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Prudence‘ gut bürgerliches Leben ist aus den Fugen geraten: Ihr Ehemann hat sie verlassen, die Kinder sind längst ausgezogen, sie sitzt allein in einem viel zu großen Haus. Bis sie sich eines Tages aufrafft, um zu einer Beerdigung zu gehen – und versehentlich auf der falschen zu landen! Als vermeintliche frühere Freundin der Verstorbenen wird sie herzlich willkommen geheißen und zum Leichenschmaus gebeten. Eine absurde Situation! Doch Pru verbringt endlich mal wieder einen unterhaltsamen Tag. Kurzentschlossen kauft sie sich ein elegantes schwarzes Kleid und besucht von nun an regelmäßig Beerdigungen. Sie lernt attraktive Witwer kennen; auch eine Liebesgeschichte bahnt sich an – vor allem aber nimmt sie sich als Frau neu wahr, wird mutiger und selbstständiger ...
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2023
Deborah Moggach
Das schwarze Kleid
Roman
Aus dem Englischen von Katharina Förs
Insel Verlag
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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel The Black Dress bei Tinder Press, Headline Publishing Group, London 2021.
eBook Insel Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4959.
© der deutschsprachigen AusgabeInsel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022Copyright © 2021 by Deborah MoggachAlle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
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Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Tinder Press, Illustrationen: Shutterstock
eISBN 978-3-458-77504-1
www.suhrkamp.de
Das schwarze Kleid
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Prolog
Teil Eins
Eins
Zwei
Drei
Vier
Teil Zwei
Eins
Zwei
Drei
Vier
Sechs
Sechs
Sieben
Teil Drei
Eins
Zwei
Teil Vier
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Epilog
Informationen zum Buch
Ich sah es im Schaufenster eines Wohltätigkeitsladens. Ein kleines schwarzes Kleid. U-Boot-Ausschnitt, enganliegend. Es erzählte von Zigaretten und Martinis – ein überraschend aufreizendes Kleidungsstück für ein Küstenstädtchen im Hochsommer. Die Schaufensterpuppe, die es trug, hatte nachgezogene Augenbrauen und knallrote Lippen und erinnerte an Petula Clark. Sie stand leicht schief, und ihr Kopf war zu mir geneigt, als würde sie gleich zu singen beginnen. Um den Nacken trug sie eine Federboa.
Wohltätigkeitsläden haben einen speziellen Geruch, nicht wahr? All diese Vergangenheiten, all diese Leben – das lässt sich unmöglich auswaschen. Normalerweise befühle ich hier ein paar Strickjacken und gehe dann wieder, nicht so an jenem Tag.
Das Schwimmen hatte mich belebt. Diese halbe Stunde hatte die vergangenen Monate von mir abgewaschen, den Schrecken und den Verrat. Die Sonne schien. Ich fühlte mich gereinigt, und das wurde auch Zeit. Viel zu lange hatte ich im Dunkel gelebt. Ich starrte das Kleid an, das hinter meinem eigenen geisterhaften Spiegelbild auf mich wartete. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, warum es mich lockte. Oder ob es überhaupt passen würde.
Aber das tat es. Knubbelige schwarze Wolle, enganliegend, doch nicht unerhört eng – immerhin war ich siebzig, das ließ sich nicht wegdiskutieren, und ich wollte nicht auf jung machen. Mit dem U-Boot-Ausschnitt und den Dreiviertelärmeln deutete es an, ohne viel zu enthüllen. In der Umkleidekabine betrachtete ich mich im Spiegel. Selbst in diesem gnadenlosen Licht und mit den vom Schwimmen noch feuchten Haaren war die Verwandlung erstaunlich. Eine charmante Frau in einem gewissen Alter blickte mir entgegen, die ich selbst kaum wiedererkannte.
Alles verändert sich im Handumdrehen, oder? Chancen, Entscheidungen. Warum diese Hauptstraße, in dieser Stadt? Warum dieses Kleid? Warum hat jemand es gerade jetzt aussortiert? Ist die Frau gestorben oder zu dick geworden, oder hat sie einfach gemerkt, dass keiner mehr Cocktailpartys veranstaltet?
Ich stand an der Kasse. »Ich nehme es.«
Es war eine Art Wahnsinn, das merkte ich zu jenem Zeitpunkt. Wie konnte eine Frau wie ich zu so etwas fähig sein? Aber ich war furchtbar betrogen worden, und der Schock verunsicherte mich zutiefst. Ich befand mich im freien Fall, alle Äste abgeschnitten, nichts, das meinen Sturz aufhalten konnte. Und ich war wahnsinnig einsam.
Auch das ist keine Entschuldigung, aber vielleicht haben Sie so etwas nie erlebt. Heulende Einsamkeit, Monat für Monat. Ich war allein, als der Brief des Rechtsanwalts kam. Kein Greg neben mir, der sich jene Worte angesehen hätte, die unser gemeinsames Leben ausradierten. Worum geht es da überhaupt? Überlass das mal mir. Es muss an die falsche Adresse gekommen sein.
Ich war allein, als um ein Uhr morgens auf der North Circular Road das Auto plötzlich nicht mehr fuhr. Als eine Regenrinne verstopft war und Wasser die Wände hinunterlief. Als ein Installateur mich übers Ohr haute und als mein Laptop kaputtging.
Ich war allein, als eine Tierärztin mit rosigen Wangen – frisch verheiratet, wie sie sagte – kam, um den Hund einzuschläfern. Ich spielte Joni Mitchell, diesen Song über ihren Liebhaber, der an seinen Fingern schnuppert, während er der Kellnerin auf die Beine starrt. Sidneys Kopf sank herab und legte sich, ein totes Gewicht, in meinem Schoß ab.
Das war es also. Ich war neunundsechzig und zum ersten Mal in meinem Leben allein. Meine Freundin Azra sagte: »Den wären wir los. Greg war ein Vollidiot, das kann ich dir jetzt ja sagen. Du bist nicht zu alt, um einen anderen Mann zu finden. Geh in den Park. Da führen sie reihenweise ihre Hunde spazieren.«
»Ich habe keinen Hund mehr.«
»Du hast doch die Leine noch, oder? Lauf herum und ruf ›Sidney, Sidney‹. Irgendwer wird dir schon zu Hilfe eilen.«
Ich lachte – ein Geräusch, das mich erschreckte; ich hatte seit Wochen nicht gelacht. Das konnte Azra nicht für mich übernehmen. Die wunderbare Azra, die in einer Wolke von Zigarettenqualm auf meinem Sofa hingestreckt lag. Mein Gott, wie ich sie liebte.
Greg machte mir das Haus nicht streitig. Er war jetzt auf einer höheren Ebene, das stellte er unmissverständlich klar. Unser Familien-Zuhause war zur Lagerstätte für Gerümpel verkommen.
»Wer braucht schon das ganze Zeug?«, hatte er gefragt. »Die Leute rackern sich in Jobs ab, die sie nicht mögen, um Zeug zu kaufen, das sie nicht brauchen, nur um verbrecherischen Unternehmern dabei zu helfen, den Planeten zu zerstören.«
Er sagte, er werde all seinen Besitz loswerden und ein Schweigeseminar in Rutland besuchen.
»Rutland?«
Schon jetzt setzte er sich in unbekannte Sphären ab. Nie im Leben hatten wir das Wort »Rutland« ausgesprochen. So viel Unbekanntes würde er ohne mich entdecken. Sein Ton war besorgt, aber seltsam frohlockend.
»Ich brauche das Alleinsein, um meinen spirituellen Weg zu beginnen.« Das hatte er ohne jeden Anflug von Witzelei gesagt. In diesem Moment war mir klar gewesen, dass ich ihn verloren hatte. »Ich will nichts, du kannst alles behalten.«
Das war nicht die ganze Wahrheit. Er hatte das Cottage in Dorset behalten. Dort gedachte er zu wohnen. Wir hatten darüber gesprochen, uns im Rentenalter dort niederzulassen, waren dann aber zu dem Schluss gekommen, dass wir wohl vor Langeweile umkommen würden.
Jetzt nicht mehr. Greg war inzwischen jenseits der Langeweile. Wenn er auf die unendliche Weite des Ozeans hinausblickte, würde er sich selbst wiederfinden, einen prälapsarischen Greg, unbeschmutzt durch Kompromisse und Vertrautheit, durch eine Hypothek und eine sich rundende Taille, durch Familienstreitigkeiten, durch die chronischen Hoffnungen und Enttäuschungen, die es mit sich brachte, wenn die Jahre einfach so ins Land gingen. Und durch mich.
»Es liegt nicht an dir«, hatte er gesagt. »Der Grund ist nichts, was du getan hast. Es ist einfach so, dass ich seit meiner Krebserkrankung begriffen habe, wie kurz das Leben ist und dass man jeden Tag ganz bewusst erleben muss, sich auf das konzentrieren, was wichtig ist …«
»Ich bin also nicht wichtig?«
»Sei ehrlich, Pru. Du hast es doch auch gespürt. Wir haben nur dieses eine Leben …«
»Ach, halt die Klappe.«
»Und du musst zugeben, dass bei unserer Ehe die Luft raus ist. Sie ist schal und vorhersehbar geworden. Wir haben die Freude am Zusammensein verloren. Um ehrlich zu sein, sind wir seit Jahren nicht mehr glücklich gewesen. Ist es nicht an der Zeit, den Mut aufzubringen, als Freunde auseinanderzugehen …«
»Freunde?«
»Und diejenigen Aspekte unserer selbst wiederzuentdecken, die in all diesen Jahren brachgelegen haben, sie zu nähren und blühen zu lassen – du ebenso wie ich. Sind wir uns das nicht schuldig?«
»Wie heißt sie?«
»Was?«
»Wen vögelst du? Es muss eine Frau geben, die in den Kulissen wartet, sonst würdest du nicht solchen Unsinn vom Stapel lassen.«
Doch er schwor, das sei nicht der Fall, und brach prompt in Tränen aus.
Seit Greg eine Therapie begonnen hatte, war er mehr in Kontakt mit seinen Gefühlen. Er hatte damit seine Depression heilen wollen, und es schien funktioniert zu haben. Mein belesener, schwermütiger Gatte hatte sich in ein Sektenmitglied verwandelt, weich und wie mit Zuckerguss überzogen. Seine Stimmung war sichtlich besser geworden, und er hatte sich ein neues Vokabular der Selbstwahrnehmung angeeignet. Nein, der Selbstbefangenheit. Ganz ehrlich, mir war der alte Greg lieber gewesen, dessen schwere Schritte auf der Treppe klangen, als ginge ein Mann zu seiner eigenen Hinrichtung.
Es wartete also keine Frau in den Kulissen, nur sein sogenannter »Prozessbegleiter«, der offenbar den Prozess des Endes unserer Ehe begleitete.
Die Wut kam später. Zunächst war ich einfach völlig verstört. Alles ging so schnell, denn wie kann man gegen jemanden kämpfen, der sanft und ach-so-gönnerhaft klarstellt, dass er dich nicht mehr liebt? Der sagt, es sei nicht dein Fehler, sondern sein eigener? Der versucht, seine Jugend zu bewältigen, oder eine Alterskrise oder was auch immer, und dich der Zukunft allein ins Auge blicken lässt?
Dazu gab es einfach nichts zu sagen. Natürlich hatten wir unsere Probleme gehabt, aber wir hatten es immer geschafft, darüber zu sprechen. Jetzt war das Gummiband gerissen, und wir waren auseinandergeschnellt, zwei alternde Fremde. War es alles eine Täuschung gewesen, diese gemeinsamen Jahrzehnte? Ich horchte auf die sich öffnenden und schließenden Schranktüren, auf seine Schritte auf den Dielen im ersten Stock, das Rattern der Rollen seines Koffers. Und dann, nach einer traurigen Umarmung, war er fort, in der Freiheit, ohne dass wir uns auch nur ein einziges Mal angebrüllt hätten.
»Du bist ein Feigling, ihn so davonkommen zu lassen«, sagte Azra. »Du hättest kämpfen müssen.«
»Man kann jemanden nicht dazu bringen, einen wieder zu lieben.«
»Oder eine Beratungsstelle aufsuchen oder so.«
Die Wahrheit war, dass ich in den letzten Monaten geglaubt hatte, Greg und ich kämen gut zurecht. Seine Depression hatte sich gebessert. Im Kino hielten wir immer noch Händchen. Jetzt, wo wir beide in Rente waren, hatten wir darüber gesprochen, den Küstenweg zu gehen; wir hatten überlegt, alles zu verkaufen und von der Gemeinde ein Haus zu erwerben, wo wir mit gleichaltrigen Babyboomern zusammenwohnen, Led Zeppelin hören und Koks ziehen konnten. Wir flogen nicht mehr, also verbrachten wir ganze Abende vor dem Computer, um zu recherchieren, wie wir mit dem Zug nach Italien gelangen konnten. Alles, bloß keine Kreuzfahrt, war einer unserer Dauerscherze. Was für ein grässlicher Gedanke … ein fünfter Höllenkreis … warum um alles in der Welt sollte jemand so etwas tun?
Allerdings wurde mir jetzt im Nachhinein bewusst, dass ich es gewesen war, die diese Gespräche bestimmte. Vielleicht war Greg in Gedanken woanders, plante seine Flucht, überlegte, was er loswerden und was er mitnehmen sollte. Dachte darüber nach, wann er es mir sagen sollte. Studierte ein, was er unseren weit verstreuten Kindern, beide im mittleren Lebensalter, sagen sollte, die es möglicherweise hatten kommen sehen oder auch nicht.
Oder vielleicht war es eine spontane Entscheidung, ausgelöst durch einen einzigen Moment, einen vollkommen bedeutungslosen Augenblick, wie zum Beispiel dem Anblick, wie ich ein Tablett in die Spülmaschine räume. Ich will nicht länger mit dieser Frau verheiratet sein. Als ihm das bewusst geworden war, riss ihn die Strömung mit und es gab kein Zurück mehr.
Wer wusste es schon? Es war zu spät zum Fragen. Ich war allein in meinem muffigen Haus, ohne einen anderen Menschen, der für Luftbewegung gesorgt hätte. Beim kleinsten Geräusch schrak ich zusammen. In jenen ersten Wochen fühlte ich mich zu verletzlich, um hinauszugehen, aber drinnen zogen sich die Stunden endlos in die Länge. Freunde luden mich zum Abendessen ein, doch den Rest des Tages musste ich immer noch irgendwie totschlagen. Es war November, und nachmittags um vier senkte sich bereits die Dunkelheit herab. Wenn ich mich aufraffen konnte, machte ich die Runde und schaltete die Lichter ein, dann dachte ich wieder: Wozu überhaupt, bloß für mich?
Ich vermisste ihn. Ich vermisste ihn so sehr, all meiner Bitterkeit und Verletztheit zum Trotz. Ich vermisste unser gemeinsames Aufstöhnen, wenn Trump im Fernsehen auftrat. Die Gemeinschaft, die wir beide in einer immer erschreckenderen Welt bildeten. Das Geplauder über banale Alltagsdinge. Mehr als alles andere vermisste ich die Gespräche, sogar seine ärgerliche Angewohnheit, mir eine Frage zu stellen, während ich den Mund voller Zahnpasta hatte. Ich hatte so viel zu sagen, die Worte versandeten im Lauf der Zeit. All diese Gedanken, die in meinem Kopf kreisten, all diese ungesagten Worte – was konnte ich mit ihnen anstellen? Überflüssig zu sagen, dass ich keinen Schlaf fand. Ich vermisste seine Arme um mich, die mich nachts beschützten. Seinen nackten Körper, den Geruch seiner Haut. Wie konnte er es ertragen, allein zu sein?
Vorerst hatte er sich in Dorset niedergelassen und lebte dort sein neues Leben. Was tat er wohl den ganzen Tag? Vermisste er unsere Diskussionen nicht? Die kreischenden Möwen waren kein Ersatz. Ich wollte vom neuen heimlichen Liebhaber seiner Nichte erfahren und was die Computertomografie bei seinem Freund Bing ergeben hatte. Aber diese Gespräche waren nicht mehr angebracht. Das hatte er klargestellt.
Ich war aus heiterem Himmel verlassen worden und über Nacht zu einer jener Frauen geworden, die ich insgeheim bemitleidet und zum Abendessen einladen zu müssen gemeint hatte. Alleinstehende Frauen mit Einzeltickets fürs Kino, Einzelzimmern im Hotel, die sich Fertiggerichte für Singles aufwärmten. Und mit einer Katze, immer einer Katze. So eine Frau war nun ich selbst.
Unser Haus stand in Muswell Hill, was alles noch schlimmer machte. In Muswell Hill wohnten ausschließlich selbstgefällige Paare, die ein beneidenswertes Leben führten. In der Dämmerung ging ich die Straßen entlang und blickte in die Fenster meiner Nachbarn, jedes davon ein hell erleuchtetes Tableau bürgerlicher Zufriedenheit. Zehnjährige, die Geige spielten. Dinnerpartys bei Kerzenschein. Teenager, die mit Labradoodles herumtollten. Die Frauen sangen in Chören und machten Pilates, die Männer spielten Fußball mit den anderen Männern, und sie schickten ihre Kinder auf Privatschulen, obwohl sie den Guardian lasen. Sie gönnten sich kinderfreie Abende und behaupteten, sie seien beste Freunde – war das nicht abscheulich? Manche von ihnen waren zum zweiten Mal verheiratet und noch selbstgefälliger. Manche waren gar nicht verheiratet, weil sie nicht an ein Stück Papier glaubten, das waren die Selbstgefälligsten von allen. Und jeden Samstag gingen sie alle auf den Bauernmarkt, wo sie einander unentwegt anlächelten.
»Igitt! Ich finde sie zum Kotzen«, sagte Azra, die über einem türkischen Imbiss wohnte. Nur eine Busfahrt von Muswell Hill entfernt, war dies aber eine andere Welt. »Ich wette, die Ehemänner bumsen ihre persönlichen Assistentinnen.«
Azra lebte zwar allein, war aber überhaupt nicht bemitleidenswert. Ganz im Gegenteil. Sie war ein leidenschaftliches, animalisches Wesen. Lange Beine und volles Haar mit rosa oder blauen Strähnen, das sie manchmal auch kohlrabenschwarz färbte. Sie scherte sich überhaupt nicht um ihr Alter. Männer wie Frauen waren ihrem Zauber erlegen und ausgespuckt worden, als sie mit ihnen fertig war. Ich kannte sie schon ewig, und ihre Abenteuer hatten wie ein fernes Getrommel im Urwald durch meine Ehe gedröhnt. Wie zaghaft mein eigenes Leben verglichen mit ihrem wirkte! Sie war meine beste Freundin, und ich liebte sie von Herzen – jetzt, wo ich allein war, umso mehr.
Azra war meine Inspirationsquelle, mein Rollenvorbild für dieses neue Ich. »Wer braucht schon Männer, die alles in Unordnung bringen?«, sagte sie. »Na los, Mädchen. Iss, was du willst, tu, was du willst. Erobere dir dein Territorium zurück. Bleib den ganzen Tag im Bett, wenn dir danach ist. Geh die ganze Nacht aus, wenn du Lust dazu hast. Pupse im Bett, verwöhn dich, verwöhn dich nicht, wen geht's was an? Fahr mit mir in Urlaub, betrink dich, lach schallend. Gib sein Zeug weg und mach das Haus zu deinem Haus. Es macht Spaß, und davon hattest du mit dem langweiligen alten Greg nicht viel, stimmt's, Schätzchen?«
Ihre Verachtung für Greg überraschte mich. Azra war normalerweise nicht gerade der Inbegriff von Taktgefühl, aber in diesem Fall hatte sie aus Rücksicht auf mich ihre Gefühle nicht gezeigt. Jetzt brach sich das alles Bahn.
»Er ist so ein aufgeblasener alter Schwachkopf geworden. Hat es dich nicht genervt, wie er sich jedes Mal geräuspert hat, bevor er zu irgendwas seine Meinung gesagt hat? Und wie er jedem auf die Nase gebunden hat, dass er als Professor für die Londoner Börse tätig gewesen ist? Irgendwie hat er das immer einfließen lassen. Und dass er mal Mick Jagger kennengelernt hat – das auch. Er war ein richtiges Groupie.«
»Ach ja?«
»Lieber Himmel, Pru, ist dir das gar nicht aufgefallen? Aber schlimmer, viel schlimmer war, wie er dich sabotiert hat.«
»Ach, hat er das?«
Sie verdrehte die Augen. »Andauernd. Er hat dich immer wieder niedergemacht, in lauter kleinen Momenten. Dir vor anderen Leuten widersprochen, dich heruntergeputzt, solche Sachen. Ein Kontrollfreak. Kein Wunder, dass du dich so minderwertig gefühlt hast.« Sie packte meinen Arm. »Aber du bist es nicht, du bist es überhaupt nicht! Du hast zwanzig Jahre lang an der schlimmsten Gesamtschule von Hackney unterrichtet – das soll dir Greg mal nachmachen! –, und du bist witzig und klug und großartig, und du hast zwei wunderbare Kinder großgezogen …«
»So schlimm war er auch wieder nicht.« Es mag lächerlich erscheinen, aber ich fühlte mich bemüßigt, loyal zu sein. »Ich glaube, in seinem tiefsten Inneren fühlte er selbst sich minderwertig. Darum war er so launisch und schwierig. Es liegt alles daran, dass er aufs Internat geschickt wurde und sich verlassen fühlte. Das hat ihn sehr beeinträchtigt. Ich hätte seine Eltern umbringen können. Jahrelang litt er unter Depressionen – das weißt du –, aber nun hat er versucht, zu sich selbst zu finden. Besser spät als nie. Ich glaube, es war der Krebs, der ihn aufrüttelte. Er hat sich bemüht, ganz ehrlich. Er hat eine Therapie gemacht.«
Azra zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, warum du ihn in Schutz nimmst, wo er sich so bescheuert verhalten hat. Ich wollte dir nur helfen.«
Ich packte ihre knochigen Schultern und nahm sie in den Arm. So gut es ging, denn sie saß auf einem Küchenhocker. Sie strich ihr Haar zurück und nahm noch einen Schluck Wein. Ihre Armreifen klimperten, während sie den Arm hinunterrutschten.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Nein, mir tut es leid. Ich hätte nicht so vom Leder ziehen sollen. Es ist bloß eine solche Erleichterung, zu sagen, was ich fühle.«
Das tun die Leute nicht, wenn man verheiratet ist, stimmt's? Sie können deine Liebhaber analysieren, bis in ihre Einzelteile zerlegen, wenn es eigentlich um nichts geht, aber sobald man verheiratet ist, senkt sich der Vorhang und es wird nichts Kritisches mehr geäußert, bis die Ehe zu Ende ist, der Vorhang sich hebt und sie sich gegenseitig darin überbieten, dir zu erzählen, wie schrecklich dein Ehemann war.
Azra war an diesem Tag besonders angespannt und verfiel nach unserem Gespräch in Schweigen. Offenbar hatte sie das Gefühl, selbst nach ihren eigenen Maßstäben zu viel ausgeplaudert zu haben.
Natürlich gab mir ihre Kritik an Greg Auftrieb. Gleichzeitig empfand ich es jedoch als verletzend, dass sie nichts davon jemals auch nur angedeutet und ihre Unterstützung angeboten hatte. Schließlich kannte sie uns beide seit Jahren.
Und ganz ehrlich, so schlimm war er wirklich nicht. Wäre er das gewesen, hätte sie mich für eine Idiotin halten müssen. Azra war eine leidenschaftliche Frau und neigte dazu, in alle Richtungen auszuschlagen, wobei sie manchmal übers Ziel hinausschoss. Vielleicht hatte ihre Feindseligkeit auch mit Gregs ablehnender Haltung ihr gegenüber zu tun.
Ich hatte lange den Verdacht gehegt, dass er Azra als Bedrohung empfand. Er hatte den Mund gehalten, weil sie meine Freundin war, aber manchmal war ihm etwas herausgerutscht. Sie ist eine ganz schön harte Nuss, was? Wenn sie anfängt, endlos über das Patriarchat und Racial Profiling zu faseln, kommt kein anderer mehr zu Wort. Ziemlich schlechte Manieren. Was die Manieren betraf, musste ich ihm zustimmen, aber bei Azra gingen Gefühle eben sehr tief, und sie scherte sich nicht darum, wenn das Menschen aufregte.
Außerdem hatte sie eine harte Kindheit. Sie kam als Tochter einer ledigen Mutter in Sunderland zur Welt und erlebte echte Entbehrung. Als Teenager jedoch floh sie, fuhr per Anhalter gen Süden und erfand sich selbst neu – als Azra, bloß, weil ihr der Name gefiel. Ich bewunderte ihren Mut; mehr noch, ich hatte fast ein wenig Ehrfurcht vor ihr. Sie war ein Freigeist, vollkommen klassenlos und niemandem verpflichtet. Angesichts solcher Umstände schienen gute Manieren unerheblich.
Ich glaube außerdem, dass Greg sich durch ihre Bisexualität bedroht fühlte. Das habe ich bei Männern öfter beobachtet. Sie befürchten, dass es ihnen nicht gelingt, eine Frau zu befriedigen, und dass jede, die bi ist, es eigentlich eher auf Frauen abgesehen hat. Und was hieß das für sie als Männer? Dass sie höchst entbehrlich waren.
Doch Azra stand über alledem. Wenn ich mich verliebe, dann geht es darum zu allerletzt. Ich sehe einfach den Menschen – alles andere schert mich einen Dreck!
Mich scherte es schon etwas. Aber ich tat, als sei ich ihrer Meinung. In Wahrheit fand ich ihre lässigen Äußerungen ein bisschen überheblich, aber sie war meine Seelenverwandte, was Greg nie gewesen war, nicht wirklich. Meine Seelenverwandte und Lebensretterin.
Zu diesem Zeitpunkt war er schon seit vier Monaten fort. Draußen ging die Sonne unter. Azra und ich hatten die Flasche Wein ausgetrunken und tunkten abwechselnd Brot in eine Schüssel Guacamole. Es war viel zu warm für Januar, und Azras Fenster stand offen. Kebabdunst wehte von Karims Imbiss herauf. Auf einem nahen Dach, zwischen den Satellitenschüsseln und Dunstabzügen, saß eine Krähe. Sie neigte den Kopf und beäugte mich kritisch, als ob sie meine Gedanken lesen wollte, um schließlich zur Seite zu hüpfen und dann wegzufliegen.
Azra strich mit dem Daumen über meinen Unterarm. »Ich hätte das alles nicht sagen sollen. Was, wenn ihr beide wieder zusammenfindet? Ich würde mir schrecklich blöd vorkommen.«
Aber er war fort. Lange hatte ich es nicht wahrhaben wollen, aber er war endgültig fort.
Ich hatte geglaubt, ich würde mich an das Alleinsein gewöhnen. Der Frühling war eingezogen und mit ihm die herumtollenden Lämmer und Hoffnungen im Überfluss, doch das machte eigentlich alles nur schlimmer. Ich ertappte mich dabei, wie ich stundenlang dastand und in den Garten hinaussah, unfähig, mich zu rühren. Das Gras musste gemäht werden, aber was hatte das für einen Sinn, wenn niemand es sah?
Nach und nach hörte alles auf zu funktionieren. Die Küche wurde immer düsterer, da die Halogenbirnen eine nach der anderen durchbrannten. Nur Greg war in der Lage, die dummen Dinger auszutauschen. Das Bedienungsfeld des Trockners hatte ich nie verstanden, und er begann, wie verrückt zu piepen, und die Klamotten blieben nass. Ich weiß, dass ich das hätte herauskriegen sollen, aber als ich die Bedienungsanleitung fand, verstand ich nur Bahnhof. Das Auto brauchte Öl, doch ich bekam den Messstab nicht heraus und stand irgendwann weinend an der Straße und starrte in den geöffneten Schlund des Motors.
Ich war nicht bloß hilflos; mich hatte eine panikartige Untätigkeit ergriffen. Vielleicht begann ich damals schon, verrückt zu werden. Ich nahm meine Arbeit wieder auf, gab einem halben Dutzend Schüler Nachhilfe; das schaffte ich irgendwie, doch kaum waren sie verschwunden, versank ich wieder in der Erstarrung und konnte mich kaum rühren. Stumm stand ich im Flur, hypnotisiert von den Farben auf dem Boden, wo das Sonnenlicht durch das Buntglas fiel. Mein Herz allerdings raste.
Meine Freunde fühlten mit mir und luden mich immer noch zum Abendessen ein, aber weniger oft als früher. Offenbar wurde ich nun zu einer dieser Single-Frauen, die ich selbst so grausam hatte durchs Netz rutschen lassen. Wenn tatsächlich eine Einladung kam und der Zeitpunkt sich näherte, verfiel ich in eine sinnlose Aufregung. Obwohl ich mich nach Gesellschaft sehnte, wurde ich ängstlich und agoraphob. Und ich hasste die Vorbereitung: die ausgeleierten Hosen ausziehen, die ich den ganzen Tag trug, mich schminken, ein Kleid anziehen. Als Greg noch da war, war das eine Art geselliges Ereignis gewesen, manchmal sogar der beste Teil des Abends. Magst du ein Glas Wein, bevor wir gehen? Jetzt hatte ich, wenn ich mich mühsam verrenkte, um den Reißverschluss hochzuziehen, bereits Angst davor, allein nach Hause zu kommen, und auch vor den Tagen, die ich bis zu einer Gegeneinladung vergehen lassen musste, um nicht bedürftig zu wirken. Die Abstände zwischen Anrufen dürfen nicht zu kurz sein.
Alex und Bethany, Jim und Rachel, Tish und Benji … sie waren meine Freunde, doch wenn ich jetzt zurückblicke, schäme ich mich für den Neid, den ich ihnen gegenüber empfand. Neid auf die unbeschwerte Vertrautheit zwischen ihnen. Ich weiß noch, wie ich Tish und Benji, die seit ewigen Zeiten verheiratet waren, einander spielerisch mit der Hüfte anstoßen sah, während sie servierten.
Manchmal sagten sie, Außer uns ist leider keiner da, und mir wurde das Herz schwer. Manchmal sagten sie, Brian wird dir gefallen; er ist gerade nach seiner Scheidung wieder nach London gezogen, und ich schöpfte Hoffnung. Brian allerdings war dann ein übergewichtiger Glatzkopf, der sich nach der Frage Fahren Sie Ski? abwandte und mit der Frau zu seiner Rechten plauderte.
Ich weiß, dass meine Gastgeber anschließend über mich sprachen, zusammengeschweißt durch meine Situation. Die arme Pru. Was für ein Glück, dass wir einander haben. So verschafften sie sich einen erotischen Kick und schliefen in dieser Nacht zum ersten Mal seit Wochen zusammen – mit einer Leidenschaft, die sie beide verwirrte.
Meine Eifersucht wurde zu einem alles verschlingenden Monster. Heute kann ich mir das eingestehen. Mehr als um das Lachen beneidete ich sie um die Sticheleien und kleineren Streitigkeiten, weil mir die so vertraut waren. Ob Greg und ich glücklich gewesen waren, schien nun bedeutungslos. Ich beneidete sie einfach um die Normalität dessen, was ich als selbstverständlich betrachtet hatte. Nicht die Reisen nach Venedig, nicht die großen Sachen. Einfach das beiläufig in Gespräche eingestreute »wir«. Einfach die Tatsache, dass sie ein Paar waren.
Und jetzt, wo das Wetter wärmer wurde, konnte man den Fieslingen gar nicht mehr aus dem Weg gehen. Die jungen störten mich natürlich nicht; es waren die alten, die mich zur Weißglut trieben. Die händchenhaltend in den Highgate Woods spazieren gingen und vor dem Kino Schlange standen. Ich sah sie bei Aldi, wo sie einander beim Einpacken an der Kasse halfen – bei Aldi musste man schnell sein; ein eingespieltes Team, wie angegraute, aufeinander eingespielte Tänzer, das den Einkaufswagen für den Besuch der Enkel volllud.
Hätte ich Enkelkinder gehabt, wäre es vielleicht einfacher gewesen. Dann hätte es jemanden gegeben, dem ich meine Liebe schenken konnte. Doch meine Tochter, die in Reykjavik wohnte, war eine Workaholic, lebte mit einer Frau zusammen und war zu beschäftigt, um schwanger zu werden, und mein Sohn wohnte in Pasadena, war ein Computerfreak und hatte offenbar Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen, von Fortpflanzung ganz zu schweigen.
Außerdem hatte ich den Verdacht, dass Max auf der Seite seines Vaters stand. Er war immer ein Eigenbrötler gewesen und verstand zweifellos Gregs Bedürfnis nach Alleinsein. Die Arbeit im IT-Bereich behagte ihm auch deswegen, weil er mit niemandem sprechen musste. Lucy war kommunikativer, rief jede Woche über FaceTime an, aber ich wollte sie nicht beunruhigen und tat, als käme ich gut zurecht. »Ehrlich gesagt habe ich es seit Jahren kommen sehen«, log ich. »Es ist tatsächlich eher eine Erleichterung, und ich genieße meine neu entdeckte Unabhängigkeit!«
Dass Azra und ich eine unserer Auseinandersetzungen hatten, machte alles noch schlimmer. Azra hatte mich monatelang unterstützt, mich mit für sie untypischer Liebenswürdigkeit behandelt, aber sie konnte ganz unvermittelt aus der Haut fahren. Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte mich schon ein wenig erholt und wäre dem gewachsen. Sie war an der Tür einem meiner Schüler begegnet, und als wir uns zum Tee in den Garten setzten, legte sie los.
»Ich verstehe einfach nicht, dass du diesen Kindern hilfst«, sagte sie. »Jemand wie du, mit deiner politischen Einstellung. Du drillst sie mit all diesem Zeug, damit sie es auf eine Privatschule schaffen! Haben sie nicht sowieso schon genügend Vorteile, die privilegierten kleinen Schwachköpfe?« Sie zog den Teebeutel aus ihrer Tasse und warf ihn ins Blumenbeet. »Hast du keine Schuldgefühle?«
Die hatte ich natürlich, aber das ließ ich nicht durchblicken. »Ich brauche das Geld«, sagte ich. »Und außerdem sind das auch nur Menschen, oder? Ich glaube mich zu erinnern, dass du das mal gesagt hast.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Es ging um Sex.«
»Du hast Sex mit ihnen?«
»Nein! Du hast damals gesagt, es spiele keine Rolle, welches Geschlecht jemand hat. ›Das ist das Letzte, was mich interessiert‹, hast du erklärt. ›Ich sehe einfach den Menschen – alles andere schert mich einen Dreck!‹ Du warst ziemlich verächtlich, muss ich sagen. Ziemlich resolut.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Ach, vergiss es.«
»Nein, sag mir, was du meinst. Willst du behaupten, ich versuche dich zu verunsichern?«
»Natürlich nicht! Tut mir leid, aber du tust manchmal genau das, was Greg deiner Ansicht nach getan hat.«
»Greg? Was hat der denn damit zu tun?«
»Du machst mich nieder.« Ich hielt inne. »Vergiss es. Wahrscheinlich bin ich ein bisschen pathetisch.«
Wir saßen im Garten. Ich starrte Gregs Kräutersortiment an, säuberlich einzeln in Terrakottatöpfe gepflanzt. Natürlich wurden sie inzwischen von Unkraut erstickt. Er hatte großartig gekocht, viel besser als ich. Rezepte von Ottolenghi, mit Zutaten, die man kein zweites Mal verwendete; unsere Küchenschränke standen voller obskurer Päckchen und Flaschen. Und er hatte es geliebt, Abendessen zu veranstalten. Das war eine seiner besten Eigenschaften. Er bereitete gern alles vor, reihenweise gehackte Kräuter, je geheimnisvoller desto besser, dazu das obligatorische Häufchen Granatapfelkerne. Er schrieb, am Küchentisch stehend, sogar Platzkärtchen. Wer soll neben unserer ruppigen Freundin Azra sitzen?
Ja, sie war ruppig, da hatte er recht. Plötzlich vermisste ich ihn so sehr, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Warum hatte er mich verlassen, gerade als wir frei waren, überall hinzufahren und zu tun, was uns beliebte? Wir hatten so viele Pläne gehabt. Es war angenehm, gemeinsam alt zu werden. Bereute er es, unser gemeinsames Leben aufgegeben zu haben? Wollte er wirklich wie ein Eremit leben, dort, an der sturmgepeitschten Küste, und nur mit einem Fahrrad als Transportmittel?
Um das Thema zu wechseln, erzählte ich ihr von dem Mann, der bei der örtlichen Autowaschanlage arbeitete und der, wie ich herausgefunden hatte, Syrer war. Eine von Azras vielen Tätigkeiten war die Arbeit mit syrischen Flüchtlingen am Gemeindezentrum in Tottenham. Ich berichtete, wie höflich und nett die Autowäscher waren. »Das einzige Problem ist, dass sie mein Radio wieder auf Kiss FM gestellt haben und ich Radio 4 nicht mehr reinkriege.«
»Ach, sei doch nicht so eine Memme.«
Ich brach in Gelächter aus. »Memme?«
»Du bist eine absolut kompetente Frau, zieh dir nicht dieses Hilflos-Hemdchen an.«
»Was ist bloß in dich gefahren?«
»Gar nichts!« Sie neigte den Kopf nach hinten und leerte ihren Becher. »Ich sage bloß, dass du sehr wohl lernen kannst, ein Radio einzustellen. Das ist nicht Raketentechnik.«
Wenn sie in dieser Stimmung war, musste man behutsam mit ihr umgehen. Ich antwortete nicht, und wir saßen schweigend da. In der Nacht hatte es geregnet, und die Narzissen ließen immer noch die Köpfe hängen. Ich erinnere mich sehr genau an diesen Tag, daran, wie zerstreut Azra wirkte, angespannt und nervös wie ein Rennpferd. Ich dachte: Manchmal mag ich dich wirklich überhaupt nicht.
Mitte April geschah etwas, das alles verändern sollte. Zu dem Zeitpunkt schien es nicht von Bedeutung zu sein. Ich empfand es eher als Material für eine komische Anekdote, die lustiger ist, wenn man sie erzählt, als wenn man sie erlebt.
Ich war zur Beerdigung eines Mannes eingeladen, den ich kaum kannte. Er war der Ehemann einer Frau, die ich vor langer Zeit kennengelernt hatte, als ich kurzzeitig im örtlichen Chor mitsang. Wir versammelten uns jeweils Montagabend, um selbstgebackene Haferkekse zu essen und Händels Messias einzustudieren. Ich mochte die Leute dort, wirklich: Sie verabscheuten die Konservativen und brachten ihre Abfälle zu den Recyclingcontainern. Aber ihr verworrener Liberalismus und die Autos voller Hundehaare konnten mich nicht täuschen. Unter der zur Schau getragenen Bescheidenheit pulsierte ein rücksichtsloser Ehrgeiz für ihre Kinder und ein Netzwerksystem von Nepotismus und Kolonnenspringerei, das selbst den Herrscher von Usbekistan beeindruckt hätte. Heute würde man diese Leute die großstädtische Elite nennen und für den Brexit verantwortlich machen. Damals nannte ich sie einfach nur die selbstzufriedenen Verheirateten, deren Sprösslinge allesamt mühelos beim BBC oder bei Top-Anwaltskanzleien unterzukommen schienen.
Als Mutter von Kindern, die sich standhaft weigerten, etwas zu erreichen, blieb ich nicht lange in dem Chor. Ich konnte mich an Anna, die nun trauernde Witwe, kaum erinnern. Zu jener Zeit hatten die Muster-Ehefrauen von Muswell Hill eine ganz spezielle äußere Erscheinung: marineblaue Outfits, samtene Haarreifen und Lacklederschuhe mit kleinen Messingschnallen. Man konnte sie kaum auseinanderhalten.
Aus diesem Grund wäre ich beinahe nicht zu der Trauerfeier gegangen; es kam mir aufdringlich vor, mich Menschen anzuschließen, die ich kaum kannte und die einen Mann betrauerten, an den ich mich kaum erinnerte. Aber ich musste unbedingt aus dem Haus. Ein Dachdecker reparierte gerade das Loch in der Decke des Küchenanbaus und flirtete dabei bemüht mit mir. Ich merkte, dass er mit dem Herzen nicht dabei war – ich war viel zu alt –, aber nachdem er einmal angefangen hatte, fühlte er sich offenbar verpflichtet weiterzumachen. Ich fürchtete das Knarren der Leiter, wenn er herunterstieg, um einen Tee zu trinken. Außerdem hatte ich den Verdacht, dass er mich übers Ohr haute.
Also kleidete ich mich dem Anlass entsprechend düster und fuhr zum Golders-Green-Krematorium. Die Trauernden bewegten sich bereits hinein, als ich eintraf. Ich erkannte niemanden, aber das war nicht weiter überraschend.
Ich nahm ziemlich weit hinten Platz. Den Sarg konnte ich kaum sehen, ebenso wenig die ausgestellten Fotos. Außerdem hatte ich vergessen, mir die Agende mitzunehmen. Also brauchte ich eine Weile, um zu begreifen, was vor sich ging. Wir standen alle auf, um »All Things Bright and Beautiful« zu singen. Dann setzten wir uns wieder, und ein junger Mann in Armeeuniform ging zum Mikrofon.
»Wir sind hier, um das Leben von Dawn zu feiern«, sagte er mit zitternder Stimme. »Meine Schwester ist uns viel zu früh genommen worden. Ihr Kampf gegen die Krankheit und ihre Tapferkeit in diesen letzten herausfordernden Monaten sind uns alle eine Lehre gewesen. Selbst als sie ihre Beine schon nicht mehr bewegen konnte, lächelte sie noch, denn das war Dawn, wie sie leibte und lebte. Sie war die beste Schwester der Welt, und ich bin sicher, dass niemand hier im Raum nicht von ihrer Freundlichkeit und Großzügigkeit profitiert hat. Ich möchte die Dawn, die wir liebten, mit einem kurzen Gedicht feiern.«
Mist. Ich war auf der falschen Trauerfeier gelandet.
Das kann leicht passieren. In Golders Green ist der Zeitplan straff, rein und raus in dreißig Minuten, kein Leerlauf. Immer wieder sah ich auf die Uhr. Es war so wenig Verkehr gewesen, dass ich eine halbe Stunde zu früh da war.
Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum und wurde knallrot im Gesicht. Einige Gäste, die spät dran waren, hatten neben mir Platz genommen, und ich konnte mich nicht unbemerkt davonstehlen.
Also saß ich es aus. Dawn war offenbar eine wunderbare Frau gewesen, doch wer ist nicht wunderbar, wenn er tot ist? Trotz meiner Angst, entdeckt zu werden, fühlte ich mich in Dawns Lebensgeschichte hineingezogen; offenbar war sie mit einer Vielzahl persönlicher Tragödien konfrontiert gewesen, die einen weniger starken Charakter umgeworfen hätten. Als die Zeremonie zu Ende war, flüchtete ich hinaus in den Nieselregen. Dabei wandte sich ein Fremder an mich und fragte: »Ich kenne nicht die Hälfte von diesen Leuten, und Sie?«
Vielleicht war das der Zeitpunkt, als die Saat gelegt wurde. In dem Augenblick musste ich ein Kichern unterdrücken, während ich davoneilte. Ich weiß noch, wie ich dachte: Wenn doch Greg daheim wäre, dann könnte ich ihm das erzählen und wir hätten was zu lachen.
Aber es war niemand zu Hause. Als ich zurückkehrte, nachdem ich die zweite Trauerfeier durchgestanden hatte, war der Dachdecker weg. Er hatte sein Geld genommen und einen Aschenbecher voller Kippen sowie einen Scheißhaufen in der Kloschüssel hinterlassen.
Ich rief Azra an, um es ihr zu erzählen, aber sie war nicht da. In diesem Frühjahr kam das häufig vor. Wie sich herausstellte, war sie wieder einmal in Frankreich. Eine ihrer Geldquellen war, brocantes zu durchstreifen und alte Spitzen und Leinenbetttücher zu kaufen – offenbar waren diese inzwischen, wo die Leute vergessen hatten, wie anstrengend das Bügeln ist, wieder beliebt. Sie brachte sie in ihrem Kleinbus mit zurück und verkaufte sie auf Antiquitätenmärkten.
Eine Woche später war sie wieder zu Hause. Ihre Tür stand offen, und ich sah sie, an das Abtropfbrett gelehnt, in ihrer Küche stehen. Sie las in einer Zeitung und aß kalte Tortellini aus einem Topf. Wie ich sie in diesem Moment liebte!
Sie wandte sich um. Wie schön sie war! Strahlend, tatsächlich, mit diesem wilden Haar und dem breiten, großzügigen Mund. Sie war eine dieser attraktiven Frauen, die aussehen, als hätten sie ein Geheimnis – wie ein Kind, das eine verbotene Süßigkeit genascht hat; und als hätten sie Dinge im Kopf, die nur sie selbst amüsant finden.
Plötzlich wurde ich misstrauisch. »Gibt es da einen Mann, auf den du stehst?«
»Wie bitte?«
»In Frankreich. Ist das der Grund, warum du so oft dort hinfährst?«
Azra bekam einen solchen Lachanfall, dass er am Ende in Husten überging. Ihre schmalen Schultern zitterten. Mich überraschte diese Überreaktion ein wenig. Als sie sich wieder erholt hatte, versicherte sie mir, das sei nicht der Fall. Aus irgendeinem Grund war ich erleichtert. Wieder einmal spürte ich, wie sehr ich sie brauchte. Beim Gedanken, sie könnte in eine Liebesaffäre verschwinden, fühlte ich mich trostlos und verlassen.
Ich erzählte ihr, wie ich als ungeladener Gast Dawns Trauerfeier miterlebt hatte und dass ich mich dieser unbekannten Frau plötzlich seltsam nah gefühlt hatte. Dass offenbar ein Mensch erst sterben musste, bevor Menschen weite Reisen auf sich nahmen, um ihre Liebe zu zeigen – warum tat man das nicht, wenn der Mensch noch am Leben war?
»Und keiner hat mich gefragt, warum ich da bin«, sagte ich, »weil bei Beerdigungen Menschen aller Art auftauchten: Menschen aus der Vergangenheit, aus Lebensabschnitten, von denen niemand etwas weiß. Unsere Leben bestehen aus so verschiedenen Bereichen.«
»Meine Freundin Tabitha besucht Hochzeiten, ohne eingeladen zu sein«, erzählte Azra. »Sie wohnt in Kidderminster, in der Nähe eines großen Hotels, wo ständig Hochzeiten stattfinden. Also zieht sie sich etwas Hübsches an und mischt sich unter die Gäste, lässt sich mit Prosecco volllaufen und stibitzt Kanapees. Das ist ihr Wochenendprogramm. Besser als alles andere, was man in Kidderminster machen kann.«
Wer war Tabitha? Es bestätigte meine Meinung. Wenn Azra starb, würde diese unbekannte Tabitha bei der Beerdigung auftauchen, und niemand hätte eine Ahnung, wer sie war und woher sie Azra kannte. Aus Azras kurzer Karriere als Schauspielerin? Aus der Zeit, als sie in New Mexico mit einem Bildhauer zusammengelebt hatte? Aus Greenham Common? Aus der Grundschule?
Ich weiß noch, dass ich Azra anstarrte, die gerade Kaffee für uns machte. Sie trug ein türkisfarbenes Shirt, psychedelische Leggings und Ohrringe, die ich ihr geschenkt hatte – kleine silberne Eicheln, die tanzten, wenn sie sich bewegte. Ich kannte sie seit dreißig Jahren, aber es gab so vieles, was ich sie nie gefragt hatte. So viel Unbekanntes, obwohl sie meine beste Freundin war. Vielleicht ging es ihr mit mir genauso.
Das allerdings bezweifelte ich. Azra war nicht neugierig. Sie lebte im Moment, ohne groß zu reflektieren. Ich hatte diesen animalischen Geist immer bewundert, aber heute fühlte ich mich bei dem Gedanken einsam. Würde sich je jemand meine Fotoalben ansehen wollen? Wer fragte mich nach meiner Schulzeit? Ich glaube, sie kannte nicht einmal die Namen meiner Eltern.
Ich saß zusammengekauert auf ihrem Sofa. Der Regen peitschte gegen das Fenster. Der Besuch im Krematorium hatte mich aufgewühlt. Die Zeit wurde knapp. Würde ich wirklich allein sterben?
Diese nackte Angst konnte mein Blut gerinnen lassen. Und die Bitterkeit … ach, sie verzehrte mich. Die Erinnerung an die zweite Trauerfeier – die, zu der ich eingeladen gewesen war – schmerzte immer noch. Ich hatte ein paar der Anwesenden erkannt – Paare, die nach all den Jahren immer noch zusammen waren. Und sie sahen vollkommen glücklich aus! Beim Leichenschmaus beobachtete ich, wie sie einander Teller mit belegten Broten brachten oder sich gegenseitig die Krümel abklopften. Wie ich sie beneidete. Was hatten diese Frauen getan, um solche Hingabe zu verdienen? Sie waren nicht verlassen worden. Sie hatten Arme, die sich nachts um sie schlangen, um allen Schrecken abzuwehren.
Eine Frau namens Anthea Mills, jetzt dicker, aber immer noch unerträglich selbstgefällig, trieb mich in die Enge. Sie schwärmte von ihren Enkeln, die alle großartig in der Schule waren, alle in der Nähe wohnten und täglich bei ihr ein und aus gingen. »Wir haben kaum mal einen Moment für uns, stimmt's, Schatz?« Sie stieß ihren Mann mit dem Ellbogen in die Seite. »Also verdrücken wir uns am Wochenende nach Paris, nur wir zwei. Ich kann es kaum erwarten!«
»Am liebsten hätte ich sie erschossen«, vertraute ich Azra an.
Dass Azra für diese gutbürgerliche Prahlerei nur Verachtung übrighatte, versteht sich von selbst. »Wahrscheinlich sind sie total unglücklich. Und nur zu feige, sich zu trennen.«
»Sie sahen nicht unglücklich aus.«
Sie hob die Augenbrauen. »Willst du wirklich jemanden finden? Bist du nicht erleichtert, allein zu sein? Ich dachte, du kommst inzwischen besser zurecht.«
Beschämenderweise füllten sich meine Augen mit Tränen. Eine weinende alte Frau ist kein schöner Anblick. Das überlässt man besser den jungen, und die haben heutzutage ja genug Grund zum Weinen.
»Ach, meine Liebe.« Azra setzte sich neben mich und legte mir den Arm um die Schultern. »Sei nicht traurig.«
Da brach es aus mir heraus. »Ich kann es nicht ertragen. Ich hasse alle Paare und meine Rolle als Anstandswauwau, der auf den Rücksitz des Autos verfrachtet wird. Kapieren die nicht, wie einsam man sich da fühlt? Und wenn ich allein ins Kino gehe, fühle ich mich wie diese schmuddeligen Typen in Soho, als Soho noch Soho war …«
»Dann nimm doch mich mit.«
»… und am Ende renne ich raus, bevor das Licht angeht, damit niemand mich mitleidig anschaut. Ich hasse es, hasse es, hasse es. Und ich hasse mich selbst, weil ich den Leuten ihr Glück nicht gönne.«
»Schätzchen, es ist erst sieben Monate her …«
»Du kommst zurecht. Du lebst gern allein, aber du bist nicht wie ich.« Beschämt über meinen Ausbruch stand ich auf und riss ein Stück Küchenrolle ab.
»Besorg dir doch wieder einen Hund.«
Ich putzte mir die Nase. Draußen auf der Straße heulte eine Sirene. Azra wohnte in Tottenham, und diese Melodie zog sich durch ihre Tage. Erst in der Woche zuvor war gegenüber jemand erstochen worden; der Klebestreifen, den die Polizei angebracht hatte, hing immer noch an einem Laternenpfahl. Sie wurde gut damit fertig. Ich hingegen merkte, wie ich immer ängstlicher wurde. Schon das Geräusch der Türklingel erschreckte mich. Ich stellte mir mich in der Zukunft vor, eine verschrumpelte Eremitin, die hinter ihren geschlossenen Fensterläden kauert.
»Ich bin nicht ich selbst«, sagte ich. »Ich werde langsam verrückt. Immer wieder wache ich auf und denke, unten wäre ein Einbrecher. Oder auf dem Dach. Oder war es ein sehr schweres Eichhörnchen?« Sogar beim Öffnen von Briefen befiel mich inzwischen Panik. Das erzählte ich ihr nicht; es war zu demütigend. Azra brauchte keinen Mann, der sie vor der bedrohlichen weiten Welt beschützte.
Stattdessen sagte ich: »Ob er mich wohl vermisst?«