Das Schweigen am andern Ende des Rüssels - Matthias Politycki - E-Book

Das Schweigen am andern Ende des Rüssels E-Book

Matthias Politycki

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Beschreibung

Matthias Politycki weiß, wie man spannend erzählt, ohne an Tiefe einzubüßen, und das mit dem ihm eigenen Humor und in einer Sprache, die zeigt, was Literatur heute sein kann. Der "Sprachartist" (Bayerischer Rundfunk) erzählt Geschichten vom Reisen, von grotesken, von komischen und traurigen Erfahrungen. Matthias Politycki, durch seine letzten Romane bekannt geworden als Chronist der bundesrepublikanischen Alltags- und Liebesgeschichte, bricht auf zu neuen Ufern: Er erzählt von fernen Ländern, von unvertrauten Orten, die mal Mongolei, mal Uganda, mal Statesboro, mal World's End heißen, oder von heimatlichen Regionen, die wir zu kennen glauben. Seine Figuren suchen das große Erstaunen, jenseits aller touristischen Trampelpfade, und werden mit kleinen oder großen Schrecknissen konfrontiert. Sie erleben, wie ein Thunfisch zu Tode gebracht wird, wie sich Callgirls und Literaturwissenschaftler auf wundersame Weise in Sofia begegnen oder wie das Tanken irgendwo in Amerika zur existenziellen Katastrophe wird. "Das Schweigen am andern Ende des Rüssels" versammelt siebzehn Geschichten, die subtil miteinander verwoben sind. Alle kulminieren sie, ungeachtet ihrer exotischen Schauplätze, in einem Moment der Stille, in einer Sekunde des zeitlosen Verstummens, sei es über die Absurdität, sei es über die Brutalität des Geschehens. Zweimal acht Erzählungen über "Buddhas goldnen Schließmuskel", "Sonnenbaden in Sibirien" oder den "Mann, der ein Bär war" - und in ihrer Mitte der "Tag eines Schriftstellers", ein Text über das Sterben, über Todesstunden, wie er in der Gegenwartsliteratur nicht seinesgleichen hat.

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Matthias Politycki

Das Schweigen am andern Ende des Rüssels

Hoffmann und Campe Verlag

Schrecklich schöner Tag

Outer Banks, April 1995

Ein paar Inseln gibt’s vor der Küste

von North Carolina, eine Serie an Sandbänken, nicht

viel breiter als die Straße, jedoch

fast zweihundert Meilen lang! nichts

als Leuchttürme, Dünen und graugelbes Gras

und Möwen, natürlich, mit weißen

und mit schwarzen Köpfen

Nun stell dir mal vor, wie ich

in meinem glitzergrünen Chevrolet sitze

und ziemlich lässig so durchs Meer fahre:

Der Mann im Radio spielt die passende Musik,

die Aircondition schnurrt ganz sanft dazu, sogar die

Geschwindigkeit hab ich am Lenkrad eingestellt,

im Grunde brauch ich bloß noch

die Augen aufzureißen und die Ohren

Verstehst du,

die Welt hat sich an diesem Tag,

ich will mich wirklich nicht beschwer’n,

hat sich verteufelt angestrengt für mich:

so viele Wellen, so viel leerer Raum darüber,

so viel an weichem Wind und … trotzdem!

Wenn ich daheim bald wieder bin

(in ein, zwei Wochen, vielleicht drei),

dann wird es keinen geben, der

meine Erinn’rung teilt an diesen schnurgeraden Tag.

»Ah, interessant«, wird man mir bestenfalls

ein Nicken gönnen, »so ’ne Art Sylt

auf Am’rikanisch« …

    Aber weißt du,

dieser Tag auf der Straße, im Meer,

der war nicht interessant.

Der war vielmehr so schön,

daß ich fast lauthals losgeheult hätte

mit meinen vierundvierzig Jahren,

weil ich ja wußte,

weil ich in jeder Sekunde wußte,

daß ich den Rest des Lebens

verdammt alleine bleiben würde mit

all diesen Leuchttürmen, den Möwen, den Wellen,

mit all den Brownies, die ich dabei gegessen,

den Dosen, die ich dabei leergetrunken

: in meinem fetten Glitzerchevrolet

an diesem schrecklich schönen Tag

Tod eines Thunfischs

Sharm el-Sheik, Dezember 1997

Kann sein, daß der Dezember wirklich kein guter Monat ist: Wenn der Wind kommt, dann wird’s frisch für den, der unter der Sonne liegt, als sei er in Urlaub. Auch das Wasser ist kälter als sonst, was insbesondre die Haie abhält, sich blicken zu lassen – jeden Tag fuhren wir raus aufs Meer, jeden Tag kamen wir zurück, kurz bevor den Gläubigen von fernen Minaretten der Sonnenuntergang verkündet wurde, und wir, eine meist auf Englisch miteinander schweigende Schar von Ungläubigen (einschließlich eines Rolex-Russen, der mit seiner Unterwasserkamera gern kleine Fische erschreckte und sich jeden Abend von einer andern Frau am Pier abholen ließ): wir hatten wieder keinen einzigen Hai gesehen.

»No gud manß for schaks, ju noo«, erwartete uns der Koch, der auch als Tau-Werfer, Tau-Verknoter, Deck-Schrubber fungierte, erwartete uns nach jedem Tauchgang an der Leiter im Heck, um uns aus dem Wasser zu helfen: »No gud taim for fisch, tuu kolt.«

Doch wir wollten es wissen. Ob vor, mit oder nach dem Sonnenaufgang, wir stachen in See, zusammen mit einer Handvoll andrer Taucherboote, die beim Auslaufen mit ihren Lkw-Hupen durcheinandertönten. Kaum hatten wir die Bucht von Sharm el-Sheik verlassen, übernahm der Koch für ein paar Minuten das Steuerrad, während der Kapitän höchstselbst damit beschäftigt war, »weri big bisniss, ju noo«, eine lange Nylonschnur ins Meer hinabzuspulen und, die letzten Meter der Länge nach übers Oberdeck spannend, das Ende an seinem – des Kapitäns höchsteignen – Sitz zu befestigen.

Dort verwartete er den Rest dann des Tages, seinen braunen Fuß fest am Lenkrad, und nebenbei dieselte uns zwei, drei, vier Stunden rund um die Spitzen des Sinai, hin zu den berühmten Tauchgründen und –

    – zwei, drei, vier Stunden zurück, die linke Hand stets am Ende der Schnur, in schweigender Hoffnung auf den entscheidenden Ruck.

Und ansonsten?

Glitzerte das Meer, ragten die Berge, fahl und faltig, in rötlichem Schimmer. Mittags, wenn wir, wasserprasselnd, die Leiter wieder emporkamen, empfing uns der Koch mit aufmunterndem Geklapse gegen unsre Neoprenbäuche – »Lantsch redi, ju noo« –, und nachmittags, nach dem dritten Tauchgang, wenn sämtliche Lungenautomaten verstaut waren, sämtliche Schnorchel, Flossen, Brillen, Bleigürtel, dann saßen wir im Unterdeck, zeichneten unsre Logbücher wechselweise ab und erinnerten uns: an einen besonders blauen, besonders feigen Kugelfisch, an eine Schildkröte, die lang neben uns dahingesegelt, an die Napoleonfische, die uns, ein Schwarm dämlich dicklippiger Gesichter, neugierig umkreist hatten, an Hunderte von Gelbrücken-Füsilieren, die sich um gar nichts und am wenigsten um uns geschert hatten, an Skorpions-, Krokodil-, Trompeten-, Flöten-, Falterfische und Tausende tanzender Fahnenbarsche, oh ja, gud-taim-forfisch-ju-noo: Alle waren sie mal wieder dagewesen, in ihrer stillen Pracht. Fast alle.

Und ansonsten?

Gab’s ab & zu ein Wrack, vollgestopft mit Geschützen, Gewehren, Motorrädern, Lkws oder auch mit schimmernd weißen Kloschüsseln, die’s zum Teil herausgeschleudert hatte aus dem geborstnen Schiffsrumpf. Verstreut und ein wenig ratlos standen sie nun im Riff herum, es fehlten bloß die dazugehörigen Bürsten.

Und ansonsten?

Wenn’s hoch kam, stießen wir auf einen Barrakuda, der reglos im Wasser stand, und achteten darauf, daß wir ihm nicht zu nahe kamen. Wenn’s hoch kam, stießen wir auf einen Trupp Thunfische, wie er grausilbern gegen die Strömung kreuzte, und einmal sogar – wir schwebten möglichst unbeteiligt am Steilhang des »Shark reef«, einer Siebenhundertmeterwand am Rand des blauen Nichts – einmal sogar stob einer der Thunfische jählings hinein in den Schwarm an Füsilieren, der wenige Meter entfernt seinen Weg suchte und sich um nichts scherte, einmal also kriegten wir’s hautnah mit, wie das Leben und Sterben hier so lief. Aber sicher, richtig sicher waren wir uns hinterher nicht mehr. Denn das Ganze, das hatte ja nicht länger als ein, zwei silbergrau durchblitzte Sekunden gedauert. Gleich anschließend war wieder Ruhe am Riff gewesen, ein Schwarm an Füsilieren suchte seinen Weg.

Und ansonsten?

Nein, Haie sahen wir nicht. Weder den Grauen Riff- noch den Leopardenhai, weder Hammer- noch gar Walhai, nicht mal einen Weißspitzen-Riffhai, träg auf dem Sandboden dahindösend, nicht mal den. Und abends, wenn wir in der ausgestorbnen Stadt – kurz zuvor war ein Anschlag auf Touristen verübt worden, man traf allenfalls Soldaten –, wenn wir nach Bars, Boutiquen, Cafés oder sonstigen Stätten der Zerstreuung suchten, die uns von den Reiseprospekten versprochen, abends sahen wir auch nur immer dieselben Rohbauten, das Niemandsland dazwischen, verhärmte Palmen, ein paar streng bewachte Luxushotels. Und landeten zwangsläufig im einzigen Teehaus, wo man sich zwischen Wasserpfeifenrauchern jeden Alters dem türkischen Kaffee und der Logbuchbetrachtung hingeben und beim Bezahlen aufs allerfreundlichste bescheißen lassen konnte.

Und ansonsten?

Wetzten wir anderntags wieder mit unsern Messern an der Unterwasserwelt, vorzugsweise an den riesigen Muscheln, die fast vollständig von Korallen überwuchert waren. Verläßlich fielen sie auf unsre Annäherungsversuche herein, mit ihren weit aufgesperrten Schalen wußten sie freilich so blitzartig zuzuschnappen, daß uns demnächst die Messer auszugehen drohten; der Rolex-Russe indessen schob die Kamera durchs Meer und erschreckte mit dem Blitzlicht kleine Fische. Nein, Haie sahen wir nicht. Weder den Grauen Riff- noch den Leopardenhai, weder Hammer- noch gar Walhai, nicht mal den allermickrigsten Weißspitzenhai, träg auf dem Sandboden dahindösend, nicht mal den.

Dafür sahen wir was andres, in der Mittagspause des neunten Tages. Unsre Neoprenanzüge knatterten im Wind, und wir kauerten, in graublau gestreifte Handtücher geschlungen, satt und unzufrieden auf dem Oberdeck, kauerten, taten so, als nähmen wir ein Sonnenbad und: sahen den dicken Kapitän, wie er den Motor mit einem entschiednen Ruck abwürgte. Wie er aufsprang, die Nylonschnur in der Linken, wie er zur rückwärtigen Reling lief, Laute des Glücks gen Unterdeck kehlend. Wie er mit großen fleischigen Bewegungen die Schnur einholte, unablässig das Glück aus sich heraustönend, vom Unterdeck meldete sich der Koch, der Tau-Werfer, Tau-Verknoter und unser aller Aus-dem-Wasser-Helfer, aufgeregt einen Schrubber hin & her zeigend, mit dem er gerade ganz gewiß nicht dabeigewesen, die Planken zu putzen.

In dem Maße, wie die Schnur sich verkürzte, wurden der Gesang des Kapitäns kleiner und die Gesten des Kochs knapper; als ein etwa armlanger Thunfisch kurz über die Wasserfläche tanzte und wenig später übers Deck, hingen wir – der Kapitän freilich saß da schon wieder am Steuer, der Motor tuckerte, das Wasser glitzerte, die Berge schimmerten –, hingen wir über der Reling, wild entschlossen zu jedem Schauspiel, das sich bieten würde.

Wild entschlossen auch war der Koch, wild entschlossen der Thunfisch, bald spritzte das Blut auf die Bohlen, auf unsre Preßluftflaschen, die Sitzbank, über der die Neoprenanzüge hingen und tropften. Der Koch, der keinen einzigen Ton mehr von sich gab, hatte den Stiel aus der Scheuerbürste herausgeschraubt und nichts weiter zu tun, als mit kurzen Stupsern den Fisch dran zu hindern, ins Meer zurückzuschnellen; der Fisch dagegen mit großen Augen hatte nichts weiter zu tun als zu sterben. Doch das schien ihm nicht recht zu gelingen – weit riß er das Maul auf, krümmte sich, schlug mit dem Schwanz gegens Schiff und blutete, blutete. Denn der Koch, der klopfte ihm jetzt bisweilen auf den Kopf, nicht etwa heftig, nicht etwa entschlossen, nicht etwa endgültig, sondern so, als wolle er bloß dran erinnern, sich nicht über Gebühr zu sträuben und endlich anzufangen mit dem Sterben – kleine gezielte Schläge auf den Hinterkopf, aus dem sich die Kiemen herausdrehten.

Dann lag der Fisch vor unsern Kisten mit dem Blei, den Brillen, den Flossen, lag und – am Zucken seiner Schwanzflosse zu sehen – und lebte noch immer. Der Koch stand neben ihm, über ihm, ließ die Spitze seines Stiels auf dem silbergrauen Körper hin & her streicheln und, nicht etwa in einem heftigen, einem entschloßnen, einem endgültigen Stoß, sondern sehr langsam, sehr beiläufig in die offne Kiemenspalte gleiten, schraubte sie in den Kopf des Tieres hinein.

Das Tier krümmte sehr schnell, sehr unbeiläufig die Schwanzflosse gen Himmel, doch der Koch, am andern Ende des Stiels, sagte kein Wort. Dann: wurde’s ruhiger im Tier, der Koch gab sein Gerät aus der Hand, verschwand. Nach ein paar sinnlos verzuckten Momenten, in denen sich das Tier mit dem Gerät nur wenige Zentimeter und der Rest der Welt überhaupt nicht bewegt hatte, fahl und faltig schimmerte von nah und fern der Schmerz, trat sie mit einem Mal ein, die leere Sekunde

 

während im verwinkelt verlärmten Markt von Salvador da Bahia, zwischen geschälten Kuhfüßen und schwarzklebrigen Seilen aus Schnupftabak, ein halbes Dutzend ausgelöster Ochsenaugen, glasigbraun mit sanften Lidern: nach Käufern glotzte …

    die leere Sekunde, da der Schmerz nachließ; einen Augenblick drauf tauchte er wieder auf, der Koch. Tauchte auf, um das Gerät herauszunehmen aus dem Tier, ein Stück Schnur um dessen Schwanzflosse zu wickeln und es neben der Leiter aufzuknüpfen. Neben unsrer Leiter, die herabführte ins Meer oder eigentlich aus ihm heraus.

Dort also hing das Tier und tropfte aus einem silbergrau aufgerissnen Maul, während der Koch sein Gerät in die Scheuerbürste zurückstielte und damit das Blut vom Deck schrubbte, in eins der kleinen Löcher hinein, die in der Seitenreling warteten. Auch unsre Sitzbank vergaß er nicht, die Plastikkisten mit den Bleigurten, den Brillen, den Flossen; abschließend wischte er mit seiner Hand über die Spritzer auf den Preßluftflaschen.

Als wir uns zum Nachmittagstauchgang im Heck zusammenfanden, der neunte Tag krängte gen Horizont, als wir in unsern kalten Neoprenanzügen standen und so taten, als ginge’s gleich zur Sache, hing armlang vor neben zwischen uns ein Tier. Bei diesem Tauchgang sahen wir unsern ersten Weißspitzenhai, wie er auf einer Sandbank lag vor dem Riff, wie er döste. Bei diesem Tauchgang – oder beim nächsten erst beim übernächsten, ich weiß nicht mehr, denn keiner sprach danach davon. Er war, glaube ich, er war uns egal.

Weltzeitgeschichte (I)

Aarau, Bucklige Welt, Castrop-Rauxel, Dietikon, Emden, Finningen, Gaggenau, Haselbach, Idar-Oberstein, Jedelhausen, Kufstein, Leinfelden-Echterdingen, Marktredwitz, Niederweimar, Otterndorf, Pfalzgrafenweiler, Quedlinburg, Rheda-Wiedenbrück, Schaffhausen, Tettnang, Unterhaching, Verl, Wörgl, Xanten, Ybbs, Zollikofen, November 1981

Den ganzen Tag hast du gearbeitet und nun bist du leer, wie ein Kühlschrank nur leer sein kann: echolos weiß und überhell erleuchtet, ein sirrender Hohlraum, und keine einzige Flasche darin, die dir versichern könnte, sie sei dein Freund. Schon ist der Feierabend fast vorüber, und noch immer sitzt du vor deinem Telephon und sitzt: Feste möchtest du feiern, doch mit wem? Zehn Uhr bereits, und keiner, der dir das Signal geben will, die Fanfare zum Aufbruch. In Ermangelung von Alternativen: greifst du dies Buch und liest

 

daß auch unter der pyramidalen Schotterspitze eines Nemrut Dağhı, dreiundzwanzig Uhr, zwischen den kopflos thronenden Königs- und Götterstatuen, steinern die Nachtruhe eingehalten wird. Erst morgen, am späten Vormittag, werden wieder ein paar Touristen aufgestiegen sein vom Kurdendorf: wo sie gerade, ein Fest für die Flöhe, auf dem Wohnstubenteppich des Dorfältesten schlafen …

 

während man in Luxor sogar die Stunde vor Mitternacht zum Tage macht. Eifrig läßt man die Nähmaschinen surren, bis zum Morgengrauen wollen noch jede Menge Galabejas maßgeschneidert werden: für Deutsche zum dreifachen, für Amerikaner zum siebenfachen Preis …

 

während an der »ewig« beleuchteten Gedenkstätte hoch über Eriwan, null Uhr, eine sanfte Frauenstimme den Tod von Millionen Armeniern beklagt, Opfern einst des osmanischen Terrors: Nach Ende ihres Liedes beginnt der Tag mit einer kurzen Pause, in der die Berge rauschen – und dazu das Endlosband …

 

während der Wächter des Registans, des schönsten Platzes von Samarkand und vielleicht der ganzen Welt, schon seine Zwei-Uhr-Runde dreht um die ihm anvertrauten Bauten: Mitunter ist auch Allah müde, und man versucht, sich an seinem Schlaf zu bereichern, versucht, eine der kostbaren Fayencen aus den heiligen Mauern herauszubrechen – ohne Tribut zumindest an ihn zu entrichten, den Hüter des Göttlichen auf Erden …

 

während im ostsibirischen Bratsk, fünf Uhr, nur die Turbinen des volkseignen Staudamms arbeiten: Denn der diensthabende Talsperrenwart, vielfach mit Orden versorgter Veteran des großen vaterländischen Krieges, obliegt gerade dem Verzehr eines Taigaburgers …

 

während Tausende von Kilometern südwestlich, auf dem Gipfel des taoistischen Taishan ist’s ebenfalls fünf, die alten Pilgerinnen bereits das Papiergeld für ihre Toten verbrennen. Eine hebt an, zahnlosen Lobpreis zu singen, dazu dann auf geschnürten Miniaturfüßen zu tanzen, das Verbot des staatlichen Aufpassers mit den Worten übertrillernd: Es sei gar nicht sie, die singe und tanze, sondern einer der Verstorbnen, der soeben in sie gefahren – dagegen sei sie machtlos …

 

während sich in Shanghai, auch dort ist’s gerade fünf, Tausende von Schattenboxern zum Ort ihrer Morgengymnastik begeben: zum »Bund«, der breiten Uferpromenade, im Rücken die Fassaden der ehemaligen Herrenmenschensitze. Deren einer immerhin die Nächte noch beherrscht, als erste, als einzige Diskothek der Stadt: ein prächtiger Kolonialbau mit Gitteraufzug und Stuckdecken. Und mit Pissoirs, deren blaues Gütesiegel unverblaßt prangt – »Walker and Son« …

 

während einige Hundert Japaner, sechs Uhr, schon wieder mit dem Abstieg beginnen vom nicht mehr ganz so geheiligten Fudschijama: Einmal zumindest im Leben will man sich mit eignen Augen überzeugen, daß der Tag auch hier oben mit einer rot aufgehenden Sonne seinen Lauf nimmt. Und mit vielen glitzernden Bändern, die sich unter ihrer schrägen Strahlung bergab für ein paar Minuten bergauf ziehen – die Zwischensumme der weggeworfnen Getränkedosen am Wegesrand …

 

während man in Las Vegas keinen Blick übrig hat für den Wüstenhimmel, auch jetzt nicht, dreizehn Uhr, flirrende Mittagshitze. In der Tiefe der Slot Machines gilt’s, das Glück zu belauern: sogar in den Toilettenkabinen. Während die ewigen Verlierer mit einer »free champagne party« getröstet werden, einem »free long-distance call« …

zum Beispiel nach Chicago, fünfzehn Uhr, wo sich derselbe Tag ganz behutsam bereits seinem Feierabend zuneigt. Nur noch wenige Stunden, dann wird im steinernen Ohr der Stadt wieder der Blues erklingen: und es wird gut so sein – vorausgesetzt, die Background-Sängerinnen mischen sich nicht unters Publikum …

 

während die Mofa-Schnösel hordenweise durch die Altstadt von Marrakesch hupen, Richtung Dschemaa el-Fna: weil man da auch um neun Uhr nachts die Schlangen aus den Körben lockt – mit Müh & Not & faulen Mungos – und weil man dabei bequem Touristen anbaggern oder beklauen kann …

 

während das weiße Kamel von Kairouan – ja, das mit den grünrot verbundnen Augen, das acht-zehn-zwölf Stunden täglich das Brunnenrad im Kreise treibt – nicht länger bei der Stange bleiben muß: denn dort ist’s bereits zehn Uhr nachts …

 

wie hier, bei dir. Indem du’s nun endlich begreifst, daß niemand mehr anrufen wird, heute nicht, morgen nicht, dein ganzes Leben lang nicht, indem du’s begreifst, daß du vergessen bist von der gesamten Welt, obwohl du an solch zahlreichen Orten warst, zahlreichen Orten des Geschehens, und auch jetzt lieber wärst als in dieser aussichtslosen Geschichte, die noch nicht mal eine Geschichte ist und schon gar nicht die deine: da wird’s eine Sekunde lang recht still um dich herum.

Sonnenbaden in Sibirien

Baku – Irkutsk, Juni 1987

Solange das Sowjetreich mit all seinen seligen Errungenschaften zusammenhielt, lohnte die große Rundreise, die von Moskau in der Regel über den Kaukasus und Zentralasien bis ins hinterste Sibirien führte, nicht zuletzt deswegen, weil dem deutschen Reiseleiter (der womöglich subversive Ambitionen hatte) in Moskau immer ein einheimischer Intourist-Führer zur Seite gestellt wurde. In unserm Fall ein leicht skeptisch, aber durchaus freundlich blickendes Männlein namens Pjotr.

Heißt hier nicht jeder so? witzelten wir uns durch den Begrüßungsabend, man reichte Tee, Torte, Wodka, während eine Rockband die Hits der frühen Siebziger abnudelte und Pjotr an seiner Brille rückte, am Kragen zupfte, die Hände ineinander verschlang. Die Hände verknotete, verwirrte, weil er nach seiner »heiligen Tasche« mit den Reiseunterlagen suchte und dabei auf unschuldigste Weise schuldbewußt in die Runde grinste. Die Hände erst wieder entknotete, entwirrte, als er die Tasche entdeckt hatte, wie sie arglos an seiner Schulter hing.

Pjotr. Schon tagsdrauf ahnte der eine oder andre von uns, daß sich hinter seiner Tolpatscherei nichts Geringeres verbergen müsse als ein besonders raffinierter Sonderling, der seine Spleens ausgerechnet dadurch auslebte, daß er sich arglosen Touristen andiente: Die würden seine gesammelten Ticks als russischen Nationalcharakter durchgehen lassen. Am zweiten Tag waren wir der Meinung, Pjotr sei nicht etwa nur Schelm, sondern verkappter Systemkritiker, der sich des Tölpeltums als Maske bediente, zumindest ein hochintelligenter Abweichler, der mit Hilfe vorgegaukelter Einfalt seinen geistigen Freiraum wahrte. Am dritten Tag einigten wir uns darauf, Pjotrs gespielte Weltfremdheit solle davon ablenken, daß er uns nach Strich & Faden für den KGB … und am vierten Tag wußten wir gar nichts mehr über ihn.

Pjotr. Trotz aller Mißlichkeiten, so schritt er mit uns übern Roten Platz, von den Trillerpfeifen der breitbeinig dort nach dem Rechten sehenden Soldaten? Polizisten? vielfach zur Räson gerufen, trotz aller Mißlichkeiten, die ihm bisweilen im Umgang mit andern »Werktätigen« so widerführen, glaube er fest ans Gute im Menschen. Insbesondre im Sowjetmenschen, selbst wenn ihm deren trillerpfeifende Ermahnungen nicht ganz verständlich werden wollten: Ständig wurde er zurückgepfiffen, zur Seite gepfiffen, bei jedem seiner Schritte konnte man in Angst vor dem nächsten Anpfiff geraten. Bis er sich samt heiliger Tasche schließlich auf die längste Rolltreppe der Welt rettete, in die sicheren Abgründe einer U-Bahn-Station.

Pjotr. Nein, auch ein heimlicher Anarchist war er nicht, auf seinen schmalen abschüssigen Schultern lastete kein Druck einer revolutionären oder wenigstens volkserzieherischen Aufgabe, nein. Aber was dann? Vielleicht hatte er schlichtweg genug mit der Abwicklung seiner eignen Seltsamkeiten zu tun? Und war deshalb ständig auf der Flucht: vor den andern, der sogenannten Tücke des Objekts oder gar einem Teil seiner selbst, wie man den stets sich ändernden Positionen seiner Brille ablesen konnte. Einer Brille, die er nach dem Marsch durch den Regen – Schlechtwetter schien hier zum täglichen Besichtigungsprogramm zu gehören –, die er nach Betreten des Kaufhauses GUM oder des Lenin-Mausoleums keineswegs gleich abnahm, um durch Trockenreiben der Gläser wieder für den vollen Durchblick zu sorgen. Sondern, im Gegenteil, nichts dergleichen machte, nichts. Auf daß er den Blick – durch den glitzernden Wasserperlenvorhang seiner Brillengläser allen Zudringlichkeiten entzogen – für ein paar Minuten völlig nach innen drehen durfte.

Pjotrs Hauptproblem bestand nun darin, rechtzeitig zurückzukehren aus solch selbstgewählten Momenten des Urlaubs vom Urlaub, zumindest einigermaßen rechtzeitig: Immerhin fungierte er als Reiseleiter. Den Rest der Zeit agierte er nämlich fehlerfrei, in äußerster Besorgtheit um unser Wohl, jedes Jungfrauenkloster (prächtige Popen!) mußte zur rechten Zeit betreten, jeder Staatszirkus (dressierte Schweine!) zur rechten Zeit verlassen und damit das Glück auf dieser Welt vermehrt werden. Wenn ihm das besonders reibungslos gelang, womöglich trotz widriger Umstände, verteilte er vor Freude feuchte Schlabberküsse (linke Wange, rechte Wange), in freudigster Erregung auch schon mal an den nächststehenden Mann. Was ihm keinesfalls vermehrte Zuneigung eintrug.

Denn im Auffinden entsprechender Gelegenheiten war er äußerst gewitzt, jedweder Programmpunkt schien ihm von unwägbaren Zwischenfällen bedroht und, nach Ausbleiben derselben, auf wundersamste Weise bewältigt: Bereits auf unsrer nächsten Station, in Tiflis, wo zwischen lauter Weinbergen zunächst alles zu klappen schien, legte er ein bedeutendes Zeugnis seines Pflichtbewußtseins ab. Als er die Frau eines Gynäkologen, wir wanderten durch einsame georgische Landschaft, der Sewan-See leuchtete türkis inmitten nackter Berge, als er die Frau, die sich zusehends dringlicher mit einigen Mitwanderern beraten und schließlich entschlossen hinter ein paar Felsen geschlagen hatte, als er die Frau, in der festen Meinung, sie sei aus Unachtsamkeit vom Weg abgekommen und also drauf & dran verlorenzugehen, als er die Frau, die sich gerade erst in Sicherheit wähnte, gleich wieder aufgespürt und das drohende Schicksal von ihr abgewandt hatte: da küßte er sie auf derart herzliche Weise, daß … sie jedenfalls danach nicht mehr hintern Felsen mußte.

Dabei feierte Pjotr in solchen Momenten nicht etwa nur die Rettung aus einer jählings vom Schicksal auferlegten Schieflage, sondern in und mit ihr die ganze Welt, vorausgesetzt es war eine nach sowjetischem Zuschnitt. Am Abend just jenes bedeutsamen Tages, wir saßen an nuß- und gräserartigen Vorspeisen, an Auberginen in Senfsoße, an Hasenspießen, trat er darob in eine philosophische Diskussion. Ausgerechnet mit dem Gynäkologen. Und vertrat mehrere grüne und rote Limonaden lang, heftig seine beiden Hände an der heiligen Tasche verklammernd, die Ansicht, es gebe lediglich zwei Arten des Denkens, eine sozialistische und eine falsche, und wenn die sozialistische Ordnung mal wieder den gerechten Sieg davongetragen, mal wieder triumphiert habe über kapitalistische Störversuche, sei das wahrlich Grund zu feiern.

Worauf ihm der Gynäkologe nicht zu widersprechen wußte.

Noch während der anschließenden Tage in Eriwan, die im Prinzip für Blicke auf den Ararat vorgesehen waren, in unserm Fall aber ausnahmsweise für welche auf Wolken, noch während der anschließenden Tage in Baku, für die uns Pjotr den Zauber des Aralsees versprochen und mit Hilfe einiger verkommner Öltürme dann tatsächlich vermittelt hatte, wußten wir nicht, ob wir unsern Intourist-Begleiter nun einfach belächeln oder doch eher beargwöhnen sollten. Erst der Tag unsres Abflugs nach Sibirien sollte die Entscheidung bringen.

Kaum hatten wir das Hotel geräumt, fragte Pjotr, wie’s bei derartigen Anlässen so seine Art war, besorgt bei jedem einzelnen nach, ob er den Zimmerschlüssel abgegeben. Da wir der Reihe nach nickten, setzte er sich seine skeptische Grundmiene auf – es schien auch heute ohne sein Zutun zu gehen? – und der Bus in Bewegung. Erst kurz vor dem Flughafen hielt er auf freier Strecke mit einem Mal an: Es sei doch noch ein Schlüssel aufgetaucht, verkündete Pjotr zu unser aller Erstaunen, nicht ohne sich durch Abnehmen der Brille möglichen Nachfragen zu entziehen.

Ach, Pjotr, an diesem Tag verhalfst du uns zu einem Nachtflug nach Irkutsk, weil wir … zwar ohne dich zum Flughafen weitergefahren waren, dort jedoch an jedem Schalter aufs neue feststellen mußten, wie sehr der Lauf der Dinge deiner rettenden Eingriffe bedurfte. Wohingegen du, einen Autofahrer umarmend, der auf dein Gestikulieren hin angehalten und sogar ausgestiegen war, wohingegen du schleunigst das Weite gesucht hattest, Richtung Innenstadt, Richtung Hotel.

Lange, allzu lange warteten wir am Rande des Rollfeldes, keine einzige Trillerpfeife wollte ertönen, sofern wir darauf Spaziergänge unternahmen. Selbst unser deutscher Reiseleiter, ein aufs äußerste lässiger Herr, der ansonsten hinter deinem Rücken »das Gröbste« immer zu richten gewußt, blickte häufiger auf die Uhr, als es seinem Image förderlich war. Doch erst, als wir zugesehen hatten, wie sich unsre keinesfalls planmäßig startende Maschine mit wackelnden Flügeln vom Boden hochpropellert hatte, kamst im spinnenbeinigen Galopp du übers Rollfeld gerannt, beschwörend die heilige Tasche in die Höhe haltend, hier sind sie, die unseligen Tickets, das Taxi vom Hotel war leider nicht schneller und –

    – obwohl du sehr erschöpft warst nach diesem knappen Abwenden der Katastrophe, versäumtest du’s nicht, uns über die lange Wartezeit hinwegzutrösten, indem du vom Sonnenbaden in Sibirien scherztest: Unter den neuen Umständen könnten wir damit gleich nach der morgigen Landung beginnen, welch Glück, wenn man’s also richtig herum bedachte, daß uns die erste Übernachtung dort erspart blieb! Statt dessen würden wir bereits die allerfrühsten Sonnenstrahlen, der Bräunungseffekt sei ja bekanntlich vormittags –

Sonnenbaden! höhnten wir. In Sibirien! Da würden wir unsre Zeit wohl eher mit den sattsam bekannten zwei Latten verbringen – der einen zum Gletscherspalten-Überqueren, der andern, um dabei die Wölfe abzuwehren, haha.

Pjotr, er ruckelte nicht mal mehr an seiner Brille, sah uns nur verständnislos an: So viel Glück im Unglück, so viel gerade noch gerettete Ordnung im Chaos – doch keiner außer ihm, der das zu schätzen wußte. Und wollten die Worte schier in ihm erglühen, er verkniff sie sich, die Hände fest an der heiligen Tasche, und eine nonverbale Bekundung seiner Erleichterung erst recht.

Aber, Pjotr, mit einer derart dicken Stewardess, die sich dann in der Nachtmaschine durch die Reihen zwängte, indem sie mit ihren werktätigen Hüften gleichzeitig an beiden Gangsitzen entlangstreifte und die darin Dösenden weckte, mit einer derart durchsetzungsfähigen Person hatte dein freundliches Wesen nicht gerechnet. Zwar zeigte nach Mitternacht auch sie, daß sie menschlicher Regungen fähig, indem sie sich den gewichtigen Dienst erleichterte und die Schuhe auszog, war ansonsten allerdings ein Muster an sozialistischer Pflichterfüllung.

Wahrscheinlich war’s somit vom Dienstplan fest vorgegeben, nicht persönliche Willkür, daß sie um zwei Uhr nachts das Aeroflot-Menü servierte: kaltes Huhn, nein: kalte Henne, nein: das Segment eines zum Himmel stumm schreienden Hahns, dem man selbst im Tode noch ansah, welch hartes Leben er geführt, garniert mit einer Tomate, und das alles nicht etwa vorab portioniert und unter Klarsichtfolie gequetscht, sondern auf dem Servierwägelchen frei sich entfaltend – ein regelrechter Haufen an halben, nein, an gevierteilten Hähnen, in den die Dicke ohne jedes Zögern, Erklären, Vorbereiten: mit gleichmäßiger Gerechtigkeit eine Gabel hineinfahren ließ, herausfahren ließ, das aufgespießte Stück auf einem Plastikteller plazierend, den sie ihm mit der andern Hand entgegendrückte. Um es – in derselben ruckartigen Bewegung – mit dem Daumen schon wieder von der Gabel abzustreifen, Mahlzeit.

Solcherart ihr Wägelchen durch die Nacht schiebend, weckte sie gnadenlos sämtliche Schläfer, ein Mahl auftischend, von dem man nicht mal zu träumen gewagt, und trunken griff man zu. Immerhin hatte man in den Stunden am Rollfeld bereits etliche Flaschen eines süßlich warmen Krimsekts und am Ende den selbstgebrannten Schnaps des Taxifahrers überlebt, mit dem Pjotr so schnell, aber eben nicht schnell genug zum Flughafen nachgekommen war – Schnaps, der uns im übrigen als Wodka angedient worden, obwohl er dann eher nach einem scharfen Rasierwasser schmeckte, wahrscheinlich nannte man alles in diesem Lande Wodka, was irgendwie Alkohol in sich barg.

Daß wir nur zögernd zu uns kommen wollten, während das Servierwägelchen näherrückte, durfte uns also nicht wundern. Einzig Pjotr, zusätzlich erschöpft von den vielen Sprüngen, die er tags zuvor über Spalten und Abgründe gesetzt, die das Leben vor ihm aufgetan, einzig Pjotr hielt weiterhin Einkehr bei sich selbst – noch wußte er nicht, daß ein Koffer der Gruppe inzwischen eigenmächtig nach Taschkent flog und erst Tage später zu seinem Besitzer zurückfinden würde –, einzig Pjotr verharrte in stiller Einkehr. Und schreckte entsprechend hoch vom Sitz, als die Reihe an ihn kam: ausgerechnet gegen den Plastikteller, den ihm die Dicke bösartig nah vor den Kopf gehalten, so daß der Hahn schreiend zu Boden flatterte.

Doch noch während sich Pjotr an den Kopf faßte, wo der versammelte Schmerz des Tages mit demjenigen der Nacht sich mischte, fast hätte er dabei die Brille von der Nase gewischt, tauchte die Dicke

behende!

nach unten, stach mit der Gabel in das für ihn bestimmte Nachtmahl und brachte’s zurück auf Höhe der Augen. Pjotrs Augen; und indem sie ihn fest fixierte, der seinerseits den Blick nicht vom Hahn zu lösen vermochte, drückte sie das, was von der Welt auch für ihn vorgesehen gewesen, drückte’s mit dem Daumen ganz langsam herunter von den Gabelzinken, ganz langsam, drückte’s zurück auf den Plastikteller, den sie weiterhin in der Linken gehalten, Pjotr wagte keine Bewegung, drückte den viertel Hahn zurück neben die Tomate. Da war’s, für einen Moment, dermaßen still rundum, daß man nur das Summen der Propeller vernahm

 

während am Badestrand bei Jesolo ein totes Schwein, angespült von wer-weiß-wo, so lang von einer Kinderschar bestaunt wurde, bis der frechste der Knirpse – wäre er noch eine Spur mutiger gewesen, er hätte’s gleich beklettert und behopst –, bis der kleinste der Knirpse entschlossen die Augen zukniff, seine Hand ausstreckte und: das Schwein berührte …

 

    dermaßen still, daß man nur das Gefeixe rundum vernahm. Dann stand Pjotr auf, umarmte die Dicke und drückte ihr einen seiner Schlabberküsse auf die Wange. Wieder mal war die sozialistische Ordnung, wiewohl knapp, gerettet worden.

Von diesem Moment an liebten wir ihn, ob Tolpatsch, ob Schelm, ob Regimekritiker, ob Informant des KGB