Das Schweigen der Aare - André Schmutz - E-Book

Das Schweigen der Aare E-Book

André Schmutz

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Beschreibung

Als die mittlere der drei Manaresi Töchter tot am Aareufer gefunden wird, droht das bisher beschauliche Leben der Familie von einem Tag auf den anderen aus den Fugen zu geraten. Ein dunkles und lange gehütetes Geheimnis aus der Vergangenheit entwickelt sich zu einer tödlichen Gefahr. Lisa, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern und älteste der Manaresi Töchter, stemmt sich als einzige, zusammen mit ihrem Kollegen Thomas Zigerli, gegen die bevorstehende Katastrophe. Kann sie das Geheimnis lüften, bevor sie selbst zum Opfer wird?

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2021

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André Schmutz

Das Schweigen der Aare

Kriminalroman

Zum Buch

Vergessenes Geheimnis Unterhalb der Berner Kirchenfeldbrücke wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Es handelt sich um Siri, die jüngste Tochter der Familie Manaresi. Ein Abschiedsbrief lässt keine Zweifel an ihrem Suizid offen. Die Berner Kriminalpolizei schließt die Ermittlungen deshalb rasch ab. Lisa, die älteste der Manaresi Schwestern und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern, glaubt nicht an die Selbstmordthese und beginnt, gemeinsam mit ihrem Arbeitskollegen Thomas Zigerli, auf eigene Faust zu ermitteln. Als kurz darauf Alva, ihre andere Schwester, entführt wird, entdeckt Lisa durch Zufall ein dunkles Familiengeheimnis. Doch bevor sie sich der drohenden Gefahr bewusst werden können, geraten Lisa und Thomas in einen Strudel blutiger Verbrechen. Bald befinden sich beide selbst in Lebensgefahr.

André Schmutz, Jahrgang 1966, ist in Ueberstorf, einem idyllischen Ort im Umfeld der beiden Zähringerstädte Bern und Freiburg, aufgewachsen. Nach seinem Pharmaziestudium und anschließender Promotion hat er sich viele Jahre in der Pharmaindustrie mit Impfstoffen beschäftigt. Seine Liebe zum Schreiben entdeckte er bereits in seiner Kindheit. Erst viele Jahre später verwirklichte er einen Lebenstraum und begann mit dem Schreiben eines Kriminalromans. In seinem Debüt ermitteln die beiden ungleichen Hauptfiguren Lisa Manaresi und Thomas Zigerli in einer Serie perfider Verbrechen gegen Lisas eigene Familie.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ramius / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6710-3

Widmung

Für meine Tochter Anaïs

Prolog

An meine Lieben

Nie hätte ich gedacht, dass ich mich auf diese Art von euch verabschieden werde. Es geht nicht auf eine andere Weise – ihr würdet mich nicht verstehen. Seit vielen Monaten ruft mich eine Stimme aus einer wunderschönen Welt. Eine Welt ohne Krieg, Verbrechen und Tod. Ewiges Leben und ewiger Friede erwarten mich dort. Ich will nicht länger warten. Das Leben hier auf der Erde – auch in der kleinen heilen Schweiz – ist voller Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Leid. Egoismus regiert. Dies ist nicht der Ort wo ich sein will. Die schöne, andere Welt ist keine Illusion. Es gibt sie. Deshalb trauert nicht um mich. Ich werde dort glücklich sein.

Lebt wohl!

Siri

Kapitel 1

Bern, 15. November 2019, 07:10

Das Wasser der Aare schimmerte grün und klar in der eisigen Morgenluft. Wäre nicht der bösartige, bitterkalte Novemberwind gewesen, wären bei Peter Siegenthaler auf seinem allmorgendlichen Spaziergang im Berner Mattequartier romantische Herbstgefühle aufgekommen. Der Rentner war wieder besonders früh unterwegs, es war erst kurz nach 7 Uhr. Bis vor wenigen Minuten hatte es geregnet. Die Feuchtigkeit beherrschte das Aareufer in Form von dichten, düsteren Nebelschwaden. In Gedanken war Siegenthaler bereits bei seinem Espresso in der warmen Stube.

»Noch zehn Minuten«, murmelte er zu sich selbst. Er steuerte vom Schwellenmätteli direkt auf die Dalmazibrücke zu. Direkt unterhalb der Kirchenfeldbrücke wurde er jäh aus seinen Träumereien gerissen.

»Was zum Teufel …« Die weiteren Worte blieben dem alten Mann im Halse stecken. Keine drei Meter vor ihm lag die schrecklich entstellte Leiche einer jungen Frau. Das Gesicht war nicht mehr als solches zu erkennen. Der linke Arm und das rechte Bein sahen aus, als ob man ihr diese ausgerissen und anschließend wieder an den Körper gelegt hätte. Siegenthaler merkte, dass seine Knie weich wurden. Alles um ihn herum begann sich zu drehen – der gute Mann stand unter Schock. Es dauerte fast zwei Minuten, bis der Rentner wieder einen einigermaßen klaren Gedanken fassen konnte.

»Von der Kirchenfeldbrücke muss die gesprungen sein«, nuschelte er zu sich selbst.« Dabei sind doch vor einiger Zeit diese neumodischen Fangnetze montiert worden.« Und trotzdem. Die wollte sich um jeden Preis umbringen, wenn sogar die Fangnetze sie nicht aufhalten konnten, dachte sich der morgendliche Spaziergänger.

Statt zu seinem ersten Espresso machte sich Siegenthaler zur Wache der Kantonspolizei am Waisenhausplatz auf.

Ich hätte dieses neue kleine Telefon mitnehmen sollen. Dann könnte ich direkt von hier die Polizei oder zumindest meine Frau anrufen, ärgerte sich der alte Mann.

Auf der anderen Seite würde ich damit eingestehen, dass diese Mobiltelefone doch eine feine Sache sind … Siegen­thaler hatte sich in der Vergangenheit standhaft geweigert, ein Handy zu benutzen.

»Teufelszeug mit gefährlicher Strahlung, Krebsbeschleuniger«, waren seine Argumente bei Erika, seiner Frau. Der ganzen Familie hatte er erklärt, dass er deshalb nie in seinem Leben ein Mobiltelefon benützen und erst recht keines anschaffen werde. Der wahre Grund – Siegenthaler war ja kein Hinterwäldler – hatte mit seinem täglichen Frühschoppen-Ritual zu tun. Durch die ständige Erreichbarkeit, welche mit einem Mobiltelefon einherging, hätte sich der Rentner des Öfteren von Erika nach Hause pfeifen lassen müssen. Speziell dann, wenn der vormittägliche Umtrunk mit seinen Kollegen ein bisschen länger dauerte.

Man kann sich die kleinen Freuden im Leben auch selbst nehmen, hatte er sich immer wieder eingestanden.

»Wo liegt diese Leiche nun ganz genau»? Es war der dritte Versuch von Kommissar Werner Trachsel, seines Zeichens Chef des Dezernats Leib und Leben der Berner Kriminalpolizei, von Siegenthaler eine brauchbare Antwort zu erhalten.

»An der Aare unten ist etwas Schreckliches passiert«, hatte ihm Siegenthaler berichtet.

Gefühlte zwei Stunden später – in Realität waren es weniger als vier Minuten – hatte Trachsel in Erfahrung gebracht, dass beim Schwellenmätteli eine junge Frau mutmaßlich von der Kirchenfeldbrücke gesprungen war und zerschmettert am Rande des Dalmaziquais lag.

Es war kurz vor 8 Uhr, als Trachsel an der Aare bei der Frauenleiche eintraf.

Ein Wunder, dass hier nicht bereits der Teufel los ist, ging es dem Kommissar durch den Kopf. Er hatte erwartet, auf eine Horde Gaffer und Schaulustige zu treffen. Erfahrungsgemäß hätte er dann eine halbe Stunde gebraucht, um das sensationsgierige Pack aus dem ermittlungstechnisch gesperrten Bereich zu schaffen. Er wäre mit den Nerven bereits am Ende gewesen, bevor die Ermittlungen überhaupt losgingen.

Zwar waren keine Sensationshungrigen hier, dafür aber Siegenthaler. Dieser trotzköpfige Rentner hatte Trachsel auf der Wache so lange drangsaliert, bis dieser einwilligte, dass Siegenthaler mit zur Spurensicherung kommen durfte.

»Schließlich habe ich die Leiche entdeckt, und nur ich weiß, wo sich diese ganz genau befindet«, meinte Siegenthaler.

Möglicherweise wird der Tag doch nicht so toll werden, ging es Trachsel durch den Kopf. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er nicht, dass er diesen Novembertag nie mehr vergessen würde.

Trachsel hatte schon viele Selbstmörder unterhalb einer der schönen Brücken Berns einsammeln müssen. Der Anblick der meistens schrecklich entstellten Körper machte ihm schon lange nichts mehr aus. Er war es gewohnt. Routine.

Etwas an dieser Frauenleiche war anders als bei all den anderen zerschmetterten Körpern. Trachsel konnte aber nicht sagen, was dies war. Tief in seinem Inneren war eine Stimme, die ihm einen Hinweis geben wollte. Er konnte sie nicht verstehen. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass dieser unmögliche Siegenthaler wie eine Musikspieldose unaufhörlich neben ihm quasselte. Am liebsten hätte er ihm den Hals umgedreht.

»Hallo, Werner, ich hätte nicht gedacht, dass du im November schon morgens um 8 Uhr an der Aare bist. Aus dir wird noch ein richtiger Morgenjogger.« Abrupt wurde Trachsel aus seinen Tagträumen gerissen. Max Mäusezahl war Mitarbeiter im Dezernat Leib und Leben und dort zuständig für Spurensicherungen. Er liebte es, seinen als argen Morgenmuffel bekannten Chef zur Weißglut zu bringen.

»Dir würde ein bisschen Bewegung auch guttun. Wenn du weiter so zulegst, werden wir auf der Wache schon bald breitere Türen einbauen müssen«, konterte Trachsel.

»Ein Wärmepolster für den kommenden Winter hat noch nie geschadet.«

»Die eigenen Fitness- und Essgewohnheiten scheinen die Herren mehr zu interessieren als die hier am Boden liegende Leiche«, meldete sich Siegenthaler.

Mäusezahl und Trachsel blickten sich kurz an, beide schwiegen. Keine Viertelstunde später war die Identität der Leiche geklärt. Die junge Frau hiess Siri Manaresi. Sie war 21 Jahre alt, eingebürgerte Italo-Schwedin und lebte zusammen mit ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester Alva bei ihren Eltern im Altenbergquartier. Siri hatte an der Universität Bern Französische Literatur und Sportwissenschaften studiert. Ihre ältere Schwester Lisa war bereits ausgezogen und lebte alleine in einer Studiowohnung im Länggassquartier.

Trachsel beschloss, direkt zu Fuß zum Altenbergrain zu gehen, um den Eltern von Siri die Todesbotschaft zu überbringen. Viel schlimmer als der Anblick von entstellten Leichen war das Überbringen einer Todesnachricht. Die Reaktion der Betroffenen war unberechenbar. Die schlimmste Erfahrung, welche Trachsel dabei gemacht hatte, lag knapp drei Jahre zurück. Er musste einem jung verheirateten Paar den Tod ihrer vierjährigen Tochter mitteilen, welche am Aargauerstalden mit dem Fahrrad gestürzt und von einem Touristenbus aus der Slowakei überrollt worden war. Die jungen Eltern waren komplett ausgeflippt. Sie hatten Trachsel, den Überbringer der schlechten Nachricht, in einem Hagel von Honig-, Senf- und Essiggurkengläsern aus der Wohnung geprügelt. Trachsel verbrachte im Anschluss zwei Tage im Universitätsspital Bern, wo ihm die Ärzte mehrere Schädelprellungen, eine gebrochene Nase und ein verletztes Auge behandeln mussten.

Deshalb war es nicht verwunderlich, dass der Daumen ein bisschen zitterte, als Trachsel die Klingel bei Familie Manaresi betätigte. »Elin und Luca Manaresi« stand auf dem hübschen Schildchen neben dem Klingelknopf. Als sich kurz darauf die Tür öffnete, blickte Trachsel in das Gesicht einer attraktiven lächelnden Frau. Elin Manaresi hatte sich längst daran gewöhnt, dass Männer bei ihrem Anblick zuweilen komisch reagierten. Trotz ihrer mittlerweile 52 Jahre war Elin immer noch eine umwerfende nordische Schönheit. Ihre naturblonden schulterlangen Haare, die tiefblauen Augen, die feingeschnittene Nase und die kleinen Wangengrübchen, welche sie oft mit einem freundlichen Lächeln zur Schau stellte, machten sie auf Anhieb sympathisch. Ursprünglich stammte sie aus einer reichen Familie der schwedischen Oberschicht. Sie hatte in Stockholm Betriebswissenschaft studiert und arbeitete heute in Bern als Marketingverantwortliche für ein internationales Unternehmen.

»Guten Tag, Frau Mana…resi«, stammelte Trachsel. »Entschuldigen Sie die frühe Störung. Darf ich kurz hereinkommen? Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.«

»Ich weiß«, antwortete Elin. »Sie kommen wegen Siri, nicht wahr?«

Für einen Moment war Trachsel konsterniert, hatte sich aber rasch wieder gefangen.

»Ja, ich komme wegen Ihrer Tochter Siri. Man hat ihren Körper heute Morgen am Dalmaziquai unterhalb der Kirchenfeldbrücke gefunden. Tot.«

Elin Manaresi nahm die Worte völlig gefasst auf. Schweigen. Nach ein paar endlosen Momenten konnte Trachsel ein leises Nicken feststellen und sah, wie sich Elins Augen langsam mit Tränen füllten.

»Siri hat sich das Leben genommen. Hat sie sich von der Kirchenfeldbrücke gestürzt?«, fragte Elin.

»Alle Indizien deuten darauf hin«, entgegnete Trachsel.

»Dann war es doch nicht nur ein schlechter Scherz …«, murmelte Elin abwesend und blickte an Trachsel vorbei direkt in die giftgrüne Aare.

Kapitel 2

Bern, Länggassquartier, 15. November 2019, 07:20

Das Schrillen des Weckers traf Lisa in tiefstem Schlaf. Üblicherweise war der Wecker bloß Dekoration. Lisa Manaresi erwachte regelmäßig kurz vor 7.15 Uhr und stellte den verhassten Wecker aus, bevor ihr dieser mit seinem zornigen Läuten den Tag vermiesen konnte. Es war ohnehin eine unruhige Nacht gewesen. Lisa war gegen Morgen zweimal kurz hintereinander aus dem Schlaf aufgeschreckt, unmittelbar danach aber wieder eingeschlafen. Sie konnte sich weder an einen Traum und schon gar nicht an einen Albtraum erinnern. Am Vorabend hatte sie weder zu viel getrunken noch etwas Schweres gegessen. Seltsam. Lisa war für ihren Murmeltierschlaf bekannt.

Es war gegen 8.30 Uhr als sich Lisa nach einem starken Espresso auf ihr Fahrrad schwang und Richtung Innenstadt auf den Weg zur Arbeit machte. Die nächtliche Episode war bereits wieder vergessen.

Lisa war die älteste Tochter der Familie Manaresi. Sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Deshalb konnte sie richtig hartnäckig, manchmal auch stur sein. Daneben besaß sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und einen trockenen Humor. Lisa hatte viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt. Einzig die Haare waren nicht blond, sondern dunkelbraun, fast schwarz. Diese Erbschaft kam zweifellos aus Italien. Ihre große Schwäche – vermutlich auch ein Erbe ihres Vaters – war italienisches Essen. Etwa seit ihrem 20. Geburtstag machten sich die Genüsse aus Bella Italia bemerkbar. Lisa brachte ein paar Pfunde zu viel auf die Waage. Für viele ihrer Freunde machte sie dies nur umso sympathischer und attraktiver.

An der Universität Freiburg hatte Lisa Kommunikationswissenschaften und Geschichte studiert und vor einem halben Jahr mit dem Master abgeschlossen. Sie arbeitete seit etwas mehr als vier Monaten als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern. Lisa untersuchte zusammen mit einem kleinen Team von Spezialisten den Zusammenhang zwischen Betäubungsmittelmissbrauch und dem Begehen von Straftaten.

Als Lisa gegen 8.45 Uhr auf der Wache am Waisenhausplatz eintraf, spürte sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Verdacht wurde bestätigt, als sie in ihr Büro trat. Thomas Zigerli, ihr Teamkollege, mit welchem sie auch ihr Büro teilte, wartete bereits ungeduldig auf sie.

»Lisa, Lisa, du sollst dich sofort bei Trachsel melden. Er war vor ein paar Minuten hier und zeigte sich total aufgeregt.«

»Ich muss zuerst rasch eine E-Mail schreiben. Ich werde im Anschluss zu ihm gehen.«

»Er hat aber so ausgesehen, als ob es echt dringend wäre.«

»So dringend, dass es nicht zehn Minuten warten könnte, wird es kaum sein.«

»Das musst du wissen, ich habe dich jedenfalls infor…« Weiter kam Zigerli nicht.

»Frau Manaresi, hat man Ihnen nicht ausgerichtet, sich unverzüglich bei mir zu melden?«, platzte Trachsel urplötzlich in die Unterhaltung der beiden. »Kommen Sie mit, ich habe eine ultradringende Information für Sie.«

»Okay, okay, ich komme,« maulte Lisa. Widerwillig folgte sie Trachsel in sein Chefbüro.

»Wollen Sie sich setzen? Leider habe ich eine schlimme Nachricht für Sie.«

»Nein danke, ich stehe lieber.«

»Wie Sie wollen. Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir heute Morgen Ihre Schwester Siri tot aufgefunden haben.« Trachsel berichtete in knappen Sätzen von der ursprünglichen Meldung des Spaziergängers, vom Leichenfund an der Aare und vom Besuch bei ihrer Mutter Elin.

»Es deutet alles auf einen Suizid hin«, meinte Trachsel. »War Ihnen bekannt, dass Ihre Schwester psychische Probleme hatte? Gab es andere Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte?«

»Was soll der Unsinn? Siri sprühte vor Lebensfreude. Sie war überall beliebt, gesund und stand mit beiden Füßen fest im Leben. Nie würde sich meine Schwester umbringen.«

»Das glaube ich Ihnen gerne, trotzdem scheint aktuell ein Suizid aufgrund des Sturzes von der Kirchenfeldbrücke die wahrscheinlichste Todesursache. Selbstverständlich werden wir auch alle anderen Möglichkeiten prüfen«, fügte Trachsel hinzu. Seine Haltung verriet Lisa, dass er den Fall schon mehr oder weniger abgeschlossen hatte. Tatsächlich gingen Trachsel genau diese Gedanken durch den Kopf.

»Es ist immer dasselbe bei diesen Suiziden. Ich bekomme stets dieselben Antworten zu hören«, entgegnete Trachsel. »Unsere Tochter, nein, nie würde sie sich das Leben nehmen. Sie ist glücklich und eine starke Persönlichkeit. Immer das Gleiche.« Zum wiederholten Mal erklärte Trachsel, was sich beim Erhalt einer schlechten Nachricht beim Empfänger abspielte. Der überhebliche, vor Selbstvertrauen strotzende Trachsel hatte keine Ahnung, dass sich dieser vermeintliche Suizid schon bald zu einem wahren Albtraum entwickeln würde.

Kapitel 3

Bern, Altenberg, 15. November 2019, 09:30

Elin hatte gerade telefonisch ihren Mann Luca über den Besuch von Trachsel und ihren Fund im Zimmer von Siri informiert. Kurz bevor Trachsel bei Elin aufgetaucht war, hatte sie auf dem Pult im Zimmer von Siri einen Brief mit der Aufschrift »Für meine Lieben« gefunden. Ein Abschiedsbrief. Elin konnte nicht glauben, dass Siri ein Problem mit dieser Welt hatte. Nie hatte sie gehört, dass Siri die Welt grausam fand oder die Menschen egoistisch. Siri war von Grund auf positiv und sah immer das Gute in den Menschen und in allen Lebenssituationen. Der Inhalt des Briefes passte so ganz und gar nicht zu ihrer Tochter. Und dennoch – es war zweifelsfrei Siris Schrift.

Sollte sie ihre Tochter dermaßen verkannt haben, ging es Elin durch den Kopf. Konnte es sein, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Siri von Problemen erdrückt wurde? Immer wieder liest man von solchen Fällen.

Dennoch war Elin froh, Trachsel vorerst nichts über diesen Brief verraten zu haben. Ihr Ehemann Luca war da allerdings anderer Meinung.

»Wir müssen transparent mit der Polizei kommunizieren und sie in ihren Ermittlungen so gut wie möglich unterstützen«, meinte Luca, als sie mit ihm telefoniert hatte.

Er hatte recht. Er hatte fast immer recht. Aber vorhin konnte sie diesem arroganten Polizisten den Brief nicht aushändigen. Sie würde es nachholen.

Es war kurz vor Mittag, als Elin im Büro von Chefkommissar Trachsel stand. Der konnte sein Glück kaum fassen. Mit dem Abschiedsbrief war der Fall so gut wie abgeschlossen. Zur Routine gehörte noch die endgültige Identifizierung der Leiche durch die Angehörigen und die finale Bestätigung der Echtheit des Briefes. Wenn alles gut lief, wäre dies bis morgen Abend über die Bühne. Kaum hatte Elin Manaresi die Wache wieder verlassen, tippte Trachsel seine neun Lieblingsziffern ins Mobiltelefon. Heute würde er sich in seinem Lieblingsrestaurant in der Berner Altstadt eine Emmentaler Kabiswurst mit Kartoffelsalat gönnen – zur Feier des Tages. Einen schwierigen Fall hatte er einmal mehr in kürzester Zeit souverän gelöst.

Kapitel 4

Bern, Schwellenmätteli, 15. November 2019, 17:30

Lisa saß hinter der Glasfront im Restaurant Schwellenmätteli und wartete auf ihren Kollegen Thomas Zigerli. Vom eindrücklichen Rauschen der Aare, die sich weiter unten über die gewaltige Mattenschwelle wälzte, war nichts zu hören. Es schien, als wäre der Fluss verstummt.

Thomas Zigerli war in Schwarzenburg, einer Kleinstadt im Kanton Bern, aufgewachsen. Seine Eltern führten dort seit Jahrzehnten ein kleines Kleidergeschäft. Zigerli war ursprünglich ausgebildeter Bankkaufmann. Mittlerweile arbeitete er seit einigen Jahren bei der Kriminalpolizei. Bereits kurz nach Lisas Stellenantritt wurde er zu ihrem besten Arbeitskollegen. Thomas und Lisa waren ziemliche Gegensätze. Gemeinsam war ihre Schwäche für gutes Essen. Lisa war zwar nicht die geborene Sportskanone – aber man traf sie einmal in der Woche beim Indoor-Klettern. Zigerli hingegen war der Inbegriff eines Antisportlers. »Sport ist Mord«, lautete seine Devise. Er war jemand, der alle Dinge hinterfragte. Entsprechend war er häufig am Grübeln und hatte manchmal Mühe, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren.

Erst gegen 18 Uhr setzte sich der völlig durchnässte Zigerli an den Tisch von Lisa. Draußen hatte es im Verlauf des Nachmittags begonnen, wieder wie aus Kübeln zu schütten. Ganz so, als ob der liebe Gott die Spuren des Sturzes von Siri so rasch und so endgültig wie möglich aus der Welt schaffen wollte. In wenigen Sätzen schilderte Lisa Thomas, was sie bis anhin über den vermeintlichen Selbstmord ihrer Schwester wusste. Sie schloss mit der Bemerkung, dass sie nicht an einen Suizid glaubte.

»Und du bist dir absolut sicher, dass Siri nicht doch ein schwerwiegendes, belastendes Problem hatte?«, entgegnete Thomas.

»Ja, ich kenne Siri. Sie war nicht jemand, der Probleme mit sich herumtrug. Wenn sie etwas derart tief beschäftigt hätte, hätte sie dies mit mir geteilt. Da bin ich mir zu 100 Prozent sicher.«

»Jeder Mensch hat Geheimnisse. Vielleicht wollte Siri der eigenen Familie einfach nicht zur Last fallen, gerade weil die Probleme sehr ernst waren. Sie wusste, dass so etwas die anderen Familienmitglieder stark belasten würde.«

»Du tönst, als ob du bei der Polizei arbeiten würdest. Es gibt einen vermeintlich einfachen Lösungsweg. Dieser wird von ein paar Indizien gestützt, und schon ist der Fall ohne großen Aufwand gelöst.« Lisa redete sich allmählich in Rage.

»Jetzt beruhige dich doch«, versuchte Zigerli, sie zu beschwichtigen. »Es deutet einfach alles auf einen Suizid hin. Ich verstehe ja auch, dass dies schwer zu akzeptieren ist. Und überhaupt – ja ich arbeite bei der Polizei – du übrigens auch …«

Es war diese letzte Bemerkung, welche Lisa zur Explosion brachte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatte sie in weniger als zehn Sekunden das Lokal verlassen. Die Zeit hatte allerdings gereicht, um dem verdutzten Zigerli den kalt gewordenen Latte Macchiato über seine beginnende Glatze zu kippen.

Auch der kalte Novemberregen konnte Lisa vorerst nicht beruhigen. Ihr italienisches Temperament, welches sie von ihrem Vater geerbt hatte, brachte sie des Öfteren in Schwierigkeiten. In der Regel waren diese Emotionen aber positiv. Sie halfen Lisa, Geschehenes zu verarbeiten. Und sie machten Lisa auch zu einer Person, welche bei allen Leuten sehr beliebt war, da sie ihre Gefühle wie ein offenes Buch mit sich herumtrug.

»Ich werde den Fall alleine aufklären«, murmelte Lisa gedankenverloren zu sich selbst. Sie beschloss, trotz des immer stärker werdenden Regens und der Dunkelheit, sich nochmals den nahen Fundort der Leiche unter der Kirchenfeldbrücke anzuschauen. Mittlerweile waren bereits alle Absperrbänder entfernt. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor ein paar Stunden eine junge Frau zu Tode gekommen war. Wie jede Nacht verwandelte die majestätische Aare die sich spiegelnden Lichter der Stadt in glitzernde Sterne.

War Siri überhaupt durch den Sturz von der Brücke gestorben? War sie vielleicht schon vorher tot und erst danach von der Brücke geworfen worden?, ging es Lisa plötzlich durch den Kopf. Sie überlegte sich, dass es nicht schaden könnte, auf die Kirchenfeldbrücke zu steigen und sich die vermeintliche Absprungstelle genauer anzusehen. Gedacht, getan. 15 Minuten später inspizierte die bereits bis auf die Unterwäsche durchnässte Lisa den Abschnitt auf der Brücke, welcher für einen Absprung hätte infrage kommen können. Sie war erstaunt, wie breit das Fangnetz an jeder Stelle gespannt war. Es war unmöglich, direkt vom Brückengeländer über das Fangnetz in die Tiefe zu springen. Das heißt, man musste zuerst auf das Fangnetz springen, anschließend bis zu dessen Ende kraxeln und sich im Anschluss in die Tiefe stürzen. Nicht gerade die Selbstmordvariante »kurz und schmerzlos«. Da gab es in der Umgebung von Bern passendere Brücken.

Lisa leuchtete nochmals das Fangnetz mit ihrer kleinen Taschenlampe ab. Vielleicht gab es irgendwo einen Hinweis, dass hier kürzlich jemand über das Netz gerobbt war. Nichts. Lisa beschloss, das Bad im Regen zu beenden und in ihre kleine warme Studiowohnung zurückzukehren. Grübelnd machte sie sich auf den Weg Richtung Innenstadt.

Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ein dunkles Augenpaar interessiert ihre Nachforschungen beim Fangnetz beobachtet hatte. Die Gestalt, zu welcher das Augenpaar gehörte, folgte Lisa in ungefähr 50 Metern Abstand. Ahnungslos erreichte Lisa ihre Wohnung in der Länggasse. Der Unbekannte war ihr bis kurz vor die Wohnungstür gefolgt. Dann verschwand er zufrieden in der Dunkelheit.

Kapitel 5

Bern, Altenberg, 16. November 2019, 03:15

Luca Manaresi war gerade wieder aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt. Seit ungefähr drei Jahren war es aus mit seinem ansonsten sprichwörtlichen Schlaf des Gerechten. Sein ganzes Leben hatte der Vater von Lisa nie Schlafprobleme gehabt; weder in seiner Kindheit in Bologna noch während seiner Ausbildung in Schweden und schon gar nicht im beschaulichen Bern. Seit über 30 Jahren arbeitete Luca als Lastwagenchauffeur bei einer in Bern beheimateten Import-Export-Firma. Früher war er mindestens einmal pro Woche in seiner Heimat, der Emilia Romagna. Es ging um die Einfuhr von Parmesankäse, Rohschinken, italienischen Wurstwaren, Balsamico-Essig und Wein. Fiel der Transport einmal aus, gab es postwendend Katzenjammer in der Berner Gastroszene. Mittlerweile war Luca in erster Linie innerhalb der Schweiz unterwegs. Er kümmerte sich um die Belieferung von Restaurants und Spezereiläden.

Zu Beginn kamen die Albträume einmal im Monat. Mittlerweile plagten ihn diese zwei- bis dreimal pro Woche. Das Perfide daran war, dass sich Luca nicht an den Inhalt der Träume erinnern konnte. Deshalb war es sehr schwierig, die Ursache für die bösen Träume zu finden. Niemand hatte ihm bisher helfen können. Sein Hausarzt hatte es nicht geschafft, die Neurologie am Inselspital auch nicht, ebenso wenig die bekannten Schlafforscher am Universitätsspital in Zürich. Man hatte zwar herausgefunden, dass bei Albträumen bestimmte Hirnareale besonders aktiv sind: die Inselrinde und der Gyrus cinguli. Luca waren Rinde und Gyrus einerlei. Er wollte lediglich, dass ihn die schlimmen Träume nicht jede zweite oder dritte Nacht quälten. Von den Ärzten stammte einzig die Hypothese, welche besagte, dass es womöglich ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit gab, welches Luca noch nicht richtig mit sich selbst verarbeitet hatte. Luca wollte davon nichts wissen.

»Es gab kein Trauma. Basta!«

Er beschloss aufzustehen und ein bisschen zu lesen. Eine halbe Stunde lesen half oft. Danach fand er meistens wieder seinen Schlaf. Deshalb schnappte er sich die Berner Zeitung vom Vortag, welche noch ungelesen auf dem Küchentisch lag.

Morgen wird darin wahrscheinlich über den Suizid meiner Tochter berichtet, ging es ihm durch den Kopf.

Der Gedanke verdarb Luca die Lust aufs Zeitunglesen. Dennoch blätterte er gelangweilt von Seite zu Seite. Ein Bild auf Seite fünf ließ ihn urplötzlich aus seinen trüben Gedanken hochschrecken. Mit einem Mal glaubte Luca sein Trauma zu kennen.

Kapitel 6

Bern, Waisenhausplatz, 16. November 2019, 15:05

Trachsel dröhnte immer noch der Schädel. Aber das war es die Kabiswurst von gestern wert. Dabei war nicht die Wurst, sondern die sieben Halbe Aarebier schuld an seinen Kopfschmerzen.

»Hallo Werner, ich habe hier bereits den Obduktionsbericht von der Kirchenfeldbrücken-Leiche. Schwere innere Verletzungen durch Sturz aus großer Höhe. Frakturen an oberen und unteren Extremitäten, offener Wadenbeinbruch rechts, Risse in Lunge, Leber, Milz, diverse Darmperforationen. Multiple Schädel-Hirn-Traumata. Tönt für mich nach der perfekten Beschreibung eines Kirchenfeldbrücken-Jumpers«, konstatierte Max Obermaier, seines Zeichens Oberwachtmeister bei der Kriminalpolizei Schrobenhausen in Bayern. Obermaier absolvierte aktuell seinen sechsmonatigen Austauschdienst bei der Kriminalpolizei Bern im Rahmen einer seit fünf Jahren bestehenden Zusammenarbeit.

»Hallo, Max, du kennst dich ja bereits bestens aus mit den Brücken hier in Bern«, meinte Trachsel.

»Das ist gar nicht so einfach. Es gibt dermaßen viele Brücken, und die haben auch noch komplizierte Namen. Lorrainebrücke – und das in Bern. Tönt nach Genf oder Lausanne. Dalmazibrücke – die würde ich eher in Kroatien suchen.«

»Weißt du, Max, wir sind eben international hier in Bern. Weltoffen. Keine Hinterwäldler wie ihr in Bayern.«

»Hör mir damit auf. Manchmal habe ich das Gefühl, ihr lebt hier immer noch im Mittelalter. Bayern ist da eine ganz andere Liga. Einzig im Fußball, da seid ihr auch toll. Ihr ward schon ein paar Mal Schweizer Meister, und einen coolen Namen hat eure Mannschaft. Young Boys. Ich gebe zu, das tönt echt modern.«

»Wo du recht hast, hast du recht, Max. Steht denn sonst noch etwas Besonderes im Obduktionsbericht?«

»Nein, einfach das Übliche Routineblabla.«

»Gut, danke, dann schieb mir das Ding rüber. Ich werde das Papier heute Abend zusammen mit der Angehörigen­identifizierung unterschreiben.«

»Die habe ich auch schon dabei. Familie Manaresi war kurz nach Mittag in der Rechtsmedizin und hat ihre Tochter identifiziert. Neben den Eltern war auch noch eine Schwester der Selbstmörderin mit dabei. Eine echte Schönheit, bei der könnte ich mich vergucken.«

»Lieber Max, aus dem Alter solltest du raus sein. Die ist nichts für dich. Die steht bestimmt nicht auf 60-jährige Opas. Und ob sie deinen bayrischen biergestählten Schwabbelbauch sexy finden würde, ist auch nicht mit absoluter Sicherheit klar.«

»Mach dich nur über mich lustig. Die junge Frau hat jedenfalls fast zehn Minuten mit mir geplaudert und mich sogar gefragt, ob ich denn von der Suizidthese überzeugt sei. Da konnte ich all mein kriminalistisches Know-how gründlich vor ihr ausbreiten. Glaub mir, die war super beeindruckt von meinem Wissen. Hat einfach nur zugehört und gestaunt.«

»So, es reicht jetzt. Ich muss noch was tun. Also her mit den Schreiben, und dann wünsch ich dir was.«

Leicht verschnupft verließ Obermaier das Büro des Kommissars. Trachsel seinerseits war bereits damit beschäftigt, die Unterschriftenseiten des Obduktionsberichtes und der Leichenidentifizierung zu suchen. Den Inhalt der Dokumente würdigte er keines Blickes. Hätte er dies getan, wäre ihm womöglich im Obduktionsbericht etwas Wichtiges aufgefallen. Vielleicht auch nicht.

Kapitel 7

Bern, Länggassquartier, 16. November 2019, 19:30

Lisa saß bereits seit über einer Stunde an ihrem hübschen Küchentisch aus antikem Kirschholz. Der Tisch war einer der wenigen Luxusgegenstände, welche sich Lisa in ihrem Leben bis anhin gegönnt hatte. Sie hatte den Tisch von ihren Eltern zum Abschluss ihres Studiums geschenkt erhalten, nachdem sie diesen vorher wochenlang fast täglich im Schaufenster der Antikschreinerei Blaser in der Viktoriastraße angebetet hatte. Der Tisch hatte die Manaresis ein kleines Vermögen gekostet. Die Freude, welche Elin und Luca damit ihrer ältesten Tochter machen konnten, war es ihnen wert.

Ein sanftes Klingeln an ihrer Wohnungstür löste sie aus ihren trüben Gedanken.

Thomas, schoss es ihr durch den Kopf. Niemand sonst brachte es fertig, ihre wilde Türklingel zu zähmen und deren Töne nicht aggressiv klingen zu lassen. Die innere Ruhe, die Thomas besaß, schien sich auf die Klingel zu übertragen.

»Hallo, Thomas, tut mir leid wegen gestern Abend. Mir ging es total auf den Keks, dass alle und sogar du an einen Suizid meiner Schwester glauben.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Vielleicht hilft der Latte Macchiato meinem Haar zu neuem Wachstum. Bedarf wäre vorhanden. Ich habe von Anfang an nicht an einen Selbstmord von Siri geglaubt, aber das konnte ich dir gestern nicht mehr sagen, so wie du aus dem Lokal gerannt bist.«

»Danke, Thomas.«

Lisa mochte Thomas sehr. Sie waren echte dicke Freunde, die sich gegenseitig (fast) alles anvertrauten. Lisa war nie in Thomas verliebt gewesen, ganz im Gegensatz zu ihm. Er vergötterte Lisa seit dem Tag, als sie sich zum ersten Mal im Dezernat getroffen hatten. Am Anfang hatte Lisa seine ungelenken Komplimente, die kleinen Geschenke und die fast unterwürfige Hilfsbereitschaft genossen. Als Thomas sie auf dem gemeinsamen Nachhauseweg von einer Grillparty mit den Dezernatskollegen urplötzlich in einen dunklen Hauseingang drückte und seine feuchte Hand auf ihre rechte Brust drückte, schien die gemeinsame Freundschaft eigentlich für immer in Brüche gegangen zu sein. Dem plumpen Annäherungsversuch von Zigerli hatte Lisa mit einem überaus entschiedenen Tritt in Thomas’ Schritt ein jähes Ende gesetzt. Zigerli verbrachte im Anschluss zwei Tage im Spital. Ein gequetschter Hoden sowie zahlreiche Hämatome waren die unrühmliche Ausbeute seiner kopflosen Avancen. In den Wochen danach verlor Zigerli sieben Pfund an Gewicht, weil er vor lauter Kummer kaum mehr etwas aß. An sich wäre dies gar keine so schlechte Sache gewesen, wäre nicht die große Traurigkeit und die depressive Verstimmtheit hinzugekommen. Nach fünf Wochen hatte Lisa ein Einsehen. In einer über vier Stunden dauernden Aussprache verständigten sich die beiden darauf, wie ihre Freundschaft in Zukunft auszusehen hatte und wie nicht. In der Zwischenzeit hatte sich Zigerli damit abgefunden, dass Lisa für ihn unerreichbar war. Er genoss ihre gemeinsame Zeit und war glücklich, oft mit Lisa zusammen sein zu können.

»Gestern Abend habe ich nochmals die Kirchenfeldbrücke und die Fangnetze untersucht«, begann Lisa. »Ich konnte nirgends eine noch so kleine Spur einer Beanspruchung durch eine Person entdecken. Ich bezweifle immer mehr, dass Siri von der Brücke gestürzt ist. Weder gewollt noch durch Fremdeinwirkung.«

»Im Grunde gibt es drei mögliche Szenarien«, meldete sich nun Zigerli zu Wort. »Erstens: Siri hat sich selbst von der Brücke gestürzt. Wenn ja, bleibt immer noch die Frage, ob in suizidaler Absicht oder ob sie von jemandem dazu gezwungen wurde. Zweitens: Siri wurde bereits vorher umgebracht und anschließend von der Brücke geworfen.«

»Diese Möglichkeit scheint mir bei der Breite der Fangnetze reichlich unwahrscheinlich. Außer, jemand hätte sich die Mühe gemacht, selber mit einer Leiche auf die Fangnetze zu steigen und diese anschließend in die Tiefe zu befördern.«

»Da magst du recht haben«, pflichtete Zigerli Lisa bei. »Allerdings müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, schließlich sind wir nun die Ermittler. Drittens: Siri wurde anderswo von großer Höhe in die Tiefe gestürzt. Auch bei dieser Möglichkeit kann sie sich durch den Sturz die tödlichen Verletzungen zugezogen haben oder sie wurde bereits vorher umgebracht und im Anschluss in die Tiefe gestürzt, um exakt einen Sturz von einer Brücke vorzutäuschen.«

»Das heißt, wir haben im Grunde vier Optionen«, präzisierte Lisa.

»Ja, wenn du so willst, sind es vier Optionen.«

»Die Möglichkeit, dass Siri gar nicht von der Kirchenfeldbrücke gestürzt ist, sondern dass ihre Leiche unterhalb der Brücke deponiert wurde, um einen Sturz vorzutäuschen, ist mir heute Nachmittag auch eingefallen. Der Abschiedsbrief von Siri passt aber nicht richtig dazu. Dieser deutet doch auf einen Suizid hin.«

»Hast du den Brief mit eigenen Augen gelesen? Ist dir dabei nichts Verdächtiges aufgefallen? Theoretisch könnte der Brief auch von jemand anderem geschrieben worden sein«, mutmaßte Zigerli.

»Ich konnte den Brief noch nicht persönlich sehen. Du hast recht. Der Brief könnte uns weiterbringen. Er ist immer noch bei meinen Eltern. Kommst du mit?«

»Wenn es für deine Eltern okay ist.«

»Thomas, es ist für meine Eltern okay.«

Seit seinem Fiasko nach der Grillparty hatte Zigerli Hemmungen, die Eltern von Lisa zu besuchen. Bei der Begrüßung stieg ihm jedes Mal die Schamröte ins Gesicht, und er fühlte sich wie ein begossener Pudel. Lisa hatte ihm 1000 Mal versichert, dass die Affäre ein Geheimnis zwischen ihr und Thomas sei und selbst ihre Eltern nichts davon wüssten. Zigerli war sich dessen nicht so sicher. Die Begegnungen waren für ihn deshalb Teil der Buße für seinen Sündenfall.

Von Lisas Studio bis zur Wohnung ihrer Eltern waren es weniger als 20 Minuten zu Fuß. Bereits wenige Sekunden nach dem Klingeln öffnete eine sichtlich erfreute Elin die Tür.

»Hallå Mamma, dürfen wir kurz reinkommen?«

»Schön, euch beide zu sehen, kommt rein. Coccolone ist auch da.«

Mit Coccolone war Luca gemeint. Es war sein Kosename und bedeutete auf Deutsch so viel wie Kuschelbär. Wenn die Manaresis unter sich waren, genossen sie es, sich in einem oft wilden Mix aus Schwedisch, Italienisch und Deutsch zu unterhalten. Als Coccolone hörte, dass Lisa im Anmarsch war, hellte sich sein trauriges Gesicht schlagartig auf. Es bestand eine besondere Beziehung zwischen Luca und seiner ältesten Tochter. Die beiden waren sich sehr ähnlich. Deshalb verstanden sie sich in vielen Situationen, ohne miteinander sprechen zu müssen. In einem Punkt unterschieden sie sich aber grundlegend: Lisa war von Natur aus dominant. Sie hielt gerne die Zügel in der Hand und war glücklich, wenn sie ihren Willen durchsetzen konnte. Diese Seite hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Luca hingegen war der sanfte, konfliktscheue und herzliche Padre – ein Coccolone eben.

Nach einer herzlichen Begrüßung lenkte Lisa die Unterhaltung rasch in Richtung Abschiedsbrief. Der Originalbrief war tatsächlich noch bei ihren Eltern. Zwar hatte Trachsel darauf bestanden, das Original mitzunehmen und eine Kopie bei der Familie Manaresi zu belassen. Er hatte die Rechnung ohne Elin gemacht. Trachsel hatte kurz versucht, seine polizeiliche Autorität spielen zu lassen. Er war damit bei Elin ungefähr so sang- und klanglos gekentert wie ein Schlauchboot im Aarehochwasser.

Ungeduldig wartete Lisa darauf, dass ihre Mutter ihr den Abschiedsbrief endlich aushändigte.

»Danke, Mamma, Thomas und ich werden uns wahrscheinlich eine Weile mit dem Brief beschäftigen.« Mit diesen Worten verschwanden die beiden ins ehemalige Zimmer von Lisa, welches jetzt als Gästezimmer diente.

Mindestens fünf Mal lasen Lisa und Zigerli den Brief. Es war ohne Zweifel die Handschrift von Siri. Der Brief war ein Original, keine Kopie. Er war mit Tinte geschrieben, fast so, als ob der Abschied stilvoll und nicht billig vonstattengehen sollte. Jedes Wort legten sie auf die Waagschale, sie hinterfragten jede Formulierung und suchten nach versteckten Hinweisen. Nichts. Deprimierend.

Die Tatsache, dass der Brief echt zu sein schien, stützte natürlich die Hypothese des Suizids. Die Stimmung war am Boden.

Und dennoch – irgendetwas in Siris Abschiedsbrief war nicht stimmig. Ganz tief in ihrem Unterbewusstsein erkannte Lisa eine Lampe. Sie leuchtete rot.

Kapitel 8

Bern, Waisenhausplatz, 17. November 2019, 12:30

Die Nacht war niederschmetternd gewesen, ebenso der Morgen. Es gab einen Abschiedsbrief, der auf einen Selbstmord hindeutete, und es gab einen Leichenfundort, welcher diese Hypothese ebenfalls stützte.

Hatte Trachsel doch die richtigen Schlüsse gezogen?, musste sich Lisa eingestehen.

»Hallo, Lisa, wie stehen die Ermittlungen?«, platzte Zigerli in Lisas Mittagsmeditation. Ein kurzer Blick von ihr genügte, und Zigerli bereute seine unterschwellige Provokation.

»War nicht so gemeint«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Setz dich und lass uns noch einmal alles im Detail durchgehen«, entgegnete Lisa gereizt.

Zusammen gingen Lisa und Zigerli nochmals chronologisch alle Geschehnisse und Indizien durch. Sie merkten gar nicht, dass die Mittagspause eigentlich längst vorüber war. Schließlich war es Lisa, welche eine entscheidende Eingebung hatte.

»Ein Puzzleteil haben wir noch nicht im Detail geprüft: die Leiche.«

Außer dem kurzen Augenblick bei der Identifizierung von Siris Leiche, hatte Lisa die sterblichen Überreste ihrer Schwester nicht zu Gesicht bekommen. Würde dort vielleicht ein entscheidender Hinweis zu finden sein? Morgen war die Abschiedsfeier geplant und übermorgen bereits die Kremation. Von ihren Eltern wusste Lisa, dass der Leichnam von Siri in der Rechtsmedizin direkt in den Sarg gelegt und dieser anschließend endgültig verschlossen wurde. Das alles hieß, die Leiche war längstens bis morgen früh noch auf der Rechtsmedizin. Auch wenn sie die Schwester von Siri war, würde es verdammt schwierig werden, in der Rechtsmedizin Zugang zur Leiche zu erhalten, es sei denn, die Kriminalpolizei hätte ein entsprechendes Gesuch ausgestellt.

»Trachsel muss mir ein solches Gesuch zur Leichenschau und zur Einsicht in den Obduktionsbericht unterzeichnen«, murmelte Lisa mehr zu sich als zu ihrem Partner.

»Das wird er dir nie im Leben unterschreiben«, entgegnete Zigerli.

Er mochte recht haben. Zum einen hatte Trachsel den Fall bereits abgeschlossen, und zum anderen hatte er mit Lisa noch eine Rechnung offen. Der Oberkommissar hatte am letztjährigen Weihnachtsessen der Kriminalpolizei spätabends einen eindeutigen Flirtversuch bei Lisa gelandet. Flirtversuch war allerdings etwas untertrieben. Er hatte versucht, Lisa vor der Damentoilette zu küssen. Genau wie Zigerli musste der stark angetrunkene Trachsel auf äußerst schmerzhafte Weise mit der Wehrhaftigkeit der ältesten Manaresi-Tochter Bekanntschaft machen. Resultat seines stümperhaften Annäherungsversuchs waren ein blaues Auge und ein zerrissenes Hemd. Das Schlimmste aber waren Spott und Hohn der Arbeitskollegen. Noch Wochen nach der Feier hatte Trachsel das Gefühl, dass ein schadenfrohes Lächeln über die Gesichtszüge seiner Arbeitskollegen huschte, wenn er diesen im Büro begegnete. Obwohl seit dem Fiasko schon fast ein Jahr vergangen war, hatte sich bis anhin leider noch keine gute Gelegenheit ergeben, um an dieser hochnäsigen Praktikantin Rache zu nehmen. Zwar war Lisa als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt, Trachsel bezeichnete sie aber absichtlich und despektierlich als Praktikantin. Wegen der offenen Rechnung wartete Lisa täglich darauf, dass er ihr einen gehörigen Stock zwischen die Räder werfen würde.

Einen Gefallen von ihm zu verlangen und auch zu erhalten, dürfte ein schwieriges Unterfangen werden. Nahezu hoffnungslos. Es sei denn, man kannte die Schwächen seines Widersachers und drehte den Spieß um. Lisa hatte eine Idee, wie sie den Groll Trachsels möglicherweise in eine Gefälligkeit umwandeln konnte. In wenigen Worten schilderte sie Zigerli ihren Plan.

»Bist du wahnsinnig? Das wird niemals klappen. Willst du dir das wirklich antun? Mit diesem Ekel?«, meldete Zigerli seine Zweifel an.

»Thomas, du kennst mich inzwischen gut. Wenn ich ein Ziel habe, dann erreiche ich dieses auch«, posaunte Lisa selbstbewusster, als ihr zumute war.

Es war inzwischen fast 15 Uhr– die Zeit drängte. Lisa und Zigerli verließen den kleinen Pausenraum und hofften, dass niemand etwas von ihrer überlangen Mittagspause mitbekommen hatte. Unbemerkt erreichte Lisa ihr kleines Büro. Vielleicht würde heute doch noch ihr Glückstag werden. Die Wache war wie ausgestorben, sodass Lisa unbemerkt ihre Sporttasche schnappen und sich zum Umkleideraum im ersten Untergeschoss aufmachen konnte. Lisa wusste, dass Trachsel trotz der happigen Abfuhr jederzeit und ohne zu zögern für ein Schäferstündchen mit ihr alles fallen und liegen lassen würde. Je sichtbarer sie ihre weiblichen Formen zur Schau stellte, desto einfacher würde es werden. Deshalb stürzte sich Lisa in ihre hautengen Lauftights und streifte sich ein pinkfarbenes Laufshirt über. Ab jetzt half nur noch gute Schauspielkunst und Beten.

Ab in die Höhle des Löwen.

Zuerst schien es, als ob ihre Glückssträhne weiter anhalten würde. Trachsel war in seinem Büro alleine und gerade damit beschäftigt, einen Schokoladeriegel in sechs gleichgroße Bissen zu zerschneiden. In der nächsten Stunde würde er sich alle zehn Minuten eine verdiente Stärkung gönnen. Er betrachtete gerade zufrieden sein Werk, als eine schlimm humpelnde Lisa in sein Büro platzte.

»Herr Trachsel, es tut mir leid, dass ich einfach so bei Ihnen hereinschneie. Ich wollte heute ein bisschen früher Feierabend machen und noch bei Tageslicht eine Joggingrunde an der Aare drehen. Beim Hinausgehen bin ich unten an der Treppe gestolpert und habe mir den Knöchel verdreht. Es tut höllisch weh«, mimte Lisa mit schmerzverzerrtem Gesicht den sterbenden Schwan. Sie spielte ihre Rolle perfekt.

»Dann wird es wohl nichts mit dem Rumrennen«, blaffte Trachsel. Er konnte ohnehin nicht verstehen, wie sich jemand freiwillig mehrmals pro Woche bei Wind und Wetter durch die Gegend kämpfte.

»Sie sind doch quasi unser Arzt hier auf der Wache. Ihre Kollegen nennen Sie nicht ohne Grund Doktor Trachsel.« Er hatte zwar die obligatorischen Samariter- und Reanimationskurse besucht. Mehr aber nicht. Das Zertifikat für den Reanimationskurs hatte er sogar verpasst, da er beim Schlusstest die geforderten 80 Prozent an richtigen Antworten mit 47 Prozent knapp verfehlt hatte. Von Arzt konnte keine Rede sein. Von Medizinbanause hingegen schon.

»Ich soll der Dame also den Fuß untersuchen? Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie eng der Terminplan eines Dezernatsleiters aussieht? Ich stelle fest, Sie haben keinen blassen Schimmer, unter welchem Druck ich tagtäglich hier den Laden am Leben erhalte.«

Die Arroganz von Trachsel erstaunte Lisa immer wieder von Neuem. Das Ausmaß an Selbstüberschätzung schien kaum mehr übertreffbar. Dennoch schaffte es Trachsel, sich diesbezüglich immer wieder auf eine neue unrühmliche Ebene zu hieven.

»Natürlich ist mir klar, wie viel Sie zu tun haben. Ich bin gerade ein bisschen verzweifelt, weil ich mit meinem verletzten Fuß nicht einmal Fahrrad fahren kann und nicht weiß, an wen ich mich wenden soll.« Diese Worte hauchte Lisa förmlich über Trachsels Pult, nicht ohne dabei ihre Reize ins beste Licht zu rücken. Für einen Moment konnte Lisa ein lüsternes Flackern in seinen Augen erkennen, und Trachsels Zunge strich kurz über seine Lippen.

Der Fisch hatte angebissen.

»Ich bin einfach zu hilfsbereit. Wenn ich Sie hier jetzt verarzte, heißt es für mich wieder Überstunden schieben. Aber kommen Sie schon, zeigen Sie Ihr Pfötchen mal her.«

Lisa humpelte zu seinem Schreibtisch und setzte sich direkt vor ihm auf den Tisch. Die plötzliche Nähe machte Trachsels Mund ganz trocken. Zufrieden stellte Lisa fest, dass bis jetzt alles nach Plan lief. Lisa hob nun leicht ihr rechtes Bein und hielt Trachsel ihren Fuß mit einem leidenden Blick direkt vor seine Nase. Trachsel seinerseits hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte – medizinisch gesehen. Diesen Verdacht hatte auch Lisa.

»Können Sie sich bitte meinen Knöchel und das Sprunggelenk ansehen. Sie werden mir dann sicherlich sagen können, was am besten zu tun ist.« Um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen berührte Lisa mit ihrer großen Zehe ganz kurz die Nasenspitze von Trachsel. Genau in dem Augenblick, als er aufstand, um sich den Fuß doch anzusehen, ließ sich Lisa rücklings auf den Schreibtisch fallen. Sie lag nun auf Trachsels Schreibtisch, das rechte Bein in Richtung Trachsel ausgestreckt.

»Herr Trachsel, bevor Sie mit der Untersuchung beginnen. Mir ist da gerade noch etwas anderes, Dringendes eingefallen. Morgen wird meine verstorbene Schwester auf der Rechtsmedizin eingesargt. Für mich wäre es sehr wichtig, dass ich sie noch einmal sehen und mich persönlich von ihr verabschieden kann. Ich habe diese Art, sich von einem Verstorbenen zu verabschieden, von meinen Eltern als Kind mitbekommen, und wir haben dies als Familie stets so gelebt. Meine Eltern konnten Siri heute Morgen nochmals sehen. Verstehen Sie mich?«

Trachsel konnte nicht. Trachsel war inzwischen auf Betriebstemperatur und hatte seine eigenen, völlig andersartigen Ziele.

»Können Sie mir eine entsprechende Bewilligung ausstellen, damit ich heute Abend oder morgen in der Früh nochmals zu meiner Schwester kann?«

Im Grunde hatte Trachsel ganz und gar keine Lust, Lisa dieses Schreiben auszustellen. Eigentlich wäre dies eine perfekte Chance, um mich bei dieser arroganten Dame, zumindest ein erstes Mal, für die erlittene Schmach zu revanchieren, sinnierte Trachsel.

Die Aussicht auf ein bevorstehendes Abenteuer, welches sich im Grunde pfannenfertig auf seinem Schreibtisch präsentierte, trübte Trachsels Sinne.

»Also gut, ich unterschreibe Ihnen den Wisch. Das ist aber eine einmalige Ausnahme, die Sie ausschließlich meiner Gutmütigkeit und meinem Altruismus zu verdanken haben.«

Lisa konnte ihr Glück kaum fassen. Sie war am Ziel. Fast.

»Zuerst schauen wir uns aber das verletzte Füßchen an«, zwitscherte Trachsel und schnappte sich Lisas rechten Fuß. Bevor sich Trachsel weiter mit Lisas Bein beschäftigen konnte, war diese mit einem lauten Schmerzensschrei wie ein unter Spannung stehender Bogen aufgeschnellt und stand jetzt mit leidendem Blick direkt vor Trachsel.

»Himmelherrgott, wie soll ich Sie so untersuchen? Sie müssen schon ein bisschen stillhalten«, wetterte Trachsel.

»Es tut mir leid, aber der Fuß schmerzt schrecklich«, versuchte ihn Lisa zu beruhigen. Langsam begann sich bei ihr Panik breitzumachen. Sie hatte sich in eine ausweglose Situation geritten. Die Aussicht, was in den nächsten Minuten folgen konnte, wollte sich Lisa nicht weiter ausmalen. Ihr Hirn arbeitete fieberhaft.

Trachsel setzte zu einem nächsten Untersuchungsversuch an. Er stieß die überraschte Lisa gleichzeitig an beide Schultern, sodass diese nach hinten auf die Schreibtischplatte kippte und dort unsanft mit dem Kopf aufschlug. Trachsel schien dies nicht zu bemerken, und wenn, dann ignorierte er es. Er war wie ein wilder Stier nur noch mit sich und seinen Trieben beschäftigt. Er nestelte ungelenk an seinem Polizeigurt. Exakt in dem Moment, als Trachsels Diensthose auf den sauber gescheuerten Linoleumboden hinunterrauschte, tauchte Zigerlis Kopf im Türrahmen von Trachsels Büro auf. Ihm bot sich ein filmreifes Bild. Eine attraktive Brünette in einem sexy Sportdress lag auf dem Rücken auf einem Schreibtisch. Dahinter befand sich ein Polizist in Diensthemd und Unterhosen, welcher gerade im Begriff war, über seine heruntergelassenen Hosen zu stolpern.

»Entschuldigung, Herr Trachsel. Ich wollte Sie bloß kurz fragen, ob der Termin für mein Mitarbeitergespräch mit Ihnen morgen um 9 Uhr für Sie passt. Sie haben mir den Termin nämlich noch nicht bestätigt.« Ein besserer Vorwand war Zigerli nicht eingefallen.

»Zigerli, Sie Vollidiot! Raus aus meinem Büro! Raus!« Es herrschte plötzlich dicke Luft.

Unter entschuldigendem Gemurmel verschwand Zigerli so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Lisa war inzwischen wieder vom Tisch aufgestanden. Ihr brummte noch leicht der Kopf, aber sie war unendlich froh über Zigerlis Kurzbesuch. Weshalb Zigerli genau im richtigen Moment als Erlöser auftauchte, war Lisa ein Rätsel, einen Verdacht hatte sie allerdings. Egal.

Trachsel hatte seine Kleidung in der Zwischenzeit wieder den Dienstvorschriften angepasst – zumindest beinahe. Außer dem Zipfel seines hellblauen Diensthemdes, welcher keck aus dem noch immer offenen Hosenladen lugte, saß die Dienstmontur perfekt. Seine Abenteuerlust hingegen war am Boden.

Statt ein erfolgreicher Racheengel, war er wieder der Blödmann. Es ging jetzt nur noch darum, ohne weiteren Gesichtsverlust aus der Sache rauszukommen. Einer seiner brillanten Einfälle würde ihn retten. Es kam aber kein Einfall – zumindest nicht von ihm.

»Herr Trachsel, wenn Sie mir jetzt gleich die Bewilligung für die Rechtsmedizin ausstellen, bin ich in zwei Minuten weg und habe alles Geschehene für immer vergessen. Ich werde Thomas Zigerli bitten, mich in den Notfall eines der Berner Spitäler zu fahren.«

»Und wenn Sie es sich morgen doch anders überlegen?«, entgegnete der zweifelnde Trachsel.

»Bewilligung mit Unterschrift oder Anzeige wegen … Sie wissen was ich meine. Das ist mein Deal. Unverhandelbar.«

Keine zehn Minuten später tauchte Lisa, frisch umgezogen, in Zigerlis Büro mit Sporttasche und unterschriebener Bewilligung für die Rechtsmedizin auf.

»Thomas, kannst du mich sofort zur Rechtsmedizin fahren? In etwas mehr als einer Stunde machen die den Laden dicht. Ich muss um alles in der Welt vorher die Leiche meiner Schwester noch einmal sehen.«

»Die Worte Danke und Bitte scheinst du nicht zu kennen. Ich habe dir doch gesagt, dass es mit der Bewilligung bei Trachsel nie klappen wird«, entgegnete Zigerli leicht verschnupft.

»Habe ich die Bewilligung oder habe ich sie nicht?«, konterte Lisa gereizt.

»Wenn ich nicht mein Leben riskiert hätte, hättest du …«

»Ist ja gut, ich will mir gar nicht ausmalen, was hätte sein können, wenn du nicht den Termin für dein Mitarbeitergespräch vorhin mit Trachsel geklärt hättest. Danke, Thomas. Du warst echt ein Engel. Lass uns nun aber aufbrechen, wir können die Zeit in der Rechtsmedizin besser nützen, als uns hier zu streiten.«

Die übel gelaunte Dame an der Loge am Institut für Rechtsmedizin warf nur einen flüchtigen Blick auf das Gesuch. Dienststempel und Unterschrift von Kommissar Trachsel wurden gar nicht geprüft. Kurz ging Lisa durch den Kopf, dass sie sich den ganzen Zirkus hätte sparen können. Aber wer konnte schon wissen, dass mittlerweile auch in der Behördenstadt Bern einige Beamte eine ziemlich lasche Arbeitsmoral an den Tag legten.