Das Schloss an der irischen Küste – oder: Lied der Gezeiten - Mary Ryan - E-Book

Das Schloss an der irischen Küste – oder: Lied der Gezeiten E-Book

Mary Ryan

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Beschreibung

Eine Liebe im Schatten der Vergangenheit … An der rauen Westküste Irlands, wo das alte Schloss Dunbeg über dem stürmischen Meer thront, kreuzen sich die Wege von Áine O'Malley und Rupert. Es ist Liebe auf den ersten Blick, doch ein schicksalhafter Vorfall treibt die beiden schon bald wieder auseinander … Jahre später kreuzen sich ihre Wege erneut, doch Rupert ist inzwischen verlobt. Und dann geschieht das Unfassbare: Er gerät unter Mordverdacht. Fest entschlossen, die Wahrheit über den tragischen Vorfall zu erfahren und getrieben von ihrer Liebe zu Rupert, kehrt Áine nach Dunbeg zurück. Sie vermutet ihre Antwort dort, wo alles begann: An den steilen Klippen von Schloss Dunbeg. Doch wird sie das dunkle Geheimnis lüften können, bevor es zu spät ist? Ein ergreifender Liebesroman der irischen Bestsellerautorin für Fans von Maeve Binchy und Nora Roberts.

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Seitenzahl: 600

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

An der rauen Westküste Irlands, wo das alte Schloss Dunbeg über dem stürmischen Meer thront, kreuzen sich die Wege von Áine O'Malley und Rupert. Es ist Liebe auf den ersten Blick, doch ein schicksalhafter Vorfall treibt die beiden schon bald wieder auseinander … Jahre später kreuzen sich ihre Wege erneut, doch Rupert ist inzwischen verlobt. Und dann geschieht das Unfassbare: Er gerät unter Mordverdacht. Fest entschlossen, die Wahrheit über den tragischen Vorfall zu erfahren und getrieben von ihrer Liebe zu Rupert, kehrt Áine nach Dunbeg zurück. Sie vermutet ihre Antwort dort, wo alles begann: An den steilen Klippen von Schloss Dunbeg. Doch wird sie das dunkle Geheimnis lüften können, bevor es zu spät ist?

Über die Autorin:

Die irische Autorin Mary Ryan begann ihre berufliche Laufbahn als Lehrerin in England, bevor sie nach Dublin zurückkehrte, um Jura zu studieren. Sie arbeitete in einer Anwaltskanzlei, bevor sie den Entschluss fasste, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Ihr erster Roman »Ein sanftes Flüstern im Wind« erreichte ein breites Publikum und verkaufte sich über 300.000 Mal. Seitdem widmet sie sich mit Begeisterung dem Schreiben neuer Geschichten.

Mary Ryan veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Irland-Romane »Ein sanftes Flüstern im Wind«, »Irisches Glück«, »Träume in der Ferne«, »Irischer Wind«, »Das Geheimnis von Glenallen«, »Ein irischer Sommer«, »Das Schloss an der irischen Küste«, »Zwei irische Herzen« sowie ihren Tatsachenroman »Drei irische Frauen« und ihren Italien-Roman »Wiedersehen in Florenz«.

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eBook-Neuausgabe Mai 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Originaltitel »The Song of the Tide« bei Headline Book Publishing, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Lied der Gezeiten« im Schneekluth Verlag

Copyright © der englischen Originalausgabe 1998 by Mary Ryan

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 bei Schneekluth Verlag GmbH, München. Ein Unternehmen der Verlagsgruppe Droemer Knaur.

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-842-0

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Mary Ryan

Das Schloss an der irischen Küste

Irland-Roman

Aus dem Englischen von Rita Seuß und Sonja Schuhmacher

dotbooks.

Widmung

Motto

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Zweiter Teil

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagung

Lesetipps

Widmung

Für Michael

Motto

Horch! Das Knirschen, Tosen,

Kiesel, von den Wogen

Hergeworfen, fortgezogen,

Den hohen Strand hinauf,

Zurück, ein neuer Lauf

Matthew Arnold

»Der Strand von Dover«

Erster Teil

Kapitel 1

Rupert sagte einmal zu mir, die Realität habe keinen festen Ort, aber Rupert war ein Pilger. Als wir uns kennen lernten, war ich zehn, eine Begegnung, die die Wegmarken für mein weiteres Leben setzen sollte. Es war im Sommer 1986, als er mit meiner Tante Isabelle, seiner Mutter, zu uns nach Dunbeg kam.

Dún Beag ist irisch und bedeutet »kleine Festung«. Die eigentliche Festung war vor ein paar tausend Jahren auf der Insel Inishdrum entstanden, eine Anhäufung alter Steine aus der Bronzezeit. Gegenüber lag das »neue« Dunbeg, ein mit Türmen und Zinnen versehenes viktorianisches Haus hoch über der felsigen Festlandküste, wo meine Familie im Sommer Ferien machte. Wie ihre uralte Namensschwester auf der Insel war auch diese »Burg« teilweise dem Verfall preisgegeben, doch da meine Eltern nicht über die Mittel verfügten, sie zu restaurieren, überließen wir sie ihrem Schicksal und hielten die Türen zu dem Teil des Hauses geschlossen, der uns über dem Kopf zusammenzubrechen drohte.

Dieses burgartige Haus in Dunbeg war von meinem Ururgroßvater, William O’Malley, für seine Braut Sarah errichtet worden, und zwar anlässlich ihrer Hochzeit im Jahre 1850, kurz nach der Großen Hungersnot. Eine düstere Zeit, um ein Haus zu bauen und eine Ehe zu schließen – inmitten eines wilden, verödeten Landstrichs, dessen einstige Bewohner entweder verhungert oder ausgewandert waren.

Sarah war weithin für ihre Schönheit bekannt, doch offenbar stimmte etwas nicht mit ihrem Verstand. Ihr Vater war ein Grundbesitzer, den die Hungersnot ruiniert hatte und der seine Tochter daher nur allzu bereitwillig dem soliden Anwalt William O’Malley zur Frau gab. Als Mitgift bekam sie die wunderschöne Landzunge Dún Beag, die nach der verfallenen, eine schmale Bucht bewachenden prähistorischen Festung benannt war – ein melancholisches Stückchen Land, insgesamt etwa vierzig Hektar, mit verlassenen Steinhäusern übersät. Williams Kanzlei war in Castlebar und Westport vertreten und erledigte einen Großteil der Rechtsgeschäfte in der Grafschaft Mayo. Er hatte sein Vermögen vor der Hungersnot gemacht und konnte es sich nun leisten, der Laune seiner Braut nachzugeben und das Haus ihrer Träume für sie zu erbauen.

Als die »Burg« stand, benutzten Sarah und William sie als Sommerhaus, und Sarah lebte dort während der warmen Jahreszeit angenehm, aber recht einsam. Sie war zierlich und überaus fruchtbar. Doch obwohl sie in den ersten neun Jahren ihrer Ehe ebenso viele Kinder gebar, war sie den Strapazen von Schwangerschaft und Geburt eigentlich nicht gewachsen. Sie war nervös und überreizt, hörte Geräusche und sah Dinge, die kein anderer wahrnahm, und im Lauf der Zeit, während eine schreckliche Geburt auf die andere folgte, geriet sie immer mehr aus dem Gleichgewicht. Von ihren neun Kindern waren noch drei am Leben, als sie, zum zehnten Mal schwanger, durch einen Sturz aus dem hohen Fenster des Nordturms zu Tode kam. Manche meinten, sie sei gesprungen; andere verbreiteten das Gerücht, William habe seine Hand im Spiel gehabt, wenn auch nur aus der Ferne. Im Haus lebten mehrere Bedienstete, denen durchaus zuzutrauen gewesen wäre, dass sie der zunehmend launenhaften und unangenehmen Hausherrin in eine bessere Welt verhalfen. Und es ging die Rede von einem unschönen Zwischenfall, der angeblich ihr Werk gewesen war. Es handelte sich um die Vertreibung eines Pächters, der in einem Cottage auf der benachbarten Landzunge gelebt hatte, und der üble Nachgeschmack dieser Sache war selbst hundert Jahre später noch nicht gänzlich verschwunden.

William erholte sich anscheinend rasch von seinem vorzeitigen Verlust. Er beerdigte Sarah auf dem kleinen Gottesacker in Askreagh, etwa sieben Kilometer von Dunbeg entfernt; der Friedhof lag neben einer verfallenen Zisterzienserabtei, die unter Heinrich VIII. aufgelöst worden war. Doch Sarah war noch nicht lange unter der Erde, da führte er eine neue Braut heim. Sie war die Tochter eines Arztes, still und gehorsam, so wie die Männer der damaligen Zeit ihre Frauen schätzten. Außerdem sollte sie sich als unfruchtbar erweisen.

Dunbeg ging von einer Generation auf die nächste über, und schließlich erbte mein Großvater im Jahr 1930 das Anwesen. Zur »Burg« gehörte eine Farm, jene vierzig Hektar, die Sarah einst mit in die Ehe gebracht hatte. Er bewirtschaftete sie mithilfe eines Verwalters und züchtete Mastvieh für den Export, bis England als der Hauptabnehmer Irland den Wirtschaftskrieg erklärte, weil die Regierung De Valera sich weigerte, Landannuitäten für irischen Boden an die ehemaligen Herren zu entrichten. Unter den Folgen hatten alle zu leiden: Mit einem Schlag gab es keinen Markt mehr für irische Erzeugnisse. Mein Großvater verkaufte einen Großteil des Landes, behielt jedoch acht Hektar mit Blick aufs Meer und die »Burg« als Ferienhaus. Das verbleibende Land wurde den O’Keefes zur Nutzung überlassen, die sich dafür als Hausmeister um Dunbeg kümmerten. Mehr als Hobby, denn zum Broterwerb züchteten sie Pferde, und bei Ebbe ließen sie ihre beiden Stuten in der sandigen Bucht grasen.

An diesem abgeschiedenen Ort verbrachte meine ganze Sippe, Großeltern, Eltern, meine vier Brüder und ich, die langen Sommer meiner Kindheit. Manchmal merkte meine Mutter an, wie nett es doch wäre, wenn die Lyalls, der amerikanische Zweig der Familie, der in Virginia lebte, auch einmal nach Dunbeg käme. Jedes Jahr schrieb sie der Schwester meines Vaters, Tante Isabelle, und lud sie ein, uns mit ihrem amerikanischen Mann zu besuchen und auch Rupert mitzubringen. Aber oft genug machte sich Isabelle nicht einmal die Mühe zu antworten.

Rupert war das Produkt einer unpassenden Verbindung zwischen Isabelle, der Schwester meines Vaters, und einem amerikanischen Studenten, den sie an einem Sommertag bei einer Cricketpartie am Trinity College in Dublin kennen lernte. Die Geschichte habe ich von meiner Mutter gehört – wie der junge Alexander Lyall sich in die achtzehnjährige irische Schönheit verliebte und mit ihr nach Gretna Green durchbrannte, um anschließend, frech wie er war, eine Wohnung in Dublin zu beziehen. Alex brachte sein Studium nicht zu Ende, und nach dem Tod seines Vaters kehrte er mit seiner Frau in seine Heimat Mount Wexford in Virginia zurück. Aber immer, wenn die Geschichte erzählt wurde, hatte ich den Eindruck, dass etwas ungesagt blieb, dass meine Mutter den Namen meines Onkels stets mit einem gewissen Zögern aussprach.

Einmal fragte ich: »Ist Onkel Alex ein guter Mensch?« Sie zuckte zusammen und bat mich, keine dummen Fragen zu stellen. Daraufhin wollte ich wissen, wie Tante Isabelle aussah. Da zeigte sie mir Fotos von einer auffallend schönen jungen Frau und meinte: »Du hast sie schon einmal gesehen, als du vier warst ... du hattest gerade die Masern ...« Da erinnerte ich mich an eine hübsche junge Frau mit langen dunklen Haaren, die auf mich herabblickte, als ich krank im Bett lag. Isabelle war damals zur Beerdigung meiner Großmutter nach Irland gekommen und danach nie wieder, nicht einmal, als ihr Vater starb. Dass sie so weit entfernt lebte, verlieh ihr eine geheimnisvolle Aura. In ihren seltenen Briefen schilderte sie ein exotisches, fremdartiges Leben auf einer ehemaligen Plantage in Virginia, wo ihr Mann Rennpferde züchtete und schwarzhäutige gute Geister sie vorn und hinten bedienten. In den ersten Jahren schickte sie noch Schnappschüsse – vom Haus, von sich und von ihrem Sohn Rupert, der mit ruhigem, wachsamem Blick in die Kamera schaute.

»Sieht aus, als würde sie durchhalten!«, bemerkte mein Vater dazu, und ich fragte mich, was das wohl zu bedeuten hatte. »Der kleine Junge macht jedenfalls den Eindruck eines aufgeweckten Kerlchens ...«

Meine Geschwister verpassten unserem amerikanischen Vetter den Spitznamen »Rupert Bär«, bevor wir ihn überhaupt kennen gelernt hatten; manchmal nannten sie ihn auch »Yogi-Bär«. Wir fanden den Namen Rupert albern; er passte, wenn überhaupt, dann höchstens zu dem Cartoon-Bären, dessen Abenteuer wir regelmäßig verfolgten. Meine Brüder hatten eine spitze Zunge, vor allem Seán, der vierzehn war, als diese Geschichte begann; er schützte seinen empfindsamen Kern durch seine Schlagfertigkeit, und der Umgang mit ihm war nicht leicht, obwohl er einen sarkastischen Humor und Charisma besaß. Der neunjährige Simon jedenfalls betete ihn an. Seán nannte Simon »Motte«, weil er die Angewohnheit hatte, sich so in seine Bettdecke einzuwickeln, dass nur sein dunkler Haarschopf hervorlugte und er einer verpuppten Larve glich.

Meine beiden anderen Brüder waren Zwillinge, Martin und Jack, damals zwölf, mit rotblonden Haaren und braunen Augen wie meine Mutter. Sie machten alles gemeinsam, und deshalb durfte man nicht den Fehler begehen, sie zu unterschätzen. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, waren verschwiegen und nicht aus der Ruhe zu bringen. Seán nannte sie »die schaurigen Zwei«. Seán war ungewöhnlich groß für sein Alter. Er hatte immer Hunger, was ihm den Spitznamen »Herr Vielfraß« eintrug, weil er alles vertilgte, was ihm in die Finger fiel, ganz gleich, ob seine Geschwister unterdessen verhungerten. Meine Mutter kaufte immer reichlich Lebensmittel ein in der Hoffnung, ihre Familie damit satt zu bekommen. War alles aufgegessen, nahm sie dies als Zeichen, dass wir alle wohlgenährt seien, und übersah frohen Mutes, dass den Großteil davon der gierigste Vogel in ihrem Nest in sich hineingestopft hatte. Die Folge war, dass wir Kinder während der Ferien, wenn die Familie nur das Abendessen gemeinsam einnahm, uns Essen beiseiteschafften – in der Regel hastig geschmierte Brote. Manchmal vergaßen wir, wo wir sie versteckt hatten, aber im Lauf der Zeit machten sie sich durch ihren Geruch ganz von allein bemerkbar.

»Was ist denn das?«, empörte sich meine Mutter an einem Sommertag in Dunbeg, als sie in der Küche herumräumte, um der Ursache des Gestanks auf die Spur zu kommen. »Schon wieder ein vergammeltes Sandwich!« Und sie lief ins Wohnzimmer, wohin ich mich mit einem Malkasten und einem Malbuch zurückgezogen hatte und wo mein Vater mit seiner Zeitung saß.

»Áine, ist das uralte Sandwich hinten im Küchenschrank dein Werk?«

»Nein, Mama. Das war bestimmt Simon!«

»Ich habe die Nase endgültig voll von deinen Kindern, Noel O’Malley!«, rief meine Mutter.

Mein Vater fand das amüsant. Seine Lippen zuckten, und in seinen Augen erschien ein Funkeln. »Ich erinnere mich dunkel, dass du an ihrer Entstehung mitbeteiligt warst, Liebste«, konterte er freundlich, ohne von der Zeitung aufzublicken.

»Du hast es zu verantworten, dass es so viele geworden sind!«, gab sie zurück. »Und ich bin wirklich überfordert – zwei große baufällige Häuser, eine Horde Kinder und keine Hilfe. Soll ich mich für den Rest meines Lebens damit abfinden?«

»Du hast doch Mrs. Maloney«, wandte mein Vater ein. »Wie bitte? Zweimal die Woche? Mit dieser Bande ist das, als würdest du von jemandem erwarten, für ein Pfund ganz Kalkutta sauber zu machen!«

Daraufhin ging sie, allem Anschein nach, um den Zugfahrplan zu suchen und ihre Flucht vorzubereiten – ein fruchtloses Unterfangen, da der Zugfahrplan wie immer unauffindbar war.

»Frauen bluten einmal im Monat!«, verkündete meine Mutter eines Abends, als wir allein beisammensaßen. Ihre Stimme war heiser vor Verlegenheit. Sie hatte die ersten Veränderungen an meinem kleinen Körper entdeckt. Vielleicht wollte sie mich warnen, falls die Pubertät unverhofft einsetzte, und teilte mir daher diese existenzielle Tatsache mit dem Feingefühl einer Dampfwalze mit. Ich sagte wenig und zeigte mein Erstaunen nicht, denn ich hatte es mir angewöhnt, meine Gefühle für mich zu behalten, aber als ich im Bett war, weinte ich. Man konnte doch nicht von mir erwarten, mich damit abzufinden! Tat Gott Frauen wirklich so etwas an? Tagelang litt ich an verletztem Stolz und machte mich zähneknirschend auf das Schlimmste gefasst. Würden meine Brüder es herausfinden? Jeden Tag untersuchte ich voller Angst meinen Schlüpfer. Aber nichts geschah, und schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass ich mir das Ganze nur eingebildet oder etwas missverstanden hatte, oder dass meine Mutter einen eigenartigen Sinn für Humor besaß.

Meine Mutter interessierte sich lebhaft für Weltpolitik.

Sie hatte Geschichte und Politik studiert und verfolgte gebannt, was sich in Russland, China oder in anderen krisengeschüttelten Regionen tat. Ständig steckte sie ihre Nase in Bücher oder Nachrichtenmagazine wie Time, »Ich habe dir doch gesagt, dass es so weit kommen würde!«, erklärte sie häufig meinem Vater gegenüber, wenn sich irgendwo am anderen Ende der Welt ein Aufstand oder ein blutiger Putsch ereignete. Dann nickte er und machte eine nichts sagende Bemerkung, ohne von seiner Zeitung aufzublicken. Sie hasste Kochen, Haushalt, Kindergroßziehen. Uns hatte sie nun einmal am Hals, daran war nichts zu ändern, aber der Hausarbeit versuchte sie durch ständige Ausweichmanöver zu entgehen. Abgesehen von Mrs. Maloney, deren Unterstützung uns in den Ferien zuteilwurde, hatte sie keine Haushaltshilfe. Mein Vater wartete immer noch darauf, dass seine Anwaltskanzlei in Dublin richtig anlief. Er war vor einigen Jahren das Wagnis eingegangen, bei einer der größten Kanzleien der Stadt zu kündigen, um sich selbstständig zu machen, und seine Einkünfte reichten zu der Zeit kaum aus, um eine so große Familie zu ernähren und zwei alte Häuser instand zu halten.

»Du hast die Wahl. Entweder machst du etwas aus deinem Leben, oder du machst den Haushalt«, erklärte meine Mutter einer Dubliner Nachbarin, die sich eines Tages in unserer nicht gerade makellosen Küche umsah und mit beinahe ehrfürchtiger Miene den Blick über die mit Büchern übersäte Anrichte und die mit Geschirr vollgestellte Spüle schweifen ließ. Wenn ich mir heute so überlege, was sie tatsächlich aus ihrem Leben machte (außer zu lesen, fünf Kinder zu versorgen und jeden, der sich darauf einließ, in hitzige intellektuelle Debatten zu verwickeln), fällt mir nur noch ein, wie sie ihren Körper hegte und pflegte, als wäre er die Eintrittskarte zu einer anderen Welt. Und sie sah in der Tat sehr gut aus, besaß eine herbe, beeindruckende Schönheit, die von einem wachen Geist genährt wurde, in dem es ständig brodelte. Als einziges Kind eines protestantischen Pastors, schlank, dunkel, hochmütig, war sie am Trinity College der Star ihres Jahrgangs gewesen. Sie hätte jeden haben können, aber sie verliebte sich ausgerechnet in meinen charismatischen Vater. Vor der Heirat musste sie sich verpflichten, ihre Kinder katholisch zu erziehen, und dieses Versprechen hielt sie, nicht nur weil sie ihr Wort gegeben hatte, sondern auch, weil sie ihn beinahe wahnsinnig liebte. Das wusste ich, weil ich ihn auch liebte, aber mir war gleichzeitig klar, dass ihr Verlangen nach ihm ungestillt blieb. Dass er sich diesem nicht beugen konnte, war mir dabei ebenso klar. Er war unverrückbar. In seiner Vorstellung vom Leben bekam die Ehefrau einen bestimmten Platz zugewiesen. Er sah sie nicht als geistige Kraft, und er sah sie nicht als einen Menschen, dessen Liebe ihm über alles ging. Nein, sie existierte nur in Bezug auf ihn, und er sorgte für sie und die gemeinsamen Kinder und tat, was die Pflicht gebot. Alles andere wäre aus seiner Weitsicht ein Zeichen von Schwäche gewesen.

Mein Vater war hochgewachsen und attraktiv, seine Äußerungen fielen oftmals direkt und dogmatisch aus, er war aufrichtig, dachte geradlinig und hatte klare Vorstellungen von der Welt. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass seine Frau immer labiler wurde, dass sie sich einsam und unerfüllt fühlte. Wenn ich beobachtete, wie meine Mutter Gymnastik trieb, um nach vier Schwangerschaften ihre Figur zu bewahren, wusste ich, dass es ihr dabei nicht nur um Eitelkeit ging. Erst später wurde mir darüber hinaus bewusst, dass sie bei meinem Vater dadurch wahrscheinlich die Leidenschaft zu wecken suchte, die sie selbst für ihn empfand. Nach außen hin strahlte sie Stärke aus und verbarg ihre Verletzlichkeit unter einem harten Schildkrötenpanzer. Wenn ihr mein Vater genug Liebe und Anerkennung entgegengebracht hätte, dann wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, ihre eigene Wirklichkeit gefahrlos zu erkunden, und wir wären alle glücklicher geworden. Doch wie die Dinge nun einmal lagen, wurde Mutterliebe als eine pragmatische Angelegenheit betrachtet und konnte sich nie in ihrer ganzen Tiefe entfalten.

Was empfand meine Mutter für mich, ihre einzige Tochter? Mir kam es vor, als sehe sie in mir mehr die Mitverschworene, denn das Kind. Nach ihrer Weitsicht legten Männer den Status quo fest, weil sie sich für allwissend hielten. Frauen hatten den größeren Durchblick, mussten aber ihr Wissen für sich behalten. Diese allen Frauen gemeinsame Einsicht glich einer Art Verschwörung, bei der es um die Würde und ums Überleben ging. Und in einem Land, das vom Klerus beherrscht wurde, dessen Frauenfeindlichkeit die Realitätswahrnehmung der Nation färbte, würde sich das Frauenbild so rasch nicht ändern. Männer bildeten die Menschheit, und Frauen wurden geduldet, solange sie sich fügten.

Ich war kaum in der Lage, die Ansichten meiner Mutter nachzuvollziehen, war aber darauf erpicht, an allem teilzuhaben, was mich zu ihrer Genossin und Mitstreiterin werden ließ. Da sie Schwäche verabscheute, verbarg ich vor ihr alle Ängste meiner Kindheit und die Alpträume, die mich in Dunbeg so sehr quälten, dass ich mich vor dem Einschlafen fürchtete. Ich hatte die Märchen der Gebrüder Grimm gelesen, und aus irgendeinem Grund blieb die Geschichte von Peter und dem Wolf bei mir hängen. »Es war ein großer weißer Wolf«, wusste mein Bruder Simon zu berichten, als ich ihm die Geschichte erzählte. Und danach träumte ich immer von ihm, dem weißen Wolf, »meinem« Wolf. Er ängstigte mich fast zu Tode, wenn er nachts unter meinem Bett lag oder durch meine Träume streifte.

Einmal träumte ich, dass ich auf der Insel Inishdrum neben der verfallenen Festung stand. Es war Nacht, ich sah jenseits der Bucht die Lichter unserer Burg und erahnte das Leben, das dort herrschte – die Silhouetten, die sich gelegentlich an den Fenstern zeigten, waren meine Brüder und meine Eltern. Plötzlich wurde mir klar, dass ich erwachsen war, denn meine Augenhöhe hatte sich nach oben verlagert, und mein Körper fühlte sich seltsam an, als trüge ich ein Kostüm, das mir viel zu groß war.

Jenseits der Bucht ging im oberen Stock ein Licht an. Es war mein Zimmer, und ich sah wie gebannt mein eigenes Fenster an, sah das kleine Mädchen, das herbeikam und es schloss, und voller Entsetzen erkannte ich, dass ich dieses Mädchen war.

Ich wusste, dass die Gegenwart, wie ich sie kannte, vorbei war, dass ich sie für immer verloren hatte, dass ich in eine dunkle Zukunft abgeschoben und für immer ausgeschlossen worden war. Die Burg wurde plötzlich dunkel, als wäre alles Leben und alles Licht ausgelöscht, und ich war allein. Ich schrie auf, aber der Wind trug meine Stimme fort, und dann kam über den feuchten Gezeitensand der weiße Wolf auf mich zugelaufen.

Ich erwachte von meinem eigenen Schrei, schweißgebadet und voller Angst, froh, mich in meinem Bett wieder zu finden, froh, dass meine Eltern nebenan lagen und jenseits des Flurs meine Geschwister schliefen.

Diesen merkwürdigen Traum hätte ich gern jemandem erzählt, aber ich fürchtete den Spott meiner Brüder und das ärgerliche Seufzen meiner Mutter. »Um Himmels willen, Áine, sich von einem albernen Märchen derart aus der Fassung bringen zu lassen! Trink vor dem Schlafengehen einen Becher heiße Milch.«

Aber der Nachgeschmack des Traums wollte lange Zeit nicht weichen. Denn ich wusste, dass die Jahre verstrichen und ich eines Tages wirklich erwachsen sein würde. Was würde mir das Leben dann bringen? Was würde sich für immer verändert haben?

Diese quälenden Fragen behielt ich für mich. Ich wurde für meine Flunkereien bekannt. Was ich wirklich fühlte und was ich tat, verbarg ich, denn ich wollte gefallen.

»Ist die Geschichte auch wahr, Áine?«, fragte meine Mutter nicht selten, wenn sie mir Ungehorsam vorwarf und ich ihr daraufhin einen Bären aufband.

»Die Gesichte ist wirklich wahr! « Damals lispelte ich zuweilen, mehr aus Koketterie als wegen echter Ausspracheschwierigkeiten.

»Gut! «, rief sie dann. »Könnte ich jetzt bitte die ›Gesichte‹ hören, die wirklich stimmt!«

Manchmal rückte ich dann mit der Wahrheit heraus, woraufhin sie mich ermahnte: »Du darfst nicht mehr lügen, Áine! Das ist nicht recht!« Und sie schickte mich ins Bett, wo ich der Dunkelheit versprach, nie wieder die Wahrheit zu sagen.

Mit Flunkereien gestaltete sich das Leben leichter und die Leute waren zufriedener mit einem. Wichtig war dabei nur ein gutes Gedächtnis.

Eines Tages im Frühling 1986, als ich zehn Jahre alt war, bekam meine Mutter einen Brief von Tante Isabelle aus Mount Wexford. Sie schrieb darin, sie wolle einen längeren Sommerurlaub daheim in Irland verbringen und würde gerne mit Rupert nach Dunbeg kommen. Meine Mutter ließ den Brief auf dem Küchentisch liegen, und ich las ihn heimlich, als sie kurz hinausging, obwohl die Handschrift schwer zu entziffern war und ich seine Bedeutung eigentlich gar nicht erfasste.

Liebe Joyce,

ich glaube, ich halte das nicht mehr lange aus. Es tut mir leid, dass ich so lange nichts habe von mir hören lassen, aber dafür gab es Gründe. Es ging mir nicht gut, und dieser Mann ist unerträglich, obwohl ich es immer wieder versucht habe.

Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich heimkäme und euch diesen Sommer in Dunbeg überfiele? Es würde aussehen wie ein Urlaub.

Ich bringe Rupert mit. Er möchte das Haus so gerne sehen. Außerdem finde ich, er sollte seine Cousins und seine Cousine kennen lernen. Es wäre nicht gut, wenn sie als Fremde aufwüchsen.

Später sagte meine Mutter: »Es scheint, als hätte Isabelle Probleme, Noel ...«

Das Gespräch fand im Wohnzimmer unseres Dubliner Hauses statt. Mein Vater war gerade aus dem Büro heimgekommen und hatte es sich mit der Zeitung in seinem Lieblingssessel bequem gemacht. Sie wussten nicht, dass ich im Esszimmer hinter dem Vorhang hockte und heimlich ein Comic-Heft namens Beano las. Es gehörte Simon, und er hätte den dritten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, wenn er mich damit erwischt hätte. Also versteckte ich mich immer, wenn ich es las. Doch als der Name meiner exotischen Tante fiel, spitzte ich die Ohren, schlüpfte hinter dem Vorhang hervor und schlich zur Tür, von wo aus ich meine Eltern besser belauschen und beobachten konnte.

Mein Vater las den Brief, schüttelte den Kopf und meinte, Isabelle habe schon immer Probleme gehabt. »Sie gehört nun mal zu den Verrückten in unserer Familie ... Warum, glaubst du wohl, ist sie in dieses verdammte Gretna Green durchgebrannt, um dort zu heiraten? War das etwa normal?«

Meine Mutter machte ein undurchdringliches Gesicht. »Sie war eben jung und verliebt!« Dann warf sie wieder einen Blick auf den Brief. »Die Arme schreibt hier, dass es ihr nicht gut gegangen ist.«

»Du weißt, was das heißt ...«, erwiderte mein Vater mit einem vielsagenden Blick.

»Neurotisch oder nicht, sie ist deine Schwester«, hielt ihm meine Mutter entgegen. »Und diese Andeutungen über Alex ...«

»Sie hätte ihn eben nicht heiraten sollen. Aber wie man sich bettet ...«

Meine Mutter sah meinen Vater an, doch als er nichts mehr dazu sagte, murmelte sie: »Ich werde ihr schreiben und sie einladen.«

Um diese Zeit war davon die Rede, mich den Sommer über in die Gaeltacht zu schicken, um mein Irisch aufzupolieren, denn bei meiner letzten Prüfung in dieser Sprache hatte ich schlecht abgeschnitten. Ich hatte mich schon auf die Ferien im Westen gefreut, wo man noch Gälisch sprach. In der Irischen Schule dort würde ich mit vielen Mädchen zusammenkommen und weibliche Gesellschaft haben, die ich den Sommer über, allein mit meinen herablassenden Brüdern, vermisste. Doch jetzt, da ich wusste, dass Tante Isabelle und mein Cousin Rupert in Dunbeg sein würden, suchte ich nach Ausflüchten. Ich erklärte, dass ich nicht in die Gaeltacht fahren mochte, dass ich meinen einzigen Cousin kennen lernen wollte. Schließlich räumten meine Eltern ein, es wäre schade, wenn ich ihn verpasste, und meinten, ich könne im folgenden Jahr ja immer noch in die Gaeltacht fahren. Zwei Monate später, in jenem Sommer, als so viel in Bewegung geriet, kamen Rupert und Tante Isabelle also nach Dunbeg. Für sie war es die Heimkehr in das zerfallende Haus ihrer Vorfahren, das sie zuletzt als Teenager gesehen hatte. Für Rupert war es etwas anderes – eine erste Begegnung mit seinen irischen Wurzeln, für die er sich kaum interessierte. Es war, wie er mir später sagte, als hörte man zum ersten Mal eine fremdartige Musik, bei der einem klar wird, dass man sie schon immer gekannt und gefürchtet hat.

Kapitel 2

»Rupert, der kleine Schwächling, sitzt unten und schlägt sich den Bauch voll!«, verkündete Seán.

Es war die zweite Juliwoche, und wir waren seit Anfang des Monats in Dunbeg. Ich wusste, dass meine Tante Isabelle und ihr Sohn angekommen waren, weil wir am frühen Morgen die Stimmen auf dem Flur gehört hatten und ans Treppengeländer geschlichen waren, um zu lauschen. Wir spähten durch das Geweih eines riesigen Elchs, den irgendein hirnloser Vorfahr an die Wand genagelt hatte, in die Eingangshalle hinunter. Mein Vater war zum Flughafen Shannon gefahren, um sie abzuholen, und als er wiederkam, weckte uns das Motorengeräusch des Autos. Aber wir konnten nur einen flüchtigen Blick auf die Neuankömmlinge werfen, weil wir eigentlich noch schlafen sollten, und das Gebrüll meines Vaters, das umhergeisternde Kinder auf sich zogen, wollten wir uns lieber ersparen.

»Wie ist er denn so, dieser Rupert?«

»Ein kleiner Yankee«, sagte Seán mit eigentümlichem Akzent und verächtlich verzogenem Mund. Offenbar war er auch noch stolz auf das, was er für die perfekte Imitation eines amerikanischen Tonfalls hielt.

Ich war so gespannt darauf, den »kleinen Yankee« zu sehen, dass ich die Treppe zur Küche in Windeseile hinunterrannte. Doch vor der Tür überfiel mich auf einmal die Schüchternheit, und ich stieß nur sehr zaghaft die Tür auf. Als ich in die Küche trat, blickte ich einem vierzehnjährigen Jungen direkt in die Augen. Sein Gesicht war ernst und selbstbeherrscht, und obwohl er im selben Alter war wie mein ältester Bruder Seán, war er dünner und kleiner als dieser. Er trug ein Baumwollhemd und Jeans, hatte braune Haare und Sommersprossen.

»Das ist deine Cousine Áine«, sagte meine Mutter zu unserem Gast. Sie briet Eier und Speck auf dem Elektroherd und machte sich nicht die Mühe, in meine Richtung zu schauen. »Áine, das ist Rupert.«

»Hallo.«

»Hi«, sagte er, stand auf und streckte mir die Hand entgegen. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass er, nur um mich zu begrüßen, eigens von seinem Stuhl aufgestanden war. Meinen vier Brüdern gegenüber hatte ich stets mein bisschen Freiraum verteidigen müssen, aber jetzt war ein Junge, den ich noch nie gesehen hatte, aufgestanden, nur weil ich ins Zimmer getreten war. Die Höflichkeit war offenbar anerzogen, eine automatische Geste, aber in diesem Augenblick erwachte in mir ein neues Selbstgefühl. Auf einmal brauchte ich nicht mehr wie ein Tiger kämpfen, um bei den Jungen dazuzugehören. Auf einmal war ich ein völlig anderes Wesen – ein Mädchen und ein freier Mensch.

»Möchtest du Eier mit Speck?«, fragte mich meine Mutter, der dieser bedeutungsvolle Augenblick völlig entgangen war.

Sie kochte nicht gern und war der Meinung, wenn man gut gefrühstückt habe, sei man »auch nicht schlecht dran«. Während der Ferien mussten wir uns mittags selbst verpflegen (was hieß, schnell zuzugreifen), und zum Abendessen gab es in der Regel nur Salat, wenn nicht gerade Mrs. Maloney da war. Mrs. Maloney wohnte in der Nachbarschaft und kam zweimal die Woche zu uns, um das Haus zu putzen; anschließend kochte sie uns eine warme Mahlzeit. »Die armen Kinder verwildern ja richtig«, klagte sie oft, »halb verhungert und verwildert.« Jetzt drehte sich meine Mutter um und sah mich an. »Áine, ich habe dich gefragt, ob du Eier mit Speck möchtest.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Mama.« Dann suchte ich die Cornflakes, fand sie hinter dem großen Brotkasten, wo Seán sie vermutlich für sich gelagert hatte, und fing einen höflichen, neugierigen Blick auf.

»Du siehst ... sehr nett aus«, flüsterte ich unvorsichtigerweise. Am liebsten hätte ich gesagt, dass er überhaupt nicht wie ein kleiner Schwächling aussah, aber ich besann mich noch rechtzeitig.

Mein Bekenntnis schien Rupert zu schockieren, denn er zwinkerte nervös.

»Magst du Cornflakes?«, fragte ich hastig. »Du solltest dir lieber welche nehmen, bevor Seán runterkommt ...« »Klar.« Er hielt mir eine der Schüsseln mit dem Weidenmuster hin, aus denen Generationen von O’Malleys ihren Porridge gegessen hatten.

Schlagartig wurde mir klar, dass ich, wenn unser Gast anständig verpflegt werden sollte, Vorkehrungen fürs Mittagessen treffen musste, ehe Seán auftauchte. Ich ging in die Vorratskammer, holte die einzige Pizza, die noch in der Gefriertruhe war, heraus und versteckte sie unter dem Salat im Kühlschrank. Außerdem fand ich ein Stück Cheddarkäse, noch frisch verpackt, und legte es in den leeren Eierbehälter, eine Porzellanhenne, die nie benutzt wurde. Sollte ich dabei ertappt werden, würde mich Seán einen gefräßigen kleinen Feigling nennen.

Ich hasste es, wenn er mich einen Feigling nannte. Das war ungerecht, weil ich genauso unerschrocken war wie die anderen, manchmal sogar tollkühn, nur um mich zu beweisen. Ich kletterte jederzeit auf die Klippe an der Landzunge, kraxelte auf jeden Baum, auch wenn ich mir die Hände aufschürfte, schwamm, wo das Wasser am tiefsten war, obwohl ich mich insgeheim vor tiefem Wasser fürchtete. Jahrelang hatte ich versucht, kein Mädchen zu sein, aber inzwischen wusste ich, dass das Spiel aus war. Meine Brustwarzen schwollen an und glichen inzwischen kleinen Himbeeren, erste Anzeichen meiner Entwicklung zur Frau, die ich fürchtete wie ein Gefangener das Todesurteil.

Doch jetzt hatte ich einen Jungen vor mir, nicht viel größer als ich selbst, der ganz anders war als alle Jungen, die ich kannte, und der mich mit einer so selbstverständlichen Höflichkeit behandelte, dass ich mich fragte, wie ich zu dieser Ehre kam. Sein amerikanischer Akzent klang für meine jungen Ohren exotisch, merkwürdig schleppend und musikalisch und keineswegs so, wie Seán ihn nachgeäfft hatte.

»Ich zeig dir das Haus, wenn du magst«, erbot ich mich mit vollem Mund. Allmählich fand ich mein inneres Gleichgewicht wieder und überlegte, wie er sich im Kreis einer so merkwürdigen Familie, wie wir es waren, wohl fühlen mochte.

»Das wäre wirklich nett!«

Er verspeiste seine Eier mit Speck, bedankte sich bei meiner Mutter, stellte Teller und Tasse in die Spüle und sah mich an. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich fertig war, fragte er in pragmatischem Ton: »Okay. Können wir los?« Dann blickte er mir lächelnd in die Augen. Wir kannten uns noch keine zehn Minuten, und schon hatte er meinen privaten, persönlichen Innenraum betreten, als wäre er mit dessen Geografie bestens vertraut.

»Geht nicht aufs Dach hinauf!«, rief uns meine Mutter warnend nach, als wir die Küche verließen.

»Die Treppe zum Turm ist dort drüben«, verkündete ich ein paar Minuten später, während wir uns einen Weg durch das Chaos in der Schuhkammer bahnten. »Da geht’s hinauf zum Dach.«

»Aber deine Mutter hat doch gesagt ...«

»Klar. Das sagt sie immer. Aber sie erwischt uns nicht ... Wir sind eine sehr unfolgsame Familie.« Ich warf ihm einen Blick zu und zuckte die Achseln. »Und ich bin wahrscheinlich am unfolgsamsten von allen!« »Warum?«

Er stellte die Frage beiläufig, aber ich spürte sofort, dass er Skrupel hatte, die mir fremd waren, und dass ich ihn nicht allein durch meinen Ungehorsam beeindrucken konnte. Also sagte ich ausnahmsweise einmal die Wahrheit.

»Weil ich, wenn ich mich an alles halten würde, was man mir sagt, rein gar nichts tun dürfte.«

Die Wendeltreppe führte in einen der zinnengekrönten Türme hinauf. Auf halber Höhe gab es eine Tür zu dem großen Zimmer im ersten Stock, das sich die Zwillinge teilten. Die Tür stand einen Spaltbreit offen – sie war verzogen und ließ sich nicht mehr ganz schließen –, und durch die Ritze sahen wir meine Brüder, die noch schliefen. Sie hatten sich in ihre Decken eingewickelt, ihre Füße ragten im selben Winkel hervor, und sie schnarchten beide mit offenem Mund. Ziemlich boshaft dachte ich, dass Simon nicht die einzige verpuppte Larve in der Familie war. Als wir an der Tür vorbeigingen, hielt ich mir die Nase zu, weil der Geruch der berühmten Käsefüße der Zwillinge herübergeweht war. Rupert sah mich an, doch ich legte den Finger auf die Lippen und huschte vor ihm die Treppe hinauf. Ganz oben war eine weitere Tür, die durch ein Stück Elektrokabel, das an einem Nagel hing, zugehalten wurde. Wir lösten die Schlaufe, machten die Tür auf und traten auf das massive Bleidach in einen strahlenden Morgen hinaus.

Schon als ich noch viel kleiner war, hatte ich mich oft hier heraufgeschlichen, um nachzudenken, um allein zu sein, um dem nächsten Spiel zu entkommen, bei dem ich vielleicht, an einen Baum gefesselt, von heulenden »Indianern« gemartert würde. Ich beobachtete Rupert, wie er den Blick über die Landzunge, die Bucht mit den Inseln, die ganze majestätische Landschaft schweifen ließ, und auf einmal war ich stolz. Dieser unvergleichliche Ort war schließlich mein Land, und als ich da neben den Zinnen stand, fühlte ich mich wie eine mittelalterliche Schlossherrin. Unter uns lag der Vorhof, dahinter fiel das Gelände zu den Felsen hin ab, und eine kleine Steintreppe führte zum Strand hinunter. Es herrschte Ebbe, kurz vor dem Einsetzen der Flut, und die Nachbarinsel Inishdrum mit der alten Ruine war über den feuchten Sand bequem zu Fuß zu erreichen. Gerade überquerte mein Vater den kiesbedeckten Vorhof zu seinem Auto. Auf dem Rasen blühten Hortensien, rosa und hellblau, und an der alten Granitmauer zum Wirtschaftshof genoss eine Hecke aus dunkelroten und violetten Fuchsien die Sonne. Man sah den Anfang der Allee am Viehgitter, bis sie sich unter dem Blätterdach der Bäume verlor. Vom Meer her wehte eine laue Brise heran. Sie sprach zu mir. Sie sagte, was sie immer sagte, wenn ich mit ihr allein war: Frieden, Frieden, Frieden.

Gespannt wartete ich auf Ruperts Reaktion, doch er schwieg. Er stand da wie ich, als sei er Teil des Steins. Dann flüsterte er: »Das ist ja toll hier!« Er deutete auf die Landzunge, wo die Überreste eines alten Cottage gerade noch zu erkennen waren, und fragte: »Was ist das da oben?«

»Nur ein verfallenes Cottage. Hier in der Gegend gibt es viele davon.«

»Führt ein Weg zur Klippe hinauf?«

»Ja. Aber wir dürfen ihn nicht betreten.« »Warum nicht? Ist es gefährlich?«

Ich nickte, warf einen Blick über die Schulter und sagte mit leiser Stimme: »Ich war kürzlich oben, der Weg ist teilweise auf die Felsen abgerutscht ...« Flüsternd verriet ich ihm dieses Geheimnis, weil ich spürte, dass ich ihm trauen konnte, und weil die Verständigung mit ihm so neu und aufregend war und eine merkwürdige Erleichterung brachte. Er schien gebührend beeindruckt.

»Ich zeig’s dir, wenn du magst«, fuhr ich fort. »Nach dem Mittagessen, wenn die Erwachsenen Weggehen.«

Einen Augenblick fürchtete ich, er würde mein Angebot ablehnen, aber seine Augen funkelten abenteuerlustig. »Okay.«

Auf dem Weg nach unten stießen wir auf Seán, der in der Schuhkammer herumwühlte.

»Ach, die Eichhörnchenkönigin persönlich!«, rief er. »Du hast nicht zufällig ...« Und dann sah er Rupert hinter mir herunterkommen und nickte ihm verlegen zu, als würde er einer geheimnisvollen Gattung angehören, die unsere Sprache nicht verstand.

»Hast du dich an meinem Schnorchel vergriffen?«, fuhr er fort und sah mich streng an.

»Hab ich nicht!«

Er stellte alles auf den Kopf, verstreute überall Gummistiefel, verschiedene alte Regenmäntel, Sandeimer und Schaufeln aus verflossenen Sommern.

»Vermutlich ist er in der Höhle«, bemerkte ich. »Wenigstens war er gestern noch dort. Und ich habe ihn nicht benutzt!« Die »Höhle« war ein Unterstand aus Beton oberhalb einer Helling auf den Felsen. Dort hatten wir unser Schlauchboot und das Surfbrett untergestellt.

»Wahrscheinlich waren es die Zwillinge«, grollte er. »Dafür schlage ich diesen hinterlistigen Biestern den Schädel ein!«

Plötzlich sah er Rupert an, als wäre ihm seine Grobheit peinlich und als wüsste er nicht, wie er sich verhalten sollte.

»Du ahnst ja nicht, was dir als Einzelkind alles erspart bleibt«, verkündete mein für sein Alter zu groß gewachsener Bruder und stapfte hinaus. Er verschwand in den Flur, ging die Stufen hinunter auf den sonnenbeschienenen Vorhof und von dort aus weiter zur steinernen Treppe, die zu den Felsen und der Höhle führte.

»Warum hat er dich ›Eichhörnchenkönigin‹ genannt?«, fragte Rupert.

»Das ist nur so ein blöder Name ... Er lässt sich für alle Leute blöde Namen einfallen. Komm, ich zeig dir noch das restliche Haus.« Ich wollte ihm nicht erzählen, dass ich mir vor zwei Jahren in meiner Einsamkeit eine Geschichte über ein Eichhörnchen zusammenphantasiert hatte. Ich erzählte, das Tierchen und ich hätten Freundschaft geschlossen, weil ich es vor dem Ertrinken gerettet hätte. Es war ein Märchen, das ich mir beim Anblick eines roten Eichhörnchens in den Bäumen ausgedacht hatte, doch als ich es meiner Familie weismachen wollte, erntete ich nur Hohn und Spott. Simon, damals sieben, wollte hinausstürmen und den pelzigen Freund ansehen, doch alle anderen kugelten sich vor Lachen. »Sei nicht so ein kleiner Schwachkopf«, riet ihm Seán, und mich nannte er fortan nur noch »Eichhörnchenkönigin«.

Die Familie ist wie die Nationalität: Man kann sich nicht aussuchen, wo man hineingeboren wird, aber in der Regel kommt man sein Leben lang nicht davon los.

Ich zeigte Rupert den Salon, einen großen Raum mit einem Erkerfenster mit Blick aufs Meer, einem blauen Teppich und einem schönen offenen Kamin aus Marmor. Hier standen zwei Sofas, ein paar Sessel, es gab einen gepolsterten Fenstersitz und einen Beistelltisch, auf dem die Giftflaschen der Erwachsenen prangten – Sherry, Whiskey und Gin. In einer Ecke befand sich auch der Eingang zum westlichen Turmzimmer. Man hätte meinen können, in dem kleinen runden Raum führe eine weitere Wendeltreppe zum Turm, doch es war nur eine Art Nebenzimmer mit einem schmalen Fenster nach draußen; vom Salon war es nur durch einen Gobelin abgetrennt. Hier wurde verschiedener Krimskrams aufbewahrt, Bilder mit zerbrochenem Rahmen und eine alte Singer-Nähmaschine mit Gehäuse, außerdem ein alter Sessel und eine karierte Decke.

»Hier kannst du dich verstecken«, erklärte ich Rupert, »wenn dich jemand sucht. Es ist auch ein guter Platz, wenn alle denken, du wärst im Bett ... Dann kannst du mithören, was die Erwachsenen reden. Das ist besser, als allein mit deiner Angst im Bett zu liegen ... « Ich sah Rupert an. Plötzlich fürchtete ich, zu viel verraten zu haben – schließlich war er vierzehn, gehörte also selbst fast schon zu den Erwachsenen. Doch er nickte ernst, als begriffe er nur zu gut, wie es ist, wenn man voller Panik stundenlang wach liegt, während unterm Bett der weiße Wolf lauert.

Dann führte ich ihn ins Esszimmer. Es lag neben dem Salon und hatte einen riesigen Kamin. Hier gab es auch ein Erkerfenster und einen langen Mahagonitisch, an dem achtzehn Personen Platz gefunden hätten. In einem Buffet waren eine Menge Weingläser und eine leere Kristallkaraffe ausgestellt. Auf einem kleineren Tisch im Erker standen einige Topfpflanzen – kümmerliche Geranien und eine erschöpfte Schusterpalme. An den Wänden hingen Drucke. Die guten Gemälde waren längst entfernt worden, entweder von meinen weitsichtigen Vorfahren, die sie nach Dublin gebracht hatten, oder von einfallsreichen Räubern. Es hieß, die IRA hätte 1920 vorgehabt, die Burg niederzubrennen, doch da die meisten der Brandstifter Einheimische waren, die dies nicht übers Herz brachten, hatten sie sich damit begnügt, sämtliche Wertgegenstände fortzutragen, die ihnen in die Hände fielen. Das Haus selbst überließen sie dem friedlichen Verfall.

Vom Esszimmer aus führte eine Tür in die Bibliothek, ein mit Eichenholz getäfelter Raum, dessen dicke Samtvorhänge einst kirschrot gewesen und jetzt zu einem Graurosa verblichen waren. Hier gab es einige Porzellanstücke zu bewundern – ein paar Spode-Teller, die über dem offenen Kamin hingen –, eine Couch und einen Sessel. Bücherregale säumten die Wände, und das große Fenster bot eine schöne Aussicht auf die Bucht. Ich warf einen Blick hinaus, sah, dass die Flut in den Meeresarm drängte, und wusste, dass die Insel zu Fuß bald nicht mehr zu erreichen sein würde.

Am anderen Ende des Raums führte eine Balkontür auf eine kleine Terrasse und in den windgeschützten Garten hinterm Haus. Auf diesem Patio mit den roten und grauen Keramikfliesen hatte meine Ururgroßmutter Sarah nach dem Sturz aus einem der oberen Zimmer den Tod gefunden. Ich wusste, dass sie nachts noch manchmal durch den Garten wanderte, denn ich hatte einmal beobachtet, wie sie lautlos über den Rasen schritt. Ich hatte im Dunkeln in der Bibliothek gesessen, um eine mir selbst auferlegte Mutprobe zu bestehen, als ich, ungläubig und zu Tode erschrocken, die weiße Gestalt sah, die durch den Garten strich. Sie war die Steinstufen zum einstigen Obstgarten emporgestiegen und dann verschwunden.

Natürlich hatte ich niemandem davon erzählt. Ich hätte Ärger bekommen, weil ich mitten in der Nacht aufgestanden war, während alle anderen im Bett lagen, aber das hatte ich nur getan, um meine Furcht zu bekämpfen. Ich schlief allein in einem riesigen Zimmer, wo jede Ecke mit Ausgeburten meiner Phantasie bevölkert war und wo ich manchmal wie versteinert dalag und den merkwürdigen Geräuschen lauschte, die das Haus mitten in der Nacht hervorbrachte. Alle anderen hatten jemanden, bei dem sie Trost fanden: Meine Eltern schliefen zusammen in einem großen Doppelbett, die Zwillinge teilten sich ein Zimmer, Simon durfte bei Seán schlafen. Manchmal hörte ich die anderen streiten, bevor sie einschliefen. Ich aber war unsichtbar: für meine Eltern, die von ihrer Erwachsenenwelt in Anspruch genommen waren, für meine Brüder, weil ich ein Mädchen war und daher mit Verachtung gestraft wurde. Ich wollte geliebt werden, aber ich hatte niemanden, der mich liebte. Ich litt unter lebhaften, grellen Alpträumen. Der Wolf lag nachts unter meinem Bett und pirschte durch meine Träume. Manchmal kehrte der Traum wieder, in dem ich von der anderen Seite des Meeresarms her die Welt meiner Kindheit betrachtete. Dann überfiel mich die Angst vor einem unwiederbringlichen Verlust, und es beschlich mich das Gefühl, dass etwas Gefährliches auf der Lauer lag und auf mich wartete.

Die Folge davon war, dass ich mich in Dunbeg oft vor dem Schlafengehen fürchtete und stattdessen einsame Rundgänge durch das nächtliche Haus unternahm, die Treppe hinunterschlich und Zimmer für Zimmer kontrollierte, während meine Familie selig schlummerte, da ich mir unbedingt beweisen wollte, dass ich kein Angsthase war. Dracula, eine Fledermaus, die in einem Winkel des Treppenhauses wohnte, flatterte manchmal lautlos auf mich zu, wenn ich den oberen Flur entlangging. Anfangs erschreckte sie mich, doch dann trafen wir eine Vereinbarung: Ich ließ sie in Ruhe, und sie akzeptierte mich als Nachtgeschöpf, das wie sie ruhelos durch die Dunkelheit streifte.

Jetzt, in der sonnenhellen Bibliothek, schienen alle diese Dinge nichtig und bedeutungslos. Ich sah Rupert an und fragte beinahe flapsig, ob er die Geschichte unserer Ururgroßmutter und ihres vorzeitigen Todes kannte.

»Ja«, erwiderte er leise. »Mama hat sie mir erzählt.« »Sie ist zurückgekehrt«, flüsterte ich und deutete auf die Terrassentür.

»Was?« Er bekam große Augen, die Pupillen ließen die Iris beinahe unsichtbar werden, und sein Gesicht wurde blass unter den Sommersprossen.

»Sarah ... Eines Nachts, als ich hier war, habe ich sie durchs Fenster gesehen ... Sie war dort drüben, ging über den Rasen.« Noch im selben Augenblick bereute ich, mein Geheimnis preisgegeben zu haben. Ich hatte noch nie jemandem davon erzählt und fürchtete mich vor dem Spott. Außerdem wollte ich nicht, dass er mich für verrückt hielt oder meinte, ich nähme ihn auf den Arm.

Aber mein Cousin flüsterte nur: »Hast du es da nicht mit der Angst zu tun bekommen?«

»Ich bin fast durchgedreht. Aber sie ging vom Haus weg, die Treppe hinauf zum Obstgarten.« Und ich zog ihn ans Fenster und zeigte ihm den Weg des Gespenstes über den Rasen. »Sie hatte etwas Trauriges an sich, als wollte sie mich warnen ...«

»Wovor?«

»Ich weiß nicht. Bitte erzähl es niemandem. Ich würde nur Ärger bekommen.«

Als ich ihn ansah, wusste ich, dass er dichthalten würde, dass er es gewohnt war zu schweigen, dass er ungeahnte Geheimnisse hatte und Ängste, die ihn heimlich plagten. Ich spürte das so deutlich wie die Tatsache, dass ich lebte. Wir blickten uns wortlos an, und in diesem Augenblick entstand ein besonderes Band zwischen uns. Wir trafen eine Übereinkunft.

»Ich werde nichts sagen«, versicherte er mir stirnrunzelnd, darauf bedacht, mich zu beruhigen; dann trat er näher und berührte meine Hand. Wir sahen uns immer noch an.

»Warum heißt du eigentlich Rupert?«, flüsterte ich. »Es erinnert mich immer an Rupert Bär ...«

Rupert machte mit rauer Stimme das Brummen eines Bären nach.

»Du weißt schon«, sagte ich, »der kleine Bär aus den Kinderbüchern!« Ich ließ den Blick über die Regale schweifen; bestimmt standen hier noch ein paar unserer alten Rupert-Bär-Bücher. Als ich sie entdeckte, holte ich rasch eins herunter.

»Die kenne ich«, erklärte Rupert feierlich und betrachtete die bunten Bilder. »Ich hatte die Bücher, als ich klein war. Ich hatte sie sogar stapelweise zu Hause. Mama hat sie für mich gekauft. Es ist ein englischer Bär. Amerikanische Bären sind anders.«

»Ich weiß!«

Er blätterte nachdenklich darin und fügte schließlich hinzu: »Du bist wie sie.«

Er deutete auf Tigerlily, das unergründliche chinesische Mädchen im Seidenkimono.

»Nein, bin ich nicht.«

»Doch«, entgegnete Rupert. »Du hast zwar kein Kleid wie sie und keine so komischen Augen. Aber sie ist anders.« Er sah mich an. »Und das bist du auch.« »Tigerlily und Rupert Bärchen«, fing er plötzlich an, »sind ein ganz verrücktes Pärchen!«

Wir sahen uns an und bogen uns vor Lachen.

Durch den schmalen Durchgang zur Küche verließen wir die Bibliothek, und ich zeigte Rupert das Billardzimmer. Der Tischüberzug war verkratzt und es fehlten ein paar Kugeln, aber diese Mängel hatten meine Geschwister und mich nie sonderlich gestört. Wir hatten einfach die Regeln etwas abgeändert. Rupert betrachtete die Eichenbänke, die in die Wand eingelassen waren, und den Kamin aus Schiefer. Das Zimmer hatte ein kleines Fenster, das halb mit wildem Wein zugewachsen war, sodass nur gedämpftes grünes Licht hereinfiel.

»Kannst du Billard spielen, Áine?«

»Klar! Spielen wir eine Partie?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. Seine Zähne waren ebenmäßig, sein Lächeln aber schief. »Wohin geht es da?«, flüsterte er beinahe ängstlich und deutete auf die Tür, die vom Billardzimmer in die alte Küche führte.

»Die ist abgesperrt. Das ist der Teil der Burg, der demnächst einstürzt.«

»Warum lassen deine Eltern ihn dann nicht herrichten?« »Daddy sagt, es würde ungefähr eine halbe Million kosten. Wahrscheinlich ist das ein Witz, aber er hat nicht genug Geld. Wenn ich groß bin – und reich dazu –, lasse ich das Haus in Ordnung bringen.«

Rupert ließ eine Kugel über den Boi rollen. Er brüllte nicht vor Lachen wie meine Brüder und wollte auch nicht wissen, wie ich es anstellen wollte, reich zu werden. Er sagte nur: »Magst du das Haus so sehr, dass du eine halbe Million dafür ausgeben würdest?«

»Dunbeg ist mein Ein und Alles«, erwiderte ich, erstaunt über mich selbst. »Mama sagt, es ist eine Art Mutterboden.«

»Mutterboden?«

Ich zuckte die Achseln. »Sie sagt, es sei ein Ort, an dem die Dinge wachsen, sich entwickeln oder so. Alles ist ein bisschen sonderbar hier, aber wenn du dich erst mal auskennst, wirst du es mögen. Wart nur ab. Das liegt im Blut. Wenigstens meint Mama das. Sie sagt, dass alle O’Malleys das Haus im Blut haben, und dass es mit ihnen spricht.«

»Aber ich bin ein Lyall! Und ich will bestimmt nicht, dass irgendein Haus zu mir spricht!«

»Mütterlicherseits bist du ein O’Malley!«

Nach einer Weile sagte Rupert: »Du hast einen lustigen Namen ... Áine. Bedeutet er etwas?«

»Es ist angeblich die irische Form von Anne. Aber in Wirklichkeit war Áine eine keltische Göttin. Sie ist im Shannon ertrunken.«

»Wenn das stimmt, war es mit ihrer Göttlichkeit wohl nicht allzu weit her«, erwiderte er mit einem Mal verächtlich. Er blickte in den Sonnenschein hinaus. »Ich glaube, ich gehe jetzt schwimmen.«

»Gute Idee.«

Auf einmal hatte ich Angst, dass er meinen könnte, ich klebe ihm an den Fersen. Als wir den Raum verließen, zeigte ich aufs Treppenhaus und die gewölbte Glasdecke über dem Treppenabsatz. »Da oben wohnt eine Fledermaus. Sie heißt Dracula.«

Ich glaubte, damit mein Ansehen zu steigern, aber er lachte nur, und dann ließ er mich stehen, rannte nach oben und rief, er hole mal eben seine Badehose. Ich ging in die Sonne hinaus, setzte mich auf die Stufen vor dem Haus und beobachtete mein Kätzchen Tabbs, das zwischen den Hortensien mit einem Bonbonpapier spielte.

Ich lächelte Rupert an, als er mit einem Handtuch wiederkam, und wies ihm den Weg zu dem kleinen Strand. »Schwimm nicht zu weit hinaus und pass auf die Strömungen auf«, rief ich ihm nach. »Bei der Helling ist eine tiefe Stelle, da ist es ungefährlich ...«

»Ich kann schwimmen wie ein Fisch!«, gab er, offenbar verärgert, zurück. »Nicht wie deine alberne Göttin ...« »Sie war nicht albern!«, rief ich, aber er war schon auf dem Weg über die Stufen zu den Felsen hinunter.

Ich saß in der Sonne, streichelte Tabbs, die schnurrte und meine Hand mit ihren kleinen scharfen Zähnen und den nur halb eingezogenen Krallen attackierte. Von den Felsen her drangen Rufe zu mir herauf, und ich erkannte die Stimmen von Seán und Rupert.

Durch die offene Flurtür hörte ich, dass jemand die Treppe herunterkam und in Richtung Küche ging; dann rief meine Mutter: »Ich bin im Salon, Isabelle!« Und zum zweiten Mal an diesem Morgen hörte ich eine Stimme mit amerikanischem Akzent, die meine Mutter begrüßte: »Ich hätte nicht so lange schlafen sollen, Joyce ...«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Ich spähte in den Flur hinein und sah, dass sich die beiden Frauen umarmten.

»Schlaf ist das Einzige, was gegen die Zeitverschiebung hilft«, bemerkte meine Mutter. Wieder trat Schweigen ein, dann hörte ich meine Tante sagen: »Ich hatte ganz vergessen, was für ein erstaunlicher Ort diese alte Burg ist. So viele Erinnerungen ... Wo ist Rupert? Ich dachte, nach der langen Reise würde er noch schlafen, aber sein Zimmer ist leer.«

»Er hat schon vor einer Stunde gefrühstückt. Áine hat ihn unter ihre Fittiche genommen und ihm das Haus gezeigt.«

»Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie ein kleines Kind war. Sie muss jetzt ... zehn sein.«

Ich verzog mich außer Sichtweite hinter die Tür.

»Ja«, sagte meine Mutter. »Die Zeit bleibt nicht stehen.« Wieder schwiegen beide.

»Nimm es mir nicht übel, Joyce«, bat meine Tante. »Es war alles etwas schwierig. Mit Alex war es nie leicht ... er wollte nicht hierherkommen.« Ein vergnügter Tonfall kam in ihre Stimme. »Er hat gesagt, die Iren sollten das Land an Großbritannien zurückgeben und sich für seinen Zustand entschuldigen.«

Ich wartete darauf, dass meine auf politische Fragen so empfindlich reagierende Mutter explodierte. Sie tat es nicht, aber ich stellte mir vor, wie sie tief Luft holte und ihren Ärger herunterschluckte. Als sie sprach, klang ihre Stimme hart: »Wie wär’s mit Frühstück ... möchtest du Eier mit Speck?«

»Lieber Himmel, nein! Ich bekomme allenfalls eine Tasse Tee und eine Scheibe Toast hinunter.«

Die beiden Frauen verließen den Salon, und ich kauerte mich auf der untersten Stufe zusammen, damit sie mich vom Flur aus nicht sahen. Aber meine Mutter ging auf die Veranda, hielt Ausschau und fand mich mit Tabbs spielend vor.

»Komm und begrüß deine Tante Isabelle, Áine«, rief sie. Ich setzte Tabbs ab, ging gehorsam die Vordertreppe hinauf und wurde von einer schlanken Frau in einem blauen Kleid umarmt. Sie roch wunderbar, hatte kurze blonde Haare und Augen wie Rupert: grau und ernst. Aber in ihren brannte etwas, das ich noch nie gesehen hatte. Tante Isabelle hatte einen eigenartig scharfen Blick, der bis ins Innerste vordrang, als könne sie damit die Seele eines Menschen erforschen. Ich widersetzte mich dieser geistigen Biopsie, und der Augenblick ging vorüber. Dann merkte ich, dass ihr Körper eine Nervosität ausstrahlte, die bei ihrem Sohn nicht zu spüren war, und als sie meine Hände nahm, fiel mir auf, dass ihre Handflächen feucht waren.

»Rupert ist schwimmen gegangen«, teilte ich ihr mit. Sofort machte sie ein besorgtes Gesicht. »Ich habe ihn vor den Strömungen gewarnt«, fügte ich schnell hinzu.

Meine Mutter warf mir einen Blick zu, der mich zum Schweigen brachte, aber meine Tante war schon an mir vorbei die Vordertreppe hinunter und über den Vorhof zu dem Geländer geeilt, das einen Ausblick über die Felsen bot. Ich folgte ihr. Man sah, wie Rupert unweit der Helling mit kräftigen Schwimmzügen das Wasser durchmaß. Die Insel war jetzt abgeschnitten, die Flut war im Begriff, den Meeresarm zu erobern. Ich spürte den unerbittlichen Sog der Gezeiten in meinen Knochen.

»Sei vorsichtig, Liebling!«, rief meine Tante, und mit einer Deutlichkeit, die für Seeorte typisch ist, kam Ruperts Stimme kristallklar zurück, während er die Hand hob und winkte: »Alles in Ordnung ...«

Weit draußen auf dem flachen, glitzernden Meer war das Schlauchboot auszumachen, mit dem Seán hinausgefahren war und das im Rhythmus der Flut dahinzutreiben schien, als wäre der Bootsführer im Koma. Ich wusste, dass er nur auf dem Rücken lag, in den Himmel starrte und die Flut den Kurs bestimmen ließ. Außerdem wusste ich, dass er Paddel dabeihatte und ein sehr guter Schwimmer war.

»Machst du dir keine Sorgen um deine Kinder an so einem Ort?«, hörte ich Tante Isabelle meine Mutter fragen.

»Natürlich. Aber sie kennen sich hier sehr gut aus, und sie halten sich an die Regeln. Áine ist vernünftig, Seán kümmert sich um Simon, und die Zwillinge sind auch schon zwölf ...«

Sie gingen hinein, und ich setzte mich auf das Geländer vor dem kiesbedeckten Vorhof, legte die Hände auf die Knie, schaute und horchte. Das Wasser schlug leise an die Felsen unter mir. Die Luft war warm, und das blaue Panorama führte den Blick über die Insel Clare zur Küste von Achill. Es war gut, in dieser blauen Welt mit ihren unaufhörlichen rhythmischen Geräuschen zu leben. Und dann, mit einer Sicherheit, die aus der Stille kam, wusste ich, dass es einen Grund gab, warum wir alle hier waren; dass der Ort selbst Verwendung für uns hatte; dass wir nicht zufällig in unsere Umgebung hineingerieten, sondern mit ihrer Geschichte verwoben waren. Es war ein Augenblick ewiger Gegenwart, in dem die Zeit Stillstand, in dem großes Schweigen herrschte. Ich war in einer Art Lähmung gefangen, die normal schien, solange sie währte, im Rückblick aber Furcht einflößte. Doch sie ging zu Ende, vielleicht schon nach einer kurzen Weile. Und dann drehte ich mich um, wie von Marionettenschnüren gezogen, und ertappte mich dabei, dass ich zum Salonfenster blickte, wo meine Tante in ihrem blauen Kleid stand und mich unverwandt anstarrte.

Kapitel 3

Kurz vor zwölf kündigten die Erwachsenen an, dass sie zum Mittagessen ausgingen. »Die Kinder können sich selbst versorgen«, meinte meine Mutter zu Tante Isabelle. »Es gibt reichlich Salat, Käse und Pizza, und wir bleiben nicht lange aus. Ich möchte dir das neue Restaurant zeigen, das Máire Kelly eröffnet hat ... sofern du dich noch an sie erinnerst. Sie hat zuerst für den Speise- und Getränkeservice in der Cathal Brugha Street in Dublin gearbeitet und ist dann für eine Weile nach London gegangen.«

Isabelle fragte Rupert, als er von den Felsen heraufstieg, ob er Lust hätte mitzukommen, aber er sagte leise, als ärgere er sich darüber, dass er bevorzugt wurde: »Nein, Mama. Ich möchte lieber bei meinen Cousins bleiben.« Die Erwachsenen brachen auf, und ich rannte in die Küche, um die Vorräte zu überprüfen. Ich wollte wissen, ob Seán meine Pizza gefunden hatte und ob für Rupert noch etwas zu essen da war. Seán war wieder einmal schneller gewesen und löffelte bereits dicke Brocken Thunfisch aus einer Dose auf sein Butterbrot. Das Ganze krönte er mit Meerrettichsoße, drückte es mit dem Messer platt und setzte eine weitere Brotscheibe darauf. Ich machte den Kühlschrank auf und wollte die Pizza herausholen, die ich unter dem Salat versteckt hatte, aber sie war nirgends zu finden.

»Hast du meine Pizza geklaut?«

»Die ist mir gar nicht unter die Augen kommen, Eichhörnchen!«

Ich wusste, dass er log und dass sie ihm nicht nur unter die Augen, sondern auch zwischen die Zähne gekommen war.

Simon kam herein, nahm sich Brot und schmierte Erdnussbutter darauf.

»Geh sparsam damit um!«, ermahnte ihn Seán. »Warum? Damit du sie uns wegfressen kannst?«

Seán grinste einfältig, als wüsste er, dass ihn nur sein sporadisch eingesetzter Charme davor bewahrte, von seinen Geschwistern gekillt zu werden.

Schließlich kamen die Zwillinge herein, rieben sich verschlafen die Augen und fragten: »Wo sind Mama und Papa?« Sie entdeckten einen Apfelkuchen im Brotkasten und machten sich sofort darüber her. Und in diese Szene platzte, nicht ganz unbefangen, unser Gast Rupert herein. »Hallo«, sagen die Zwillinge und beäugten ihn neugierig-

»Hi«, begrüßte ihn Simon.

»Du musst dir schnappen, was du kriegen kannst«, flüsterte ich Rupert zu. »Das hier ist eine schreckliche Familie.«

Rupert schnitt sich eine Scheibe Brot ab. Ich holte den Cheddar hervor, den ich frühmorgens versteckt hatte, und überreichte ihn Rupert. »Ich hole dir noch Salat«, erbot ich mich und ging an den Kühlschrank. Meine Mutter machte jeden Morgen grünen Salat für uns, weil er ja so gesund war. Keiner von uns rührte ihn je an, wahrscheinlich aus demselben Grund.

»Ich wusste gar nicht, dass noch Käse da ist«, verkündete Seán und schielte nach dem Stück, das Rupert auf seinem Teller hatte. »Eichhörnchen hat schon wieder in ihre Trickkiste gegriffen.«

Mit ausdrucksloser Miene machte Rupert Anstalten, ihm den Käse zu geben. »Du kannst ihn haben.«

»Ist schon gut«, entgegnete Seán schroff und wurde angesichts seiner eigenen schlechten Manieren rot. »Ich will ihn ja gar nicht!«

»Weil du gerade meine Pizza gemampft hast«, raunte ich ihm zu. An Rupert gewandt, sagte ich: »Es ist Salat da, wenn du welchen möchtest ...«