigt und den Eintopf selbst zubereitet hat: die Zwiebeln gedünstet hat, bis sie durchsichtig waren, Paprika, Chilis und Knoblauch dazugegeben hat, dann Lorbeerblätter, Tomaten, Gewürze. Jetzt ist er dickflüssig, eingekocht.

Er hebt einen Löffel davon an die Lippen, probiert, lächelt. Ich kann nicht umhin, ebenfalls zu lächeln. Ich liebe es, ihm beim Kochen zuzusehen; es ist die einzige Gelegenheit, bei der er nicht gegen irgendeinen Teil von sich ankämpft.

»Fast fertig.« Als Zeph merkt, dass ich ihm zuschaue, nimmt er einen Buchweizenpfannkuchen und brät ihn in der Pfanne auf der anderen Kochstelle, in der bereits Fett brutzelt, leicht an. »Hunger?«

»Und wie.« Ich sehe aufs Meer hinaus. Die Brise reißt marineblaue Wunden in die türkisfarbenen gezackten Linien, die von links nach rechts verlaufen.

Wir haben den Van so konzipiert, dass man von der Küche nach draußen schaut und in den Genuss von Ausblicken wie diesem kommt. Und dieser Ausblick ist wirklich besonders. Ich bin schon viel gereist, aber dieser Küstenabschnitt von Devon wird immer mein Favorit bleiben: winzige Sand- und Kiesbuchten, rostrote Klippen, und der Wald reicht bis ans Meer.

Ich habe in diesem Meer schwimmen gelernt, habe in diesem Meer geküsst. Habe blutige, an den Felsen aufgeschürfte Knie darin abgewaschen. Selbst wenn ich kilometerweit weg bin, spüre ich noch seinen Rhythmus in mir.

Zeph summt leise vor sich hin, als er die Kochstelle ausschaltet. Die Eier sind fertig, und er trägt die Pfanne zum Tisch. Die Pfannkuchen und eine Schale geriebenen Cheddar balanciert er dabei auf dem Unterarm.

Ich folge mit dem Eintopf und stelle ihn auf den Tisch, nachdem ich die Landkarte beiseitegeschoben habe, an der ich gerade arbeite.

Ich häufe Käse auf einem Pfannkuchen auf, schaufle Ei und Eintopf darüber, dann schiebe ich ihn mir gierig in den Mund. Als Erstes nehme ich die Konsistenz wahr, den Biss, den der Pfannkuchen hat, das weiche Ei, ehe die Aromen durchschlagen, ein wahres Geschmacksfeuerwerk. »Sensationell.« Ich wische mir den Mund ab, beiße noch einmal hinein.

Zeph lächelt. Um seine blauen Augen bilden sich Fältchen. So macht er das immer: Er bereitet etwas eher Alltägliches zu und sorgt dafür, dass es im Mund regelrecht explodiert. Bis vor ein paar Jahren hat er als Küchenchef gearbeitet und ein erfolgreiches Restaurant in New York geführt. Er kombinierte Fleischgerichte mit veganer Küche, lange bevor vegane Ernährung zum Trend wurde.

Bald sprachen alle nur noch von seinen veganen Gerichten. Eine Zeit lang war er in aller Munde. Er wurde von der Zeitschrift Food & Wine zum »Best New Chef« gekürt, sprach bei einer TEDx-Veranstaltung, schaffte es drei Jahre hintereinander auf die Forbes-Liste der All-Star Eateries in New York und wurde sogar von der James Beard Foundation für die Auszeichnung »Rising Star Chef« nominiert.

Er hat mir Geschichten von Prominenten erzählt, die das ganze Restaurant buchten und eine Riesenshow abzogen, während andere inkognito erschienen, die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Ich habe im Internet nach ihm gesucht und Hunderte von Artikeln über ihn gefunden – Insiderberichte und Feuilletonbeiträge, Interviews und Rezensionen in den sozialen Medien.

Oft kamen Leute nur vorbei, um sich gemeinsam mit ihm fotografieren zu lassen. Man kennt diese Art von Aufnahmen: mürrisch dreinblickender Küchenchef, überenthusiastischer Gast, der ihm ein bisschen zu nah kommt.

Und er sieht gut aus auf diesen Bildern: gerade richtig verschwitzt, mit einem absurden, grell gemusterten Neunzigerjahre-Kopftuch, das einen starken Kontrast zu seiner weißen Kochuniform bildet.

Ein krasser Gegensatz zu der Zeit, als wir uns kennenlernten – in einer Phase, die er als seine »Abwärtsspirale« bezeichnet. Ich war auf Reisen in Italien, Ligurien. Er legte gerade eine Pause ein. Burn-out, sagte er mir, aber ich fand später heraus, dass er gefeuert worden war.

Nachdem es drei Jahre lang immer wieder Beschwerden über ihn gegeben hatte, verklagte ihn schließlich ein Souschef, der sich mit dem Messer fast den Finger abgetrennt hatte. Als er gehen wollte, um sich im Krankenhaus behandeln zu lassen, forderte Zeph ihn auf, die Wunde stattdessen einfach mit Sekundenkleber zu verschließen. Offenbar brachte das nach monatelangen Warnungen von seinen Geldgebern das Fass zum Überlaufen. Schlechte Presse. Die Leute wollen einen Bad Boy, aber zu böse darf er auch nicht sein. Die Sekundenkleber-Geschichte ging viral, und die Stimmung drehte sich gegen Zeph. Er wurde zum Ausgestoßenen.

Für mich nicht. An dem Abend, an dem wir uns kennenlernten, wickelte er mich um den Finger. Er bereitete dicke Garnelen auf dem Grill zu und erzählte mir dabei Geschichten, die mich nicht nur zum Lachen brachten, sondern mein Herz Stück für Stück stahlen.

»Ich möchte deine Meinung zu der Landkarte hören.« Ich hole die Leinwand hervor, lege sie auf den Tisch. Ich habe sie für meinen Bruder gemalt, als Überraschungshochzeitsgeschenk für seine Verlobte.

»Wunderschön.« Er schiebt sich eine Gabel Ei in den Mund. »Und sie weiß sicher nichts davon?«

Ich schüttle den Kopf. »Sie denkt, ich arbeite bloß an der Papeterie für die Hochzeit.«

Die Landkarte ist eine Überraschung für Penn, aber mir ist klar, dass sie sein Geschenk an seine Braut wird. Diese Landkarten sind unser Ding … meins und das meines Bruders.

Meine Liebe für die Kartografie hat mit der Landkartensammlung meiner Mutter begonnen. Ihre Eltern waren Nomaden, und sie erzählte uns, sie habe es gehasst, Orte, die sie liebte, wieder verlassen zu müssen. Orte, die mit Erinnerungen verbunden waren, und Orte, die selbst Erinnerungen waren. Um diese Orte immer bei sich zu haben, sammelte sie Landkarten, die sie an sie erinnerten.

Als Kind brachte ich Stunden damit zu, sie zu studieren, mir die Ortsnamen auf der Zunge zergehen zu lassen und mir Gedanken über ihre geografischen Gegebenheiten zu machen. Nach einiger Zeit wurde mir jedoch bewusst, dass sie mir zwar etwas über den jeweiligen Ort erzählten, nicht aber über meine Mum, was sie dort gemacht hatte, wo sie gegessen hatte, getanzt hatte, wen sie geliebt hatte. Was ihr Herz entflammt hatte.

Deshalb beschloss ich, Mum zum Geburtstag unsere Karte von unserer Stadt zu malen – mit all den Orten, an denen wir kleine Stücke unserer Seele zurückgelassen hatten.

Bei den Orientierungspunkten handelte es sich nicht um Krankenhäuser oder Autowerkstätten, sondern um die Bäckerei, in der ich mit Mum war, während Penn Cricket spielte; um das Haus meiner Großeltern, in dem Weihnachten bei Brettspielen und Lachen lebendig wurde; um den Strand, an dem ich schwimmen lernte und an dem ich die letzte normale Unterhaltung mit unserer Mutter hatte – ein Ort, bei dem noch heute, wenn ich an ihn denke, die Worte wie Sterne über mir schweben.

Sehr gern lasse ich Freunde selbst eine Landkarte malen. Das offenbart so viel darüber, wer sie sind, was ihnen wichtig ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen zwar aus praktischen Gründen umziehen – Kosten, Arbeitsweg –, sich auf ihren Landkarten aber die Orte finden, die einen Platz in ihrem Herzen erobert haben, die Orte, an denen sie sich lebendig fühlen. Frei.

Die Orte, an denen sie arbeiten, kommen nur selten vor, selbst bei denjenigen, die von sich behaupten, sie würden für ihren Job leben. Stattdessen zeichnen sie ihr Elternhaus, das Fitnessstudio, das nach dem Tod ihres Partners ihre einzige Verbindung zur Außenwelt wurde, oder den Park, in dem sie jeden Freitag mit Freunden über Gott und die Welt reden.

Zeph studiert meine Landkarte noch immer. »Du bist also schon fast fertig?«

»So gut wie, nur noch ein paar Kleinigkeiten. Ich zeige sie Penn am Wochenende und frage ihn, ob ich noch irgendwas ergänzen soll.«

Eine Pause. Er schiebt seinen Teller beiseite. »Fängst du dann mit den Illustrationen für unser Buch an, wenn du fertig bist?« Sein Tonfall wird von einer Schärfe überlagert. Zeph spricht von dem Kochbuch. Camping- und Streetfood-Spezialitäten. Gerichte, die sich auf einem zweiflammigen Kocher zubereiten lassen. Ein Gemeinschaftsprojekt: seine Rezepte, meine Illustrationen.

»Klar.« Ich reiße ein Stück vom letzten Pfannkuchen ab, tauche es in den Eintopf. »Hast du diesmal irgendwas anders gemacht? Mehr Knoblauch vielleicht?« Ich nehme meine Gabel zu Hilfe, probiere umständlich.

Das Messer warnt mich vor – das Klappern, als es gegen den Teller stößt.

Ich erstarre.

»Anders?« Er äfft mich nach. »Habe ich irgendwas anders gemacht?« Dann steht er auf, nimmt seinen Teller. »Lass mich raten, es schmeckt nicht, oder?«

Die Zeit verlangsamt sich. Mit einem Mal nehme ich alles viel intensiver wahr: das heiße Pulsieren meines Bluts an den Schläfen; den Winkel, in dem sein Teller zum Boden geneigt ist; die wässrigen, rostbraunen Rinnsale Eintopf, die langsam am Porzellan hinunterlaufen.

Ich bin mir jeder noch so kleinen Bewegung in meinem Gesicht bewusst, als hätte der richtige Ausdruck womöglich Auswirkungen auf das, was als Nächstes kommt.

»Wenn es dir nicht schmeckt, weißt du ja, was du damit machen kannst …« Er tut so, als würde er den Teller aus dem Van schleudern. Ein schiefes Grinsen begleitet seine Worte, seine Lippen sind straff gespannt auf seinen Zähnen, und sein Blick huscht zwischen mir und dem Meer hinter mir hin und her.

Ich schiebe mir eine weitere Gabel in den Mund und kaue. Schau ihm nicht in die Augen. Nicht jetzt. Wenn du nichts sagst, kann er auch nichts missverstehen.

Als er den Kopf schüttelt, weggeht, rufe ich mir in Erinnerung: Das ist es, was du magst: Menschen, die Feuer im Bauch haben.

Genau darum handelt es sich, um eine Folge seiner Leidenschaft. Einer Leidenschaft, bei der er zurzeit nicht weiß, wohin damit.

Seine Idee für das Buch ist gut. Es wird bestimmt durchstarten. Das ist die Formulierung, die er verwendet.

Wir werden durchstarten, Kier. Unsere Beziehung, das Buch, alles wird durchstarten.

2 Elin

Nationalpark, Portugal, Oktober 2021

Sind wir bald da?« Elin Warner bleibt am Scheitelpunkt des Weges stehen. Ihr Blick folgt dem schmalen Pfad, der sich zu einem Gipfel in der Ferne hochschlängelt.

»Ja, von hier aus kann man die Airstream-Wohnwagen gerade so erkennen.« Ihr Bruder Isaac streckt die Hand aus, zeigt hin. »Da oben, auf der rechten Seite, über den Bäumen.«

Sie folgt seinem Blick, kneift die Augen zusammen. Zunächst sind die Wohnwagen auf dem von Schatten entstellten Hang schwer auszumachen, aber als das Licht sich verändert, entdeckt sie einen, dessen metallene Seitenwand das Sonnenlicht reflektiert. »Lass mich raten, die beste Aussicht weit und breit.«

»Nicht zu toppen.«

Elin lässt ihre Umgebung auf sich wirken: siebenhundert Quadratkilometer portugiesischer Nationalpark, die sich über vier Granitmassive erstrecken. Riesige Pinien- und Eichenwälder. Täler, deren steile Wände zu spektakulären Felsgipfeln aufsteigen. Wunderschön und einschüchternd zugleich.

Eine riesige, unüberwindbare Masse. Mit jedem Schritt, jeder neuen Richtung stellt ihnen der Nationalpark mehr entgegen: mehr Land, mehr Bäume, Berge, die sich zu vervielfachen scheinen. Solche Dimensionen haben ihr schon immer Angst gemacht. Orte, deren Größe einzelne Details verschwinden lässt, sodass man nur noch ihre Ausmaße sieht.

Elin denkt darüber nach, was Isaac ihr erzählt hat: dass hier immer wieder Menschen verschwinden. Man kann sich durchaus vorstellen, wie sie nahtlos mit den Weiten des Parks verschmelzen.

Sie gehen weiter, folgen dem staubigen, kümmerlichen Pfad, der sich den Hang hinaufschlängelt.

Isaac geht voraus und erhöht das Tempo. Nach ein paar Minuten wird aus dem Stechen in ihrer Rippe ein stumpfes Pochen. »Warte mal, ich brauche eine kurze Pause.«

Isaac bleibt stehen, wirkt irritiert. Er fährt sich mit den Fingern durch seine dunklen Locken.

Diese Geste ist so vertraut, dass sich die Zeit für einen Moment verselbstständigt. Sie sind wieder Kinder, alle drei. Die Welt ist in Ordnung.

Elin schüttelt diese Vorstellung ab und holt ihre Trinkflasche aus dem Rucksack. Sie klappt den Verschluss auf, nimmt einen langen Zug.

»Besser?« Isaac beobachtet sie.

»Ja. Ist nur die Rippe, die sich beklagt … Wir waren ziemlich viel auf Achse in den letzten Tagen.« Zu viel, denkt sie, als sie sich an die Warnung ihres Arztes erinnert. Gehen Sie es langsam an.

Doch genau das hat sie nicht getan. Seit sie gestern Vormittag im Nationalpark angekommen sind, hat sie sich voll reingehängt: erst beim Fußmarsch zur Hütte, dann heute bei der längeren Wanderung zu den Wohnwagen.

Sie kann einfach nicht anders. Es fühlt sich so an, als würde sie mit jedem Schritt, den sie macht, mit jedem Hügel, den sie erklimmt, den Abstand zu ihrem Leben zu Hause in Devon vergrößern. Die letzten Monate waren hart. Ein anspruchsvoller Fall, ihr erster echter Fall als Detective Sergeant seit ihrer beruflichen Auszeit und der Trennung von Will, ihrem Ex.

Sie braucht das, will jedem Moment so viel wie möglich abgewinnen.

»Sicher? Wir können gern noch ein bisschen länger Pause machen, bevor wir den letzten Abschnitt in Angriff nehmen.« Isaac sieht sie an, ein Zögern in seinem Blick. So läuft es, seit sie im Nationalpark angekommen sind: Es ist zwar kein Eiertanz, wenn sie miteinander sprechen, aber anstelle des Geplänkels, wie man es von Geschwistern erwarten würde, herrscht eine fast schon förmliche Höflichkeit zwischen ihnen.

Aber das ist kein Wunder, ruft sie sich in Erinnerung. Schließlich ist ihr Verhältnis zu Isaac noch recht fragil.

Neu und unfertig. Von ein paar Telefonaten und Textnachrichten abgesehen, waren sie bis vor Kurzem ziemlich voneinander entfremdet. Vier Jahre lang nur minimaler Kontakt, unbeholfene Unterhaltungen. Dieser Trip ist ein erster Schritt, und sie hat Angst, es zu vermasseln.

Denn was das anbelangt, haben sie eine lange Vorgeschichte. Missglückte Trips. Elins Besuch letztes Jahr bei Isaac in der Schweiz endete damit, dass sie den Mord an seiner Verlobten Laure untersuchte. Nicht gerade ein Traum-Wiedersehen.

»Sicher.« Sie will soeben die Flasche wieder verstauen, als sie ein Stück entfernt in einem Eichenwäldchen eine Bewegung wahrnimmt.

Ein plötzliches Aufblitzen von Farbe.

Elin atmet langsam aus, als ein Reh über den Weg huscht, ein dunkler verschwommener Fleck vor dem Laubwerk.

Ihr Puls verlangsamt sich, und sie verspürt Erleichterung, ja, aber auch Enttäuschung. Wie dumm von ihr zu glauben, sie könne davor davonlaufen, indem sie hierherkommt. In den vergangenen Monaten ist es für sie zur Normalität geworden – zu einem Automatismus, so selbstverständlich wie zu atmen –, danach Ausschau zu halten, was im Schatten lauert.

»Wir lassen uns hier ständig überrumpeln, nicht wahr?« Isaac schaut dem Reh hinterher, als es in den Wald verschwindet und mehrere tief hängende Zweige zitternd zurücklässt.

»Auf Schritt und Tritt.« Der Nationalpark ist voller solcher Eigenheiten: verlassene Gebäude, die plötzlich zwischen den Bäumen auftauchen; wabernde Nebelschwaden; Schreine am Wegrand in Farben, die einem den Atem rauben können.

Sie gehen weiter.

»Bist du viel gewandert, seit du aus dem Krankenhaus entlassen wurdest?«, erkundigt sich Isaac.

»Ab und zu, einfache Touren. Joggen kommt in absehbarer Zukunft nicht infrage, deshalb bin ich stattdessen gewandert.« Sie sieht ihn von der Seite an. »Ich wollte dir die gleiche Frage stellen, aber wenn ich dich so anschaue, kenne ich die Antwort wahrscheinlich schon.«

»Ja.« Er lächelt. »Ich habe im Sommer viel trainiert, auch Traillauf.« Er spielt das Ganze herunter, denkt Elin, während sie seine muskulösen Beine betrachtet. Er hat etwas Solides an sich. Eine neue Art von Stärke. »Das hat mir geholfen, weißt du? Seit der Sache mit Laure.«

»Wie hast du es denn verarbeitet?«, fragt sie vorsichtig. »Wir haben ja noch nie richtig darüber gesprochen.«

»Wird schon so langsam.« Er dreht sich abrupt um und deutet auf einen Vogel, der über ihnen herabstößt. »Sieht aus wie ein Mauersegler«, murmelt er.

Zu viel, zu früh, denkt sie, während sie ihn beobachtet.

Sie wird nicht weiter nachbohren.

Sich wieder kennenzulernen, muss nicht überstürzt werden. Muss nicht erzwungen werden. Genau darum geht es bei diesem Trip: sich Zeit zu lassen, sich voranzutasten. In den kommenden Wochen geht es nur um sie beide.

Um sie beide und das, denkt Elin, als sie sich umblickt.

Der Pfad vor ihnen schlängelt sich dahin, teilt sich, dann schlängelt er sich wieder dahin. Äste, die sich über den Weg strecken und einen zu sich ziehen und gleichzeitig zurückstoßen. Ein Rätsel, wie alles an dieser Landschaft.

Auch nach ein paar Tagen hat sie, wie bei Isaac, noch immer das Gefühl, nicht einmal an der Oberfläche gekratzt zu haben.

3 Kier

Devon, Juli 2018

Ich nehme an, ich brauche nicht anzuklopfen.«

Alles an mir gerät ins Schlingern. Er steht direkt vor der offenen Tür, in knöchelhohen Turnschuhen, Jeans, abgetragenem T-Shirt und mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

Mein Zwillingsbruder Penn.

Woody schießt zwischen meinen Beinen durch und reißt mich dabei fast um. Penn beugt sich hinunter, krault ihm den Rücken und verdreht die Augen, als mein Hund hochspringt, um ihm über das Gesicht zu lecken.

»Und was ist mit mir?« Ich möchte nicht nur eine Umarmung, ich möchte ihn inhalieren, möchte mit ihm verschmelzen.

Er schlingt die Arme um mich. »Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch.« Ich halte ihn noch einen Moment fest, bevor wir einander wieder loslassen und uns anstarren. Es ist immer das Gleiche, wenn wir uns länger nicht gesehen haben. Wir nehmen uns ganz genau unter die Lupe, um herauszufinden, ob wir irgendetwas Neues verpasst haben. Aber abgesehen von einem Haarschnitt, das blonde Haar ein bisschen kürzer geschoren als sonst, ist er unverändert.

Penn räuspert sich, wirkt verlegen wegen der Tränen, die ich in seinen Augen erkenne.

»Softie.« Ich blinzle meine eigenen Tränen weg.

»Ist Zeph gar nicht da?«

»Er ist schwimmen. Kommt bald wieder.«

Penn nickt. »Und wie ist es, mit jemandem gemeinsam unterwegs zu sein? Ich möchte Insiderinfos, nicht die Werbefloskeln, mit denen du mich bislang abgespeist hast. Muss echt schwer sein, nachdem du nur mich als Vergleich hast, mit dem immer alles perfekt …«

»Ja, ja.« Ich verdrehe die Augen, aber mit Penn unterwegs zu sein, war tatsächlich stets perfekt. Bei meinem ersten Campingtrip mit ihm ging es nach Spanien, in die Nähe einer Steilküste. Wir kamen nach Einbruch der Dunkelheit dort an, aber am Morgen hatten wir einen spektakulären Ausblick auf die Wellen, die auf den Strand krachten, auf den blauen Himmel, der sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien.

Beim Campen haben die frühen Morgenstunden etwas Unverfälschtes und Besonderes. Sie sind wie »Sex mit Mutter Erde«, beschreibt es ein Freund von mir. Wenn man so eins ist mit der Natur, dass das Ganze zu einer außerkörperlichen Erfahrung wird. Zu etwas Übersinnlichem. Die Welt trifft einen dann mitten ins Gesicht, berührt einen tief drin.

In geschlossenen Räumen passiert das nie. Wenn man einen Blick auf sein Handy geworfen und einen Kaffee getrunken hat, ist es bereits zu spät. Scheuklappen auf.

»Und, bekomme ich eine Führung?«

»Klar. Die Holzverkleidung an der Decke und der Holzboden sind neu … und wir haben die Küche zur Tür versetzt, damit Zeph beim Kochen rausschauen kann.« Penn streicht über die Holz-Arbeitsplatte. »Die Küche ist maßgefertigt.« Ich zeige ihm das Kochfeld, die Schubladen darunter, das Backrohr unter der Arbeitsplatte, das Spülbecken und das Regal darüber, auf dem sich zahlreiche Öle und Gewürze aneinanderreihen.

»Und geschlafen wird da hinten.«

Er steckt den Kopf in den hinteren Bereich und lacht. »Lass mich raten: Das war deine Idee.« Er zeigt mit einem Nicken auf die integrierte Nische für meine Bücher über dem Bett.

Ich deute auf die Fahrerkabine. »Das da ebenfalls. Die Vordersitze lassen sich umdrehen, und diesen Tisch hier kann man ausklappen, dann hat man ein provisorisches Büro.« Ich zeige ihm noch unsere restlichen Umbauten. Den Jetboil-Gaskocher. Gel-Pads, damit unsere Töpfe und Gläser beim Fahren nicht runterfallen. Kühlschrank, Wassererhitzer, Tassenhaken. Die Wandbibliothek mit unseren Büchern und Karten.

Ich spreche schnell, zu schnell, denn unter seinem Blick wirkt alles etwas kleiner, schäbiger. Das liegt nicht an ihm – er urteilt nicht, ich tue es. Ich vergleiche den Van mit ihrem viktorianischen Reihenhaus an der Flussmündung. Ich möchte seine Zustimmung, möchte, dass er ihm nicht nur gefällt, sondern halte nach einem Anflug von Neid Ausschau, um die Bestätigung zu bekommen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

Doch von Neid keine Spur. Stattdessen ist er einfach nur nett. Zu nett, zu herzlich. Es wirkt erzwungen, und das ist ein schlechtes Zeichen. Er kommentiert alles, lobt es über den grünen Klee. Findet alles genial. Niemand kann ein Gel-Pad so genial finden, geschweige denn, auch eines für sein Haus haben wollen. Er bittet mich sogar, ihm den Link zu schicken. Unter dieser übertriebenen Begeisterung liegt Mitleid. Er hat Mitleid mit mir. Mitleid, weil ich es mit dreiunddreißig immer noch nicht schaffe, sesshaft zu werden, und er gibt sich Mühe, es zu verbergen.

Als er sich aufrichtet, stößt er mit dem Kopf gegen die Pflanze, die ich an der Decke aufgehängt habe und die jetzt wild hin und her schwingt. »Kriegt man hier drin keine Platzangst?«

Endlich eine Kritik. Ich lasse vor Erleichterung die Schultern sacken.

»Nur, wenn man sich nicht gut versteht.« Ein kratzendes Lachen.

Penn und ich drehen uns um. Zeph ist zurück, mit nacktem Oberkörper, ein Handtuch um die Taille gebunden. Lächelnd hält er Penn die Hand hin. »Schön, dass wir uns endlich kennenlernen, und bitte entschuldige die Verspätung, ich …« Er verstummt, während sein Blick zwischen uns hin und her wandert. »Zweieiig? Also, ich weiß nicht …«

Das sagen viele. Obwohl Penn einen Kopf größer ist als ich und ein Mann, haben er und ich Gemeinsamkeiten, die Fotos nicht wiedergeben können. Wie sich an unseren Augenwinkeln Falten bilden, wenn wir lächeln, wie wir die Stirn runzeln, wenn wir uns auf etwas konzentrieren. Ich nehme an, das liegt daran, dass wir so unglaublich viel Zeit miteinander verbracht haben und uns unbewusst spiegeln. Gene in Verbindung mit der Alchemie der Zeit.

»Bier?«, frage ich, aber als ich mich umdrehe, stolpere ich über Zephs Fuß. Ich tänzle unbeholfen, um mich auf den Beinen zu halten.

»Was meintest du, von wegen ›nicht klaustrophobisch‹?« Penn lacht, und mir fällt auf, dass sein Blick über Zephs Tattoos wandert.

Zeph versteift sich. Er kommt nicht immer damit klar, wenn sich andere über irgendetwas lustig machen.

»Das liegt nur daran, dass du da bist«, sage ich schnell. »Wenn Zeph und ich allein sind, dann funktioniert es.«

»Komm schon, es kann doch nicht alles eitel Sonnenschein sein.« Penn grinst. »Ich liebe Mila, aber wenn wir Tag für Tag, rund um die Uhr so eingepfercht wären, würden wir wahrscheinlich beide ausrasten.«

Ich zucke mit den Schultern. Ihm ist die Veränderlichkeit nicht bewusst – wie der Campingbus sich wandelt, wenn sich mehr Leute als nur wir beide darin aufhalten. Dann schrumpft der Raum. Wenn Zeph und ich allein sind, haben wir einen Rhythmus, eine Routine, wie wir uns nicht ins Gehege kommen.

»Wir sorgen dafür, dass es funktioniert.« Dann wechselt Zeph das Thema. »Und, wie läuft’s mit den Hochzeitsvorbereitungen? Die müssten ja eigentlich auf der Zielgeraden sein.«

»Ja, Gott sei Dank. Wenn sich das noch länger hinzieht, kommt da keiner lebend raus.«

»So schlimm?« Zeph lacht.

»Irgendwann gehen einem die Details auf die Nerven. Wenn man sich entscheiden muss, wie viele Blumen in jedem Strauß sein sollen.« Penn lächelt und blickt zwischen uns hin und her. »Und, seid ihr beiden die Nächsten?«

Die Frage hängt in der Luft, bis Zeph den Kopf schüttelt. »So weit sind wir noch nicht. Wir sind erst seit« – er schaut mich an – »wie lang, seit neun Monaten zusammen? Zehn? Das ist keine Zeit.«

Penn verkrampft sich. Ich erkenne, dass ihn diese Meinung verärgert. Er hasst Exzentriker. Vor allem männliche. Das ist eine Altlast einer Kindheit wie unserer.

Es entsteht eine peinliche Pause, bis Zeph laut seine Knöchel knacken lässt. »Gut, dann gehe ich mal duschen. Bin gleich wieder bei euch.« Das ist ein Stichwort. Noch etwas, das man in einem Van lernt: wann man sich Freiraum lässt.

Ich sehe Penn an, nehme noch ein Bier aus dem Kühlschrank. »Lass uns rausgehen.«

Wir setzen uns auf die Regiestühle vor dem Van, Woody neben uns, und betrachten die Aussicht. Die Bucht, in der wir stehen, befindet sich in der Mitte eines größeren Küsteneinschnitts und ist wunderschön: ein schimmernder Bogen Wasser, geschützt von mit Bäumen bewachsenen Klippen und noch völlig unbebaut.

Ich trinke einen Schluck Bier. »Und, wie läuft’s? Viel los?«

»Nicht mehr. Die Touristen sind in den letzten Wochen weniger geworden.«

»In der Hochsaison?« Ich beobachte die Frau, die vorbeijoggt. Sie lässt es einfach aussehen, als sie den felsigen Pfad oberhalb vom Strand mit mühelosen, rhythmischen Bewegungen entlangläuft. Ihr kurz geschnittenes blondes Haar schwingt bei jedem Schritt an ihrem Gesicht hin und her.

»Hast du es nicht gehört?«

Ich schüttle den Kopf, und mein Blick kehrt wieder zum Strand zurück. Verbrannte Sonnenanbeter. Schwimmer. Drei Segelboote, die Bojen für eine Regattastrecke setzen.

»Die Bootsmorde. Zwei junge Frauen wurden draußen auf dem Meer getötet. Von der Schiffsschraube verstümmelt.« Sein Blick schweift übers Wasser. »Eine von ihnen wurde nicht weit von hier gefunden. Angeblich war es ein Typ namens Hayler.«

Ich fröstle. »Also vielleicht nicht der ideale Ort für Liebespärchen.«

Penn schaut mir in die Augen. »Dann seid ihr also eins, ein Liebespärchen?«

»Du bist ganz schön neugierig.«

Er grinst. »Mag sein.«

»Komm schon, ich weiß doch, dass du darauf brennst, dein Urteil abzugeben.« Ich kraule Woody die Ohren.

»Schwer zu sagen nach ein paar Minuten, aber …« Er atmet aus. »Ich hätte euch beide eigentlich eher nicht als Paar gesehen. Er wirkt ein bisschen … gestresst.«

Ein Moment vergeht. »Ehrlich, er ist in Ordnung, Penn. Wir … passen zusammen.« Meine Stimme wird schriller.

Penn schaut mich an. Die Luft zwischen uns ist dick und schwer, wie ein Schwamm. Ich möchte sie auswringen, möchte ihr Gewicht loswerden.

Auf Penns Dose hat sich Bier angesammelt. Er schlürft es weg. »Ignorier mich. Du weißt ja, wie ich bin, K, seit der Sache mit Mum. Wenn du jemand Neues kennenlernst, mache ich mir Sorgen.«

Mum. Ich hole tief Luft. »Du kannst nicht jeden durchleuchten.«

Penn schenkt mir ein schiefes Lächeln. »Ich kann’s zumindest versuchen.« Er schaut wieder aufs Meer hinaus. »Dann kommst du also am Samstag bei uns vorbei, ja? Und zeigst uns die Papeterie?«

»Ja, ich hole morgen die finalen Muster im Ort ab. Ich …« Ich verstumme. Zeph ist aufgetaucht. Er ist jetzt angezogen, trägt einen Kapuzenpulli über seinen Shorts.

»Habt ihr noch einen Platz frei?«, fragt er.

»Haben wir, aber ich muss ungesellig sein.« Penn trinkt sein Bier aus, steht auf. »Ich sollte mich auf die Socken machen. Mila kocht.«

»Bist du sicher?« Als ich aufstehe, legt mir Zeph den Arm um die Taille und zieht mich zu sich. Das tut er immer, wenn andere Männer anwesend sind – dann macht er seine Ansprüche geltend. Aber als seine Hand an meiner Wirbelsäule zu ruhen kommt und seine Silberringe gegen meine Haut pressen, denke ich nur: Das ist mein Bruder.

Penn verzieht das Gesicht, als hätte er etwas Schlimmes gesehen. »Also, ich gehe dann mal.« Er quetscht die leere Dose geräuschvoll zusammen.

Zeph macht einen Schritt nach vorn. »Ich nehme sie.«

»Nein, nicht nötig. Da oben ist ein Abfalleimer. Wir sehen uns am Samstag.« Penn lächelt, aber der Rhythmus seiner Worte klingt verkehrt. Zu langsam. Abgehackt.

Woody läuft ihm hinterher, aber ich rufe ihn zurück.

Ich höre, wie sich die Dose in Penns Fingern laut knackend entknittert, als er weggeht und der Abstand zwischen uns größer wird.

4 Elin

Nationalpark, Portugal, Oktober 2021

Okay, diesen Teil der Wanderung hast du mir aber verschwiegen.« Elin zaudert, als der unbefestigte Pfad endet und das Gelände abrupt abfällt. Sie geht ein paar Schritte weiter und wirft einen Blick über die Kante, dann weicht sie mit einem flauen Gefühl im Magen zurück.

Ein Fluss.

Unter anderen Umständen wäre das weiß schäumende Wasser die Hauptattraktion gewesen, doch ihr Blick wird stattdessen auf die Brücke zu ihrer Linken gelenkt, einen Steinbogen, der seine besten Tage hinter sich hat.

»So eine Konstruktion habe ich noch nie gesehen.« Elin geht näher hin und betrachtet die Brücke argwöhnisch. »Sieht aus wie beliebig aufeinandergestapelt.« Mit Moos bewachsene, willkürlich geschichtete Steine bilden einen Bogen. Auf halber Höhe stehen ein paar von ihnen hervor, und aus den Ritzen wächst Unkraut.

»Die stammt aus dem Mittelalter.« Isaac bleibt vor der Brücke stehen. »Die Einheimischen nennen sie Teufelsbrücke. Angeblich hat der sie selbst gebaut.«

Elin schneidet eine Grimasse. »Hast du dir das gerade ausgedacht?«

»Nein. Der Überlieferung zufolge hat der Teufel sie errichtet, nachdem ein Verbrecher seine Seele für einen Fluchtweg über den Fluss verkauft hat. Sie wurde für alles Mögliche benutzt … Hexenkult, Fruchtbarkeitsrituale.«

Das ist der Isaac von früher, denkt Elin, als sie beobachtet, wie ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielt. Der Herausforderer, dem es gefiel, andere an ihre Grenzen zu bringen.

»Ich vermute mal, wir müssen sie überqueren, um zu den Wohnwagen zu gelangen?«

»Aus dieser Richtung ist es die einzige Route, falls du also nicht vorhast zu springen …« Er zieht die Augenbrauen hoch, und in seinen blauen Augen flackert Belustigung auf. »Angst?«

»Ist das eine Challenge?«

»Könnte sein.«

Elin Warner schlüpft an ihm vorbei und betritt die Brücke, doch nach ein paar Schritten zögert sie. Aus dieser Perspektive ist klar, dass sich das ganze Bauwerk nach rechts neigt. Plötzlich fühlt es sich gefährlich an. Riskant.

»Alles in Ordnung?«, ruft Isaac. In seiner Stimme schwingt Sorge mit.

»Ja.« Sie geht weiter. Obwohl sie sich eigentlich beeilen will, es hinter sich bringen will, zwingt sie sich, auf halbem Weg auf die andere Seite stehen zu bleiben, sich umzudrehen und einen Blick hinunter auf den Fluss zu werfen, der sich zu dem Hügel im Hintergrund schlängelt. Dieser ist mit dichtem Laubwerk bedeckt, wobei Flecken herbstlichen Rostrots einen scharfen Kontrast zum lebendigen Grün der Bäume bilden, von dem sie umgeben sind.

Saug es auf. Leb im Moment.

Das ist etwas, wozu sie sich in den vergangenen Monaten immer wieder gezwungen hat: wertzuschätzen, was vor ihr liegt, anstatt ständig zurückzublicken.

Aber das fällt ihr nicht leicht. Die Botschaften, die sie während ihres letzten Falls belastet haben, sind nach wie vor in ihren Gedanken präsent. Anonyme Posts in den sozialen Medien, die sie verhöhnen, die ihr die Fähigkeit absprechen, ihren Job auszuüben. Sie hätte das Ganze als schlechten Scherz abgetan, wäre da nicht die Nachricht gewesen, die sie im Krankenhaus erhielt, nachdem sie den Fall abgeschlossen hatte.

Die Worte machen ihr noch immer zu schaffen:

Geschichte gefällig über diese Ermittlerin?

Ein Tipp: Sie sagt nicht immer die Wahrheit.

Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, hatte der Absender auch noch ein Foto von ihr auf der Station angehängt.

Sich selbst darauf zu sehen, war wie ein Schlag in die Magengrube. Es fühlte sich persönlich an. Unheimlich.

Elin verdrängt den Gedanken und streckt die Hand zur Brüstung der Brücke aus. Als ihre Finger die rauen, abgenutzten Steine berühren, spürt sie das Gewicht der Vergangenheit fast wie eine physische Präsenz.

»Doch nicht so schlimm, wie du dachtest?« Isaac bleibt neben ihr stehen.

Sie schüttelt den Kopf. »Sie ist wunderschön. Das fühlt sich an, als würde man eine Zeitreise unternehmen.«

»Ja, so kommt es mir auch vor. Manche Orte hier, so wie dieser, wirken, als wären sie noch nicht mit dem modernen Leben in Berührung gekommen.«

Das ist es, was ihnen gefehlt hat, denkt Elin, während Isaac ein Foto macht. Gemeinsame Momente, geteilte Erinnerungen. In den vergangenen Tagen haben sie Dinge gesehen, die sie immer in guter Erinnerung behalten werden. Verfallene Burgen hoch oben in den Bergen. Die Römerstraße.

Anblicke, die sie zusammenschweißen werden, die ein neues Kapitel aufschlagen werden.

»Bereit für die letzte Etappe?« Isaac steckt sein Handy zurück in die Hosentasche.

»Bereit.«

Nachdem sie das letzte Stück der Brücke überquert haben, laufen sie noch etwa einen Kilometer weiter, bis sie an eine Gabelung kommen. Hier teilt sich der Weg: Nach links führt ein Pfad hinauf zu den Wohnwagen, geradeaus ein anderer auf ein weiteres Plateau.

Elin geht ein paar Schritte. Die Bäume werden weniger und geben die Sicht auf eine mit Buschwerk bewachsene Fläche frei, gesprenkelt mit Moos, das für Farbakzente zwischen den Zweigen sorgt.

Ein Camp.

Nicht mit Wohnwagen, sondern mit Campingbussen. Zwei nebeneinander und zwei weitere, die sich gegenüberstehen, sodass die vier einen Halbkreis bilden. Es hat den Anschein, als stünden sie schon eine ganze Weile da, als hätten sie bereits Wurzeln geschlagen. Sie sind mit einer Staubschicht bedeckt, ihre einst leuchtenden Farben eingetrübt und verblasst.

»Siehst du das?«, fragt sie Isaac.

Keine Antwort.

Er marschiert bereits an ihr vorbei in Richtung Camp.

»Hey, ich dachte, wir gehen rauf zu unserem Wohnwagen?«

Isaac dreht sich abrupt um und wirbelt mit seiner unwirschen Bewegung eine Staubwolke auf. »Gleich.« Als er den Blick auf die Vans richtet, ist sein Gesichtsausdruck düster. »Ich muss erst noch was erledigen.«

5 Kier

Devon, Juli 2018

Ich weiß, was du gleich sagen wirst. ›Das wirkt ja …‹« Penn fordert uns mit einer Handbewegung auf einzutreten.

»Riesig«, sagen wir im Chor. Woody schlüpft zwischen meinen Beinen durch und läuft hinein. Es ist jedes Mal das Gleiche, wenn man ein Haus betritt, nachdem man im Van auf Reisen war: dieses Gefühl von Weite, von Beständigkeit.

»Ist das immer so?« Zeph schaut Mila an, die mit einem breiten Lächeln im Gesicht in den Flur kommt, um uns zu begrüßen. Ihr gelocktes Haar hat sie zu einem Knoten gebunden, sie wirkt jugendlich frisch, glücklich. Falls die Hochzeitsvorbereitungen sie stressen, sieht man es ihr nicht an.

»Ja«, sagt Mila und schüttelt den Kopf. »Daran solltest du dich besser gewöhnen. Dass die beiden gegenseitig ihre Sätze beenden, ist nur die Spitze des Eisbergs.«

Zeph hebt lachend die Hand und streicht über den Flaum auf seinem Kopf. Dabei rutscht sein T-Shirt hoch und offenbart einen Streifen schwarzer Haare.

Mila schaut kurz hin, dann weg. Ich kann es ihr nicht verdenken. Zeph sieht gut aus heute Abend. Seine dunkle Hose und sein dunkles T-Shirt bringen das Blau seiner Augen zur Geltung. Das Shirt ist nicht eng, lässt aber genug von dem durchblicken, was sich darunter befindet: ein drahtiger Körper, schlank, aber nicht zu schlank.

In einem Artikel über ihn, den ich einmal gelesen habe, hieß es, er habe den Körper eines »drogensüchtigen Rockstars, der gerade eine Tour hinter sich hat«. Ich weiß allerdings, dass er mit verbotenen Substanzen nichts am Hut hat. Es liegt daran, dass Zeph nie zur Ruhe kommt. Er kocht. Denkt nach. Lebt. Seine Füße berühren nie gleichzeitig den Boden.

Mila stürzt sich auf die Mappe in meiner Hand. »Sind das …?«

»Ja. Das sind die finalen Muster der gesamten Papeterie. Ich zeige sie dir später. Gedruckt wird nächste Woche, aber was Qualität und Farbe anbelangt, sind die Muster schon ziemlich aussagekräftig.«

Sie grinst. »Kann es kaum erwarten. Langsam fühlt es sich echt an.«

»Das glaube ich gern.« Lachend folgen Zeph und ich ihr durch den Flur in den offenen Wohnbereich im hinteren Teil des Hauses. Der ganze Tisch ist mit Speisen zugestellt: gekochtes Huhn, gebackene Zucchini, ein Reisgericht, duftende bunte Salate. Ich nehme die Details wahr – das bestickte Tischtuch und die Vase mit Wildblumen – und bin gerührt, dass sie sich solche Mühe gemacht haben.

Und wieder quält mich der Gedanke, der Teufel auf meiner Schulter.

Du könntest all das immer haben, wenn du dich hier niederlassen würdest. Wenn du ein normales Leben führen würdest.

Doch dann fällt es mir plötzlich wieder ein.

Du kannst nicht.

6 Elin

Nationalpark, Portugal, Oktober 2021

Ich verstehe nicht«, ruft Elin und geht schneller, um ihn einzuholen. »Was soll das heißen, du musst noch was erledigen?«

Isaac weicht ihrem Blick aus. »Ich habe meinem Kumpel Penn versprochen, dass ich nach seiner Schwester Ausschau halte, während wir hier sind. Er glaubt, dass sie verschwunden ist, hier im Park.«

Elin schließt zu ihm auf und blinzelt beunruhigt. Davon hat er bislang nichts erwähnt, und seinem verlegenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das eine bewusste Entscheidung.

Ist das der wirkliche Grund, warum er vorgeschlagen hat hierherzukommen? Ein Gefallen für einen Freund? Und nicht, damit sie Zeit miteinander verbringen?

»Ich dachte, das soll ein Urlaub werden.« Sie bemüht sich um einen beiläufigen Tonfall, was ihr jedoch schwerfällt. Isaac wusste, wie dringend sie diese Pause braucht. Sie jetzt damit zu konfrontieren, wo sie bereits hier ist, wo sie keine Wahl hat …

»Ist es auch. Keine Ahnung, was wir rausfinden werden, wenn überhaupt etwas. Penn hat mir nicht gerade viele Anhaltspunkte gegeben. Er hat nur gesagt, er glaubt, dass Kier den Park nie verlassen hat.«

Elin deutet mit einem Nicken auf die Campingbusse, die jetzt zwischen den Bäumen deutlich zu erkennen sind. »Und was hat das damit zu tun?«

»Penn hat gesagt, dass Kier zuletzt hier gesehen wurde. In diesem Camp. Ich …« Er verstummt abrupt, als ein Mann vor ihnen auf dem Weg auftaucht.

»Você está hospedado no Airstreams?« Der Mann lächelt müde, mustert sie von Kopf bis Fuß. Er ist Ende dreißig, barfuß, mit nacktem Oberkörper. Schweiß zieht Linien durch die Staubschicht auf seinem Gesicht.

Isaacs gemurmelte Antwort kommt stockend. »Você … fala inglês?«

Der Mann wechselt ins Englische. »Lasst mich raten, ihr seid oben in einem der Airstream-Wohnwagen untergebracht?« Sein Akzent ist eine Überraschung: amerikanisch. Er hält einen Meißel in der Hand. Sein Zeigefinger blutet, und er steckt ihn in den Mund und lutscht daran. Als er ihre Rucksäcke sieht, wirkt er belustigt. Obwohl diese gebraucht sind, mitgenommen, halten sie seinem prüfenden Blick anscheinend nicht stand.

»Ist das so offensichtlich?« Isaac hat jetzt ein Grinsen im Gesicht, ein entspanntes, selbstironisches Lächeln.

Der Mann lacht. »Warum kommt ihr nicht einfach kurz mit und sagt Hallo, nachdem wir bald Nachbarn sind. Ich bin Ned.« Mit einer ausholenden Armbewegung signalisiert er ihnen, dass sie näher kommen sollen. Als er sich umdreht, erhascht Elin einen Blick auf die Tätowierung an seinem Hinterkopf, die sich unter seinem kurz geschorenen Haar verbirgt.

»Isaac.« Isaac deutet auf sie. »Elin.«

»Engländer?«

Elin lächelt.

»Falls ihr es euch noch nicht zusammengereimt habt, wir sind Amerikaner.« Er lacht abermals. »Entweder durch Geburt oder durch schieres Durchhaltevermögen.«

Small Talk, ein lockeres Hin und Her, während sie ihm auf dem Pfad in Richtung Camp folgen. Wetter. Essen. Wie der Trip bislang verlaufen ist.

Nach etwa fünfzig Metern führt der Pfad auf eine Lichtung, die größer ist, als Elin erwartet hat. Eine Wagenburg. Ihr erster Instinkt war richtig gewesen; das Camp hat etwas Dauerhaftes. Die Bewohner haben hier Wurzeln geschlagen. Solarpaneele. Notstromaggregate. Planen, die über Regentonnen gespannt sind.

Zwischen den beiden weißen Campingbussen in der Mitte ist eine Wäscheleine gespannt, auf der Hemden und Röcke in der Brise flattern.

Durch die offenen Türen der Vans sieht Elin Drucke an den Wänden, Stapel von Büchern, Gewürze in Töpfen, die sich in Regalen aneinanderreihen.

Es herrscht eine warme, heimelige Atmosphäre, aber irgendetwas irritiert sie an dem Anblick, etwas, das sie nicht ganz greifen kann. Sie schaut immer und immer wieder hin, aber nichts springt ihr ins Auge.

Dann löst Elin den Blick von den Vans und richtet ihn auf den großen Gemeinschaftsbereich im Zentrum. In der Mitte steht eine Feuerschale, umgeben von ein paar zerschlissenen kleinen Teppichen.

Eine junge Frau mit langem wasserstoffblondem Haar sitzt etwas abseits auf einer Bank, unter der das Gras zertrampelt und ausgebleicht ist. Der Laptop-Bildschirm vor ihr gibt nichts preis, außer einer Reflexion der Sonne.

Ihr gegenüber sitzt eine etwas ältere Frau mit Bob und vollem Pony, die ein zappelndes, ungefähr zwei Jahre altes Kleinkind auf dem Schoß hat. Sie hustet, als sie sich ihr nähern.

Das unbekümmerte Lachen und die Unterhaltung verstummen abrupt.

Elin spürt, wie sich ihre Nackenhaare aufstellen, als sich die Gruppe wie auf Kommando umdreht. Alle haben einen freundlichen Gesichtsausdruck, aber ihre defensive Körpersprache verrät Elin, dass sie ihre Ankunft als Eindringen betrachten.

Außenstehende.

Ein Hund kommt bellend auf sie zugelaufen. Es ist ein Spaniel mit leberbraunen Flecken auf dem Rücken, die wie Farbkleckse aussehen. Ned zieht ihn sanft am Halsband zurück, dann deutet er auf die Frau mit dem Kind. »Das ist Bridie mit ihrer Tochter Etta.« Er schenkt dem Mädchen ein Lächeln, doch es lächelt nicht zurück, sondern vergräbt den Kopf in der Armbeuge seiner Mutter. »Und das ist Leah.«

Er deutet mit einem Nicken auf die jüngere Frau. Sie blickt auf, ihr breitkrempiger Sonnenhut verschattet ihre Gesichtszüge. Sie ist höchstens Ende zwanzig, fürchterlich dünn, hat blasse Haut.

Ned tritt einen Schritt zurück. »Und zu guter Letzt: Maggie, die uns alle zusammenhält.«

Eine Frau mit dunklen Locken, die von grauen Strähnen durchzogen sind, taucht aus einem der weißen Vans in der Mitte auf. Sie hält eine Tasse in der Hand und trägt Ledersandalen, in denen sich ihre Füße ausbreiten können. Sie muss Ende sechzig, Anfang siebzig sein, aber ihre Bewegungen haben eine Geschmeidigkeit, die über ihr Alter hinwegtäuscht.

Als sie neben ihnen stehen bleibt, neigt sie die Tasse, und dunkle Flüssigkeit ergießt sich über ihren Leinenkittel. Sie streckt laut fluchend die Hand aus. An der gewundenen Narbe auf ihrer Wange bilden sich Falten, als sie lächelt. »Sieht so aus, als wäre ich außer Ned die Einzige, die so höflich ist, anständig Hallo zu sagen.« Maggie deutet bergauf. »Ihr werdet es oben bei den Wohnwagen bestimmt toll finden. Das tun alle, die dort Zeit verbringen.«

»Das sagt sie nur, weil ich ihr immer die Rezensionen vorlese«, ruft Bridie. »Es ist schließlich nicht so, dass irgendjemand zurückkommen und uns Bericht erstatten würde. Eine Begegnung mit dem gemeinen Volk genügt.« Sie verstummt, mustert Elin unverhohlen, studiert ihr Gesicht, dann das von Isaac.

Elin schaut irritiert weg. Trotz des warmen Empfangs glaubt sie, eine unterschwellige Abneigung zu spüren.

»Wie lang bleibt ihr denn?« Ned legt den Meißel auf die Werkbank neben sich und nimmt noch einmal seinen Finger in den Mund, um daran zu lutschen.

»Bis Ende der Woche. Wir haben uns sagen lassen, dass es viel zu erkunden gibt.« Isaac hievt sich seinen Rucksack auf die Schulter. »Was ist mit euch? Legt ihr hier einen Zwischenstopp ein?«

»Wir haben es nicht so eilig.« Ned sieht Maggie an. »Wie lang sind wir schon hier? Bestimmt vier Jahre.«

»Würde ich auch denken.« Sie lächelt. »Mindestens.«

»Wir haben es satt, immer auf Achse zu sein«, fügt Bridie hinzu und streicht sich eine Haarsträhne des kleinen Mädchens aus dem Gesicht. »Fürs Erste zumindest.«

»Und ihr wart die ganze Zeit unter euch?«, erkundigt sich Elin.

Neds Blick wandert über ihr Gesicht, ehe er sich wieder auf den Hund richtet. »Ja, nur wir.«

Stille kehrt ein. Es ist, als hätte eine kalte Brise durchs Camp geweht.

Mit einem Mal liegt Feinseligkeit in der Luft.

Elin spürt Schweiß unter ihren Achseln kribbeln. Sie schaut Isaac an, um ihm zu signalisieren, dass sie gehen möchte, aber während sie versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen, nimmt sie eine schemenhafte Bewegung durch ein Fenster des blauen Vans auf der rechten Seite wahr.

»Ist es euch hier im Sommer nicht zu heiß gewesen?«, fährt Isaac fort, ohne etwas zu bemerken. »Wir haben von den Waldbränden gehört.«

»Die haben uns Gott sei Dank nicht erreicht.« Maggie nippt an ihrem Kaffee. »Und wenn es heiß wird, gibt es Orte, an denen man sich abkühlen kann. Wenn ihr wollt, können wir euch ein paar zeigen, abseits vom Trubel. Nicht die üblichen Touristenfallen.«

»Das wäre toll.«

Maggie lächelt, aber das Lächeln erreicht nicht ihre Augen. Sie wendet den Blick ab, nimmt einen Lappen, der auf der Bank liegt, und reibt damit an dem verschütteten Kaffee auf ihrem Kittel.

»Also, wir gehen dann mal«, sagt Isaac, der den Wink versteht. »Vielleicht sehen wir uns ja, dann lassen wir uns gern Tipps geben.«

Die Gruppe bei der Bank setzt ihre Unterhaltung fort. Nur Ned hebt die Hand zum Abschied, als er zum Rand der Lichtung geht, wo er schnell vom Schatten der Bäume über ihm verschluckt wird.

Nachdem sie ein paar Meter auf dem Pfad gegangen sind, dreht Elin sich um und wirft noch einmal einen Blick auf den blauen Van.

Dieses Mal ist durchs Fenster nichts zu sehen außer den Zweigen der Pinien auf der anderen Seite des Vans, die sich in der Brise bewegen.

7 Kier

Devon, Juli 2018

Penn schenkt den Wein ein. Während wir essen, kommen wir auf den Van zu sprechen, auf unseren Trip hierher, auf die Leute, die wir unterwegs kennengelernt haben.

»Penn hat mir erzählt, ihr habt den Van ziemlich gut hergerichtet, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe.« Mila reicht lächelnd den Salat über den Tisch.

Ich löffle mir etwas davon auf den Teller. »Das war ein Haufen Arbeit, aber es hat sich gelohnt.«

Sie dreht sich zu Zeph. »Ist das dein erster Roadtrip?«

»Ja, früher hatte ich zu viel zu tun. Eine Zeit lang habe ich gearbeitet wie ein Verrückter.«

Wir sprechen ein bisschen über Zephs berufliche Laufbahn und wie sie geendet hat – in einer geschönten Version, der ich nicht widerspreche. Mein Bruder stellt keine Fragen an Zeph, was seine Schmach anbelangt. Penn interessiert sich nicht für Berühmtheit; ich bezweifle, dass er ihn überhaupt gegoogelt hat. Für Penn ist Essen ein Treibstoff, nicht ein existenzieller Genuss. Die beiden werden sich nicht bei einem Gespräch über die Feinheiten eines veganen Gerichts anfreunden.

Zeph wirft Penn immer wieder verstohlene Blicke zu, wirkt irritiert, weil er nicht katzbuckelt. Das würde er niemals zugeben – er ist alles andere als angeberisch, Aufmerksamkeit heischend –, aber ich habe im Lauf der Zeit gelernt, dass er Aufmerksamkeit nie einfordern muss, weil er sie ganz automatisch bekommt.

Letzten Endes tut Mila ihm den Gefallen. Fragt ihn, wo er gelernt hat, woher er seine Inspiration nimmt. Zeph erzählt das Übliche, Frankreich, London, eine Weile Südostasien, verschiedene Restaurants an der amerikanischen Ostküste. Dass er Regeln gebrochen, Leuten Honig um den Mund geschmiert hat, um zu erreichen, was er erreicht hat.

Mila hört ihm gebannt zu. »Ich wollte schon immer mal nach Asien, aber es war bislang nie der richtige Zeitpunkt dafür … Ein Freund von mir meint, es hätte sein Leben verändert.«

Zeph sieht sie ernst an. »In welcher Hinsicht?«

»Spirituell, nehme ich an. Ich glaube, die westliche Ideologie hatte ihm Scheuklappen verpasst«, erklärt sie, wobei sie sich leicht über den Tisch beugt. Ihr Essen ist noch unangetastet.

Die Unterhaltung springt zwischen Mila und Zeph hin und her, und sie strahlt weiterhin Begeisterung aus. Penn schaut mich an und zieht die Augenbrauen hoch, worauf ich nicht reagiere. Ich bin es gewöhnt, dass andere sich in Zephs Gegenwart öffnen. Mit der Art und Weise, wie er zuhört und Fragen stellt, vermittelt er anderen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Wichtig zu sein.

Als eine Pause in der Unterhaltung entsteht, dreht sich Penn zu mir und wechselt das Thema. »Und, zeigst du uns die Muster?«

Ich hole meine Mappe aus dem Flur und reiche die Entwürfe am Tisch herum. Es sind viele. Die Leute sind immer überrascht, wie viel Hochzeitspapeterie es abgesehen von der Terminankündigung und den Einladungen selbst gibt. Gottesdienstablauf, Tischkarten, Speisekarten, Getränkeschilder, Gastgeschenke, Dankeskarten. Dank der sozialen Medien ist die Liste endlos und wächst immer weiter.

»Ich finde sie genial«, murmelt Mila. »Im Ernst, Kier, so was habe ich noch nie gesehen.«

Ich lächle. »Danke. Es bedeutet immer ein bisschen mehr, wenn man es für jemanden macht, den man kennt.«

Ich entwerfe meine Papeterie gerne um ein Grundthema herum, und bei diesem Auftrag ist es das Gebäude, in dem Penn und Mila heiraten: eine imposante viktorianische Villa am Meer. Bis zu ihrer Renovierung vor ein paar Jahren stand sie kurz vor dem Verfall. Die Natur verschaffte sich Zugang durch Löcher im Dach und Risse in den bröckelnden Mauern.

Ich habe das originale Gesims als Inspiration für die Ränder der Papeterie genutzt und es unterwandert, indem ich die wilde jüngste Vergangenheit des Gebäudes habe eindringen lassen: Efeu und Wildblumen durch das zarte Muster gewoben habe. Schönheit steht im Vordergrund, aber bei meinem ersten Entwurf, den ich nie jemandem gezeigt habe, übernimmt die Natur. Zerstört das komplexe Design. Nimmt es in den Würgegriff.

Meine ersten Versuche sind immer so. Dunkler. Hässlicher. Damit sie für meine Kunden akzeptabel werden, entschärfe ich sie. Zensiere sie.

»Würdest du nicht gern mal wieder deine eigenen Sachen machen?«, fragt Mila.

Ich schüttle den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich den Druck aushalten würde.«

»Inwiefern Druck?« Sie beobachtet mich scharf.

»Die ständige Angst davor … beurteilt zu werden, nehme ich an.« Ich zucke mit den Schultern. »Von Galeriebesitzern, Kritikern. Von der Öffentlichkeit. Das hier, das kommt mir gelegen. Ein regelmäßiges Einkommen, und ich kann von überall arbeiten.«

»Ich glaube, das ist nur ein Vorwand«, sagt Zeph unverblümt. »Was sie jetzt veranstaltet, bringt sie nicht an ihre Grenzen.« Ich wahre einen neutralen Gesichtsausdruck. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das zu hören kriege. Seiner kreativen Berufung – welcher Art auch immer – nicht zu folgen, gilt in seiner Welt als Scheitern. »Ich denke, sie hat Angst davor, was passieren wird, wenn sie aus sich herausgeht.«

Ich schlucke, habe plötzlich einen trockenen Mund. Ihm ist nicht bewusst, wie nahe er der Wahrheit kommt. Ich habe nicht nur Angst davor, aus mir herauszugehen, mir graut davor. Die Vorstellung, zu malen, wie ich es als Kind getan habe, frei, ungehemmt, zwanglos, schüchtert mich ein. Diese Art von Kunst ist für mich gestorben, als Dad starb. Mein einziges Ventil sind jetzt meine Landkarten, und die sind nur für Penn und mich bestimmt.

Von den Hochzeitsaufträgen, die ich annehme, geht keine Gefahr aus: Ihnen sind Grenzen gesetzt.

Ich wechsle das Thema. »Und, wie fühlt es sich an? So nah dran zu sein …«

»Aufregend, aber auch ein bisschen unheimlich.« Milas Stimme stockt leicht. »Zu sagen, das ist es, für immer. Du bist der Einzige.«

»Kann ich gut verstehen«, sagt Zeph leise.

Penn wirft ihm einen Blick zu. »Warst du schon mal nah dran zu heiraten?«

Er zuckt mit den Schultern. »Es war in Reichweite, könnte man sagen.«

Meine Wangen fangen an zu brennen. In Reichweite? Zu mir hat er gesagt, er hätte nie auch nur in Erwägung gezogen zu heiraten.

Meine Gedanken wandern zu ihr. Es muss sich um sie handeln, oder nicht? Um Romy. Um die Frau, die nicht nur meine Gedanken heimsucht, sondern auch Zephs Träume.

»Warum findest du denn die Vorstellung zu heiraten so unheimlich?« Zeph dreht sich wieder zu Mila.

»Weil es so was Endgültiges hat, wahrscheinlich.« Sie nippt an ihrem Wein. »Ich wollte eigentlich von hier wegziehen, wie ihr, wollte etwas erleben, und ich frage mich, ob es dazu jetzt noch irgendwann kommen wird. Wie sehr man sich auch wünscht zu heiraten, dieser Teil des Lebens, der spontane Teil, ist dann definitiv vorbei.«

»Das haben wir doch besprochen«, sagt Penn gepresst. »Du kannst tun und lassen, was du willst, wenn wir verheiratet sind. Deine Entscheidungen haben nichts mit mir zu tun.«

»Ich weiß, aber es fühlt sich trotzdem an, als wäre das der Beginn eines Kreislaufs, dem man nicht mehr entkommen kann. Kinder und so.« Mila lallt die Worte, ihre Zunge ist schwer vom Wein.

Zephs Gesichtsausdruck ist ernst. »Ich kann das schon verstehen.«

Penn versteift sich. Mir nichts, dir nichts hat der Abend den sicheren Hafen verlassen und sich in unbekannte Gewässer begeben. Es liegt an ihm, denke ich. An Zeph. Seine Anwesenheit ist, als würde man eine Handgranate in den Raum werfen. Er bringt andere aus dem Gleichgewicht. Weil er ohne Rücksicht auf Verluste er selbst ist, sich an keine Regeln hält, scheint anderen bewusst zu werden, dass sie sich ebenso wenig daran zu halten brauchen.

Das ist eines von den Dingen, die ich am meisten an ihm liebe, aber auf andere kann es beängstigend wirken.

Manchen ist Zeph einfach zu viel. Zu viel Energie. Zu viel Grübeln. Zu viel Leben.

Ich wechsle erneut das Thema, frage Penn nach den Blumen.

Zeph berührt mich leicht an der Hand und unterbricht mich. »Hey, Mila wollte gerade was sagen.« Er richtet den Blick wieder auf sie. »Sprich weiter.«

»Zeph.« Die Schärfe meines Tonfalls überrascht mich. Ich spüre mein Herz schlagen.

»Was denn?« Er dreht sich abrupt zu mir. »Du hast sie mitten im Satz unterbrochen.«

Hitze kriecht mir am Nacken hinauf. Ich spüre, dass Penn und Mila uns anschauen. Ich begegne Zephs Blick, halte ihm stand. »Sprich nicht so mit mir.«

Eisiges Schweigen. Penn steht auf, fängt an, die Teller abzuräumen, gibt Mila ein Zeichen, dass sie ihm helfen soll.

Als sie sich vom Tisch entfernt haben, stellt Zeph einen Fuß auf meinen.

Langsamer, stetiger Druck.

Er presst auf meine Knochen. Es tut wahnsinnig weh. Ich blinzle Tränen weg.

Zeph schaut mir direkt in die Augen. »Fick dich«, sagt er so leise, dass ich es mir beinahe einbilden könnte.

8 Elin

Nationalpark, Portugal, Oktober 2021

Seit wann ist Kier denn verschwunden?«, fragt Elin, während sie dem Weg hinauf zu den Airstream-Wohnwagen folgen. Der Pfad ist ziemlich ausgetreten, auf der steinigen Oberfläche nur hier und da ein Büschel stoppeliges Gras.

»Genau das ist der Punkt.« Isaac zieht seine Wasserflasche aus dem Rucksack. »Sie gilt nicht wirklich als vermisst. Zumindest nicht offiziell. Aus Sicht der Polizei ist sie nach wie vor auf Reisen. Ihre Bankkonten sind aktiv, Geld geht ein und ab. Penn hat Nachrichten von ihr bekommen, in denen es heißt, dass sie eine Auszeit braucht. Die Polizei hat die Nachrichten gesehen und sagt, es gäbe keine Hinweise auf ein Verbrechen, aber er ist davon nicht überzeugt.«

»War jemand bei ihr, als sie sich auf den Weg hierher gemacht hat? Freunde oder so?«

Isaac hebt die Wasserflasche an und nimmt einen langen Zug. »Nein, und Penn sagt, sie hätte sich ein paar Monate, bevor sie nach Portugal aufgebrochen ist, von ihrem Ex Zeph getrennt.«

Elin zieht die Augenbrauen hoch. »War endgültig Schluss?«