Paul Weiler
Das Schlafexperiment
Psychothriller
Über den Autor
Paul Weiler wurde in Münster in Westfalen geboren, wo er heute wieder lebt und arbeitet. Während der Ausbildung im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit schrieb er Texte für zahlreiche Printmedien. Anschließend studierte er Betriebswirtschaftslehre und veröffentlichte zwei Sachbücher.
Sein Einstieg in die Welt der Spannungsliteratur begann Ende 2017 mit dem Wissenschaftsthriller Der Tag der Engel. In 2019 folgte der (Zukunfts-) Krimi Tödliche neue Welt, 2020 der auf historische Fakten basierende Roman Das Psychogramm. Das vorliegende Werk Das Schlafexperiment ist seine vierte Erzählung. Weiler ist Vater von zwei (mittlerweile erwachsenen) Kindern, Geschäftsführer eines bundesweit tätigen IT-Dienstleisters und Saxophonist einer Funkband.
Über das Buch
Nach einer schweren Kopfverletzung erwacht die 27-jährige Neme aus dem Koma. Das Letzte, an das sie sich erinnert, ist ein gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Hennes geplantes Schlafexperiment. Doch zu ihrer Verwunderung schweigt Hennes beharrlich über alle Geschehnisse. Mithilfe des ihr heimlich zugespielten Polizeiprotokolls seiner Aussage nach der Unfallnacht - von dem die Polizei annimmt, dass es nicht die ganze Wahrheit enthält -, versucht Neme, ihre Erinnerungslücken zu füllen. Erst nach und nach wird ihr bewusst, in welche Abgründe sie sich damit begibt …
Es ist eines der größten ungelösten Rätsel der Menschheit: Warum träumen wir? Wieso können wir bis zu 60 Tagen ohne Nahrung überleben, während ein Schlafentzug bereits nach 14 Tagen zum Zusammenbruch unseres Immunsystems und damit unweigerlich zum Tod führt? Paul Weiler führt uns in die spannende Welt unserer Träume und in die Abgründe einer Liebesbeziehung im Umfeld von Vertrauen, Verrat und Forschungsehrgeiz.
Impressum
Das Schlafexperiment
Copyright 2023 Paul Weiler
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage Januar 2023
Covergestaltung:
Pixelcompetence, www.Fiverr.com,
unter Verwendung eines Fotos von Nomadsoul1
Lektorat: Tiziana Olbrich -The Author Edit
Herausgeber:
Paul Weiler
c/o AutorenServices.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig.
Inhalt
Teil Eins - Nemes Erwachen
1.
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Teil Zwei - Hennes Aussage
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Teil Drei - Der Pfad der Erkenntnis
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Teil Eins - Nemes Erwachen
1.
Aus Sicht der Stubenfliege, die bereits ihr halbes Leben in diesem Zimmer verbrachte, war der 25. September ein schwarzer Tag. Nur äußerst widerwillig ließ sie sich von ihrem Stammplatz vertreiben. Nirgendwo sonst roch es in diesem Raum so konkurrenzlos attraktiv. Außerdem gab es reichlich Nahrung, dort, wo ihr Stammplatz war. Abgestorbene Hautschuppen zum Beispiel. Und das Beste war, dass niemand sie störte: Keine Hand, die nach ihr schlug, keine hektischen Bewegungen, nicht einmal ein Wimpernzucken. Der Körper unter ihr lag vollkommen reglos da. Dennoch lebte er und produzierte stets neue Nahrung und Duftstoffe. Ansonsten gab es in diesem Raum nur blitzblanke Oberflächen und stechende Gerüche nach medizinischem Alkohol.
Für Neme Giasta hingegen war der 25. September wie eine Wiedergeburt. Ihre erste Empfindung, als sie an diesem Vormittag aus dem Koma erwachte, verdankte sie der besagten Stubenfliege und bestand aus einem unangenehmen Kribbeln auf ihrer Stirn. Instinktiv hob sie die Hand, um sich mit den Fingern über die juckende Stelle zu reiben. Die zweite Empfindung, die daraufhin folgte, war ein stechender Schmerz wie von einem elektrischen Schlag.
Sofort war Neme hellwach. Sie öffnete die Augen und blickte an sich herunter. Ein intravenöser Tropf steckte in ihrem Unterarm. Der daran befestigte Plastikschlauch war aufgrund ihrer unkontrollierten Handbewegung straff gespannt, die Einstichstelle der Nadel brannte wie Feuer.
Ihr Puls beschleunigte sich, und jetzt vernahm sie einen rhythmischen Signalton, der mit ihrem Puls schritt hielt. Schlagartig begriff sie, dass sie sich in einem Krankenzimmer befand, mit Nährstoffen über die Vene versorgt, ihre Vitalwerte überwacht von einer Maschine.
Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen?
Neme wusste es nicht.
Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Doch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde die Tür aufgerissen und ein Mann in einem Arztkittel stürmte in ihr Zimmer. Offensichtlich war er von ihrem rasenden Herzmonitor alarmiert worden. Der Arzt trug einen gepflegten Dreitagebart, seine Haut war sonnengebräunt, als wäre er gerade erst von einer zweiwöchigen Karibikreise zurückgekehrt. Dennoch lag in seinen Augen die unverkennbare Erschöpfung nach einer langen Stationsschicht, die Neme nur zu gut kannte.
»Da sind Sie ja wieder«, sagte der Arzt mit einem warmen Lächeln. »Wir haben alle gehofft, dass dieser Moment kommen würde. Aber Sie haben uns ganz schön warten lassen.«
»Wo … wo bin ich?«, krächzte Neme. Das Sprechen viel ihr schwer, ihre Kehle war staubtrocken.
»Sie sind im Vivantes Klinikum am Urban«, erklärte der Arzt und trat zu ihr ans Bett. »Soeben sind Sie aus dem Koma erwacht.«
Neme nickte schwach. Das erklärte die medizinischen Apparate, an die sie angeschlossen war. Und sie kannte das Krankenhaus - ein riesiger Betonklotz im Berliner Stadtteil Kreuzberg, unweit ihrer Wohnung.
»Was ist passiert?«
»An was erinnern Sie sich denn?«
Neme drehte den Kopf zur Seite, starrte nachdenklich aus dem Fenster. Draußen schien eine blasse Sonne, in der Ferne reckten sich Baumkronen mit beginnender Herbstfärbung dem Himmel entgegen. Auf der Fensterbank stand ein Strauß weißer Nelken. Ihre Lieblingsblumen.
»Ich erinnere mich an Hennes, meinen Lebenspartner. Sind die Blumen von ihm?«
Der Arzt nickte. »Dr. Ledke bringt jeden Abend einen frischen Strauß vorbei. Seit drei Wochen geht das jetzt schon so. Eigentlich erlauben die Vorschriften in Zimmern von Komapatienten …«
»Drei Wochen!«, fiel Neme ihm verblüfft ins Wort. »Und ich lag die ganze Zeit über im Koma?«
»Sie hatten eine schwere Kopfverletzung. Erinnern Sie sich daran?«
Neme dachte nach, da war jedoch nichts.
Völlige Leere.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber immerhin weiß ich, wer ich bin. Neme Giasta. Ich arbeite in der Charité als medizinisch-technische Assistentin.«
»Das ist gut«, sagte der Arzt und schenkte ihr erneut ein Lächeln. »Haben Sie Schmerzen?«
Neme spürte an sich herab. »Nur die Kanüle im Unterarm. Ich habe wohl eine etwas zu hektische Bewegung beim Aufwachen gemacht.«
»Keine Kopfschmerzen?«
»Nicht die Geringsten. Sollte ich welche haben?«
»Um Himmels willen, nein«, erwiderte der Arzt lachend. »Mein Name ist übrigens Dr. Senger. Ich betreue Sie seit Ihrer Ankunft hier. Dr. Ledke hat dafür gesorgt, dass es Ihnen an nichts fehlt. Es wird ihn wahnsinnig freuen, dass Sie wieder unter uns sind. Er hat sich große Vorwürfe gemacht.«
Neme sah irritiert auf. »Vorwürfe? Was meinen Sie damit?«
Dr. Senger ignorierte ihre Frage. »Machen Sie sich wegen Ihrer Amnesie keine Sorgen. Nach einer Kopfverletzung ist es vollkommen normal, dass Sie sich nicht sofort an alles erinnern. Das wird schon wieder.«
»Können Sie Hennes anrufen? Ihm sagen, dass ich wach bin?«
»Natürlich. Aber es gibt jemanden, der vorher mit Ihnen sprechen möchte.«
»Wer will mit mir reden?«, fragte Neme verwundert.
»Ich habe die Anweisung, im Fall Ihres Erwachens zuerst einen Hauptkommissar Weber von der Berliner Kriminalpolizei zu informieren. Er wird Ihnen sicher alle Ihre Fragen beantworten können.«
Neme fühlte sich mit einem Mal gar nicht mehr so zuversichtlich wie noch wenige Augenblicke zuvor. Ihr Verstand mochte nach den drei Wochen im Koma zwar ein wenig eingerostet sein, aber eins und eins zusammenzählen konnte sie noch immer. Und das Ergebnis dieser Rechnung gefiel ihr überhaupt nicht: Wenn Hennes sich Vorwürfe machte, wie Dr. Senger gesagt hatte, und auf der anderen Seite die Polizei sie unbedingt sprechen wollte, bevor sie sich mit Hennes austauschen konnte, musste die Ursache ihrer Kopfverletzung zwangsläufig etwas mit ihm zu tun haben.
Doch wenn dem so war, würde sie das zunächst mit Hennes unter vier Augen klären wollen. Es musste ein Unfall gewesen sein. Alles andere war vollkommen absurd. Sie lebten seit mehr als fünf Jahren zusammen. Noch nie war er ihr gegenüber gewalttätig geworden, und Hennes war auch gar nicht der Typ für so etwas. Allein die Vorstellung, er könnte ihr absichtlich ein Leid zugefügt haben, erschien ihr absolut lächerlich.
»Ich will keinen Besuch von der Polizei«, entschied sie daher energisch. »Außerdem erinnere mich ohnehin an nichts. Sagen sie denen, dass sie das Gespräch vergessen können.«
Dr. Senger warf einen besorgten Blick auf den Monitor mit ihren Vitalitätsdaten. »Bitte bleiben Sie ruhig. Sobald Kommissar Weber Ihr Zimmer betreten hat, werde ich Dr. Ledke anrufen, das verspreche ich Ihnen. Er wird mit Sicherheit innerhalb kürzester Zeit hier sein - es sei denn natürlich, dem Blumenladen sind die weißen Nelken ausgegangen und er muss einen kleinen Umweg machen.«
Dr. Senger lachte über seinen eigenen Scherz, und auch Neme spürte, wie sie sich wieder ein wenig entspannte.
Dennoch war ihr gar nicht wohl bei dem Gedanken, was ihr bevorstand.
2.
Etwa fünf Minuten, nachdem Dr. Senger gegangen war, betrat eine Stationsschwester ihr Zimmer und half ihr, sich zu waschen und frische Sachen anzuziehen. Anschließend brachte ihr eine andere Pflegekraft ein Frühstück, für das Neme allerdings wenig Begeisterung aufbringen konnte.
»Ihr Körper wird sich erst wieder an feste Nahrung gewöhnen müssen«, kommentierte die Schwester ihren enttäuschten Blick angesichts der mickrigen Scheibe Brot mit einem Klecks Erdbeermarmelade. Dann stapfte sie davon.
Neme nahm es notgedrungen gelassen. Kaum hatte sie den letzten Schluck Tee getrunken - Kaffee wäre ihr wesentlich lieber gewesen, aber auch dieser Verzicht gehörte vermutlich zu dem erforderlichen Eingewöhnungsprogramm -, kehrte Dr. Senger in Begleitung zweier Kollegen zurück.
Es folgten zahlreiche Tests, bei denen sie nie wusste, was eigentlich von ihr erwartet wurde. Dennoch glaubte sie an den Blicken des Ärzteteams ablesen zu können, dass die Ergebnisse zufriedenstellend waren. Einzig die Fragen zum Hergang ihres Unfalls und zu ihren Erinnerungen in einem Zeitraum von etwa drei Wochen zuvor musste sie unbeantwortet lassen. Aber das schien niemanden zu beunruhigen. Dr. Senger verwies erneut darauf, dass solche Aussetzer nach einer schweren Kopfverletzung völlig normal seien, und seine beiden Kollegen nickten bestätigend.
Neme war über diesen Befund alles andere als glücklich, zumal keiner der drei Ärzte eine Prognose wagte, wann oder ob ihre Erinnerungen zurückkehren würden. Sie musste sich damit zufriedengeben, dass die Chancen gutstanden - was auch immer das konkret bedeuten sollte.
Nach der Untersuchung kehrte zum ersten Mal seit ihrem Erwachen aus dem Koma Ruhe in ihrem Zimmer ein. Doch Neme gab sich keinerlei Illusionen darüber hin, dass dieser Zustand lange anhalten würde. Bestimmt wartete ihr angekündigter Besuch bereits unten in der Cafeteria. Dr. Senger würde dem Polizeibeamten nun mitteilen, dass sie gesprächsbereit war.
Tatsächlich vergingen keine 15 Minuten, bis es an ihrer Zimmertür klopfte und die Türklinke heruntergedrückt wurde.
Neme hatte die kurze Zeit des Alleinseins genutzt und sich auf diesen Moment vorbereitet - sofern man die Ansammlung einer gehörigen Portion Angriffslust als Vorbereitung bezeichnen wollte. Es ärgerte sie noch immer, zuerst mit der Polizei reden zu müssen, anstatt sich mit Hennes austauschen zu können. Hinzu kam die Ungewissheit darüber, was die Polizei eigentlich genau von ihr wollte. Ohne ihre eigenen Erinnerungen an den Unfallhergang konnte jede Antwort auf eine noch so banale Frage ein potenzieller Fallstrick sein, den sie später bereute. Die beste Taktik erschien ihr darin zu bestehen, überhaupt nichts zu sagen - außer ihrem Unmut freien Lauf zu lassen.
»Woher nehmen Sie das Recht, die Reihenfolge meiner Besuche zu bestimmen?«, begrüßte sie daher ihren Gast in einem unhöflichen Tonfall.
Welche Reaktion sie auch immer erwartet hatte, ihr Besucher ließ sich jedenfalls von ihrer verbalen Attacke in keiner Weise beeindrucken. Im Gegenteil. Der große und breitschultrige Mann, den Neme auf Mitte 50 schätzte, suchte ihren Augenkontakt und nickte ihr verständnisvoll zu, während er einen Besucherstuhl an das Kopfende ihres Bettes zog und seinen massigen Körper darauf niederließ.
»Sie haben jedes Recht, wütend zu sein«, begann ihr Gast mit einem warmen Bariton, der zu seinem Körperbau passte. »Erlauben Sie mir dennoch, dass ich mich kurz vorstelle. Vermutlich wird Dr. Senger Ihnen meinen Namen bereits genannt haben: Hauptkommissar Weber von der Berliner Kripo. Trotz Ihrer verständlichen Vorbehalte über unser Treffen freue ich mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«
Neme spürte, wie ihr Unmut durch die offene und freundliche Art des Kommissars an Energie verlor. Aber sie hatte keineswegs die Absicht, sich so leicht um den Finger wickeln zu lassen.
»Was soll das denn heißen - mich endlich persönlich kennenzulernen?«, setze sie daher nach. »Glauben Sie allen Ernstes, auch nur das Geringste über mich zu wissen, bloß weil mein Name unter irgendeiner Fallnummer in Ihren Akten auftaucht?«
»Normalerweise würde ich Ihnen da sofort zustimmen«, entgegnete Weber ruhig. »Aber Ihr Fall ist meilenweit von dem entfernt, womit ich es sonst zu tun habe. Weder kommt es oft vor, dass uns jemand während seiner Aussage die halbe Lebensgeschichte des Opfers - also Ihre - erzählt, noch sind die Umstände als normal zu bezeichnen, wie es zu Ihrer Einlieferung in dieses Krankenhaus gekommen ist. Um ehrlich zu sein, ist Ihr gemeinsam mit Dr. Ledke durchgeführtes Experiment so ziemlich das Verrückteste, was mir jemals zu Ohren gekommen ist.«
»Sie wissen trotzdem nichts über mich«, reagierte Neme ärgerlich. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass ihr neu entfachter Unmut vorrangig ihrer Verunsicherung über Webers letzte Bemerkung geschuldet war. Ihre eigenen Erinnerungen endeten nämlich exakt zu dem Zeitpunkt, an dem Hennes und sie darüber nachgedacht hatten, ob sie ihr geplantes Schlafexperiment überhaupt durchführen sollten.
Offensichtlich hatten sie es getan.
Aber was war dann passiert?
Der Kommissar musste ihr ihre Verwirrung angemerkt haben. »Sie erinnern sich an nichts, was die letzten Wochen vor Ihrem Unfall betrifft, nicht wahr?«
Neme schwieg. Was sollte sie auch sagen?
»Ich habe mir so etwas schon gedacht«, fuhr der Kommissar fort. »Dr. Senger wollte sich zwar aufgrund seiner ärztlichen Schweigepflicht nicht konkret äußern, aber er hat entsprechende Andeutungen gemacht.«
»Was wollen Sie dann noch hier, wenn Sie sich das schon gedacht haben? Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
Weber seufzte. »Lassen Sie mich offen reden: Die Aussage Ihres Lebenspartners, wie es zu Ihrem Unfall gekommen ist, ist in einigen Punkten … nun ja, sagen wir einmal … wie aus einer anderen Welt. Eigentlich glaube ich ein gutes Gespür dafür zu haben, wenn mir jemand eine Lügengeschichte auftischt. Meistens erkennt man den Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion daran, dass Lügner nahe an einer nachvollziehbaren, gewohnten Realität bleiben, um möglichst glaubhaft zu wirken. Aber davon ist die Aussage ihres Lebenspartners meilenweit entfernt.«
»Und das heißt? Glauben Sie nun, dass Hennes Ihnen gegenüber gelogen hat, oder nicht?« Neme versuchte, die Antwort im Gesicht des Kommissars zu lesen. »Sie tun es, nicht wahr?«
»Nicht unbedingt«, entgegnete Weber. »Vielleicht hat er auch nur etwas Entscheidendes ausgelassen. Jedenfalls möchte ich, dass Sie Dr. Ledkes Aussage für mich überprüfen.«
»Das ist ein Scherz, oder?« Neme zog verächtlich die Mundwinkel hoch. »Sie haben doch gerade selbst zutreffend festgestellt, dass ich mich an nichts mehr erinnere. Wie soll ich dann beurteilen können, ob Hennes Aussage korrekt ist oder nicht? Außerdem glauben Sie doch nicht allen Ernstes, dass ich meinen Freund belasten würde, selbst wenn er Ihnen gegenüber die Unwahrheit gesagt hätte.«
»Ich möchte vorrangig, dass Sie überhaupt die Wahrheit erfahren.«
»Was soll das denn jetzt wieder heißen?« Neme fühlte sich durch die merkwürdige Gesprächsführung des Kommissars zunehmend irritiert. Sie ahnte, dass ihr langsam die Kontrolle entglitt - sofern sie die jemals gehabt hatte.
»Es bedeutet«, sagte Weber und sah Neme eindringlich an, »dass Dr. Ledke Ihnen in den nächsten Stunden und Tagen möglicherweise falsche Erinnerungen einzureden versucht und dadurch verhindert, dass Sie nach eigenen Antworten suchen.«
»Das ist doch lächerlich!«
Ein Blick in die Augen des Kommissars verriet Neme allerdings, dass Weber es absolut ernst meinte. Seine nächsten Worte bestätigten dies.
»Ehrlich gesagt gehe ich mittlerweile davon aus, dass Dr. Ledke Sie während Ihres gesamten gemeinsamen Experimentes manipuliert hat. Er verbirgt etwas, da bin ich mir sicher. Ich weiß nur noch nicht, was das ist. Und er wird sein Geheimnis vermutlich auch vor Ihnen verbergen wollen.«
Was ihr Verstand auf der Stelle als lächerliche Unterstellung abtun wollte, löste in Neme eine eigentümliche Empfindung aus. Ihre Hände wurden schweißnass, das Herz pochte ihr bis zum Hals. Sie konnte förmlich spüren, wie Webers Worte in ihr einen Schalter umlegten, der offenbar nur darauf gewartet hatte, aktiviert zu werden: Misstrauen gegenüber Hennes.
Doch woher rührte dieses für sie vollkommen fremde Gefühl?
Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Hennes sie in den vielen Jahren ihrer Beziehung jemals belogen hätte. Alle wichtigen Entscheidungen hatten sie stets gemeinsam getroffen. Natürlich waren sie dabei nicht immer einer Meinung gewesen - so etwas gab es ohnehin nur in schlechten Liebesfilmen und wäre dazu noch stinklangweilig, wie Neme fand. Aber sie hatte nie das Gefühl gehabt, dass Hennes ihr seinen Willen aufgezwungen oder sie zu irgendetwas überredet hatte.
Doch kannte sie Hennes wirklich so gut, wie sie glaubte? Warum nagten jetzt Zweifel an ihr, unvermittelt und dennoch real wie ein blauer Fleck oder ein Kratzer, den man nach dem Aufwachen am Oberarm oder an den Beinen entdeckt und keinem konkreten Ereignis zuordnen kann?
Während Neme diesen verworrenen Gedanken nachhing, kramte Weber eine graue Aktenmappe aus einer mitgebrachten Umhängetasche hervor. Zwischen zwei verschlissenen Pappdeckeln steckte ein Stapel von gut zwei Zentimetern Schreibmaschinenpapier.
Der Kommissar reichte ihr die Mappe. »Ich kann Sie nicht zwingen, meinem Rat zu folgen. Sie müssen selbst entscheiden, ob Sie das Protokoll der Vernehmung lesen möchten. In dieser Ausfertigung sind übrigens meine eigenen Zwischenfragen und zahlreichen Ermahnungen, er solle endlich zum Thema kommen, für Sie entfernt worden. Das ermöglicht es Ihnen, sich ohne Ablenkung auf seine Aussage zu konzentrieren.«
Neme betrachtete nachdenklich die Aktenmappe in Webers Hand. »Ich verstehe noch immer nicht, was das bringen soll. Wenn ich Hennes Aussage lese, sind es doch auch seine Worte und nicht meine eigenen Erinnerungen. Ich würde genauso manipuliert werden. Wo ist der Unterschied?«
»Der Unterschied ist, dass Sie beim Lesen alle Zeit der Welt haben, sich Ihre eigenen Gedanken zu machen«, entgegnete Weber. »Sie können das Gelesene in Ruhe auf sich wirken lassen und zurückblättern, ohne dass Ihnen jemand fremde Antworten auf ihre aufkommenden Fragen gibt. Sie werden selbst nach Antworten suchen müssen.«
Neme musste sich eingestehen, dass Webers Vorschlag nicht einer gewissen Logik entbehrte. Eigentlich konnte sie durch das Angebot des Kommissars nur gewinnen - außer, wenn Hennes herausbekäme, dass sie das Protokoll ohne sein Wissen gelesen hatte. Doch warum sollte Hennes darüber wütend sein? Was immer er der Polizei berichtet hatte, würde er auch ihr erzählen müssen. Zumindest erwartete sie, dass er das tat. Und sollte er aus irgendeinem Grund bei seiner Aussage tatsächlich gelogen haben, dann rechnete sie damit, dass er ihr auch das mitteilte. In diesem Fall würde es sogar hilfreich sein, wenn sie das Protokoll kannte und genau wusste, an welcher Stelle seiner Aussage sie ihn vielleicht decken musste.
»Also gut. Ich werde darüber nachdenken.«
Sie nahm das Protokoll an sich und schob es in ihre Nachttischschublade.
Kommissar Weber bedachte ihre Entscheidung mit einem wohlwollenden Nicken, dann erhob er sich von dem Besucherstuhl und stellte ihn zurück in die Zimmerecke.
»Wir wollen ja keine Spuren hinterlassen«, kommentierte er die Aktion. »Es wäre besser, wenn Dr. Ledke über meinen Besuch zunächst nicht informiert ist. Er wird sich sonst denken können, was ich hier wollte. Dr. Senger wird ebenfalls Stillschweigen bewahren. Es liegt also allein bei Ihnen. Meine Telefonnummer finden Sie in den Unterlagen. Wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben sollten, können Sie jederzeit anrufen.«
Neme nickte stumm und schaute dem Kommissar nachdenklich hinterher, als er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog.
3.
Keine dreißig Minuten nach Webers Besuch klopfte es erneut an Nemes Zimmertür. Das Erste, was sich im Türrahmen zeigte, war ein gigantischer Strauß weißer Nelken, mindestens doppelt so groß wie der, der bereits auf ihrer Fensterbank stand. Hinter den Blumen schob Hennes seinen schlanken Körper durch die Tür. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, seine Augen strahlten vor Freude, was Neme selbst von ihrem Bett aus erkennen konnte.
Dennoch erschrak sie bei seinem Anblick.
Noch nie hatte sie Hennes in einer so schlechten körperlichen Verfassung gesehen. Seine Haut war grau und fahl, die Haare strähnig, sein ansonsten rundliches Gesicht hatte fremdartige Züge mit knochigen Ecken und Kanten angenommen.
»Hennes …«, sagte Neme stockend mit einem aufbrechenden Gefühl der Rührung und Sorge zugleich, »um Himmels willen. Du siehst aus, als hättest du seit Wochen nicht mehr geschlafen.«
»Es geht mir gut«, erwiderte Hennes, was unverkennbar eine gigantische Lüge darstellte. »Die Hauptsache ist, dass du jetzt wieder wach bist. Wie geht es dir?«
Hennes legte den Blumenstrauß auf den Besucherstuhl, auf dem noch vor wenigen Minuten Kommissar Weber gesessen hatte, und trat an ihr Bett. Mit sanften Berührungen streichelten seine abgemagerten Finger ihre Wange. Er beugte sich über sie und küsste sie auf den Mund.
Neme schloss die Augen. Sie sog den vertrauten Geruch seiner Haut ein, der sich entgegen seinem sonstigen Erscheinungsbild nicht verändert hatte, dann legte sie ihre Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss.
Als Neme erneut in Hennes Gesicht blickte, sah sie, dass Tränen in seinen Augen standen.
»Jetzt ist aber gut«, flüsterte sie ihm voller Rührung über seine Reaktion zu. »Ich bin gesund. Die Ärzte haben ein paar Tests gemacht, bald kann ich wieder nach Hause.«
»Trotzdem«, sagte Hennes und ergriff ihre Hand, »es hätte nie passieren dürfen. Wir sind zu weit gegangen. Es ist alles meine Schuld.«
»Nichts ist deine Schuld«, entgegnete Neme, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, ob das der Wahrheit entsprach. Aber was hätte sie jetzt auch anderes sagen sollen?
»Dr. Senger erwähnte am Telefon, dass du dich an nichts mehr erinnerst, was die letzten Wochen vor deinem Koma betrifft. Ist das noch immer so?«
Mit einem Mal glaubte Neme, aus Hennes Tonfall eine gewisse Unsicherheit herauszuhören - als habe er Angst vor der Antwort, die er erhalten würde.
»Ja, das stimmt«, murmelte sie wie beiläufig und beobachtete seine Reaktion.
War da eine Spur der Erleichterung in seinem Blick?
Oder bildete sie sich das nur ein?
Was wäre, wenn Kommissar Weber doch recht hatte? Würde Hennes tatsächlich versuchen wollen, ihr die Wahrheit zu verschweigen.
Noch immer konnte und wollte sie das nicht glauben.
»Du kannst mir alles erzählen. Du weißt, dass ich in jedem Fall zu dir stehe, ganz gleich, was passiert ist.«
»Gewiss, gewiss«, erwiderte Hennes ohne einen klar definierten Tonfall. »Aber es geht nicht nur darum, was passiert ist, sondern auch darum, was ich danach getan habe.«
»Es spielt keine Rolle, was du getan hast. Wichtig ist nur, dass du mir die Wahrheit erzählst.«
»Das ist nicht so einfach. Du wirst mir vertrauen müssen.«
»Ich vertraue dir. Jetzt erzähle schon.«
Hennes seufzte und holte übertrieben tief Luft, als würde er sich auf einen längeren Tauchgang vorbereiten. Dann endlich begann er leise zu sprechen.
»Der Gedanke, dich an jenem Abend vor drei Wochen womöglich zu verlieren, war mir unerträglich. Ich musste nach deinem Umfall mit jemanden über alles reden. Deshalb bin ich nach deiner Einlieferung hierher direkt ins nächste Polizeipräsidium gefahren.«
Hennes senkte seinen Blick, starrte ausdruckslos auf die Bettdecke, unter der Neme lag.
Neme erwiderte nichts, wartete nur ab.
»Außerdem hätte ich irgendwann ohnehin zur Polizei gemusst«, fuhr Hennes schließlich fort. »Also konnte ich das auch direkt erledigen. Dann saß ich diesem fremden Beamten gegenüber und wusste ich nicht so recht, wie ich einen Einstieg finden sollte. Schließlich fiel mir nichts Besseres ein, als ganz von vorne anzufangen, bei unserem ersten Kennenlernen und unserer gemeinsamen Zeit im Schlaflabor. Sonst hätte er nie richtig verstanden, warum wir das alles getan haben und wie es zu deinem Unfall gekommen ist.«
Neme warf einen verstohlenen Blick zu ihrer Nachttischschublade, in der das Protokoll von Hennes Aussage lag. Sie setzte an, etwas zu erwidern, verkniff es sich dann aber. Es war besser, Hennes ungestört reden zu lassen.
»Jedenfalls habe ich vollkommen wahrheitsgemäß berichtet, was bis zum Beginn unseres Experiments passiert ist. Dann aber musste ich ein wenig lügen, um dich und mich zu schützen. Wenn du deine Erinnerung wiedererlangt hast, wirst du verstehen, warum ich das getan habe. Jedenfalls … ich meine, falls die Polizei hier auftaucht und mit dir reden will … glaube denen kein Wort. Es war nicht so, wie ich es erzählt habe.«
Neme fiel ein Stein vom Herzen. Von einem Augenblick auf den nächsten fühlte sie sich ungemein erleichtert, als hätte jemand eine schwere Last von ihren Schultern genommen. Zwar behielt Kommissar Weber Recht mit seiner Vermutung, dass Hennes ihm gegenüber eine Falschaussage getätigt hatte. Aber ihr würde er nun die Wahrheit berichten.
Zumindest war es dass, was sie erwartete. »Jetzt erzähl schon, was wirklich passiert ist.«
»Das geht nicht«, sagte Hennes und griff nach ihrer Hand. »Es wäre nicht gut für dich. Du würdest dir nur unnötig Sorgen machen.«
Neme starrte Hennes fassungslos an. Was sollte das denn jetzt bedeuten? Gleichzeitig spürte sie, wie die kleine Flamme des Misstrauens, die Kommissar Weber bei ihr gegenüber Hennes entzündet hatte, sich in diesem Moment zu einer wahren Feuersbrunst entfachte.
Sie entzog sich seiner Hand.
»Du musst mir einfach Vertrauen«, hörte sie Hennes inmitten ihrer aufgewühlten Gedanken sagen. »Du musst dich erholen, und das geht nur, wenn du dir keine Sorgen machst.«
Hennes Stimme klang nun bittend, fast flehend. »Ich habe alles im Griff. Wenn du dein Gedächtnis wiedererlangt hast, werde ich das Problem gelöst haben, und dann können wir gemeinsam neu anfangen.«
Neme verstand überhaupt nichts mehr. »Was für ein Problem musst du lösen?«
Hennes schüttelte langsam den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen. Du wirst es im Moment nicht verstehen, aber glaube mir: Es ist ein Glücksfall, dass du dich an nichts erinnerst.«
Ein Glücksfall für wen?, dachte Neme verbittert.
Sie bedachte Hennes mit einem langen prüfenden Blick, und mit einem Mal begriff sie, dass sein miserabler körperlicher Zustand höchst wahrscheinlich etwas mit dem Problem zu tun hatte, an dessen Lösung er offenbar arbeitete. Aber was mochte das sein?
Erneut glitt ihr Blick zu der Nachttischschublade mit dem Polizeiprotokoll. Zumindest stand sie nicht ganz mit leeren Händen da, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
In diesem Moment traf sie ihre Entscheidung. »Ich verstehe nicht, was hier los ist. Aber ich verstehe, dass du mir ohnehin nichts erzählen wirst, ganz gleich, wie sehr ich dich darum bitte. Also werde ich dir wohl vertrauen müssen.«
Die Lüge kam ohne jedes Zögern über ihre Lippen.
Hennes atmete erleichtert aus.
»Danke.« Er drückte ihre Hand. »Ich liebe dich.«
4.
Erst am späten Abend war Neme endlich allein in ihrem Zimmer und hatte Zeit, über die neu erhaltenden Informationen nachzudenken. Der Himmel stand in einem tiefen Rot, violette Schleierwolken zogen hinter ihrem Fenster wie eingefärbte Zuckerwatte vorbei. Eigentlich hätte der Anblick ein schöner Ausklang eines Tages sein können, an dem sie nichts anderes als Glück und Zufriedenheit hätte empfinden sollen, nachdem es so lange so schlecht um sie gestanden hatte.
Doch Neme hatte keinen Blick für die Schönheit des Abendhimmels. Auch war sie meilenweit davon entfernt, glücklich und zufrieden zu sein. Ihr Gefühlsleben glich vielmehr einer leergeräumten Vitrine, dessen einst geordneter Inhalt nun in tausend Scherben zersplittert zu ihren Füßen lag.
Wenn sie sich doch nur erinnern könnte.
Gut, ihr fehlte nur etwa die letzten vier Wochen vor ihrem Koma, das war weitaus besser als vielleicht mehrere Monate oder gar Jahre, wie es bei anderen Koma-Patienten schon vorgekommen war.
Aber selbst, wenn es nur wenige Wochen waren - diese Zeit bedeutete im Moment alles für sie. Schließlich war es die Zeit, in der sie gemeinsam mit Hennes die wohl wichtigste Entscheidung ihrer Beziehung getroffen hatte. Und diese Entscheidung hatte zu einem Ergebnis geführt, das sie fast ihr Leben gekostet hätte.
Warum sagte Hennes nicht, was passiert war? Und was sollte dieser ganze Blödsinn, dass er erst noch ein Problem lösen müsse, bevor sie neu anfangen könnten? Womit neu anfangen? Mit ihrer Beziehung? Oder meinte er das Experiment, dessen offensichtlich missglückter Ausgang sie hierher verfrachtet hatte?
Neme zerbrach sich den Kopf, doch dort rotierten nur Fragen und keine Antworten. Und so wie es aussah, war auch von dritter Seite keine Hilfe zu erwarten. Sie dachte an den Nachmittag zurück, als nach Hennes Besuch ihre Schwester Delia und ihre Eltern zu Besuch gewesen waren. Unter Freudentränen hatten sie sich umarmt, und ihre Familie war nicht mehr von ihrer Seite gewichen, bis Dr. Senger sie kurz vor dem Abendessen höflich, aber bestimmt, vor die Tür gesetzt hatte. Trotzdem war es ihr gelungen, für einen kurzen Moment mit Delia allein zu sein.
Das Ergebnis dieses Gesprächs allerdings war enttäuschend. Obwohl sie sich nach Delias Aussage in den Wochen vor dem Unfall regelmäßig zur Vorbereitung eines gemeinsam gebuchten Yoga-Urlaubs getroffen hatten - Neme konnte sich an den geplanten Urlaub erinnern, nicht jedoch an die besagten vorbereitenden Treffen -, hatte ihre Schwester nicht die geringste Ahnung von einem parallellaufenden Schlafexperiment. Das einzig interessante neue Detail war, dass sie in der Nacht ihrer Einlieferung nach Hennes Aussage ohne einen erfindlichen Grund mit dem Kopf auf den Nachttisch aufgeschlagen war - und dass Hennes unverzüglich den Notarzt gerufen und ihr damit das Leben gerettet hatte.
Doch war es tatsächlich so gewesen?
Neme wusste von sich, dass sie normalerweise einen ziemlich ruhigen Schlaf hatte. Weder schlafwandelte sie, noch konnte sie sich daran erinnern, jemals zuvor nachts aus dem Bett gefallen zu sein. Andererseits konnte der Verlauf des Experimentes dazu beigetragen haben, dass sich ihr Schlafverhalten verändert hatte. Und ganz zum Schluss war natürlich auch die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass sie sich mit Hennes gestritten hatte und er …
Neme zwang sich, ihre spekulativen Gedankengänge zu beenden. Dieses ganze könnte und wäre möglich und hätte sein können führte zu nichts. Alles blieb reine Vermutung, solange sie nicht auf ihre eigenen Erinnerungen zurückgreifen konnte.
Neme tastete nach der Nachttischschublade und zog das Polizeiprotokoll heraus. Nachdenklich betrachtete sie den Papierstapel, der ihr in diesem Moment wie ein verbotenes Buch vorkam.
Es war nicht so, wie ich es erzählt habe.
Hennes Worte vom Vormittag hallten in ihrem Kopf, und zeitgleich spürte sie erneut dieses unbestimmte Gefühl von Misstrauen ihm gegenüber. Gewiss, er hatte ihr anvertraut, dass er gegenüber der Polizei gelogen hatte. Aber was nutzte ihr dieser scheinbare Vertrauensbeweis, wenn Hennes ihr dennoch nicht die Wahrheit sagte?
Die Wahrheit wäre nicht gut für dich. Du würdest dir nur unnötig Sorgen machen.
Was sollte dieser Unsinn bedeuten?
War es denn nicht viel wahrscheinlicher anzunehmen, dass Hennes sich mit seiner vorgeschobenen Fürsorge nur selbst beschützen wollte? Dass er Angst hatte, dass sie allzu schnell die Wahrheit erfuhr? Diese Möglichkeit erschien ihr im Moment wesentlich plausibler. Und so wie es aussah gab es nur einen Weg, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Sie musste diesen Weg gehen, sonst würde sie noch verrückt werden.
Neme schlug den Aktendeckel des Polizeiprotokolls auf und begann zu lesen. Aber bereits nach wenigen Minuten ließ sie die Seiten wieder sinken und starrt nachdenklich an die Zimmerecke.
So funktioniert das nicht, dachte sie.
Zwar war es tatsächlich so, wie Weber gesagt hatte: Das Protokoll gab ausschließlich Hennes Worte wieder. Es enthielt keinerlei ablenkende Ausführungen zu Nachfragen oder Kommentaren seitens der Polizei - von denen es gerade zu Beginn seiner Aussage einige gegeben haben musste. Dadurch las es sich wie eine durchgängige Erzählung. Und tatsächlich hatte Hennes ganz am Anfang begonnen - sogar noch kurz vor ihrem ersten Kennenlernen. Webers Geduld musste mächtig auf die Probe gestellt worden sein.
Dennoch ahnte Neme, mehr tun zu müssen, wollte sie ihren verschütteten Erinnerungen mithilfe dieser Seiten auf die Sprünge helfen. Sie musste die Zeilen in ihrem Kopf zu einer lebenden Geschichte werden lassen und ihre eigene Sicht der Dinge mit einfließen lassen. Sicher, es würde dennoch Hennes Aussage bleiben, erzählt aus seiner Perspektive und entlang seines Erzählfadens, aber ergänzt um alles, was ihr selbst dazu einfiel. Nur auf diese Art würde sie erkennen können, welche Ereignisse tatsächlich der Wahrheit entsprachen und wo er vielleicht gelogen hatte.
Ihr war bewusst, dass sie auf diese Art zwangsläufig irgendwann zu der einen oder andere Stelle gelangen würde, zu der sie mit ihren eigenen Erinnerungen etwas beizutragen hatte. Schließlich war sie nicht bei allem, was Hennes getan und womöglich der Polizei erzählt hatte, immer dabei gewesen. Aber das machte nichts. Meist hatten sie noch am selben Abend oder am nächsten Morgen über ihre jeweiligen Erlebnisse gesprochen, und auch diese Gespräche waren Erinnerung, die sie zur Überprüfung des Gelesenen heranziehen konnte.
So könnte es vielleicht funktionieren.
Mit dieser neuen Zuversicht blätterte sie zurück zur ersten Seite des Protokolls und begann erneut zu lesen.
Teil Zwei - Hennes Aussage
5.
Ich beginne meine Schilderung ganz von Anfang an - mit dem Tag, an dem ich Neme kennenlernte. Das war vor etwa fünf Jahren. Ich hatte gerade meine Ausbildung zum Neurologen an der Universitätsklinik Charité in Berlin abgeschlossen, mein dreizigster Geburtstag lag noch vor mir. Für einen Facharzt war ich damit sehr jung. Auszeiten vom Studium hatte ich mir finanziell nie leisten können, und dank eines überdurchschnittlich guten Abiturs war mir ein Einstieg in das Medizinstudium ohne Wartesemester möglich gewesen.
Eigentlich hätte ich jetzt durchstarten können. Mit der Eröffnung einer eigenen Praxis zum Beispiel. Oder der Annahme einer gut dotieren Stelle als Neurologe in einer Fachklinik. Stattdessen bewarb ich mich auf eine Stelle in einem Schlaflabor mit dem schönen Namen Refugium in Berlin-Steglitz - was in der Konsequenz bedeutete, nochmals 18 Monate in eine Zusatz-Weiterbildung für Schlafmedizin investieren zu müssen.
Aber das störte mich nicht. Wie gesagt, ich war jung, und das Thema Schlafmedizin übte einen magischen Reiz auf mich aus. In diesem Fachgebiet lag noch unendlich viel unentdecktes Terrain, das es zu erforschen galt. Und genau das war es, wonach ich strebte: Ich wollte nicht nur praktizieren, sondern mit meiner zukünftigen Arbeit etwas zum Wissensstand der Medizin beitragen.
Natürlich frage ich mich heute, nach allem, was letztlich geschehen ist, ob das wirklich alles war. Ob ich tatsächlich etwas beitragen wollte. Oder war mein Forschungsdrang vielmehr Ausdruck einer tiefsitzenden Psychose?
Ich komme darauf, da mein Vater meine Studienwahl nie wirklich gutgeheißen hatte. Nicht etwa, weil er dem Arztberuf generell kritisch gegenüberstand. Sein Problem bestand vielmehr darin, dass er als promovierter Geisteswissenschaftler in der Medizin eher ein Handwerk denn eine Wissenschaft sah.
Natürlich ignorierte ich die väterliche Meinung, vielleicht bestärkte sie mich sogar in meinem Vorhaben. Außerdem hatte ich damals wie heute ein ganz anderes Ideal meines Berufszweigs vor Augen: Medizin ist für mich weder eine Wissenschaft noch ein Handwerk, sie ist eine Heilkunst. Ein kreativer, auf jeden Patienten individuell ausgerichteter Prozess, basierend auf Können und Erfahrung. So viel zu meiner persönlichen Überzeugung. Und dennoch: Wer weiß schon, ob sich nicht irgendwo in meinem Hinterkopf ein hässlicher kleiner Dämon eingenistet hat, der noch immer um die versagte väterliche Anerkennung ringt, und ihm irgendetwas beweisen will - wobei das natürlich nur metaphysisch möglich wäre, da mein Vater noch vor meinem ersten Staatsexamen verstarb.
Wie dem auch sei - jedenfalls erhielt ich auf meine Bewerbung prompt eine Zusage. Das Team des Refugiums bestand aus insgesamt drei Ärzten: Professor Dr. Thomas Kügler, dem Leiter des Schlaflabors, meinem Kollegen Dr. Steffen Dallmann und mir. Unterstützt wurden wir von Mandy Brenner, der leitenden Schwester des Labors, mit einer ihr unterstellten kleinen Mannschaft medizinischen Fachpersonals.
Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit Neme. Es war mein dritter Arbeitstag im Refugium und ein warmer Augustabend, schon nach 20:00 Uhr. Ich hatte den Arztkittel bereits abgelegt und wollte noch schnell einen Blick in eines der Patientenzimmer werfen, in dem am nächsten Tag ein neuer Schlafgast erwartet wurde. Laut Akte aus dem Vorbesprechungstermin handelte es sich um eine 23-jährige Studentin, die an Schlaflähmung mit hypnagogen Wahrnehmungen litt. Zu Deutsch: Sie hatte nächtliche Halluzinationen, bei denen sie wach im Bett lag, jedoch nicht dazu in der Lage war, sich zu bewegen. Professor Kügler wollte sich persönlich um sie kümmern, und ich sollte ihm während der gesamten Untersuchungsphase assistieren. Meine erste Patientin also.
Ich trat, ohne anzuklopfen, in das betreffende Zimmer. Statt wie erwartet einen leeren Raum vorzufinden, stand dort eine junge Frau, die mit der Fernbedienung des Fernsehers in der Hand durch die Kanäle zappte.
Als sie mich bemerkte, wandte sie mir einen überraschten Blick zu.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich ein wenig verwirrt. »Nach meinen Informationen haben wir Sie erst für morgen erwartet.«
Die junge Frau runzelte fragend die Stirn. Sie hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und trug ihre schwarzen Haare hochgesteckt.
»Für morgen erwartet?«, wiederholte sie verblüfft. »Wer sind Sie überhaupt?«
Ich räusperte mich. »Mein Name ist Dr. Ledke. Ich werde ihr betreuender Arzt sein - neben Professor Kügler natürlich, der sich persönlich um Sie kümmern wird.«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht meines Gegenübers, was ich als gutes Zeichen wertete.
»Mein Arzt also - Dr. Ledke.« Ihr Lächeln erweiterte sich zu einem amüsierten Grinsen, während sie mir die Hand entgegenstreckte und mich ausgiebig musterte. »Dann freue ich mich, Sie kennenzulernen.«
Ihr Händedruck war angenehm fest.
»Sagen Sie, Dr. Ledke, was tun Sie hier? In diesem Zimmer, meine ich.«
»Ich wollte nur nachsehen, ob alles für Ihre Ankunft vorbereitet ist. Ob das Team auch an alles gedacht hat, damit Sie sich von Anfang an wohlfühlen.«
Das Lächeln verschwand.
»Trauen Sie Ihrem Personal nicht?«
»So habe ich das nicht gemeint. Ich bin relativ neu hier, und noch nicht mit allen Abläufen vertraut. Ich wollte nur sichergehen.«
Das Lächeln kehrte zurück. »Das ist sehr nett von Ihnen. Aber glauben Sie mir, wir haben unseren Job im Griff. Ich überprüfe gerade, ob der Fernseher auch einwandfrei funktioniert. Für die meisten unserer Patienten ist das der wichtigste Gegenstand während ihres Aufenthalts.«
»Unserer Patienten?«
Dann endlich begriff ich. »Sie sind eine Kollegin?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Entschuldigen Sie bitte. Aber die Situation war einfach zu verführerisch.«
Sie reichte mir zum zweiten Mal die Hand. »Neme Giasta. Ich habe schon gehört, dass Sie hier angefangen haben.«
Neme Giasta, wiederholte ich in Gedanken. Der Name war während meiner Einweisung bereits ein paar Mal gefallen. Sie war eine der zwei medizinisch-technischen Assistentinnen für die Funktionsdiagnostik, die während der Nachtschicht für die Patientenbetreuung zuständig waren. Von ihrer Arbeit hing der Erfolg dieses Labors ab. Ihre Aufgabe bestand in der korrekten Verkabelung der Patienten für die diversen nächtlichen Messungen und der laufenden Kontrolle der Aufzeichnungen. Wenn sie ihren Job nicht richtig erledigten, standen wir Ärzte am nächsten Morgen mit leeren Händen da.
»Da haben Sie mich ja ganz schön reingelegt.« Ich ergriff nochmals die ausgestreckte Hand, die ich ein paar Sekunden länger hielt als eigentlich erforderlich. »Ich hatte wirklich angenommen, Sie seien die Patientin, die wir für morgen erwarten.«