Das Schweigen - Jan Costin Wagner - E-Book
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Das Schweigen E-Book

Jan Costin Wagner

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Beschreibung

Ein grandioser Roman über Schuld und Sühne, Verlust und Verbrechen Niemand weiß besser als Kimmo Joentaa, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Wenn die Angst der Gewissheit weicht, dass der andere fort ist. Für immer. Deshalb hütet sich der Kriminalkommissar aus Turku davor, den Eltern von Sinikka Vehkasalo zu widersprechen. Ihnen die Hoffnung zu nehmen, dass ihre Tochter noch leben könnte. Auch wenn er es besser weiß. Wissen muss. Denn die Parallelen sind zu offensichtlich. Wenn dreiunddreißig Jahre nach dem ungeklärten Mord an einem jungen Mädchen an genau der gleichen Stelle ein anderes Mädchen unter ähnlichen Umständen verschwindet, muss es einen Zusammenhang geben.

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Seitenzahl: 316

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Jan Costin Wagner

Das Schweigen

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Jan Costin Wagner

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Sommer 1974

Januar

1. Kapitel

8. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

9. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

10. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

11. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

12. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

13. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Für Niina, Venla, Ninne und meine Eltern

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sommer 1974

Irgendwann waren sie in den roten Kleinwagen gestiegen und losgefahren.

Vorher hatten sie lange im Schatten der kleinen Wohnung gesessen. Stunden lang. Tage lang. Wochen lang.

Am Anfang hatte Pärssinen ihn abfangen und eine Weile überreden müssen hereinzukommen. Später hatte er selbst an die Tür geklopft, und dann hatte Pärssinen geöffnet, und er hatte in Pärssinens Wohnung gesessen, Sonnenflecken auf dem Boden betrachtet und sich auf Pärssinens Stimme konzentriert. Eine leise, monotone Stimme, die sich ab und zu plötzlich überschlug, um gleich darauf wieder kaum hörbar fortzufahren.

Manchmal hatte er den Kopf gehoben, um Pärssinens Augen zu suchen, aber er hatte sie nicht gefunden, denn Pärssinen hatte an ihm vorbei mitten in eine Wand geredet. Er hatte den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen und sich wieder auf Pärssinens Stimme konzentriert.

Nach einer Weile hatte Pärssinen eine Filmrolle aus einer der Hüllen genommen, den Projektor angeschaltet, und während der Film lief, hatte Pärssinen endlich geschwiegen.

Während Pärssinen geschwiegen hatte, hatte er die Leinwand fixiert und seine Hand in seiner Hosentasche langsam auf und ab bewegt und in den Augenwinkeln erahnt, dass Pärssinen es bemerkte, aber nach und nach war das nicht mehr wichtig gewesen, und erst hatte Pärssinen gelacht und dann hatte er nach einer Weile eingestimmt und irgendwann, nach einigen Wochen, waren sie losgefahren.

Pärssinen hatte gesagt: Wir fahren jetzt los, und er hatte darauf nichts erwidert. Pärssinen hatte die Filmrolle in die Hülle gelegt, die Hülle in das Regal gestellt und war aufgestanden und hatte noch einmal gesagt: Wir fahren jetzt los.

Er glaubte, sich zu erinnern, dass er kurz, er wusste nicht, wie lange, aber es konnten ja nur Sekunden gewesen sein, sitzen geblieben war. Er glaubte sogar, sich an ein Flackern in Pärssinens Augen zu erinnern, an einen Moment des Zweifels. Pärssinen hatte für einen Moment an ihm gezweifelt, aber dann war er auch aufgestanden und hatte einen Schmerz im Unterleib gespürt, während er Pärssinen ins Freie gefolgt war.

Die Sonne war warm gewesen und Pärssinens roter Kleinwagen von Monate, vielleicht Jahre altem Matsch verdreckt. Sie waren eingestiegen.

In seiner Erinnerung sah er Pärssinen am Steuer sitzen. Sich selbst auf dem Beifahrersitz sah er nicht. Während der Fahrt hatte Pärssinen wieder angefangen zu reden. Hektisch und eindringlich. Hatte alles noch mal schnell erklärt, auf den Punkt gebracht, und er hatte an den Film gedacht, an eine ganz bestimmte Szene, eine Situation in diesem Film, diesem … Film, eine bestimmte Situation, und dann hatte er gespürt, dass es bald, gleich zu Ende sein würde, dass es jetzt erst begann, aber auch gleich zu Ende sein würde. Und Pärssinen hatte gesagt, sie würden diesen Scheiß jetzt durchziehen und hatte gleichzeitig den Blick von der Straße genommen und ihn angestarrt, und für einen Moment, den Moment, den er gebraucht hatte, um auszuweichen, hatten Pärssinens Augen ihn getroffen.

Danach hatte er durch die Scheibe die trockene Straße betrachtet, und die Sonne hatte über ihrem roten Auto gehangen, und er hatte an eine bestimmte Szene aus einem Film gedacht, hatte sie sich ausgemalt, hatte sich vorgestellt, diese Szene wirklich zu erleben, und Pärssinen hatte die Geschwindigkeit gedrosselt und vor sich hingemurmelt, wenn er draußen am Straßenrand etwas sah, und dann den Kopf geschüttelt und gesagt: »Nein, geht nicht« und nicht näher erklärt, warum es nicht ging.

Dann hatte Pärssinen begonnen, vor sich hin zu fluchen und war ganz aus der Stadt herausgefahren, und er hatte gespürt, dass Pärssinen wusste, was er tat, obwohl Pärssinen versichert hatte, so etwas auch noch nie gemacht zu haben, und dass erst ihre Bekanntschaft, ihre Begegnung, ihr Zusammenfinden, wie er es ganz am Ende einmal genannt hatte, ihm klargemacht hätte, dass es sein müsse, dass es verdammt noch mal sein müsse und dass es keinen Sinn hätte, dagegen anzugehen, sondern dass sie es tun würden, gemeinsam tun würden, und während Pärssinen über die Landstraße gefahren war, hatte er gespürt, dass es jetzt so weit war, dass es jetzt passieren würde, was immer es war, und er hatte die Szene aus einem gerade gesehenen Film in sein Hirn hinein gepresst, bis er begriffen hatte, dass nichts eine Rolle spielte und jede Art von Explosion eine Erleichterung sein würde.

Pärssinen war abgebogen und hatte ihm einen Klaps auf die Schulter gegeben und ihm signalisiert, in eine bestimmte Richtung zu schauen, durch das Fenster auf der Fahrerseite.

Er hatte gesehen, was Pärssinen ihm zeigen wollte, und Pärssinen hatte die Geschwindigkeit gedrosselt und gestöhnt. Vor sich hingesummt oder gestöhnt, er wusste es nicht genau, hatte es schon damals nicht gewusst, auf jeden Fall hatte Pärssinen die Geschwindigkeit gedrosselt, hatte abwechselnd nach vorne und in den Rückspiegel geschaut, hatte schließlich den Wagen gestoppt, die Hand an die Tür gelegt und gesagt: »Bereit?!«

Und er hatte, daran erinnerte er sich sehr genau, entgegnet: »Was meinst du?«

Pärssinen hatte darauf nicht mehr reagiert, sondern nur noch gesagt: »Jetzt!«

Und dann war Pärssinen aus dem Wagen gestiegen, und er hatte ihn laufen sehen, ruhig und zielstrebig, und genau da hatte er begriffen, dass es zu Ende war, dass es vollkommen zu Ende war, und dass es begann, und Pärssinen hatte das Mädchen vom Fahrrad gestoßen, es in das Feld gezerrt, und er hatte die beiden nicht mehr gesehen, nur noch das Fahrrad, das auf dem Weg gelegen hatte, der Lenker in einer falschen, in einer schiefen Position.

Er war aus dem Wagen gestiegen und musste zwanzig, dreißig Meter zu dem Fahrradweg, zu dem auf dem Weg liegenden Fahrrad gelaufen sein, obwohl er sich an die Sekunden, in denen er diese Meter zurückgelegt hatte, nicht erinnern konnte.

Als Erstes hob er das Fahrrad auf.

Rückte den Lenker zurecht.

Dann ging er einige Schritte in das Feld und betrachtete Pärssinen, der auf dem Mädchen lag. Er sah Pärssinens entblößten Hintern und die Beine des Mädchens. Pärssinen redete: »Macht doch nichts, mach doch, mach doch, mach, mach, mmm …« Das Mädchen schwieg, vermutlich, weil Pärssinen ihm den Mund zuhielt. Pärssinen war kräftig, klein, aber kräftig.

Er stand eine Weile und wartete darauf, dass es zu Ende war. Denn es war zu Ende. Es war ja zu Ende.

»N… nein. Bitte … nein, lass, lass … das … doch«, sagte er nach einer Weile.

Einige Zeit später richtete sich Pärssinen auf und zog die Hose hoch. »Scheiße«, sagte er. Er schwitzte.

Das Mädchen lag reglos und starrte Pärssinen an.

»Scheiße«, sagte Pärssinen, und während er versuchte, in Pärssinens Gesicht zu erkennen, was Pärssinen damit meinte, dachte er, dass es zu Ende war, und Pärssinen beugte sich über das Mädchen und drückte ihm die Kehle zu.

Das Mädchen reagierte kaum.

Als er einen Schritt in Pärssinens Richtung machte, stand der schon wieder auf und sagte: »Scheiße, wir müssen sie wegschaffen«, und als er nichts erwiderte, präzisierte Pärssinen: »Verschwinden lassen, die muss weg, kapiert! Jetzt hilf mir, du Arsch!!«

Er stand da und betrachtete Pärssinen, der das Mädchen den Fahrradweg entlangschleifte.

»Jetzt hilf mir doch, Mann!«, sagte er, und als er sich nicht rührte, weil es nicht ging, legte Pärssinen das Mädchen ab, rannte zum Wagen und fuhr ihn näher an die Stelle heran, an der das Mädchen lag und er stand.

Pärssinen stieg aus, ging in die Hocke, schien sich kurz zu konzentrieren, dann hievte er das Mädchen ruckartig in die Höhe und ließ es in den Kofferraum sinken. Er schloss die Klappe, warf das Fahrrad in das Feld und sagte: »Weg hier!«

Er stand da und betrachtete das Fahrrad im Feld.

»Willst du hierbleiben oder was?!«, rief Pärssinen aus dem Wagen und hämmerte und trat gegen die Beifahrertür.

Er ging auf den Wagen zu.

Er stieg ein.

Pärssinen startete den Wagen. Sie fuhren eine Weile schweigend. Die Sonne schien hell. Nirgends ein anderes Auto. Irgendwann bog Pärssinen auf einen Waldweg ab.

»Ich kenne das hier«, murmelte er. Das Mädchen. Er dachte an die Beine des Mädchens. Sie hatte noch Schuhe angehabt und lag im Kofferraum. »Ich kenne das hier, da hinten kommt ein See«, hatte Pärssinen gesagt und den Wagen auf immer schmaler werdenden Wegen in den Wald gesteuert.

Auf der Heimfahrt hatte Pärssinen geschwiegen und geschwitzt. Er hatte es gerochen, er roch es auch in der Erinnerung. Pärssinen hatte geschwitzt, wie er noch nie einen Menschen hatte schwitzen sehen, sein graues Hemd war durchnässt gewesen und hatte an seinem Körper geklebt. Er selbst hatte nicht geschwitzt. Er hatte gezittert. Ihm war kalt gewesen. Wer immer ein wenig darauf geachtet hätte, hätte diesen merkwürdigen Unterschied zwischen ihnen bemerken müssen, hätte bemerken müssen, dass einer schwitzte und einer fror, obwohl sie im selben Wagen unterwegs waren, aber sie begegneten niemandem, so dass sich auch niemand darüber wundern konnte.

Er hatte neben Pärssinen im Wagen gesessen, hatte begonnen, die Häuser wiederzuerkennen, die vorbeiflogen, die Straßen, auf denen sie fuhren, und er hatte an das Mädchen gedacht. An den Moment, in dem Pärssinen es ins Wasser hatte hinabsinken lassen, und an eine Szene aus Pärssinens Film, die damit nichts zu tun hatte, die er einfach nicht aus dem Kopf herausbekam, obwohl alles längst vorbei war und er auch nichts getan hatte, denn er hatte das Mädchen nicht berührt, hatte es nicht einmal berührt, dessen war er sich sicher, hatte sich geweigert, für Pärssinen auch nur einen Finger zu rühren.

Pärssinen war gefahren, und er hatte hinter der Windschutzscheibe einen Sommertag gesehen.

Als sie schließlich angekommen waren, als Pärssinen den Wagen auf dem Parkplatz neben dem von Bäumen umrankten Betonklotz abgestellt hatte, war er ausgestiegen, hatte den schwitzenden Pärssinen sitzen lassen, war nach oben in seine Wohnung gegangen und hatte gleich begonnen, alles, was herumlag, alles, was er in Schränken und Schubladen fand, in seine Reisetasche zu werfen.

Er hatte auf die Uhr gesehen, hatte sich zwanzig Minuten gegeben, hatte alles, was nicht in die Reisetasche passte, in Mülltüten geworfen, den Kühlschrank geleert, die Vorräte in den Müll geworfen, alles in den Müll, in mehrere Mülltüten, die er neben seiner Reisetasche abgestellt hatte, hatte das Bettzeug vom Bett entfernt und in eine weitere Mülltüte gestopft, und dann war er nach unten gegangen, hatte dreimal gehen müssen, nach unten in die Sonne und wieder nach oben in die Wohnung, die im Schatten gelegen hatte, er hatte im Schatten und in der Sonne gefroren und wie in weiter Ferne Pärssinen gesehen, der die Reifen seines Wagens mit einem Schlauch abspritzte und derart auf seine Aufgabe konzentriert war, dass er ihn gar nicht bemerkte.

Er hatte Pärssinen in der flirrenden Sonne bei seiner Arbeit zugesehen und währenddessen die Mülltüten, eine nach der anderen, mit kontrollierten Bewegungen in den Container fallen lassen.

Inzwischen waren auch Menschen da gewesen, hatten ihn gestreift, waren gekommen und gegangen, hatten irgendwo herumgestanden, ohne Näheres von ihm zu wollen, die alte besoffene Frau, die direkt neben ihm wohnte, hatte Einkäufe getragen und Selbstgespräche geführt, und Susanna, das Mädchen, das im Haus gegenüber wohnte und an das er häufig gedacht hatte, von dem er manchmal geträumt hatte, war mit zwei Freundinnen an ihm vorbeigelaufen, und die drei hatten ihn so fröhlich begrüßt, wie man das an einem Sommertag tun durfte.

Die Mädchen hatten gekichert und erzählt, dass sie vom See kommen … von einem anderen See, und Pärssinen hatte nicht weit entfernt den Kofferraum gewienert und geschrubbt, ohne den Kopf zu heben.

Er war hinter den Mädchen zurück ins Haus gegangen, die Mädchen hatten Badeanzüge getragen und nasse Haare gehabt und waren barfuß gelaufen, obwohl auf dem Asphalt häufig Scherben von Bierflaschen lagen, darüber hatte er nachgedacht, während er Schritt für Schritt nach oben gegangen war, und dann hatte er die Wohnungstür hinter sich geschlossen, das Telefonbuch genommen und die Firma angerufen, die die Möbel und das Bett aus der Wohnung holen und entsorgen sollte.

Es war nicht einfach gewesen, dem Mann klarzumachen, dass es sich nicht um einen Umzug handelte, sondern um das Entsorgen nicht mehr zu verwendender Möbel, aber irgendwann hatte der Mann alles begriffen und versichert, gleich am nächsten Tag frühmorgens da zu sein.

Er hatte anschließend eine Weile aus dem Fenster auf die Bäume und in den Himmel gestarrt und durch die Scheibe leise den Staubsauger gehört, mit dem Pärssinen seinen Wagen reinigte.

Dann war er noch einmal die kleine Wohnung abgelaufen, hatte mit dem, was noch immer herumlag, eine allerletzte Mülltüte gefüllt, mehrfach war er durch die Wohnung gelaufen, hatte sich vergewissert, dass sie wirklich leer war, und dann war er in den weißen Flur getreten, hatte die Tür zugezogen, hatte gehört, wie sie eingerastet war, hatte den Schlüssel stecken lassen für die Männer von der Umzugsfirma und war nach unten in die Sonne gegangen.

Er hatte die Mülltüte in den Container geworfen. Pärssinen hatte im Wagen auf der Rückbank gekauert und Flecken entfernt, die es nicht gab, nicht geben konnte, denn das Mädchen hatte nur im Kofferraum gelegen. Aber Pärssinen war nicht zu bremsen gewesen, und er war an den Wagen herangetreten und hatte gesagt: »Ich gehe jetzt.«

Pärssinen hatte sich aufgerichtet und ihn angestarrt. »Sie hat geblutet, Scheiße. Der Kofferraum ist voller Blutflecken und ich glaube, auf dem Rücksitz …«

»Ich gehe jetzt«, hatte er wiederholt und gesehen, wie sich in Pärssinens Gesicht die Überraschung ausgebreitet hatte, die er selbst empfand, die Überraschung über vollkommene Ruhe, die ihn umgab. Seine Reisetasche hing ganz leicht über seiner Schulter, die Sonne wärmte, und was Pärssinen sagte, hörte er kaum.

»Ich gehe jetzt. Wir sehen uns nicht wieder«, hatte er gesagt und kurz Pärssinens halb geöffneten Mund betrachtet, dann hatte er sich abgewendet und war zur Bushaltestelle gegangen. Nach wenigen Minuten war der Bus gekommen, er hatte eine Fahrkarte gekauft und sich in die letzte Bank gesetzt.

Das graue Haus, das nichts mit ihm zu tun hatte, war schnell aus seinem Blickfeld verschwunden, der rote Kleinwagen war ihm, als der Bus auf die Landstraße einbog und noch einmal den Blick auf den Parkplatz freigab, wie ein Spielzeugauto erschienen.

Pärssinen hatte er nie wieder gesehen.

Inhaltsverzeichnis

Dreiunddreißig Jahre danach

Januar

1

Am Tag seiner Verabschiedung stand Ketola um sechs Uhr auf.

Er duschte unter kaltem Wasser und zog sich an, was er am Vorabend neben seinem Bett zurechtgelegt hatte. Ein dunkelgrünes Jackett und die dazu passende schwarze Hose.

Er aß zwei Scheiben Brot mit wenig Butter, las den Leitartikel der Tageszeitung, trank eine Tasse Kaffee, einen Schluck Wodka und ein Glas Wasser, um den Geschmack des Alkohols zu übertünchen.

Er spülte das Glas und die Tasse ab, stellte beides zurück in den Geschirrschrank, legte die Zeitung zusammen und saß anschließend fünf Minuten am Tisch, um durch das Dunkel hinter dem Küchenfenster die verschneiten Bäume im Nachbargarten zu betrachten.

Nach Ablauf der fünf Minuten stand er auf, nahm seinen Mantel vom Kleiderhaken, zog ihn an und ging zu seinem Wagen. Das Auto stand unter einer Überdachung, aber die vergangene Nacht war sehr kalt gewesen, die Scheiben waren vereist.

Er kratzte das Eis von den Fenstern, stieg ein, schaltete das Gebläse an und wartete eine Weile, bis ihm die Sicht klar genug erschien. Er steuerte den Wagen durch den dichten Schnee auf die Landstraße in Richtung Turku.

Im Wagen breitete sich langsam Wärme aus, und Ketola begann, die Müdigkeit zu spüren. Er hatte die Nacht wach gelegen. Ab und an war er aufgestanden und hatte versucht, sich zu beschäftigen. Er hatte eine Weile in einem Buch gelesen, wusste aber nach einer gelesenen Seite nicht mehr, was auf dieser Seite gestanden hatte, er hatte den Fernseher ein- und wieder abgeschaltet und die letzten Stunden damit verbracht, an die Decke zu starren und auf den schrillen Ton des Weckers zu warten.

Jetzt schaltete er den CD-Player an, um sich wach zu halten, und wählte das Lied, das er in letzter Zeit immer mal wieder hörte, wenn er zur Arbeit fuhr, er hatte wenig Ahnung von Musik, aber dieses Stück gefiel ihm, ein Duett zweier Querflöten, dessen Komponisten er nicht kannte. Die CD stammte von seinem Sohn Tapani, der sie ihm vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.

Tapani hatte ihm die CD gegeben, ohne ein Cover beizulegen, das Auskunft über die Herkunft der Musik gab. Das war typisch für Tapani, Ketola hatte sich über das Geschenk gefreut, aber es war typisch, dass kein Cover beilag, und dafür, Tapani nach dem Komponisten dieser Musik zu fragen, war es zu spät, zumindest voraussichtlich, auch wenn er sich jetzt vornahm, es demnächst mal zu versuchen.

Das Stück gefiel ihm, die Traurigkeit dieser Musik war wirklich außergewöhnlich, sie war derart ausgeprägt, dass sich Ketola beim Hören in den vergangenen Wochen immer gleich ein wenig besser gefühlt hatte.

Er musste sich zwingen, die Augen offen zu halten, und lachte zweimal innerhalb weniger Sekunden auf, weil er kurz hintereinander zwei Gedanken hatte, die ihn belustigten oder wenigstens zum Lachen brachten.

Dass es schade wäre, ausgerechnet am letzten Arbeitstag bei einem zu allem Überfluss selbst verschuldeten Unfall ums Leben zu kommen. Und dass er vielleicht, wenn Nurmela nachher seine mit Spannung erwartete Rede zu halten begann, endlich einschlafen würde. Nurmela würde es ihm nicht übel nehmen können … an diesem Tag …

Ketola kicherte noch eine Weile vor sich hin, und dann begann dieses Lied, ihn traurig zu machen, er schaltete den CD-Player aus.

Das Rauschen des Gebläses füllte den Raum. Es war inzwischen heiß im Innern des Wagens, Ketola spürte die Hitze und bildete sich ein, zum ersten Mal unmittelbar den Unterschied wahrzunehmen zwischen der Hitze im Wagen und dem kalten Dunkel jenseits der Windschutzscheibe.

Ständig fielen ihm die Augen zu, es war nichts dagegen zu machen, aber er war ja gleich da, er stand schon im zähen Verkehr in der Innenstadt, von dem er wusste, dass er schlimmer aussah, als er war, seine Fahrt würde nur noch wenige Minuten dauern.

Der Schnee vermengte sich mit Abgasen, gelben Frontlichtern und roten Bremsleuchten zu einem eigentümlichen Bild, von dem er den Eindruck hatte, es zum ersten Mal zu sehen, zum ersten Mal auf diese Weise. Was natürlich Unsinn war, und er begann, genau das zu tun, was er unbedingt hatte unterlassen wollen, er begann, das Besondere an diesem Wintertag zu suchen, der in Wirklichkeit genau so war wie alle anderen.

Er bog schließlich links ab und fuhr auf der weniger befahrenen, schmaleren Straße bis zu dem großen Gebäude, das sein Arbeitsplatz war.

Wie seit Jahren ging sein Blick in den dritten Stock, in Richtung des Fensters, hinter dem sich sein Büro befand. Es brannte noch kein Licht, er würde heute der Erste sein, was seine Richtigkeit hatte, denn er war schließlich jahrzehntlang der Erste gewesen.

Erst in den vergangenen zwei Jahren, seit Kimmo Joentaa seine Frau verloren hatte, hatte recht häufig das Licht im Büro schon gebrannt und Kimmo hatte am Schreibtisch vor dem surrenden Computer gesessen, als Ketola eingetreten war. Ketola war heute absichtlich noch ein wenig früher gefahren als sonst, um diesen kleinen, albernen Wettstreit zu gewinnen, er vermutete allerdings oder war sich vielmehr sicher, dass Kimmo diesen Wettstreit gar nicht als solchen wahrnahm, sondern einfach immer dann früh im Büro saß, wenn er es zu Hause nicht aushielt.

Warum Kimmo häufig so früh im Büro saß, verstand Ketola jedenfalls besser als seine eigenen Gründe. In seinen ersten Dienstjahren war es sicher Ehrgeiz gewesen, der Versuch, sich zu profilieren, was letztlich auch gelungen war. Aber später hatte sich dieser Grund erübrigt, denn Ketola hatte die angestrebte leitende Position erhalten, und warum er dann immer noch Tag für Tag als Erster hatte da sein müssen, wusste er nicht.

Wie auch immer … heute würde Kimmo sicher darauf achten, nicht zu früh zu kommen. Ja, wie er Kimmo kannte, würde der heute besonders spät kommen, bloß um Ketola an seinem letzten Arbeitstag den Raum zu geben, im leeren Büro was auch immer zu tun, im Zweifelsfall zur Ruhe zu kommen, in sich zu gehen.

Ketola kicherte leise, während er durch den stärker werdenden Schneefall lief. Er mochte Kimmo, die Integrität dieses Mannes oder wie immer man das nennen wollte, war ein wenig penetrant, die Art, wie er alles so verdammt ernst nahm … aber er mochte ihn wirklich, und er hatte zwei volle Jahre lang mit dem Gedanken gespielt, mit Kimmo irgendwann länger über den Tod seiner Frau zu sprechen, weil er das Gefühl nicht los wurde, dass dieser Mann in aller Stille am Tod seiner Frau verrückt wurde, und mit Verrückten, vor allem mit Verrückten in jungen Jahren, kannte Ketola sich aus.

Er begrüßte wie an jedem Morgen den Mann an der Pforte. Mit einem Nicken, und der Mann hinter der Glasscheibe nickte zurück. Wenn er sich nicht sehr täuschte, hatten er und der Mann hinter der Scheibe sich jeden Tag auf diese Weise gegrüßt, ohne die ganzen Jahre über ein Wort zu wechseln. Er musste später noch mal darüber nachdenken, aber im ersten Moment erinnerte er sich wirklich nicht an ein einziges Gespräch.

Ketola fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und ging über den dunklen Flur zu seinem Büro. Er schaltete das Licht ein, setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Ein ganz neues Gerät, auf dem aktuellen Stand der Technik, obwohl auch die Vorgängercomputer gut funktioniert hatten und vor allem Ketola nach langem Üben in der Lage gewesen war, das Betriebssystem zu bedienen.

Aber die Direktion war auf die Investition so stolz gewesen, dass sie einen großen Artikel in der Tageszeitung platziert hatte. Nurmela hatte bereitwillig und ziemlich überzeugend vor einem der Geräte posiert, obwohl Nurmela im Team der einzige war, der von neuen Technologien noch weniger verstand als Ketola selbst. Und Tuomas Heinonen hatte der beeindruckten Journalistin gezeigt, was man mit diesen Computern und diesem perfekt vernetzten System alles machen konnte, denn Heinonen war in diesen Dingen sehr bewandert, er hatte auch Ketola häufig geholfen, wenn dessen Bildschirm schwarz wurde oder sich Fehlermeldungen einstellten, und dabei hatte Heinonen eine bemerkenswerte Geduld bewiesen.

Ketola hatte Nurmela zuliebe an den Schulungen wichtigtuerischer IT-Experten teilgenommen, obwohl alle wussten, dass er nur noch wenige Wochen mit den neuen Computern arbeiten würde. Er kicherte schon wieder bei der Erinnerung an die Seminartage, denn er hatte sich da wirklich ein wenig gehen lassen, hatte manchmal wie ein kleines Kind im Schulunterricht Witze gerissen, war ein Mal sogar so lange auf seinem Stuhl hin und her geschaukelt, bis er ziemlich hart zu Boden gefallen war.

Heinonen, der neben ihm gesessen hatte, war zusammengezuckt, Petri Grönholm hatte schallend gelacht, sogar der immer ernste Kimmo hatte gegrinst, und der Referent hatte endlich mal für zwei Sekunden sein Maul gehalten und ihn angestarrt wie einen Außerirdischen.

In seinem Alter durfte man sich diese kleinen Extravaganzen schon mal gönnen, fand Ketola, schließlich wollte er auch gar nicht wissen, und ihm wurde fast ein wenig schwindlig bei dem Gedanken, was auf den Fluren dieses Hauses alles über ihn geredet wurde.

Auf dem Bildschirm leuchteten inzwischen die vielen kleinen Symbole auf kräftigem blauem Hintergrund. Die Standardeinstellung des Herstellers. Alle anderen hatten diverse Hintergrundbilder für ihre neuen Bildschirme gefunden, Heinonen einen Sonnenstrand, Grönholm den Star des finnischen Eishockeys, der erfolgreich in der Nordamerikanischen Profiliga spielte, und Kimmo Joentaa ein Bild einer roten Kirche vor blauem Wasser.

Immer wenn Ketola dieses Bild sah, spürte er einen Stich in der Magengegend, und offen gesagt, empfand er es als eine Art Zumutung, sich dieses Bild jeden Tag mehr oder weniger bewusst ansehen zu müssen. Auf dem Friedhof zwischen der roten Kirche und dem Meer lag Kimmos Frau begraben, Ketola war dort gewesen am Tag der Beerdigung. Der Umstand, dass Kimmo ein Foto dieser Kirche für den Bildschirm gewählt hatte, warf einige Fragen auf. Zum Beispiel, was in diesem Mann eigentlich vorging. Wie sollte jemand ein solches Erlebnis bewältigen, wenn er ihm tagtäglich gegenübersaß? Ketola wurde nicht schlau daraus.

Er saß eine Weile zurückgelehnt und sah aus dem Fenster. Es war unvermindert dunkel, auf der Scheibe sammelten sich Schneeflocken, die zusehends zu einer weichen, weißen Masse verschwammen.

Wenn Ketola die Sache richtig sah, hatte er hier nicht mehr viel zu suchen. Seinen Schreibtisch hatte er schon in der vergangenen Woche geräumt, hatte mitgenommen, was er behalten wollte, und entsorgt, was zu entsorgen war. Er hatte vermeiden wollen, das am letzten Tag in Hektik und am Ende noch in trüber oder aufgekratzter Stimmung machen zu müssen. Es war ohnehin nicht viel gewesen, genau genommen ein Schuhkarton voll mit Zeug, von dem er nicht behaupten konnte, dass es tiefere Bedeutung besaß.

Arbeiten würde Ketola an diesem Tag natürlich auch nicht. Die vergangenen Wochen hatte er großenteils damit verbracht, seinen Nachfolger einzuführen, Paavo Sundström, einen Kollegen aus Helsinki, den Ketola inzwischen für einen recht schwierigen, aber nicht unsympathischen Mann mit hoffentlich noch zu entdeckenden Fähigkeiten hielt. Wenn er wenigstens zu der Sorte aufstrebender Karrieristen gehört hätte, aber Sundström war nur zehn Jahre jünger als er und wies als hervorstechende Eigenschaft einen mindestens merkwürdigen, an Zynismus grenzenden Humor auf, der selbst Ketola ab und an zu weit ging. Sundström war ein großer, kantiger Mann mit Geheimratsecken, eine äußerlich beeindruckende Erscheinung, und Ketola vermutete, dass das dann bereits von gewissen Banausen als Führungsstärke ausgelegt wurde. Wobei Ketola zugeben musste, dass sich in den Ergebnissen, die Sundström in diesen ersten Wochen lieferte, eine gewisse Sorgfalt niederzuschlagen schien. Und es war ja nur Ketolas erster, vielleicht ein wenig voreingenommener Eindruck.

Ketola stand auf, sprang vielmehr unvermittelt auf, er wusste gar nicht, warum. Um den Gedanken an Sundström abzuschütteln oder weil er sich einfach ein wenig rastlos fühlte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ausgerechnet an diesem Tag noch früher zu kommen als ohnehin. Besser wäre gewesen, gegen Mittag oder sogar erst mit Beginn von Nurmelas Rede den Raum zu betreten. Er hätte eine Viertelstunde zugehört, auf Wiedersehen gesagt und sich auf die Socken gemacht.

Er überlegte, ob er genau das tun sollte, noch hatte er alle Zeit, zurück nach Hause zu fahren, sich ins Bett zu legen, denn er war jetzt wirklich müde, und wesentlich später, wenn die Sache fast gelaufen war, würde er Nurmela für die Rede danken und in aller Kürze seinen endgültigen Abschied nehmen.

Aber er entschied sich doch anders, und der Grund dafür war ein Gedanke, der innerhalb eines Augenblicks Gestalt annahm. Wesentlich später fragte sich Ketola immer wieder mal, woher dieser fern liegende Gedanke in diesem Moment gekommen war, es musste mit dem Schuhkarton zusammenhängen und dem Zeug darin oder mit der verschneiten dunklen Fensterscheibe, die er im Moment des Gedankens anstarrte. Es war der Gedanke an etwas, das er lange vergessen hatte, und es war der Moment, in dem Kimmo Joentaa das Büro betrat.

»Hallo«, hörte Ketola ihn sagen.

Er hob den Arm, betrachtete Kimmos fragendes Gesicht und sagte: »Ich muss was suchen.«

Er setzte sich in Bewegung und ließ Kimmo stehen.

»Kann ich helfen?«, rief Kimmo hinterher, und Ketola wollte erst gar nicht antworten, aber dann wendete er sich um und sagte: »Ja, vielleicht. Komm mit. Ich suche was.«

Sie liefen schnell und schweigend die Treppen hinunter, und Ketola murmelte mehr für sich als für Kimmo: »War vor deiner Zeit, ist schon ewig her …«

Er sah im Augenwinkel Kimmo nicken und beschleunigte seine Schritte, weil das jetzt etwas war, das er hinter sich bringen wollte, da er nun schon mal daran gedacht hatte, das war ja eine Sache, die seit … seit ziemlich genau dreißig Jahren zur Klärung anstand.

»Muss dreißig Jahre her sein …« murmelte er. »Nein … zweiunddreißig … dreiunddreißig Jahre.«

Kimmo nickte.

»Wahnsinn …«, sagte Ketola.

Das zentrale Archiv der Abteilung befand sich im ersten Stock und erstreckte sich über drei miteinander verbundene, ausgesprochen steril eingerichtete große Räume. Am weißen Schreibtisch im ersten Raum saß ein junger Mann, den Ketola noch nie gesehen hatte, anscheinend eine Aushilfskraft.

»Wir suchen was«, sagte Ketola und schien darauf zu warten, dass der Mann es ihnen überreichte.

»Ja … was denn?«, fragte der junge Archivar.

»Ein … eine Art Modell.«

Der junge Mann nickte vage.

»Ein Modell. Der Fall liegt dreiunddreißig Jahre zurück.«

Der junge Mann nickte.

»1974. Damals war Fußball-WM, deshalb muss es 1974 gewesen sein.«

»Ja … das ist ja … eine ganze Weile …«, sagte der junge Mann.

»Sag mal, arbeitest du hier?«, fragte Ketola.

»Ich …«

»Ich meine, arbeitest du hier oder bist du nur zur Aushilfe, also so, dass du vielleicht gar nicht weißt, wo wir hier fündig werden können …«

»Nein, nein, ich arbeite hier, gerade … seit drei Wochen … ich bin in der Probezeit.«

»Hm, ja«, murmelte Ketola. »Wo ist denn Päivi? Die macht das doch sonst hier …«

»Ja, deshalb ja … Päivi ist im Urlaub, deshalb ist das hier meine erste Woche allein …«

»Verstehe«, sagte Ketola. »Gut, pass auf. Die Sache ist dreiunddreißig Jahre her, und die Technik hatte damals ein Modell erstellt … eine Art … Modelleisenbahn ohne Eisenbahn.« Ketola atmete auf, weil ihm diese Erklärung geglückt war, aber der junge Mann war zu nichts zu gebrauchen und blieb begriffsstutzig.

»Verstehst du? Wir suchen ein Modell, ein viereckiges Modell aus Plastik … wo könnte so was sein?«

Jetzt schien der Junge wenigstens nachzudenken.

»Irgendeine Ahnung?«, fragte Ketola.

»Also, dreiunddreißig Jahre … das ist …«

»Lange her?«, half Ketola.

»Ja … hier oben haben wir da eigentlich gar nichts und bestimmt kein Modell oder so was. Höchstens unten, da haben wir …«

»Ja?«

»Da ist so ein Raum, wo alles Mögliche rumsteht, für Päivi ist das ja der Horror, das ist sozusagen unsere Rumpelkammer …«

»Ach ja?«

»Ja, weil alles durcheinander ist und keine Bedeutung mehr hat.«

»Dann lass uns da mal runtergehen.«

»Ja … ich kann hier aber erst mal nicht weg.«

»Wie heißt du?«, fragte Ketola.

»Äh, Antti. Antti Lappeenranta.«

Ketola fühlte sich plötzlich bester Laune und fast zu Scherzen aufgelegt. Er zog seinen Dienstausweis, zum letzten Mal vielleicht, wie ihm durch den Kopf schoss, hielt ihn dem Jungen vor die Nase und erklärte: »Antti Lappeenranta, ich nehme dich fest wegen des Verdachts auf was auch immer. Auf jeden Fall bist du geliefert. Folge mir.« Dann ging er voraus und überzeugte sich mit einem Blick über die Schulter, dass Kimmo und der verdutzte Junge ihm folgten.

Sie fuhren mit dem Aufzug in den Keller, der auf andere Weise auch nicht zu erreichen war, denn die Treppe endete an einer Tür, zu der niemand je einen Schlüssel gehabt zu haben schien.

»Bitte«, sagte Ketola, als sie unten waren, und der junge Archivar führte sie zu einem tatsächlich selbst in diesem Kellergeschoss noch abgelegenen Raum, der recht groß, gemessen an der Menge seines Inhaltes allerdings ausgesprochen klein bemessen war.

Ketola staunte, und Kimmo sagte: »Hm.«

»Tja«, bestätigte der junge Mann.

Der Raum war in mehreren Schichten vollgestellt mit Kartons, die zum Teil geöffnet waren und den Blick freigaben auf mehr oder weniger verdreckte Aktenordner in verschiedenen verblassenden Farben. Eben solche Ordner standen und lagen auch in Regalen, an den Raumwänden befanden sich dicht aneinandergestellt alte Gerätschaften, Kopierer, Drucker, Overhead-Projektoren. Den Staub, den das alles angesetzt hatte, konnte Ketola riechen, und da er noch immer zu Scherzen aufgelegt war, schlug er vor: »Päivi könnte hier bei Gelegenheit mal aufräumen.«

»Hm, ja … es ist nur vorübergehend, wir … also, das Archiv … weil ich ja da noch nicht da war, aber Päivi hatte mir erzählt, dass sie halt Platz schaffen mussten, und hier haben sie erst mal Sachen abgestellt, die nicht mehr so wichtig sind … da soll bald auch manches ganz entfernt werden …«

»Natürlich … und wo ist denn nun mein Modell?«

»Äh … ja, wenn überhaupt irgendwo, dann hier.«

Kimmo bahnte sich bereits einen Weg durch die Kartons, blieb in der Mitte des Raumes stehen und fragte: »Wie groß ist es denn. Ich meine, wie lang und wie breit?«

Ketola überlegte. »Ich schätze, es hat etwa die Größe eines kleinen Tisches. Und es steht auf Rädern.«

»Auf Rädern?«, fragte der junge Archivar.

»Ja, wir haben es immer vom Büro in den Besprechungsraum und wieder zurück geschoben. Es steht auf Rädern. Ein Tisch auf Rädern.«

Kimmo ging zu den an den Wänden abgestellten Gerätschaften, von denen einige mit weißen Tüchern bedeckt waren. Ketola folgte ihm und stolperte über einen Karton, als Kimmo »Hier!«, rief.

»Was?«

»Ich glaube, das ist es.« Kimmo trat zur Seite und gab den Blick auf das Modell frei, das Ketola gesucht hatte. Ketola stand noch halb gestützt auf den Karton, richtete sich auf und sah das Viereck aus Plastik. Ketola seufzte beim Anblick, der sich ihm bot, er hörte es nur, er wusste selbst nicht, woher dieser Laut aus seinem Innern gekommen war, und er konnte ihn nicht deuten.

»Ja, das ist es«, sagte er und trat näher. Er stand eine Weile und spürte, wie er jedes Detail in sich aufzunehmen versuchte. Er begriff noch nicht, warum er an diese Sache gedacht hatte. Warum er plötzlich unbedingt dieses Modell hatte finden wollen, denn er hatte die Sache lange vergessen gehabt.

»Das ist es«, sagte er noch einmal, inzwischen stand auch der junge Archivar bei ihnen. Sie betrachteten eine Weile schweigend das Modell, das ein gelbes Feld zeigte und eine Allee von Bäumen, die behutsam aufgeklebt worden war und einen grauen Fahrradweg von einer ebenfalls grauen, zweispurigen Straße abgrenzte. Das alles bestand aus Pappe und Plastik, sogar die Fahrbahnbegrenzungen waren eingezeichnet worden, und obwohl die Sonne fehlte, sah man dem Modell an, dass es einen Moment im Sommer festzuhalten versuchte. Im Feld aus Plastik lag ein Fahrrad aus Plastik, und am Straßenrand hielt ein rotes Auto. Das Modell war so detailliert gearbeitet, wie Ketola es in Erinnerung hatte.

»Hm … was ist denn das?«, fragte der Archivar.

»Ein Modell«, sagte Ketola, ohne den Blick zu heben.

Ketola sah im Augenwinkel den jungen Mann vage nicken, Kimmo stand reglos.

»Es ging um den Mord an einem Mädchen«, sagte Ketola. »Ich hatte gerade erst hier angefangen, als das passierte. Sie wurde in diesem Feld missbraucht und getötet, in unmittelbarer Nähe ihres Elternhauses, von einem Täter, den wir nie gefasst haben.«

Wieder nickte der junge Mann, Kimmo stand weiter reglos.

Das Mädchen fehlte in dem Bild, sie hatten es erst später gefunden, wesentlich später, als das Mädchen keines mehr gewesen war.

»Ich hatte das eigentlich vergessen, ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet heute daran gedacht habe … der Ermittlungsleiter wollte damals nach einigen Monaten, kurz nachdem wir das Mädchen endlich gefunden hatten, unbedingt dieses Modell anfertigen lassen, er meinte, wir müssten ein Bild gewinnen … er wurde fast verrückt, weil nichts voranging.«

»Und die Sache wurde also nie aufgeklärt …«, sagte der Archivar.

Ketola nickte. »Der Ermittlungsleiter von damals ist inzwischen verstorben«, sagte er.

»Was ist das für ein Auto?«, fragte der Archivar und deutete auf den roten Kleinwagen.

»Hmmm …«, sagte Ketola. Der rote Kleinwagen, den sie nie gefunden hatten. Der wichtigste Gegenstand im Bild. Er stach sofort ins Auge. Inzwischen mochte dieser Kleinwagen ein Schrottklumpen sein oder noch weniger. Ganz sicher sogar.

Vielleicht hatte es ihn ohnehin nie gegeben, denn der Zeuge, der den Wagen gesehen haben wollte, war ein kleiner Junge gewesen, der an diesem Tag vor dreiunddreißig Jahren gegen Mittag auf dem parallel laufenden Radweg auf der anderen Seite der Straße gefahren war.

Den roten Kleinwagen hatten sie nie gefunden. Das Mädchen dagegen hatten sie gefunden, sie hatten es aus einem See geborgen, einer der Taucher hatte sich unmittelbar danach übergeben müssen, und Ketola hatte gemeinsam mit einem Kollegen der Mutter des Mädchens die Nachricht überbracht.

Er hatte nicht zum ersten Mal mit Angehörigen von Opfern gesprochen, aber zum ersten Mal hatte er gesehen, wie in den Augen eines Menschen das Leben erlosch. Ketola hatte wie alle anderen damit gerechnet, dass sie das Mädchen irgendwann tot auffinden würden, auch die Mutter musste vom Tod ihrer Tochter ausgegangen sein, aber in den Sekunden, in denen sein älterer, inzwischen verstorbener Kollege die Worte aussprach, hatte Ketola das Leben dieser Frau enden sehen, auf eine Weise, die er niemandem hätte beschreiben können.

»Ja …«, sagte der Archivar, als sich Ketolas Schweigen in die Länge zog.

»Ja … ich möchte das mitnehmen«, sagte Ketola. »Packt ihr mit an?«

Sie trugen das Modell durch den Keller zum Aufzug und eine Ebene höher am irritierten Pförtner vorbei ins Schneetreiben. Mit einiger Mühe verstauten sie es im Kofferraum von Ketolas Wagen. Während sie ins Gebäude zurückkehrten, fiel Ketola ein, dass er die Frage des Archivars nach dem roten Auto nicht beantwortet hatte, aber da der Archivar nicht mehr nachfragte, ließ Ketola die Frage unbeantwortet. Er hatte keine Lust mehr, darüber zu reden. Wichtig war, dass er das Modell aus Plastik und Pappe soeben in seinem Kofferraum verstaut hatte, und darüber, warum er das getan hatte, würde er beizeiten, spätestens, wenn dieser Tag hier vorbei war, ausreichend Zeit haben nachzudenken.

»Ja, dann …«, sagte der Archivar, als sich die Tür des Aufzuges in der ersten Etage öffnete.

»Danke für die Hilfe«, sagte Ketola.