Sonnenspiegelung - Jan Costin Wagner - E-Book

Sonnenspiegelung E-Book

Jan Costin Wagner

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Beschreibung

Liebe, Tod, Trauer, Ohnmacht und Schuld – Jan Costin Wagners Geschichten verschlagen einem beim Lesen den Atem und hallen noch lange nach. Schon am frühen Morgen haben Harford und Lena ihn gesehen: den fremden Mann, der im Schatten eines Baumes auf der anderen Straßenseite steht und zu ihrem Haus herüberstarrt. Als der seltsame Fremde sich den ganzen Vormittag nicht von der Stelle rührt, wird vor allem Lena ziemlich mulmig. Einige Stunden später geht Harford entnervt hinüber, um den Mann zu fragen, was er von ihnen will. Doch der reagiert nicht; sein Blick bleibt unverändert auf die Fensterfront des Hauses fixiert. Selbst die herbeigerufene Polizei kann den Fremden nicht dazu bewegen, seine Position zu verändern. Er bleibt – den ganzen Abend, die ganze Nacht. Und irgendwann kommt der Moment, in dem Harford endlich weiß, wie er den Mann vor der Tür für immer loswird …Jan Costin Wagner versteht es wie kein Zweiter, seine Leser in psychologische Fallen zu locken: Gerade wenn man denkt, alles durchschaut zu haben, eröffnet sich eine völlig neue, unerwartete Perspektive auf das Erzählte.In seinen acht abgründigen, tief berührenden Geschichten zeigt der Autor, was er am besten kann: filmisch präzise, bildstarke Szenen entwerfen, knappe, kraftvolle Dialoge schreiben. Und mit seinem sezierend-kühlen, gleichzeitig zutiefst warmherzigen Erzählerton dem Geschehen eine Sogwirkung geben, die einen bis zur letzten Seite in Bann hält.

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Seitenzahl: 173

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Jan Costin Wagner

Sonnenspiegelung

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Jan Costin Wagner

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungAm hellen Tag1 Jakob2 Sandra3 Jakob4 Anne5 Karin6 Jakob7 Sandra8 Anne9 Karin10 Jakob11 Anne12 Karin13 JakobSonnenspiegelung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelWeihnachtsengelTanzen1. Kapitel2 Daniela3 Mark4. Kapitel5 Mark6. Kapitel7 Jennifer8 Elisabeth9 Daniela10 Mark11. Kapitel12. Kapitel13 Christian14. Kapitel15 Daniela16. Kapitel17 Jennifer18 Paula19 Christian20 Maja21. Kapitel22 Christian23 Mark24 Christian25. Kapitel26 Christian27. Kapitel28 Paula29. Kapitel30 Mark31. Kapitel32 Mark33 Daniela34 Christian35 Daniela36 Elisabeth37 Christian38. Kapitel39 Christian40 Jennifer41 PaulaNach stillen NächtenEin lachendes Herz1 Tim2 Lisa3 Tim4 Emilia5 Der Zugführer6 Tim7 Emilia8 Tim9 Emilia10 Der Zugführer und der Triebfahrzeugführer11 Tim12 JuliaAn einem anderen OrtKleine Monde1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelDank
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Für Venla

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Am hellen Tag

1Jakob

Er läuft durch das Haus, durch das fremd werdende Zuhause.

Die Tür zu Sandras Zimmer ist angelehnt, er kann sie sehen. Sie sitzt vor dem Computer, auf dem die Welt bunt ist, in schneller Abfolge die Farben wechselnd. Die Musik dringt leiser als sonst durch die Lautsprecher, und Sandra sitzt still vor den beweglichen Bildern.

Jakob wendet sich ab und geht weiter, behutsam Schritt für Schritt setzend, er hat das Gefühl, leise sein zu müssen. Die anderen nicht aufwecken, denkt er. Obwohl doch alle wach sind. Weiterschlafen, denkt er.

Die Treppe hinunter, im Flur bleibt er stehen, weil er gedämpft die Stimmen hört. Die Stimme von Mama, die Stimme von Marlies, Mamas Schwester. Die Stimme von Oma Anne hört er nicht, aber er weiß, dass sie da ist. Er weiß, dass sie auf dem Sofa sitzt, der Glaswand zugewandt, den Blick auf den Garten gerichtet.

So sitzt sie, ohne zu sprechen, seitdem sie zu Besuch gekommen ist, an dem Tag, an dem die Zeit eingerastet ist, um stillzustehen. Einmal hat Jakob Oma weinen sehen, aber nur kurz, seitdem nicht mehr.

»Du hast die lustigste Oma der Welt«, hat sein bester Freund Steffen einmal gesagt, das liegt nicht lange zurück. Jakob denkt an diesen Satz, während er sich behutsam dem Raum nähert und ihn schließlich betritt, den leeren Raum, in dem die Menschen sitzen, die ihm nah gewesen sind.

Der Garten hinter der Fensterwand in der Sonne, die Terrassentür steht offen, er läuft und sieht Mama und ihre Schwester Marlies, die am Tisch im Esszimmer sitzen, er sieht Oma Anne, die konzentriert den Garten zu betrachten scheint, und während er durch die geöffnete Tür nach draußen geht, vom warmen Wind des beginnenden Sommers umfangen, denkt er, dass er jetzt, gleich, ein Teil des Bildes sein wird, das Oma sieht.

Dann ist er im Garten und kickt gegen den Ball, rennt, kickt und rennt und denkt, dass er eine der Farben geworden ist in Oma Annes Gartenbild, in Omas Gartentraum. Denn sie schläft ja und träumt von dem Garten, mit offenen Augen.

Weiterschlafen, denkt er, während er, den Ball vor sich her kickend, um das Haus herumgeht, zur Einfahrt, den Ort ansteuernd, der ihn wie magisch anzieht. Die Autos stehen unberührt, hell glänzend unter der Sonne an ihren Plätzen, das große silbern, das kleinere von Mama dunkelblau, und unter der Überdachung, bei den Gartengeräten, stehen auch die Fahrräder, nebeneinander aufgereiht und durch Schlösser miteinander verbunden.

Sein eigenes Rad kommt Jakob merkwürdig klein vor, wenn er es jetzt so, mit neuen Augen, ansieht, und das von Sandra ist merkwürdig orange, nur das von Mama sieht aus, wie er es in Erinnerung hat, weinrot und schmal, irgendwie elegant. Ein Fahrrad, das zu Mama passt. Der Gedanke bleibt hängen, dreht und wendet sich und kommt zur Ruhe, ein beruhigender Gedanke – solange Mama auf diesem Fahrrad fährt, wird er sich keine Sorgen um sie machen müssen.

Das Rennrad steht etwas abseits, gegen die Wand der schneeweißen Garage gelehnt, mitten im Licht der Sonne. Eigentlich hat es immer als größtes Element in der Reihe der anderen Fahrräder gestanden. Jakob tritt vorsichtig an das Rad heran und fragt sich, wer es aufgehoben und gegen die Garagenwand gestellt hat. Und wann. Er greift nach dem Lenker, betastet das weiche, elastische Material. Er beugt sich hinunter, geht in die Hocke, umschließt den Vorderreifen, streicht an den Speichen entlang, an den Pedalen.

Das Fahrrad hat am Boden gelegen, daran erinnert er sich, an das Bild des auf dem Boden liegenden Fahrrads, die Räder haben sich, kaum merklich, gedreht, aber wer es wann aufgehoben hat, ist nicht wichtig, denn das muss gewesen sein, nachdem die Zeit begonnen hat, stillzustehen. Wie in einem Traum, der eine Pause einlegt.

Weiterschlafen, denkt Jakob.

Weiterschlafen, mit offenen Augen.

Weiterschlafen, weiterträumen, und denk daran – die bösen Bilder sind nie echt.

Das hat Papa immer gesagt, geduldig am Bett sitzend, mit der Hand an Jakobs Kopf und Rücken entlangstreichend. Die sterbende Nacht mit dem erwachenden Morgen versöhnend.

2Sandra

Sandra sitzt vor dem Computer, aber ihr Blick gleitet am Bildschirm vorbei durch das Fenster, nach draußen. Sie hat eine Bewegung wahrgenommen. Etwas hat sich bewegt, unten in der Einfahrt.

Sie steht auf, geht näher heran und sieht Jakob, der in der großen grauen Fläche sitzt, im Schneidersitz, an der weißen Garagenwand, neben dem Fahrrad.

Für Momente spürt sie den Impuls, das Fenster zu öffnen und Jakob zuzurufen, dass er wegmuss. Weg von dort. Sie hat schon die Hand auf den Griff gelegt, aber dann lässt sie den Arm sinken. In ihrem Rücken signalisiert eine vertraute Tonfolge die Ankunft einer Nachricht. Sie wendet sich von Jakob und dem Fenster ab und geht zum Schreibtisch.

Ein Surfer füllt den Bildschirm des Computers, ein Foto in Schwarz und Weiß, Sandra registriert den Kontrast zwischen der Farblosigkeit des Bildes und der Farbigkeit, die dem Bild innezuwohnen scheint. Ein Surfer, auf dem höchsten Punkt einer hohen Welle reitend. Verwegen und gleichzeitig souverän die Balance haltend. Grau der Surfer, weiß die Welle, ins Schwarze tendierend der Horizont.

In Gedanken bei dir, steht in der Betreffzeile unter dem Bild des Surfers. Die Nachricht kommt von Sabine, Claudia und Steffi, ihren besten Freundinnen.

Sandra bleibt vor dem Bild stehen, lässt ihre Augen darauf ruhen, auf diesem Moment, den das Foto erzählt, dem Moment, in dem der Surfer den höchsten Punkt der Welle erreicht hat. Um für immer stehen zu bleiben.

Sie fragt sich, ob ihre Freudinnen gewusst haben, dass ihr Vater auch Surfer gewesen ist. Ob sie das irgendwann erzählt hat oder ob die Freundinnen einfach nur dieses Foto mochten, ob sie das Gefühl hatten, dass dieses Bild, das sie vermutlich im Netz gefunden haben, etwas darüber erzählen kann, wie sie an Sandras Traurigkeit Anteil nehmen.

Sie versucht, sich zu erinnern, aber sie findet keine Erinnerung daran, dass sie je einer ihrer Freundinnen gesagt hat, dass ihr Vater surfen konnte. Dass er genau wie dieser Wellenreiter auf den Wellen geritten ist.

Sie findet eigentlich überhaupt keine Erinnerung daran, etwas über ihren Vater erzählt zu haben. Vielleicht täuscht sie sich, vielleicht sind mit dem Tag, an dem es passiert ist, auch ganze Gespräche und Gedanken aus ihrer Erinnerung gewichen, aber sie tendiert eher zu der Einschätzung, dass sie im Freundinnenkreis wenig über ihren Vater erzählt hat. Weil ohnehin alle gewusst haben, wie sehr sie ihn liebt.

Sie betrachtet das Bild des Surfers und denkt, dass er so gewesen ist wie der Surfer auf dem Bild, am Scheitelpunkt der Welle, und sie fragt sich, welche ihrer Freundinnen dieses Foto gefunden hat. Oder ob alle gemeinsam gesucht haben, und unter welchen Kriterien, mit welchen Suchbegriffen, welche Worte sie in die Suchleiste eingegeben haben. Vielleicht: Vater, sportlich, plötzlich, gestorben, beste Freundin, Trauer. Oder ähnlich.

Sie setzt sich vor den Computer, weiter das Bild betrachtend. Sie denkt an Sabine, an Claudia, an Steffi und daran, dass die drei vermutlich in diesem Moment auch vor einem Bildschirm sitzen, eine Reaktion erwartend.

Sie spürt die Berührung an ihren Fingerspitzen, während ihre Hände über die Tastatur gleiten. Ohne eine Taste anzuschlagen, ohne eine Antwort zu finden auf Fragen, die ihre Freundinnen nicht gestellt haben.

3Jakob

»Hi Jakob … wie geht’s dir denn?«

Jakob hebt den Blick von den Speichen des Fahrrads und sieht in das Gesicht von Steffen. Für Momente glaubt er, dass Steffen nicht wirklich da steht, dass er sich das nur vorstellt.

»Ich wollte mal … so …«, sagt Steffen.

Steffen steht irgendwie krumm, ein wenig verkrampft, auf beiden Beinen wippend, aus einer anderen Welt kommend, fremd sieht er aus.

Ein fremder, vertrauter Mensch, der im falschen, richtigen Moment in der Einfahrt steht, neben Papas silbernem Mercedes, neben der weißen Garagenwand, Steffen steht in dem Raum, in dem Papa am Boden gelegen hat.

Jakob richtet sich auf, spürt vage ein krampfähnliches Gefühl in seinen Beinen und sieht, dass Steffen den Arm gehoben hat, die Hand zum »High Five« anbietend, und der Moment, in dem Jakob einschlägt, der Moment, in dem seine Hand schlagartig mit Steffens verschmilzt, fühlt sich wie eine kurze Befreiung an, wie ein Moment, in dem die Zeit zu laufen beginnt, um dann, als seine Hand sich aus der von Steffen löst, wieder stillzustehen. Aber der Moment wirkt nach, Jakob zittert, und Steffen sagt:

»Wollen wir … ein bisschen durch die Gegend fahren?«

Jakob nickt, intuitiv, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie das gehen soll. Er nickt, ohne sich bewegen zu können.

»Also … ja?«, fragt Steffen.

Jakob nickt.

»Mein Fahrrad ist … da hinten …«, sagt Steffen, und Jakob sieht Steffens Fahrrad, das in der Einfahrt steht, an der Straße.

»Wollen wir los?«, fragt Steffen.

Jakob nickt, und seine Beine zittern noch, während er zum Haus geht, zur Haustür, die angelehnt ist, der Schlüssel fürs Fahrradschloss liegt in der kleinen Schale im Flur, wo er immer liegt. Es ist still im Haus, niemand da. Nur Mama, Marlies und Oma Anne, im Wohnzimmer, und oben Sandra. Er hält kurz inne, dann nimmt er den Schlüssel und geht wieder nach draußen, ins Sonnenlicht, Steffen steht, wo er gestanden hat, lächelnd.

»Auf geht’s«, sagt er, und Jakob geht, löst sein Fahrrad aus dem Schloss und steigt auf. Für Momente ist er überrascht darüber, dass er fahren kann, dass sich das Fahrrad in die Richtung bewegt, die er vorgibt.

»Zum Proberaum?«, ruft Steffen über die Schulter, während sie zügig über die leeren Straßen fahren.

Jakob hört die Worte kaum, Steffens Rufen ist wie ein Flüstern, das sich zu verlieren scheint, in der Sonne, im Fahrtwind, im flirrenden Sommer.

4Anne

Sie sieht durch das Fenster, in den Garten, auf das Bild, das nur noch ein Rahmen ist, denn Jakob, der im Zentrum gestanden hat, den Fußball erst in die eine und dann in die andere Richtung kickend, hat das Bild vor einer Weile verlassen. Erst ist der Fußball aus dem Bild hinausgerollt, und dann ist Jakob hinter dem Fußball hergerannt und aus dem Bild herausgetreten, einen leeren Rahmen zurücklassend. Oben ein Himmel, unten ein Rasen, rechts und links Blumenbeete. Die Blumenbeete rufen eine Erinnerung wach, die nicht lange zurückliegt.

Auch in dieser Erinnerung hat Jakob Fußball gespielt, gemeinsam mit einem Freund, sie erinnert sich nicht an den Namen … oder doch, Steffen. Die beiden haben auf Tore geschossen, die nicht zu sehen waren, kein Netz, kein Gestänge, auf dem Rasen liegende Pullover schienen als Torpfosten zu dienen.

Sie hat auf der Terrasse gesessen und gelesen und ab und an den Blick gehoben, um den beiden beim Spielen zuzusehen. Jakob hat jeden seiner Treffer lautstark bejubelt, und Steffen hat viel gelacht, und irgendwann in diesem Spiel, das nicht zu enden und sich in einem zeitlosen Tag zu verlieren schien, weil ein Torjubel dem anderen folgte und sich kein Sieger herauskristallisierte, ist Oliver gekommen, sie hat seine warmherzige Präsenz gespürt, bevor sie ihn gesehen hat.

Er hat die Hand auf ihre Schulter gelegt, und sie haben gemeinsam den Kindern dabei zugesehen, wie sie sich immer weiter hineingesteigert haben in ihr dramatisch-fröhliches Duell, Jakob hat gejubelt, Steffen hat begonnen, das Spiel zu kommentieren wie ein Reporter, und irgendwann hat er, seine Kraft unterschätzend, den Ball in einem hohen Bogen in den Garten des Nachbargrundstücks geschossen, und Oliver, der neben ihr stand, hat begonnen, lauthals zu lachen, und gerufen, dass das Spiel entschieden sei, denn dieser Schuss von Steffen wiege mehr als tausend Tore.

»Ach Quatsch, Papa«, hat Jakob gerufen.

»War nur Spaß, Jakob, aber der Schuss war klasse«, hat Oliver erwidert, und Steffen hat sich zaghaft dem Nachbargarten genähert und schon im Blumenbeet gestanden, um nach dem Ball Ausschau zu halten, als auf der anderen Seite des Zauns ein Mann fürchterlich zu schreien begonnen hat. Flüche, von denen Anne in den achtundsiebzig Jahren ihres Lebens die wenigsten jemals zuvor gehört hatte.

Sie hat Jakob gesehen, der zurückgewichen ist, sich duckend, und Steffen ist, im Zurückweichen, gestolpert und in die Blumen gestürzt, er hat sich mühsam wieder aufgerappelt, während Oliver sich gestrafft und in Bewegung gesetzt hat, zügig und gleichzeitig lässig laufend, unverwechselbar.

Er ist über den Rasen gelaufen, zum Blumenbeet, und hat begonnen, mit dem Nachbarn zu sprechen, seinem fortdauernden Nörgeln mit ruhigen, leisen Worten begegnend. Das Gespräch hat einige Minuten gedauert, der Nachbar ist leiser und leiser geworden und hat am Ende gelächelt, während er den Ball über den Zaun geworfen hat.

»Aufpassen in Zukunft, Jungs!«, hat der Nachbar noch gerufen, kumpelhaft, zugänglich, besänftigt, bevor er zurück in seinen Garten, zu seinem Haus, in seine Welt gegangen ist.

Aufpassen, denkt Anne. Aufpassen, Junge. Hat sie das zu Oliver gesagt, irgendwann einmal?

Sie kann sich nicht daran erinnern. Sie hat selten Angst um ihn gehabt. Als er ein kleiner Junge gewesen ist, hat sie nicht daran gedacht, und als er größer wurde, wurde er so schnell erwachsen. Sie versteht nicht, dass es möglich ist. Dass Oliver nicht mehr da ist, dass er nicht da sein wird, um sie zu begleiten, wenn ihr Leben vergeht. Sie hat nie darüber nachgedacht, aber jetzt ahnt sie, dass das wohl eine Aufgabe war, die sie ihm ganz selbstverständlich zugedacht hatte. Der Platz am Blumenbeet ist leer.

Sie fragt sich, wann Jakob und Steffen wieder Fußball auf Tore aus Pullovern spielen werden.

Und wer mit dem Nachbarn sprechen wird, wenn die Jungen, ihre Kraft unterschätzend, den Ball über den Zaun schießen.

5Karin

Sie sitzt am Tisch und liest, was sie geschrieben hat. Am hellen Tag. Sie weiß nicht, ob das geht, ob das angemessen ist. Ob das erlaubt ist. Sie kennt die Regeln nicht, sie weiß nicht, ob das so in einer Todesanzeige stehen darf oder nicht. Sie muss Anne fragen, aber sie findet den Impuls nicht.

Anne sitzt auf dem Sofa und sieht in den Garten, Karin hat den Eindruck, sie sei ein wenig zur Ruhe gekommen, in Gedanken versunken, die weniger bedrängend sind als andere.

Karin wendet den Blick von Anne ab und wieder den Worten zu, die sie geschrieben hat. Am hellen Tag, musst du bei uns bleiben, darfst du nicht gehen.

Sie fragt sich, wie Oliver selbst es formuliert hätte, welche Worte seine gewesen wären, sie denkt für eine Weile darüber nach, ohne Worte zu finden, und dann begreift sie, dass es sie nicht gibt, denn Oliver, der so vieles bedachte, so vieles in Betracht zog, hätte niemals einen einzigen Gedanken an den eigenen Tod verschwendet und dementsprechend auch keine Formulierungen dafür gehabt. Und das, was sie geschrieben hat, geht nicht. Sie muss nicht erst Anne fragen, um das zu erkennen. Es geht nicht, weil es keine Todesanzeige ist. Das Gegenteil. Sie hat das Gegenteil einer Todesanzeige geschrieben, keinen Abschied, sondern eine Bitte, eine Aufforderung, zu bleiben. Am hellen Tag, musst du bei uns bleiben, darfst du nicht gehen. In Liebe und Dankbarkeit, deine Frau Karin, deine Mutter Anne und deine dich liebenden Kinder, Sandra und Jakob.

Sie spürt, dass sich ein Lachen nach oben wühlt. Sie spürt ein Gurgeln, ein Schütteln in ihrem Körper, sie wehrt sich gegen dieses Lachen, bis es endlich ausbricht, genau in dem Moment, in dem ihr bewusst wird, dass Oliver mitgelacht hätte, von Herzen.

Stell dir vor, ich habe deine Todesanzeige geschrieben. Ich habe den Tod gebeten, dich zurückzugeben, höflich, schlüssig argumentierend. Und ganz förmlich habe ich unterzeichnet, mit Ehefrau Karin und Mutter Anne und so weiter.

Dasselbe hätte ich auch gemacht, würde Oliver entgegnen. Also, den Tod darum bitten, dich zurückzugeben. Und dann, lachend: Aber mit den besseren Argumenten.

Sie hebt den Kopf und sieht Anne, ihre Augen begegnen ihren Augen, und sie spürt, wie ihr Lachen abebbt. Sie kann den Ausdruck in Annes Augen nicht deuten.

»Entschuldige«, sagt sie.

Anne hat sich aufgerichtet, kommt auf sie zu. »Was ist?«, fragt sie.

»Nichts. Ich hatte … versucht …«

Anne steht neben ihr, mit Blicken die Worte abtastend, die Karin geschrieben hat. Sie liest und liest, obwohl es nur Worte sind.

Dann lässt sie die Hand sinken, auf Karins Schulter, sie lässt sie dort ruhen, bis Wärme entsteht. So wie Oliver es immer gemacht hat.

6Jakob

Die Sonne, der Fahrtwind, der flirrende Sommer. Dann kommen sie im Schatten, unter den Bäumen, zum Stillstand. Jakob steigt von seinem Fahrrad, lehnt es gegen die Wand. So wie Papa es gemacht hat. Er hält inne, in Gedanken nach dem Bild greifend.

»Jakob?«, fragt Steffen.

Jakob hält den Lenker des Fahrrads in den Händen. Hält sich daran fest, kann sich nicht davon lösen, kann nicht loslassen, weil er sich an den Moment erinnert, in dem Papa losgelassen hat.

Papa hat das Fahrrad abgestellt, ist gelaufen, einige Schritte nur, Jakob hat an der Haustür gestanden, auf dem Sprung, er weiß nicht mehr, wohin er hat gehen wollen. Er weiß noch, dass Papa ihm zugewinkt hat, einen Gruß rufend.

Er hat das Trikot getragen und den Helm, den er immer trug, wenn er Fahrrad fuhr. Er ist gelaufen, einige Schritte, und dann gefallen, im Bruchteil einer Sekunde, es lag nicht ein Moment dazwischen, Jakob hat nicht einmal den Gruß erwidern können, den er ihm zugerufen hatte. Jakob hat es gesehen, aber nicht verstanden. Er hat an der Tür gestanden, auf dem Sprung. Dann ist er langsam auf ihn zugegangen, hat ihn leise angesprochen.

»Papa?«

Dann ist Mama da gewesen, und dann sind Nachbarn gekommen. Im Hintergrund ist das Fahrrad gefallen, das Papa an der Garagenwand abgestellt hatte, es ist einfach zu Boden gefallen, so wie Papa zu Boden gefallen ist, und einer der Nachbarn, der immer unfreundlich ist, hat sich über Papa gebeugt und nach seiner Hand getastet und eine der Nachbarinnen angewiesen, den Notarzt zu rufen. Daran erinnert sich Jakob jetzt, an die ruhige, aber ein wenig zitternde Stimme des Nachbarn und an die Traurigkeit und das Entsetzen, an das Empfinden in den Augen dieses sonst immer unfreundlichen, mürrischen Mannes.

Mama hat geweint und mit einer Stimme gesprochen, die Jakob nicht gekannt hat, und er hat am Rand gestanden, unbemerkt, hat sich, ohne es selbst wahrzunehmen, langsam wegbewegt, Distanz zwischen sich und das Bild legend. Als der Notarzt kam, hat er schon auf der Schwelle zum Garten gestanden, auf dem weichen Gras, der Krankenwagen hat in der Einfahrt geparkt, die Sanitäter haben rote Jacken getragen.

»Jakob?«

Er hebt den Blick und sieht Steffen, der an der Treppe steht, die hinunter in den Proberaum führt. Die Luft fühlt sich weich an im Schatten der Bäume, über ihm zwitschern Vögel, in einiger Entfernung Kinderlachen, der Wind trägt es vom Pausenhof des angrenzenden Kindergartens zu ihnen herüber.

»Kommst du?«, fragt Steffen.

Er löst sich, lässt den Lenker los. Das Fahrrad bleibt stehen, und er läuft, folgt Steffen die Treppe hinunter in den schalldichten, abgedunkelten Raum, in dem die Instrumente stehen. Er läuft die Stufen hinunter, auf demselben Weg, den Papa gegangen ist, vor einiger Zeit, als sie den Proberaum eingerichtet haben, Papa lachend, schwere Lasten schleppend, er hat sich spaßeshalber darüber beklagt, dass ausgerechnet sein Sohn in dieser Band der Trommler sein müsse.