Das Science Fiction Jahr 2015 -  - E-Book

Das Science Fiction Jahr 2015 E-Book

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Beschreibung

Von 1986 bis 2014 sind im Heyne Verlag stolze neunundzwanzig Ausgaben des sekundärliterarischen SF-Kompendiums "Das Science Fiction Jahr" erschienen. Ab 2015 wird diese Tradition im Golkonda Verlag fortgesetzt, wobei, wie beim Staffellauf, der Stab fliegend und möglichst ohne Zeit- und Qualitätsverlust weitergereicht wird: Die bisherigen Herausgeber werden uns erhalten bleiben, und auch sonst werden wir eng mit dem Heyne-Team zusammenarbeiten. Highlights der Ausgabe 2015 sind ein Interview mit Andy Weir, dem Autor von "Der Marsianer"; Dietmar Dath schwärmt für die neuesten Werke des australischen Hard-SF-Autors Greg Egan; Kameron Hurley macht sich in ihrem mit dem Hugo Award ausgezeichneten Essay ›We Have Always Fought‹ Gedanken über das Frauenbild in der SF; Hardy Kettlitz schreibt über Captain Future und die Anfänge der Space Opera; Ken Liu berichtet über SF in China; Simon Spiegel hat sich den Kinoblockbuster "Interstellar" angesehen; und vieles mehr! Darüber hinaus wird in einzelnen Rezensionsblöcken das ganze Spektrum der Science Fiction ausgeleuchtet: Literatur, Film, Comic, Games und Hörspiele. Eine Bibliographie der 2014 erschienenen SF (und nur dieser) sowie eine Übersicht der 2014 verliehenen SF-Preise und ein Nekrolog runden den Band ab.

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Das Science Fiction Jahr 2015

Originalausgabe

Der Text von John Clute und der von Kameron Hurley wurde von Jakob Schmidt übersetzt, der Text von Ken Liu von Hannes Riffel. Erik Simon verfasste die Einführung zu Leben und Werk von Wolfgang Jeschke.

Die einzelnen Rezensionssparten wurden verantwortet von:

Hardy Kettlitz (Bücher)

Andy Hahnemann (Film)

Alexander »molosovsky« Müller (Games)

Hannes Riffel (Comics)

Martin Heindel (Hörspiele)

© 2015 by Golkonda Verlag GmbH

Die Rechte an den einzelnen Texten liegen bei den AutorInnen und ÜbersetzerInnen.

The copyright to the individual texts is held by the authors and translators.

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektur: Heide Franck

Umschlaggestaltung: s.BENeš [http://benswerk.wordpress.com]

Titelfotos:www.nasa.gov

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

[email protected]

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-944720-48-7 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-944720-49-4 (E-Book)

Für

Wolfgang Jeschke

(1936–2015)

Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

Editorial

In Erinnerung an Wolfgang Jeschke

John Clute: Ruinen und Zukünftigkeit

Sascha Mamczak: Die Aeronauten

Ken Liu: China träumt

REVIEW | BUCH

Michael K. Iwoleit: Steampunk und Weltuntergänge

Udo Klotz: Deutschsprachige Science-Fiction-Romane 2014

Jakob Schmidt und Simon Weinert: Die Perspektive der Fachbuchhändler

Dietmar Dath: Freie Vorzeichen

Uwe Kramm: Der lange Weg zum Mars

Wolfgang Neuhaus: Das Genre der reflexiven Fiktion

REVIEW | FILM

Christian Endres: Hooked On A Feeling

Simon Spiegel: Nachricht von Papi

REVIEW | GAMES

Kameron Hurley: Wir kämpfen seit jeher

Karlheinz Steinmüller: Andymon und die Langfristperspektiven der Menschheit

REVIEW | COMIC

Hardy Kettlitz: Von den Anfängen der Space Opera bis zur Rückkehr von Captain Future

Bartholomäus Figatowski: Splitter im Auge Gottes – Wie die Science Fiction den Ersten Weltkrieg erinnert

REVIEW | HÖRSPIEL

Uwe Neuhold: Die Zukunft des 3-D-Drucks

FACT | PREISE

FACT | TODESFÄLLE

Erik Simon: Immer wieder staunen

FACT | BIBLIOGRAPHIE

FACT | AUTOREN UND MITARBEITER

Science Fiction bei Golkonda

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

eigentlich wollten wir an dieser Stelle einige Worte über Kontinuität verlieren. Und über unsere Freude und unseren Stolz, dasSCIENCE FICTION JAHRweiterführen zu dürfen – dieses im deutschsprachigen Raum einzigartige Projekt eines sekundärliterarischen Jahreskompendiums, das Wolfgang Jeschke vor dreißig Jahren ins Leben gerufen hat. Die Freude und der Stolz sind unvermindert, aber ...

Aber Wolfgang Jeschke können wir dafür nicht mehr unseren Dank aussprechen. Der ehemalige Herausgeber der Heyne Science-Fiction-Reihe und mehrfach preisgekrönte SF-Autor, der über Jahrzehnte hinweg das Genre hierzulande wie kein anderer geprägt und – was letztlich noch mehr zählt – als Mensch das Leben zahlreicher Freunde und Kollegen bereichert hat, ist am 10. Juni 2015 in München gestorben.

Wie groß die Lücke ist, die Wolfgang Jeschke hinterlässt, zeigen die zahlreichen Nachrufe, die wir gesammelt haben und gleich im Anschluss an das Editorial abdrucken. Wir danken all jenen ganz herzlich, die ihre Erinnerungen zu Papier gebracht haben. Und wenn wir diesen Erinnerungen noch etwas hinzufügen dürfen, dann die Empfehlung, die Romane und Erzählungen dieses hellsichtigen Schriftstellers zu lesen. Sie sind – ebenso wie der Mensch, der sie geschrieben hat – einzigartig.

Zum Inhalt der dreißigsten Ausgabe desSCIENCE FICTION JAHRES, die nun erstmals im Golkonda Verlag erscheint, ist vor allem zu sagen, dass sich das Herausgeber- und Redaktionsteam nicht bemüßigt gefühlt hat, das Rad völlig neu zu erfinden. So finden Sie weiterhin ausführliche Featurebeiträge zur Science Fiction in all ihren medialen Ausprägungen, zum größten Teil verfasst von jenen Autorinnen und Autoren, die im Laufe der Jahre ihre Kompetenz auf diesem Feld mehrfach unter Beweis gestellt haben. Ebenso werden wie bisher die einzelnen Bereiche des Genres – Buch, Film, Game, Comic und Hörspiel – in umfangreichen Rezensionsteilen abgedeckt, die, eine kleine Neuerung, von Spartenredakteuren betreut werden. Unser Dank gilt Andy Hahnemann, Martin Heidel, Hardy Kettlitz und Alexander »molosovsky« Müller, die hier hervorragende Arbeit geleistet haben.

Lediglich den »Fact«-Teil haben wir generalüberholt. Hermann Urbanek, der viele Jahre lang den nationalen und internationalen Science-Fiction-Markt gesichtet hat, hat sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Diese Aufgabe wurde nun auf mehrere Schultern verteilt. Zugleich haben wir den bibliographischen Jahresrückblick auf nahezu alle deutschsprachigen Verlage ausgeweitet. Wir sind sehr froh, dass uns Christian Pree dafür seine Daten zur Verfügung stellt. Auch wenn eine absolute Vollständigkeit natürlich nicht zu erreichen (und wohl auch nicht sinnvoll) ist, liegt damit ein Überblick vor, der seinesgleichen sucht.

Darüber hinaus hat auch die generelle Struktur desSCIENCE FICTION JAHRESeine leichte Veränderung erfahren: Die Featurebeiträge und die Rezensionen sind fortan nicht mehr in zwei durchgängigen Blöcken gesammelt, sondern durchmischt. Ziel ist es, damit für etwas mehr Abwechslung bei der Lektüre zu sorgen, ohne dass dies auf Kosten der Übersichtlichkeit geht.

Zu guter Letzt ist es uns Pflicht und Vergnügen, all jenen zu danken, die, in gewohnt professioneller Manier oder zum ersten Mal, zum Fortbestand dieses Projektes beigetragen haben – in erster Linie natürlich den Autorinnen und Autoren, die sich auf den neuen Verlag eingelassen haben; wir hoffen, dass die positiven Erfahrungen beim »Erstkontakt« überwogen haben, und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit. Ausdrücklich hervorheben möchten wir: Erik Simon, der die Einführung zum Leben und Werk von Wolfgang Jeschke verfasst hat; Anja Schleicher, die in München organisatorisch das Heft in der Hand gehalten und die Nachrufe zusammengetragen hat; Jakob Schmidt, der schon seit Jahren als Übersetzer unverzichtbar für das Jahrbuch ist; Hardy Kettlitz, der mit grenzenloser Geduld und vielen kreativen Ideen die Texte gesetzt hat; und last but not least (dieser Dank stammt von der einen Hälfte des Herausgeberduos) Sascha Mamczak für das Vertrauen und die tatkräftige Unterstützung, die er und sein Team demSCIENCE FICTION JAHRhaben angedeihen lassen und hoffentlich noch lange werden angedeihen lassen.

Wir würden uns freuen, wenn Inhalt, Format und Preis dieses alten/neuen Jahrbuchs Ihren Zuspruch finden. Und wir sammeln bereits Ideen für die nächste Ausgabe ...

Nun aber erst einmal viel Vergnügen mit demSCIENCE FICTION JAHR 2015– wünschen Ihnen

Hannes Riffel & Sascha Mamczak

In Erinnerung an Wolfgang Jeschke

Am 10. Juni 2015 ist Wolfgang Jeschke, preisgekrönter Lektor und Schriftsteller, Begründer desSCIENCE FICTION JAHRESund viele Jahrzehnte lang prägende Figur in der deutschsprachigen Science Fiction, im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben. Freunde und Weggefährten erinnern sich an ihn.

Wolfgang Jeschke: Leben und Werk

Wolfgang Jeschke wurde am 19. November 1936 in Děčín (Tetschen) in der Tschechoslowakei geboren und wuchs, nachdem das Sudetenland 1945 wieder tschechoslowakisch geworden war, in Asperg bei Ludwigsburg (Württemberg) auf. Nach der mittleren Reife und einer Lehre als Werkzeugmacher arbeitete er im Maschinenbau. Später holte er das Abitur nach, studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Germanistik, Anglistik und Philosophie und absolvierte ein Buchhändlerpraktikum bei der C. H. Beck’schen Verlagsbuchhandlung.

1969 wurde er Redaktionsassistent, später Redakteur bzw. verantwortlicher Redakteur im Kindler Verlag in München, wo er bis 1978 Lexika und Enzyklopädien – hauptsächlichKindlers Literatur Lexikon– betreute. Im selben Verlag, der als »Lichtenberg Verlag« auch Belletristik publizierte, gab er von 1970 bis 1971 die ReiheSCIENCE FICTION FÜR KENNERheraus.

1973 übernahm er – zunächst als freier Mitarbeiter und gemeinsam mit Herbert W. Franke – die Herausgabe der Science-Fiction-Reihe des Wilhelm Heyne Verlages. 1978 verließ er Kindler und wurde fest angestellter SF-Herausgeber bei Heyne, seit 1979 ohne die Mitarbeit Herbert W. Frankes. Er leitete Heynes Lektorat für Science Fiction und Fantasy, bis er 2002 in Rente ging. Sowohl neben seiner Anstellung als Lektor wie auch danach war er als SF-Autor, Essayist und Herausgeber tätig. Den weitaus größten Teil seines Lebens wohnte er mit seiner Frau Rosemarie in München, wo er am 10. Juni 2015 verstarb.

Der Autor

Wolfgang Jeschkes literarisches Werk gehört praktisch durchweg ins Gebiet der Science Fiction. In der öffentlichen Wahrnehmung hat der Autor Jeschke meistens im Schatten des Herausgebers Jeschke gestanden, und das, obwohl sein Œuvre zum Kernbestand derScience Fictionin der Bundesrepublik – der alten wie der gegenwärtigen – gehört. Unter den Autoren auf dem deutsch-österreichischen SF-Buchmarkt vor 1990 kommen ihm an bleibender Bedeutung wohl nur Carl Amery und Herbert W. Franke gleich, beide etwas älter als er und damals vermutlich mit mehr Zeit zum Schreiben gesegnet (und beide – zumindest über große Zeiträume hinweg – wie er in München angesiedelt). Anders als bei den beiden liegen Wolfgang Jeschkes literarische Anfänge aber im Fandom: Er war eines der ersten Mitglieder im 1955 gegründeten Science Fiction Club Deutschland, und viele seiner frühen Erzählungen wurden in Fanzines veröffentlicht, auch noch, nachdem er 1957 mit »Der Türmer« und »Welt ohne Horizont« erste professionelle Publikationen vorweisen konnte.

Sein erster Erzählungsband warDer Zeiter, erstmals 1970 und später 1978 und 2006 in jeweils erweiterten Fassungen erschienen. Unter den frühen Erzählungen haben sich nicht die zeittypisch ambitionierten und engagierten als die dauerhaftesten erwiesen, sondern die Zeitreisegeschichte »Der König und der Puppenmacher«, die der Autor für seine verspielteste hielt – so ist der darin vorkommende Automat ein scheinbar nutzloses, aber ingeniöses, anmutiges und wohlfunktionierendes Gebilde.

Die Erzählungen des folgenden Bandes,Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan(1993), zeigen den Autor im sicheren Besitz seiner Stilmittel, ohne dass diese noch als gewählte Mittel ins Auge fielen. Kernstück des Bandes war zweifellos die erstmals 1985 gedruckte Erzählung »Nekromanteion«, einer unaufgeregten und ebendarum bedrückenden Vision von Verstorbenen, die als elektronische Kopien fortexistieren – hauptsächlich zur Erbauung ihrer Nachfahren. Diese Erzählung vertritt verdientermaßen die deutscheScience Fictionim letzten, internationalen Band von James Gunns ChrestomathieWege zur Science Fiction. Wo die Erzählungen auf politische, ökologische oder soziale Zeitprobleme Bezug nehmen, tun sie es fokussierter als in Jeschkes Anfangszeit; Beispiele sind »Sibyllen im Herkules oder Instant Biester« (worin eine Warnung aus der Zukunft nicht verhindern kann, dass die Welt in einen Atomkrieg schlittert), »Es lebe der Wald« oder die Titelgeschichte des Bandes.

Unter den jüngeren Erzählungen ragt in dieser Hinsicht »Allah akbar And So Smart Our NLWs« heraus; als sie 2001 erschien, war das darin behandelte Thema der Abschottung Europas gegen Flüchtlinge aus dem Süden schon zu erahnen, hatte aber längst noch nicht seine heutige Aktualität. (Dass Jeschke statt politischer Konflikte eher ökologische Katastrophen als Triebfeder der Wanderbewegung annahm, tut wenig zur Sache – immer stärker erweist sich und wird sich noch erweisen, dass beide Ursachen einander bedingen.) Sämtliche Erzählungen Wolfgang Jeschkes liegen mit kurzen Kommentaren des Verfassers in einer sorgfältig edierten dreibändigen Ausgabe unter den TitelnDer Zeiter(2006),Partner fürs Leben(2008) undOrte der Erinnerung(2011) vor. Die Bände enthalten neben Erzählungen sensu stricto auch Hörspiele – die schon erwähntenSibyllen im Herkulessind ein solches. Wolfgang Jeschke war ein prominenter Vertreter des SF-Hörspiels deutscher Zunge, und zwar in der klassischen, text- und handlungsorientierten Machart, die sich ohne Weiteres wie eine Erzählung lesen lässt. Er gehörte auch – insbesondere in frühen Jahren – zu den nicht eben zahlreichen Verfassern deutschsprachiger SF-Gedichte, diese allerdings in der metrisch ungebundenen, reimlosen, von pointierter Prosa abgeleiteten Varietät. Alle Ausgaben vonDer Zeiterenthalten Beispiele dafür.

Im Zentrum von Wolfgang Jeschkes Œuvre stehen die RomaneDer letzte Tag der Schöpfung,Midas oder Die Auferstehung des FleischesundDas Cusanus-Spiel; sie sind zuletzt 2013 bei Heyne in einer Omnibus-Ausgabe als Paperback erschienen (dort findet sich auch eine konzise Liste aller belletristischen Werke des Autors). In ihnen zeigt sich besonders deutlich eine Eigenheit von Wolfgang JeschkesScience Fiction: die souveräne Beherrschung des Erzähler-Handwerks, die mitunter die einzige Stärke der erfolgreichen Anglo-Amerikaner ist, dazu reichlich von jener Art Ideen und Gedankenspiele, die seit H. G. Wells die spezifische Würze derScience Fictionausmacht.

Der letzte Tag der Schöpfung(1981) handelt von einem Zeitreiseprojekt, bei dem verschiedene Staaten Truppen und Söldner fünf Millionen Jahre zurück in das damals wasserlose Mittelmeerbecken entsenden – die einen, um den Arabern das Öl abzupumpen und es unter der Nordsee zu deponieren, die anderen, um sie daran zu hindern. Manche bekämpfen einander, manche finden zur Kooperation, nachdem sie erfahren haben, dass eine Rückkehr in die Zukunft technisch unmöglich ist. Um diese Grundidee rankt sich eine Vielzahl daraus abgeleiteter Einzelideen; sie ergeben ein komplexes Ganzes aus spannender Handlung, interessanten logischen Spekulationen (vor allem im Zusammenhang mit der Zersplitterung der Zeit in verschiedene Stränge) und besonders gegen Ende des Buches einige Situationen von beeindruckender Dimension und Symbolträchtigkeit.

Ähnliches lässt sich vonMidas oder Die Auferstehung des Fleisches(1989) sagen; dieser Roman ist freilich weniger ein Planspiel mit einigen archetypischen Komponenten als vielmehr ein glaubhaftes und beklemmendes Bild unserer Zeit bzw. einer nahen und keineswegs besseren Zukunft, in der die außergewöhnlichen Schicksale der Helden mit dem Schicksal der einen Welt eng verknüpft sind. Das zentrale SF-Motiv – die Herstellung elektronischer Persönlichkeitskopien, die mit biotechnisch erzeugten, gebrechenhaften Körpern ausgestattet werden – knüpft an »Nekromanteion« an, bietet aber noch viel mehr Facetten.

Das Cusanus-Spiel(2005) ist wieder ein Zeitreiseroman, in dem künftige Forscher katastrophale politische und ökologische Entwicklungen der Menschheit in ihrer Vergangenheit (aber unserer Gegenwart und Zukunft) durch gezielte Eingriffe im Mittelalter zu verhindern suchen. Sie agieren dabei in verschiedenen Zeitebenen und -linien, was einen (auch in puncto Umfang) breit angelegten Roman ergibt, in dem schon einzelne Stränge mit ihrem Detailreichtum beinahe als Romane in sich gelten können.

Wolfgang Jeschkes letzter RomanDschiheads(2013) ordnet sich, sieht man vom Umfang ab, seiner Machart nach nahtlos bei zwei langen Erzählungen (oder, wenn man will, Kurzromanen) ein:Osiris Land(1982 in einer Anthologie, 1986 separat) undMeamones Auge(1994). Alle drei Werke handeln von Begegnungen mit fremden Lebensformen und ungewöhnlichen Ökologien (obwohl nur die beiden jüngeren auf anderen Planeten spielen).Osiris Landschildert eine exotische Abenteuerfahrt auf dem Nil einer künftigen Erde, wo Außerirdische die vergiftete Umwelt zu kurieren versuchen; inMeamones Augehaben Erdenmenschen einen fernen Großplaneten mit Terraforming und Genetic Engineering als Nahrungslieferanten optimiert, wobei sie sich auch einheimische Wesen von fast menschlicher Intelligenz zu Nutze machen. Beide Texte leben vor allem von der Atmosphäre und den Bildern; inMeamones Augefaszinieren Szenen von gleichsam selbstverständlicher Fremdheit, wie man sie in der internationalen SF selten (etwa bei James Tiptree jr.) derart dicht findet. InDschiheadshat sich auf einem fremden Planeten eine von der Erde emigrierte Sekte festgesetzt, die nicht nur die eigenen Mitglieder unterdrückt, sondern auch einheimische Wesen mit einer komplexen Gruppenintelligenz abschlachtet. Der Roman ist ein Pamphlet gegen religiösen Fanatismus, mit dem sich Abgesandte der aufgeklärten irdischen Menschheit konfrontiert sehen; die ästhetisch eindrucksvollste Passage darin ist wiederum eine Flussfahrt.

Alle vier Romane Jeschkes, die Erzählungen/Kurzgeschichten »Dokumente über den Zustand des Landes vor der Verheerung« (1981), »Osiris Land«, »Nekromanteion«, »Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan« (1993), »Partner fürs Leben« (1996), »Die Cusanische Acceleratio« (1999), »Allah akbar And So Smart Our NLWs« und »Das Geschmeide« (2004) sowie das HörspielJona im Feuerofen(1988) wurden mit dem Kurd Laßwitz Preis als bestes Werk in der jeweiligen Kategorie ausgezeichnet; einen Sonderpreis erhielt er als Mitautor desLexikons der Science Fiction Literatur(1980; auch an der erweiterten Ausgabe 1987 war er beteiligt). Der vomScience FictionClub Deutschland vergebene Deutsche Science Fiction Preis wurde ihm für die RomaneDas Cusanus-SpielundDschiheadssowie für die Erzählungen »Nekromanteion«, »Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan« und »Orte der Erinnerung« (2010) verliehen.

Für Zeitschriften, Anthologien und Jahrbücher hat Wolfgang Jeschke Artikel über Science Fiction geschrieben. Obwohl sich darin etliche hellsichtige Urteile über SF-Werke finden, spricht doch weniger der Literaturkritiker, sondern der Praktiker – viele von den Artikeln behandeln den Zustand derScience Fiction(oder spezifisch der SF-Szene und des -Marktes im deutschen Sprachraum) und ziehen daraus Schlussfolgerungen, die der Verfasser in aller Regel selbst umgesetzt hat. Diese Arbeiten sind daher eher dem Herausgeber Jeschke zuzuordnen.

Wolfgang Jeschke in jungen Jahren auf dem Wüstenplaneten ...

Der Herausgeber

War Wolfgang Jeschke einer der wichtigsten deutschsprachigen SF-Autoren des letzten halben Jahrhunderts, so wird man in ganz Europa – zumindest auf dem Kontinent – wohl keinen anderen Verleger, Herausgeber oder Lektor finden, der ihm an Bedeutung auch nur gleichkommt. Es ist müßig, auf die schiere Menge der Titel zu verweisen – jahrzehntelang erschien sein Name auf Seite 1 jedes Buches, das im SF-Lektorat des Heyne-Verlags vorbereitet worden war, auch wenn es sich um Fantasy handelte. Nach einiger Zeit firmierte dort allerdings Friedel Wahren als Reihenherausgeberin, womit zweierlei dokumentiert wurde: Erstens, dass sie dieses Segment des Programms als Lektorin betreute, und zweitens, dass Wolfgang Jeschkes Hauptinteresse sehr dezidiert der Science Fiction galt. Diese beiden, flankiert von der Assistentin Gisela Frerichs, waren lange Zeit bei Heyne allein für die gesamte Produktion an SF, Fantasy oder sonstiger Phantastik verantwortlich, um 1990 für reichlich hundert Bände pro Jahr. Natürlich war das nur unter Mitarbeit von vielen Außengutachtern und -redakteuren möglich, trotzdem bleibt es ein unglaubliches Arbeitspensum. Wolfgang Jeschke hat zudem zahlreiche SF-Titel auch selbst redigiert. Die Herausgabe der Paperback-ReiheSCIENCE FICTION FÜR KENNERbei Lichtenberg Anfang der Siebzigerjahre wirkt dagegen nur wie ein kurzes Vorspiel und ist vor allem deshalb von Bedeutung, da dadurch (und mit einer etwa zeitgleich erscheinenden Reihe im Marion von Schroeder Verlag) editorisch wie inhaltlich die Vorstellung aufgebrochen wurde, Science Fiction sei eine reine Taschenbuch-Unterhaltungsliteratur.

Zu Jeschkes Zeit war Heyne der unumstrittene SF-Marktführer im deutschsprachigen Raum. Neben ihm gab es zu Beginn rund ein Dutzend andere kenntnis- und einflussreiche Herausgeber und Verlagslektoren, und die SF wäre damals wohl zur Not auch ohne ihn ausgekommen (obwohl schon da die Vorbildwirkung des Heyne-Programms nicht zu unterschätzen war). Der Unterschied zeigte sich jedoch, als – beginnend in den Achtziger- und endend in den Neunzigerjahren – ein deutscher Verlag nach dem anderen seine SF- oder Phantastik-Reihe einstellte, bis schließlich eine Zeit lang neben Heyne nur noch ein großer Verlag, Bastei Lübbe, ein breiter aufgestelltes SF-Programm unterhielt. Nun bewährte sich Jeschkes Strategie, erfolgreiche anglo-amerikanische SF – also nicht zuletztauch kommerziell erfolgreiche Bücher, darunter Lesefutter wieSTAR TREK– in so breiter Front anzubieten, dass dazwischen Platz blieb für Texte englischsprachiger, deutscher und anderer europäischerAutoren, die speziellere Lesebedürfnisse befriedigten. Wolfgang Jeschke hat auf diese Weise nicht zuletzt die deutsche Science Fiction gefördert – und zwar in der Regel die gut geschriebene und nicht die bloß gut gemeinte, die der eine oder andere Kritiker von ihm verlangte.

Untrennbar verbunden mit der Präsentation anspruchsvoller – das heißt auch: international, thematisch und stilistisch breit gefächerter – SF sind die von Wolfgang Jeschke im engeren Sinne herausgegebenen, also zusammengestellten Bände, in der Regel Anthologien. Selbst wenn man nur sie betrachtet (und dabei noch etliche aus dem Englischen übernommene, bei denen er als Co-Herausgeber firmierte, außer Acht lässt), kommt man auf eine so große Zahl, dass sich in diesem Überblick jede Würdigung en détail verbietet. DerSF STORY READER, anfangs im Wechsel mit Herbert W. Franke herausgegeben, brachte es 1974 bis 1984 auf einundzwanzig Ausgaben und fand seine Fortsetzung in einer langen Folge einzelner internationaler Anthologien mit individuellen Titeln, von denen meistens zwei pro Jahr erschienen. Die Auswahl für diese Bände folgte denselben Prinzipien wie die Heyne-SF in toto: bekannte Anglo-Amerikaner im Mix mit weniger bekannten und mit Autoren aus anderen europäischen – seltener auch aus außereuropäischen – Ländern; aber natürlich ließ sich mit Erzählungen ein breiteres, bunteres und aktuelleres Spektrum erzielen.

Bei den traditionell romanlastigen Lesegewohnheiten des deutschen Publikums (vom Buchhandel noch stärker in Richtung Roman gedrängt) waren diese Anthologien das hierzulande wichtigste und schließlich nahezu das einzige Medium für Science Fiction in kürzeren Formen. Seitdem 2001/2002 – praktisch zeitgleich und wohl auch im Zusammenhang mit Wolfgang Jeschkes Abschied von Heyne – die letzte dieser Anthologien erschien, hat so gut wie kein großer Verlag mehr neue Erzählungen deutscher SF-Autoren in nennenswerter Menge gedruckt.

Es ist in Deutschland nie gelungen, eine wirklich professionelle SF-Zeitschrift auf Dauer zu etablieren. Die Funktion der Zeitschriften, einer Literaturgemeinde als Medium mit Rückkopplungen zu dienen, haben im deutschen Sprachgebiet almanachähnliche Anthologien mehrfach wenigstens annähernd zu erfüllen versucht, und einer Zeitschrift am nächsten kam dabei das von Wolfgang Jeschke herausgegebeneHEYNE SCIENCE FICTION MAGAZIN, das in Form eines Taschenbuchs erschien. Es brachte Erzählungen, Essays, Rezensionen, Szenenachrichten, Grafiken und Fotos (beides farbig und schwarz-weiß), Cartoons, SF-affine Populärwissenschaft, alternativhistorische Spekulationen ... Das 1981 begonnene Projekt musste nach zwölf Ausgaben 1985 wieder eingestellt werden, doch der sekundärliterarische Teil fand seine Fortsetzung imSCIENCE FICTION JAHR, das Wolfgang Jeschke von 1986 bis 2014 bei Heyne herausgab (seit 2003 gemeinsam mit Sascha Mamczak, dem sich 2011 Sebastian Pirling zugesellte).

Neben den Anthologien mit breit gefächertem, größtenteils aktuellem Material hat Wolfgang Jeschke auch Auswahlbände mit deutsch schon vorliegenden Texten herausgegeben. Seine letzte Arbeit auf diesem Gebiet war die AnthologieDie Stille nach dem Ton(2012 zusammen mit Ralf Boldt), die die mit dem SFCD-Literaturpreis 1985–1998 und dem daran anschließenden Deutschen Science Fiction Preis bis 2012 ausgezeichneten Kurzgeschichten versammelt. Unter seinen thematischen Anthologien ist die zweibändige Sammlung von Zeitreise-GeschichtenDie Fußangeln der ZeitundZielzeit(1984 bzw. 1985, beide mit Karl Michael Armer) hervorzuheben.

Wolfgang Jeschkes Verdienste als Herausgeber und Förderer der SF wurden fünfmal mit dem Kurd Laßwitz Preis gewürdigt. 1987 erhielt er den Harrison Award für Errungenschaften in der internationalen SF. Im April 2015 wurde er auf dem Eurocon in Sankt Petersburg für seine Leistungen als Autor und Herausgeber in absentia in die Ruhmeshalle (alias »Hall of Fame«) der europäischen Science Fiction aufgenommen.

... und später an Bord der Zeitmaschine

Wolfgang Jeschke zum Gedenken

WOLFGANG

Wolfgang – was für ein wohlbekannter, was für ein wohltönender und wunderschöner Name! All diejenigen unter uns, die Besonderes tun, haben besondere Namen verdient.

Wie ich, der ich nach einem Erlenbaum – einem »alder tree« – benannt bin, welcher in Norfolk wuchs, der englischen Grafschaft, in der ich geboren bin.

Aber um wie viel großartiger klingt WOLFGANG! Ich sehe es vor Augen, wie dieses Rudel prächtiger Tiere aus dem Wald hervorbricht, aus dem Unbekannten dem Ruhm entgegen.

Es erfüllt mich mit Trauer zu erfahren, dass er nicht mehr ist, und so übersende ich meine Freundschaftsgrüße an alle Übriggebliebenen dieses prächtigen Rudels.

Brian Aldiss O. B. E.

Geschichten aus tausend und einer Welt

Das Universum ist ungerecht. Die Schlechten leben zu lange, und die Guten sterben zu früh. Und Wolfgang Jeschke war nun wirklich einer von den Guten. Die Nachricht von seinem Tod – nichts ahnend ging ich morgens zum Briefkasten, ein schwarz umrandeter Brief, der Inhalt wie eine herabsausende Guillotine – war ein Schock. Schwere Betäubung, die Karte mit der Todesanzeige immer wieder in der Hand gewendet, als könnte sich das alles als Missverständnis erweisen oder wie durch Magie ein anderer Name darauf erscheinen. Fassungslosigkeit, Frustration und eine große Leere.

Dass ich Wolfgang Jeschke mochte, war mir in all den Jahren unserer Zusammenarbeit und Freundschaft schon klar. Aber wiesehrich ihn mochte, begriff ich erst in diesem Augenblick. Es war wie so häufig im Leben: Erst der Verlust lässt einen den Wert erkennen. Und das gibt einem ein Gefühl des Versagens. Da wäre noch so viel gewesen, worüber man hätte reden können, als man noch Zeit dafür hatte. Warum hat man sie nicht genutzt?

Die Zeit.Das war Wolfgang Jeschkes großes Leitmotiv. Er hatte einen Riesenspaß daran, sich an dieser von der Wissenschaft nur unzulänglich erklärten Dimension die Zähne auszubeißen, an ihren Geheimnissen, Verästelungen, Paradoxien. Die Idee, die scheinbar unerschütterliche Linearität der Zeit zu durchbrechen, etwas Nicht-Lineares daraus zu machen, Schleifen daraus zu binden, Vergangenheit und Zukunft reversibel zu machen, Logik auszuhebeln, das alles faszinierte ihn. Er mochte es, spielerisch an den Grundfesten zu rütteln, um zu sehen, was dabei herauskommt.

Diese Haltung war das Ergebnis einer glücklichen Kombination besonderer Fähigkeiten. Zu einer grenzenlosen Neugier gesellte sich eine intellektuelle Abenteuerlust, gebettet auf ein enormes Wissen. Wolfgang war einer der letzten Enzyklopädisten, ein idealer Telefonjoker für jede Quizsendung, wenn ihn je einer gefragt hätte. Er wusste wirklich unglaublich viel, und das war kein modisches, schnell gegoogeltes Kurzzeitwissen, das nach ein paar Minuten verweht wie Asche im Wind, sondern substanzielles Wissen über Epochen, Techniken, Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen. Mit ihm konnte man gut über Science Fiction reden, aber genauso gut über Science (ohne Fiction) und über Fiction (ohne Science).

Wenn wir uns gelegentlich abends trafen, um über Gott und die Welt zu reden, ist das durchaus wörtlich zu nehmen. Neben einem klaren soziologischen Blick auf die Welt hegte er, bis hin zu seinem letzten RomanDschiheads, eine tiefe Faszination für Religionen, ihre Versprechen, ihre Mechanismen, ihre Propheten, ihr (häufig erbärmliches) Bodenpersonal.

Obwohl er allen Religionen, auch der christlichen, sehr kritisch gegenüberstand, war er in seiner eigenen Art, mit seinem eigenen Wertesystem einer der christlichsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Nie habe ich jemanden getroffen, der ein böses Wort über ihn verloren hätte. Alle mochten ihn. In der an Selbstdarstellern nicht gerade armen Kulturbranche war er geradezu irritierend unprätentiös. Er war sanft, freundlich und hilfsbereit, in der Summe ein Mensch, dem man vertrauen konnte wie einer Mutter: Nie würde er einen täuschen oder hintergehen. Ich hätte ihm jederzeit unbesehen eine gebrauchte Zeitmaschine abgekauft.

Mit dieser großen Schnittmenge an guten Eigenschaften und einem eingespielten, kleinen Team hat er im sehr speziellen Biotop der Heyne-SF-Redaktion jahrzehntelang eine, durchSTAR TREKund andere Erfolgstitel quersubventionierte, Literaturreihe geschaffen, deren Qualität, Bandbreite, Mut und manchmal fast selbstmörderische Experimentierlust immer beeindrucken werden.

Nun hat Wolfgang Jeschke zum letzten Mal die Segel gesetzt. So hat es Sascha Mamczak in seiner klugen und warmherzigen Totenrede formuliert, in der er auch darauf hinwies, dass Wolfgang Jeschke so von der Zukunft erzählen konnte, als wären es Sagen aus der Vergangenheit. Das ist schön beobachtet. Viele seiner Erzählungen und Romane und auch seiner Lieblingsbücher hatten diesen Legendenton. Das waren Lagerfeuergeschichten aus tausend und einer Welt, liebevoll erzählte Oral History aus der Zukunft. Nun ist die Zeitreise des Geschichtenerzählers beendet. Nach achtundsiebzig erfüllten Jahren voll guter Erinnerungen bei allen, die dich kannten, Wolfgang, bist du noch einmal aufgebrochen und an neuen Gestaden gelandet. Ich hoffe, dass es dort so schön ist, wie du es verdienst.

Karl Michael Armer

Dead »Pope« Trippin Thru the Galaxies,

oder: When An Old Cricketer Leaves the Grass

Wolfgang Jeschke: Wohl jeder Erdling sollte sich dir zu Dank verpflichtet fühlen angesichts deines zwar emotional, aber intellektuell nur bedingt fassbaren und dennoch nachhaltigen »Zwischenstopps«, den du während deiner intergalaktischen Reise durch den Raum auf Terra eingelegt hast. Solltest du wo auch immer den Sibyllen des Herkules begegnen: schöne Grüße! Ebenfalls an Lucy in the Sky, ob nun mit oder ohne Diamonds.

Und dort, hinter Deneb links, da muss auch noch was sein ...

Hat einfach etwas Tröstliches, die Vorstellung, dass du mit deinem angestaubten Motorroller in good ol’Bradbury-Manier die Milchstraße entlangbretterst und dabei ebenso spielerisch wie neugierig die Tiefen des Alls erkundest ...»still alive, on a moonlight drive«.

Dir konnte keiner so schnell was vormachen – höchstens nach. Andererseits: Wie sollte das letztlich möglich sein bei jemandem, der stets das war und auch weiterhin bleibt: ein-zig-ar-tig? Du warst/bist Mensch, Institution, Legende. Bewundernswert (in der Vorkonzern-Ära des Heyne-Verlags) deine Ausdauer, etwas im guten bajuwarischen Sinne »auszusitzen« – stets der urgewaltige Vollblutstoiker mit der messerscharf geschliffenen Feder/Zunge!

Dieser Tage ist mir in einem Übersetzungstext der »Tsunami des Schmerzes« begegnet. Manch einer mag diesen bildhaften Begriff vielleicht für kitschig oder sonst was halten – mir egal, trifft er doch das Wesentliche mitten im Kern. Denn dieser Tsunami wird – nicht nur in mir, denke ich mal – noch eine ganze Weile wüten.

Einen Lobgesang auf deine Werke anstimmen, das mögen andere tun; für mich bleibst du in erster Linie derMacher– im schöpferischen Sinn, logo! Dass dein RomanDer letzte Tag der Schöpfungweitaus mehr zu bieten hat als nur einen guten Titel und dass dein HörspielDer Wald schlägt zurückkeine Zukunftsmusik ist, sondern beinharte Realität, muss eigentlich nicht extra erwähnt werden.

Gar nicht selten, »das muss man ganz klar sagen« (O-Ton Wolfgang Jeschke), bewegtest du dich am Rande des Chaos – und wo sonst sollte etwas erwähnenswert Bleibendes kreiert und auch in die Tat umgesetzt werden können?

Danke für deinen genre-immanenten und durchaus darüber hinausführenden Dauerimpuls und auch für die vielen bunten, von dir gern so genannten »Hardcoverchen«.Und und und.

»Dawn, dawn, oh beautiful dawn ...«

Ancient gods, they share a yawn ...

(frei zitiert nach »Die Brücke am Tay« von Theodor Fontane)

Gute Reise, alter Freund!

Werner Bauer

Ein weiser Mann

Anfang der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts wohnte ich seit knapp zehn Jahren in Italien, als Wolfgang Jeschke und seine Frau mich besuchten. Es war kein Arbeitsbesuch, das Paar war gewissermaßen auf der Durchreise, aber ich fühlte mich sehr geehrt. Wolfgang Jeschke, dieser Name bedeutete Science Fiction in Deutschland. Er war die zentrale Figur, er gab bei Heyne die wichtigste deutsche SF-Reihe heraus, und er war nicht »nur« Herausgeber, sondern auch selbst Autor. In den Siebzigerjahren hatte er dafür gesorgt, dass wichtige Werke der SF erstmals ungekürzt auf Deutsch erschienen – die bis dahin oft auf Heftromanlänge zusammengeschrumpfte phantastische Literatur konnte erstmals ihr ganzes Potenzial entfalten. Mit zahlreichen Anthologien bot er deutschen Autoren eine Plattform jenseits der engen dramaturgischen Grenzen von Heftromanen. Mit anderen Worten: Er holte die Science Fiction aus dem Ghetto der »Schundliteratur«, ließ sie reifen und erwachsen werden. Und dieser Mann besuchte mich in meiner Wahlheimat Italien (in der ich nur leben konnte, weil er mich regelmäßig mit Übersetzungsaufträgen versorgte)! Natürlich fühlte ich mich geehrt. Erstaunlicherweise sprachen wir an jenem inzwischen fast fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden Abend kaum über Science Fiction und die Arbeit mit ihr, sondern viel mehr über persönliche Dinge und über das Leben in Deutschland und Italien. Wer mich da besuchte, war nicht in erster Linie der Herausgeber, jemand, für den ich arbeitete, sondern der Mensch Wolfgang Jeschke. Vielleicht ist mir damals zum ersten Mal eine wichtige Eigenschaft dieses Mannes klar geworden. Er war nicht voneinander getrennt Herausgeber, Autor und Mensch/Privatperson, sondern alles zusammen, ein Gesamtpaket. Es gab bei ihm keine getrennten Rollen, sondern nur die eine Person namens Wolfgang Jeschke, einzigartig und unverwechselbar. Ein echtes Original.

Jahre später, 1999, besuchte ich den Heyne-Verlag mit einer italienischen Autorenkollegin, die mir später ihre Eindrücke von Wolfgang Jeschke schilderte. »Ein weiser Mann«, sagte sie. »Ein weiser Mann mit einem guten Herzen.« Ich denke, sie hatte in beiden Punkten recht. Er war ein weiser Mann, der mit kluger Professionalität die SF-Reihe des Heyne-Verlags zur erfolgreichsten in ganz Deutschland machte. Und er hatte auch ein gutes Herz, denn unter seiner Regie wurden das Verlagsteam und die Gemeinschaft der Autoren und Übersetzer zu einer großen Familie. Gern erinnere ich mich an Besprechungen im Verlag, die so ungezwungen und entspannt waren wie ein Treffen von langjährigen Freunden. Solche Kontakte, menschliche Kontakte, waren ihm sehr wichtig. In der neuen Epoche von Controllern und Profitmaximierung ist das inzwischen anders geworden.

Meine zweite Laufbahn als Autor (meine erste ging Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre zu Ende und beschränkte sich damals größtenteils auf Heftromane) begann 2003 mit der Arbeit anDiamant, dem erstenKANTAKI-Roman. Ein Jahr zuvor war Wolfgang Jeschke in den Ruhestand gegangen, was aber nicht bedeutet, dass er keinen Anteil anDiamantund meinen folgenden Romanen hatte. Ohne ihn, ohne sein Schaffen in den Jahrzehnten zuvor, wären meine Romane gar nicht möglich gewesen. Er legte den Grundstein; er schuf die Voraussetzungen. Seine Arbeit als Herausgeber und Autor ebnete anderen, auch mir, den Weg. Er öffnete die Tür, durch die wir alle gegangen sind.

Er hat jetzt die Reise ins unentdeckte Land angetreten, eine letzte, lange Reise, die uns alle erwartet, früher oder später. Ich möchte ihm einen letzten Gruß nachschicken, nur ein Wort: Danke.

Andreas Brandhorst

Der Zeiter

Dass man aber auch so gar nichts dazulernt, wenn man älter wird: Als vor ein paar Monaten das Telefon klingelte und Wolfgang Jeschke dran war, haben wir verabredet, uns demnächst zu treffen. Ich war zu dumm, um zu erkennen – zu sehr im Hier und Jetzt und in der Arbeit und im ganzen üblichen Remmidemmi verstrickt –, dass mein telefonisches Gegenüber sich wohl seiner Weggefährten und Bekannten und Mitstreiter versichern wollte, sie nochmals zu sprechen, zu sehen hoffte, bevor es bald, sehr bald zu spät sein würde. Doch die Tage, die Wochen verplemperten sich, die Monate – und dann die Mail von Jeschkes langjähriger Vertrauten und Mitarbeiterin Friedel Wahren, dass Jeschke verstorben sei.

Ich möchte das Versäumte mithilfe des digital-magischen Geräts, mit dem ich diese Zeilen hier verfasse, nachholen und ein Fenster in der Zeit öffnen, um dieses Treffen doch noch zustande kommen zu lassen. Die Zeitmaschine aus Korea ist nicht in der Lage, Jeschke mit mir reden zu lassen. Aber ich kann ihn deutlich sehen: das von der Krankheit gerötete Gesicht, die Hinfälligkeit, dann den Jeschke von früher, robust, ein Fels, ein in sich Ruhender. Der Bart, die Brille. Dann fremde Jeschkes – Wirtschaftsberater, Fußballtrainer, Metal-Musiker: vermutlich nur Inkarnationen eines Zeit-Touristen auf der Durchreise. Von solchen Lappalien lassen wir an Jeschkes Werk Geschulten uns nicht täuschen. Einer von Jeschkes Scherzen – ha! Aus Dutzenden fremder Gesichter blickt er mich an. Doch der wahre Jeschke steckt in den zwei, drei Quadratmetern Heyne-SF, auf die ich von meinem Arbeitsplatz aus blicke. Dieses seriöse Heyne-Anthrazit als Farbe für die Buchrücken eines unseriösen Genres. Diese Ziegelsteine von einem Buch, über die man sich oft und gern lustig gemacht hat, so unhandlich, so schwer zu handhaben und doch so preisgünstig waren sie. So inhaltsschwer auch. Und so schmal dieses erste Heyne-Bändchen, das ich in den frühen Siebzigern gekauft habe,Der Zeiter, die Kurzgeschichtensammlung eines mir naturgemäß Unbekannten mit dem Namen Wolfgang Jeschke – naturgemäß, weil ich ein Schuljunge war, dem alles und jeder unbekannt gewesen ist.

Es scheint mir heute noch ein so unverstehbar großes Wunder, wie dieses Buch in den Schreibwarenladen eines kleinen niederbayerischen Marktfleckens gelangt ist, aber es hat wohl damit zu tun, dass Heyne ein Trash-Verlag war, ein Anbieter von gut verkäuflichen Liebesromanen und Westerngeschieße und Kriminalabenteuern. Da wagte die Ladenbesitzerin vielleicht auch einmal, ein paar Zukunftsromane zu bestellen. Ein Suhrkamp-Vertreter, ein Vertreter von dtv oder Hanser hätte sich wohl nie in diese Buntstift-Boutique verirrt.Der Zeiter, ich weiß es noch, war mir zu schwierig. Aber die Protagonisten der Geschichten blieben mir stets im Gedächtnis. Einzelne Sätze. Einzelne Ideen der Handlung. Immer wieder habe ich die Geschichten gelesen – es war ja nicht wirklich viel Geld für neue Bücher da –, bis mir die Idee eines mittelalterlich anmutenden Königreichs in fernster Zukunft ganz normal und vertraut erschien. Und Jeschke ein papierener Freund geworden war. Mehr: ein Türöffner.

Dass er zwei Wimpernschläge später – nachdem meine Frau Isabella Ende der Siebziger Kontakt zu Friedel Wahren und zu Heyne aufgenommen hatte, um einen Text über Androgynität anzubieten – als realer Mensch in unser Leben getreten ist, erschien mir fast ebenso unreal wie eine vertrackte SF-Story. Doch halt, haben Sie das eben mitgekriegt: eine elend lange Arbeit über Androgynität und Gender und Sexualität und utopisches Denken – bei Heyne!? Fuck, ja. Und nur dort. In den Jahrbüchern. In den Ziegelsteinen, den belächelten. Jeschke, der – was selten ist – über Herzensbildung und literarische Bildung zugleich verfügte, veröffentlichte mit größtem Vergnügen jeden Knaller-Bestseller für Bekloppte, weil er wusste, dass so ein Schundschmöker es ihm ermöglichte, utopische, dystopische, misanthropische und überhaupt tropische Literatur vom Feinsten zu veröffentlichen im zutiefst demokratisch-patriarchalen Heyne-Universum. Meine Frau zog damals einen Job als »Publisher’s Reader« für Heyne an Land, und so war es auch mir möglich, Tag für Tag beste englische und amerikanische SF- oder Fantasy-Literatur zu lesen (und unter Isabellas Namen zu begutachten), mir die Rosinen zu picken, schnell ein begeistertes Interesse für Cyberpunk zu entwickeln oder den schwülstigen Wortverführungen einer Tanith Lee zu erliegen (die nur wenige Tage vor Jeschke verstorben ist, mögen ihre grausamen Götter ihr gnädig sein). Schnell kam das Doppelspiel auf – spätestens bei den SF-Stammtischen –, doch Jeschke war das nur ein Lächeln wert: Er ließ mich Jack Womack und Bruce Sterling übersetzen, wenn ich Zeit und Lust hatte. Er förderte und half uns Jungspunden, wo er nur konnte – so wie er zahllose andere inspiriert, gefördert, durch seine Großzügigkeit beschämt hat. Wolfgang Jeschke, er hat dieses Land, er hat diese Welt durch sein schriftstellerisches und herausgeberisches Werk zu einem schöneren Ort gemacht – angewandte Science Fiction durch eine selbstverständliche Humanitas des Alltäglichen. Was für ein Kosmonaut, was für ein Raum-Zeit-Ingenieur. Was für ein toller Jeschke.

Karl Bruckmaier

Er hat die Science Fiction in Deutschland von ihren provinziellen Schlacken gesäubert – als Schriftsteller wie als Kustos der einschlägigen Reihe beim Münchner Heyne-Verlag seit 1973. Die literarische Gattung, die er liebte und verstand wie wenige, ist wie jede Gattung ein Dorf; ihre aktiven Kräfte neigen zu Cliquenbildung und jargonbefestigter Abschottung. Für den 1936 in Tetschen geborenen Wolfgang Jeschke aber war die Science Fiction das Versprechen einer auf kein Gebot und keine Not festgeschriebenen intellektuellen und ästhetischen Universalität, will sagen: unmittelbar Weltliteratur. Obskure, experimentelle japanische Texte nahm er daher so wichtig wie amerikanische Bestseller. So betrieb Jeschke bei Heyne eine Spielart des spekulativ-futuristischen Kulturaustausches, die sich nur sehr wenige andere Verlagshäuser je geleistet haben – Tor Books in New York etwa oder Hayakawa in Tokio.

Dass die Gattung von Leuten geformt wurde, die nicht nur geschrieben, sondern auch organisierend in ihre Entwicklung eingegriffen haben, wissen alle, die sich für sie interessieren – ohne Herausgeber wie Hugo Gernsback oder John W. Campbell wäre das Genre gar nicht erst entstanden, und als es in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts den ersten großen Schub zu größerer thematischer Vielfalt, aber auch zu einer vormals nicht üblichen Vielfalt von Erzählhaltungen und Stilexperimenten erfuhr, war der Schriftsteller Harlan Ellison als Anthologieherausgeber (Dangerous Visions) ebenso maßgeblich beteiligt wie sein Kollege Michael Moorcock als Zeitschriftenmacher (NEW WORLDS). Das Spielfeld, auf dem Jeschke wirken konnte, war gewiss kleiner als das, auf dem Gernsback, Campbell, Ellison oder Moorcock ihre Spuren hinterließen. Aber ein Prinzip, das jene Größen verband, hat auch er stets beherzigt: Die Einzelentscheidung, dicht am Text, ist das Wichtige, nicht irgendeine große Gesamtstrategie. Denn jede Geschichte stellt ihre eigenen Gesetze auf und muss sie erfüllen oder an ihnen scheitern; nichts ist der Entwicklung der individuellen schriftstellerischen Stimme wie dem Gesamtfortschritt der Gattung hinderlicher als das Schreiben nach irgendwelchen Rezepten, die den Texten aufgezwungen werden. Dass Jeschke da kein Pardon kannte, habe ich selbst am eigenen Schreibleib erfahren müssen: Kaum hatte er eine Kurzgeschichte von mir in eine seiner Sammlungen aufgenommen (falls es jemanden interessiert: Sie heißt »Anderes Leben« und steht inGogols Frau, erschienen 1994), schickte ich ihm sofort zwei weitere, die einen ähnlichen Aufbau, eine ähnliche Erzählstimme und sogar ähnliche Pointen hatten. Mit der nachsichtigen Strenge, die gute Lehrer auszeichnet, ließ er mich wissen, er wolle, wenn ihm etwas gefallen habe, nicht etwas haben, das genau so sei, sondern etwas, das genauso gut sei – und das waren die beiden Angebote eben nicht.

Wer hierzulande für die phantastische Literatur lebt, wer auf Deutsch über etwas schreibt, das es nicht gibt, aber vielleicht einmal geben wird, schuldet Wolfgang Jeschke dafür, dass er solche Grundsätze hatte und ihnen so konsequent gerecht wurde, mehr als Dank. Den vielen Welten, die dieser fleißige Ermöglicher und stilprägende Erzähler jetzt verwaist zurücklässt, mag ein Trost sein, dass die hiesigen Gegenwartsgrößen der Szene von Andreas Eschbach bis Frank Schätzing es in Jeschkes letzten, von allerlei Beschwernis gezeichneten Lebensjahren nicht versäumt haben, sich öffentlich vor dem Meister zu verneigen.

Sein Wirkungskreis war freilich nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Noch 2013, als Jeschkes parahistorische RomankathedraleDas Cusanus-Spielüber ein Zeitreiselabyrinth um den mittelalterlichen Mathematiker und Theologen Nikolas von Kues in englischer Übertragung erschien, pries Gary K. Wolfe, einer der kenntnisreichsten Kritiker des Genres, das Werk als geglückten Versuch, »die Komplexität und Vielfalt der Zeiterfahrung mit ungewöhnlichen Techniken darzustellen«. Wolfes Vergleich mit Umberto EcosDas Foucaultsche Pendelund ähnlicher Epik, die »Genremechanismen in den Dienst dichter philosophischer Legenden stellt«, trifft auch auf andere Arbeiten Jeschkes zu, etwa den melancholischen Thriller über das Verhältnis von Energiegewinnung und politischer GeschichteDer letzte Tag der Schöpfungvon 1981 oder das kühn in unüberschaubar viele Facetten zersplitterte Bild vom Menschsein, das die WarnfabelMidas oder Die Auferstehung des Fleischesvon 1989 entwirft.

Ich bin Wolfgang Jeschke nur einmal persönlich begegnet, vor mehr als zwanzig Jahren. Im Gespräch erwähnte ich beiläufig ein von ihm herausgegebenes, damals bereits vergriffenes Buch, in dem eine Erzählung von Harlan Ellison tiefen, bleibenden Eindruck auf mich gemacht hatte. Das Buch war mir verloren gegangen. Kurze Zeit später traf ein Ersatzexemplar mit der Post ein. So war dieser Mann: Seine Übersicht über das, was Menschen in die Zukunft führen konnte, die sie suchten, kannte keine Grenzen.

Dietmar Dath

Über den menschlichen Preis des Fortschritts

Wolfgang Jeschke gilt meine bleibende Zuneigung, mein Dank, mein Respekt vor seinem Lebenswerk. Er war humorvoll, pfiffig, schlitzohrig – und wie fast alle Menschen solchen Schlags ein ernsthafter Humanist. Er schrieb über den menschlichen Preis des Fortschritts, über eine Welt, die uns zu entgleiten droht. In seinen Erzählungen findet man die Qualen, die Menschen fähig sind einander zu bereiten, und die Angst vor solchen Scheußlichkeiten. Aber auch einen Rest an Hoffnung für jenes »fahle blaue Tüpfelchen«, wie Carl Sagan die Erde nannte – ein Autor, den Wolfgang mit seinem BuchNachbarn im Allnach Deutschland gebracht hatte, worauf er sehr stolz war. Sagan wie Jeschke glichen sich darin, dass sie, jeder auf seine Weise, ihr Leben lang gegen Voreingenommenheit, Engstirnigkeit und Unvernunft stritten.

Ärgerte sich Wolfgang Jeschke oder fühlte er sich angeödet durch leeres Geschwätz, konnte er in eine Buddha-ähnliche Haltung verfallen. Stoisch saß er dann da, ohne eine Hand zu rühren oder eine Miene zu verziehen. Und er ärgerte sich vor allem, wenn er feststellen musste, dass Science Fiction von Dilettanten verfasst und dass solche Machwerke von einer unkritischen Leserschaft noch goutiert wurden. »Es muss doch, gelinde gesagt, ein merkwürdiges Licht auf unseren Geschmack werfen«, schrieb er mit einundzwanzig Jahren, »wenn Bradbury und ein Maschinenpistolenroman aus der Gosse unter ein und demselben Namen verscheuert werden.« Und als Siebzigjähriger konstatierte er kritisch die literarische »Verbarrikadierung« vieler Fans, ihren Mangel an Bereitschaft, »sich mit Autoren zu befassen, die auf Neuland vorgestoßen sind«.

Ein kurzer Blick zurück, wie alles anfing: 1957 entstand im Science Fiction Club Deutschland jener Arbeitskreis für »echte« – weniger auf Action getrimmte, nachdenkliche, hin und wieder gar zeitkritische – Science Fiction, dessen Vorreiter Wolfgang Jeschke und der drei Jahre ältere Jesco von Puttkamer wurden. Als wichtiger für Wolfgang sollte sich erweisen, dass gleichzeitig in der AnthologieLockende Zukunft(herausgegeben von Heinz Bingenheimer) seine erste gedruckte KurzgeschichteDer Türmererschien. Um sie in seine 1970 veröffentlichte Sammlung eigener Erzählungen,Der Zeiter, aufzunehmen, fand er sie rückblickend zu naiv. Hannes Riffel dagegen hat ihr auch heute noch Charme bescheinigt, und ich schlage mich uneingeschränkt auf seine Seite.

1970 gehörte Wolfgang bereits zu den Jungtalenten, denen sich die Chance bot, die Gestaltung des Genres selbst in die Hand zu nehmen – in seinem Fall zunächst beim Lichtenberg Verlag mit der ReiheSCIENCE FICTION FÜR KENNER. Wiederum zehn Jahre später folgte dann sein RomandebütDer letzte Tag der Schöpfung.

Über künftige menschliche oder gar über mögliche außermenschliche Lebenswelten einfühlsam zu schreiben, sollte niemand beanspruchen, der sich nicht selbst ein Gespür verschafft hat für andere, nicht zuletzt außereuropäische Kulturen. Wolfgang und seine Frau Rosemarie haben derartige Kulturen jahrzehntelang bereist, vorrangig diejenigen Vorder- und Südostasiens, darunter immer wieder Indien und Indonesien. Recherchen für Wolfgangs Geschichten bestanden für beide nicht zuletzt aus solchen, miteinander geteilten Erfahrungen.

Ärmer verlaufen wäre ohne Wolfgang auch mein eigenes Leben. Weder hätte es unser gemeinsames BuchMarsfiebergegeben, noch meine Van-Vogt-Neuausgaben in seinerBIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR, noch die Aufsätze imSCIENCE FICTION JAHR, zusammengefasst in einem Sammelband, den er – gesundheitlich schon beeinträchtigt – eingeleitet hat.

Man schmälert Herbert W. Frankes und Franz Rottensteiners Leistungen nicht, wenn man festhält: Niemand hat für die Verbreitung inhaltlich intelligenter, literarisch anspruchsvoller Science Fiction im deutschen Sprachraum jahrzehntelang so viel getan wie Wolfgang Jeschke. Was er als Herausgeber veröffentlichte, was er selbst schrieb, war geleitet von dem Motto: »Ich mache es dem Leser nicht leicht. Weshalb sollte ich auch?« Den »Job der Science Fiction« sah er darin, »die Augen zu öffnen für historische Abläufe, die über den Tageshorizont unseres Lebens hinausführen«. Seine Überzeugung war und blieb, dass Science Fiction eine Literatur von Rang sein kann.

VomLetzten Tag der SchöpfungüberOsirisLandundMeamones Augebis zuNekromanteion, zu denOrten der Erinnerung, zumCusanus-Spiel– um mit Ingeborg Bachmann zu sprechen: Die große Fracht seines (Lebens-)Sommers ist verladen.

Adieu, Wolfgang.

Rainer Eisfeld

Wäre alles so gelaufen wie geplant, hätten wir uns Anfang Juli 2015 auf dem WetzKon II getroffen, wo er als Ehrengast eingeladen war,derEhrengast schlechthin zum sechzigjährigen Jubiläum des Science Fiction Clubs Deutschland. Doch das Schicksal folgt menschlichen Plänen nicht: Wenige Wochen davor, am 10. Juni 2015, ist Wolfgang Jeschke, der die Science Fiction in Deutschland geprägt hat wie niemand sonst, im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben.

Als Schriftsteller wird man oft gefragt, welche Autoren einen beeinflusst haben, und wenn man versucht, darauf zu antworten, fallen einem vor allem Autoren ein, an denen man sich stilistisch orientiert oder denen man nachzueifern versucht hat. So jemand war Wolfgang Jeschke in meinem Pantheon nicht – und doch ist er wahrscheinlich derjenige, der den nachhaltigsten Einfluss auf meinen Weg gehabt hat.

Zuallererst als Autor: Noch heute ist eines der aufwühlendsten Leseerlebnisse, an das ich mich erinnere, jenes, wie mir als Jugendlicher eine Kurzgeschichtensammlung mit allerlei Zeitreisen in die Hände fiel, deren Geschichtenso ganz anderswaren als die schlichten Weltraumabenteuer, die ich bis dahin gelesen hatte. Erst viele Jahre später ging mir auf, dass es sich bei besagtem Buch um den BandDer Zeitervon Wolfgang Jeschke gehandelt hatte – aber da hatte er mir in seiner Eigenschaft als Herausgeber der Heyne-SF-Reihe schon längst die Regale mit diesen vielen Taschenbüchern mit den schwarzen Rücken gefüllt, die in ihrer Gesamtheit wesentlich geformt haben, was ich unter Science Fiction verstehe.

Der entscheidendste Einfluss aber war zweifellos der, dass er mir in einem entscheidenden Moment – als gleich zwei Verlage, darunter der Heyne-Verlag, meinen zweiten RomanSolarstationhaben wollten – riet: »Herr Eschbach, Sie brauchen einen Agenten.« Und mich an seine Agentur, die Agentur Schlück, weiterempfahl, die mich seither (bestens) vertritt. Wie wichtig und richtig dieser Schritt war, der mir damals von selber bestimmt nicht eingefallen wäre, habe ich erst viel später begriffen. Nochmals danke, Wolfgang.

Ach ja, und als mir eines Tages auffiel, dass in meinen Bücherregalen – die nach Autoren geordnet sind – die Werke von Wolfgang Jeschke so viel Platz einnehmen wie sonst nur noch die von zwei, drei anderen Autoren (und damit mich das niemand fragen muss: diese anderen heißen Stephen King, John Grisham und Alistair MacLean), wunderte mich das nicht wirklich, und auch nicht, dass es ganz unbemerkt passiert war. Irgendwie ist sogar das typisch dafür, wie er gewirkt hat.

Persönlich begegnet sind wir uns nur ab und zu – nicht oft genug –, aber er war trotzdem immer irgendwie da. Und jetzt ist er es nicht mehr.

Es wird eine Weile dauern, bis ich das ganz begreife.

Andreas Eschbach

Wolfgang Jeschke – und die Zukunft

Für mich war es die traurigste Nachricht der letzten Zeit: Wolfgang Jeschke ist gestorben. Der vielseitige Lektor, Herausgeber und Autor utopischer Literatur, zugleich aber auch einer der besten Kollegen und Freunde, die man sich wünschen mag. Es ist eine Nachricht, die man nicht fassen kann, gegen die man sich zu wehren versucht. Natürlich vergebens. Doch sie ruft Erinnerungen wach – die vorher angenehm gewesen wären und nun auf einmal wehtun. Denn es werden keine neuen dazukommen.

Eine Möglichkeit des Trosts, die man stets gern wahrnehmen möchte, steht uns allerdings offen: Sein Tod hat keine Leere hinterlassen. Und wenn ich schreibe »uns«, dann meine ich alle, die sich mit ihm in Freundschaft und in Anerkennung seiner Leistung verbunden fühlen. In seinem Fachgebiet hat er unübersehbar Vieles geleistet: geschrieben, organisiert, neu eingeführt. Ein Vermächtnis, das verpflichtet – was lange weiterwirkt und Beachtung verdient. Es äußert sich in den Berichten über seine Auftritte in der Öffentlichkeit, die gedruckten Texte seiner Vorträge, seiner Zeitungsartikel, seiner Vor- und Nachwörter in vielen der von ihm herausgegebenen Bücher. Vor allem aber in seinen eigenen literarischen Beiträgen, in denen er einhält, was er von anderen wünscht, vor allem von den Autoren (und das ist nicht wenig). Auf Einzelheiten einzugehen, würde den Rahmen dieser Notiz sprengen. Es gibt noch vieles, was erwähnenswert ist und vielleicht auch wichtiger als Listen von Daten und Titeln. Jahrzehntelang hat er für denselben Verlag gearbeitet, er betreute große Auflagen und hatte so Einfluss auf die Art und Weise, wie sich Science Fiction im deutschen Buchmarkt präsentiert. Science Fiction war seine Spezialität, er war einer der besten Kenner dieser Sparte, und er nutzte die Gelegenheit seines Berufs, das Beste daraus in die Öffentlichkeit zu bringen. Beachtenswert sind gerade jene Aspekte, in denen sich das moderne der Utopie gewidmete Schrifttum von jenem unterscheidet, das üblicherweise in akademischen Kreisen berücksichtigt wird.

Schon das ist ungewöhnlich genug: Science Fiction gehört zweifellos zur Unterhaltungsliteratur. Doch gerade das führt ihr eine Menge von engagierten Lesern zu, um die sie viele Autoren von Hochliteratur beneiden könnte. Und viele von diesen Lesern sind ein wenig besser über die Zukunft orientiert als über eine unveränderliche Vergangenheit.

Und damit ist schon die zweite Besonderheit von Science Fiction ins Spiel gekommen: die zukunftsorientierte Thematik, die Interesse weckt – und das vor allem bei jungen Lesern, die die Zukunft noch vor sich haben. Es ist ja merkwürdig, dass jene Literatur, die sich den Problemen widmet, mit denen die Menschheit in nächster Zeit fertigwerden muss, von den meisten der derzeit aktiven und viel gelobten Schriftstellern ausgeklammert wird. Doch gerade darin, dass es sich um fiktive Szenerien handelt – angesiedelt in der Nähe der Phantastik, aber doch der Realität verpflichtet –, verbirgt sich eine literarische Chance: das Aufgreifen neuartiger Konfliktsituationen – besonders solcher, die noch nicht eingetreten sind, sich aber mehr oder weniger deutlich abzeichnen; das Spielfeld der Dramatik, das sich dadurch beträchtlich erweitert. Neben die Konflikte zwischen Menschen kommt nun auch die Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz, Robotern und Aliens und vielleicht auch mehr.

Erst jetzt, an dritter Stelle, erwähne ich eine Eigenschaft, die speziell in Jeschkes Erzählungen und Romanen auffällt: der meisterhafte Umgang mit der Sprache. Die gut lesbare, bildhafte und eingängige Darstellung, die weit über die üblichen Klischees hinausgeht – ich habe sie in der Science Fiction oft vermisst, jedoch in allen seinen Schriften gefunden. Und oft erst später, beim zweiten Lesen, besonders genossen, denn bei der ersten Lektüre war es doch immer wieder die Handlung, auf die ich fast zwanghaft konzentriert war. Erst durch diese besondere Wirkung, das Zusammenspiel von mehreren Beziehungsebenen, der Drang zum wiederholten Lesen – das macht den Text zu einem Kunstwerk, von dem man ja eine Langzeitwirkung verlangt (wenn es auch nicht unbedingt gleich die Ewigkeit sein muss).

Ich wiederhole es: Die hohe Qualität, mit der sich die Science Fiction im deutschsprachigen Raum präsentiert, ist vor allem Wolfgang Jeschke zu verdanken. Natürlich ist es die herausgeberische Leistung, die zu dieser Breitenwirkung geführt hat, aber auch als Autor hatte er eine Vorbildfunktion. Obwohl sein Werk bemerkenswert umfangreich ist, war es sein großer Wunsch, sich noch mehr auf das Schreiben konzentrieren zu können – er hat es mir gegenüber oft erwähnt. Doch die Zukunft, in der sich dieser Wunsch hätte erfüllen können, ist für ihn vorbei, und es ist besonders tragisch, dass sie ihm die Erfüllung dieser seiner Hoffnungen versagt hat.

Herbert W. Franke

Irgendwann beugte er sich zu mir herüber, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns duzen.« Das betreffende Gespräch führten wir während eines Seminars für Autorinnen und Autoren an der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel, an dem wir beide teilnahmen, irgendwann Mitte der Neunzigerjahre.

Wolfgang Jeschke war der hochgeachtete Herausgeber der Science-Fiction-Reihe im Heyne-Verlag, ich war der jungePERRY RHODAN-Redakteur. Gemeinsam arbeiteten wir ein Wochenende lang intensiv mit den Texten der Autoren, sprachen über ihre Schwächen und Stärken, versuchten herauszufinden, was gut war und was weniger gut »funktionierte«. Dabei lernten wir uns kennen und schätzen.

Diese Begegnung ist jetzt bald zwanzig Jahre her.

Nach unserem Wolfenbüttel-Kontakt trafen wir uns öfter, schrieben uns E-Mails oder gar altmodische Briefe. Zuletzt hatten wir wegen seines aktuellen RomansDschiheads, den er mir mit Widmung schickte, einen kurzen Kontakt per Mail und per Brief, gesehen hatten wir uns seit einigen Jahren nicht mehr.

Wenn jemand meinen Science-Fiction-Geschmack entscheidend beeinflusst hat, war es Wolfgang Jeschke. Innerhalb seiner Reihe erschienen die prägenden Meisterwerke von Schriftstellern wie John Brunner oder C. J. Cherryh, im Fantasy-Bereich lernte ich dank seiner Arbeit Autorinnen wie Katherine Kurtz und Tanith Lee kennen. Heyne brachte die großen Science-Fiction-Romane von John Brunner und Philip K. Dick, Wolfgang Jeschke veröffentlichte darüber hinaus zahlreiche Anthologien.

In einer dieser Anthologien durfte ich als junger Autor sogar publizieren. In der SammlungDas digitale Dachauist eine Kurzgeschichte von mir enthalten; neben meinem Text wurden Geschichten von Autoren wie C. J. Cherryh, Kate Wilhelm, Ian Watson oder George R. R. Martin abgedruckt. Ich war in diesem Jahr 1986 reichlich stolz darauf.

Jeschke war zudem als Autor von einer Qualität, die man im deutschsprachigen Raum nicht oft findet. Sein RomanDer letzte Tag der Schöpfungist eine originelle Zeitreisegeschichte, die mir seit über dreißig Jahren gut im Gedächtnis geblieben ist. Dazu kamen weitere Romane sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Aufsätze. In seinen Romanen und Geschichten verbanden sich spannende Unterhaltung mit zeitkritischen Ansätzen. Die katholische Kirche fand dabei immer wieder ihren Platz, eine Kritik an der institutionalisierten Religion trug er so in literarischer Weise vor.

Wolfgang Jeschke war ein Streiter für die anspruchsvolle Science Fiction; er wollte sich nicht damit abfinden, dass das Genre in einem Ghetto vor sich hin vegetieren sollte. Er kämpfte dafür, dass die Science Fiction ihren Platz in der Literaturgeschichte findet, dass man sie nicht mit »Schund« in einen Topf wirft.

In seinen Kritiken war er oft direkt; man konnte sich auch öffentlich mit ihm streiten. Ließ man sich aber auf ihn als Menschen ein, erwies er sich als warmherziger Charakter, der viel Humor zeigte, der großzügig und freundlich war.

Er wird der Science-Fiction-Szene sehr fehlen. Meine Gedanken sind jetzt aber bei seiner Familie, der er noch mehr fehlen wird.

Klaus N. Frick

Zum ersten Mal getroffen habe ich Wolfgang Jeschke im August 1975 in Laichingen/Baden-Württemberg. Anlass war der jährliche Con des Science Fiction Club Deutschland, den der neue Mitherausgeber der SF-Reihe bei Heyne besuchte. Vom Telefon her kannten wir uns schon – schließlich hatten meine Kollegen Hans Joachim Alpers und Ronald M. Hahn, beide ebenfalls in Laichingen anwesend, mit mir ein Jahr zuvor die literarische AgenturUtopropgegründet –, und da wir uns auf SF und Fantasy spezialisiert hatten, waren der Heyne-Verlag und Wolfgang Jeschke natürlich begehrte Ansprechpartner für uns.

Zu unserer großen Freude hatte er 1974 zwei Texte eines völlig unbekannten Newcomer-Autors angekauft, den wir vertraten: George R. R. Martin. Die Geschichten hießen »With Morning comes Mistfall« und »A Song for Lya«. Eine Woche nach dem Con in Laichigen gewann »Lya« den Hugo als beste Novelle in Melbourne, Australien und die Geschichte erschien noch im selben Jahr imSTORY READER 5. Für Martin bedeutete sie in den USA den Durchbruch, für uns war sie ein wichtiger Schritt nach vorn – für die Agentur, aber auch für uns persönlich. Ein freundschaftliches Verhältnis zwischen uns und Wolfgang entstand, das nicht zuletzt auf gegenseitigem Respekt in Bezug auf unser »SF-Fachwissen« und unseren Background als Fans fußte.

In den nächsten Jahren arbeiteten wir oft zusammen – als Übersetzer für seine SF-Reihe bei Heyne, als Textlieferanten und schließlich als Verfasser desLexikon der Science Fiction Literatur, bis heute das Standard-Nachschlagewerk für SF im deutschen Sprachraum.

Wolfgang und Ehefrau Rosi waren auch häufig Gäste auf SF-Conventions, so trafen wir uns 1978 in Dublin auf der 1. World SF Convention oder 1979 in Brighton zum SeaCon, dem 37. SF-WorldCon. Unvergessen hier Robert Asprins (der Herausgeber der AnthologienserieThieves World) erstaunte Frage auf einer Room-Party, wer denn dieser deutsche U-Boot-Kommandant sei. Sicheres Auftreten, durchdringender Blick, graumelierte Haare und Bart – nun ja, für Amerikaner erinnerte Wolfgangs Aussehen wohl an einen Hollywood-Deutschen.

Dann, 1990 in Den Haag, beim 48. WorldCon »ConFiction«, war Wolfgang Jeschke nicht mehr nur Besucher, sondern Ehrengast. Er hatte sich diese Einladung nicht nur aufgrund seiner Romane verdient (die inzwischen auch in den USA erschienen waren), die von ihm herausgegebene Reihe im Heyne-Verlag war mittlerweile die umfangreichste und auch erfolgreichste SF/Fantasy-Reihe in ganz Europa. Der einzige deutsche Ehrengast zuvor war Herbert W. Franke 1970 in Heidelberg gewesen, das aber im eigenen Land. Wolfgang hielt jedenfalls eine tolle Ehrengastrede, die auch das gerade wiedervereinigte Deutschland thematisierte und aufgrund seiner kritischen Aussagen in Holland besonders gut ankam.

Mit Wolfgang als Autor kam ich schon 1970 in Berührung.Der Zeiterhieß die Storysammlung aus dem Lichtenberg Verlag, und die lange Novelle »Der König und der Puppenmacher« zählte für mich zum Besten, was die deutsche SF bis dahin hervorgebracht hatte. Aber schon als Fan hatte er zehn, fünfzehn Jahre zuvor durch seine Storys von sich reden gemacht, etwa durch »Supernova« inUTOPIA MAGAZIN 23, einem leicht experimentellen Text, der es jederzeit mit den Hervorbringungen angloamerikanischer Autoren aufnehmen konnte.

Sein liebstes Motiv war die Zeitreise. Sein erster RomanDer letzte Tag der Schöpfung(1981) schildert den Versuch amerikanischer Spezialisten, fünf Millionen Jahre vor unserer Zeit die Erdölvorkommen der späteren arabischen Staaten abzupumpen. Seine anderen Romane warenMidas(1989),Meamones Auge(1997),Osiris Land(1982, 1997),Das Cusanus-Spiel(2005) undDschiheads(2013). Fast alle wurden in andere Sprachen übersetzt und gewannen den Kurd Laßwitz Preis oder den Deutschen Science Fiction Preis.

Anfang der Achtzigerjahre gründete ich zusammen mit Hans Joachim Alpers den Verlag Fantasy Productions. Der erste Vertriebstitel warOsiris Land, den Wolfgang privat hatte drucken lassen. Später verlegte sich Fantasy Productions mehr und mehr auf Rollenspiele und deren Universen. Ab 1989 kam es zu einer langen und erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen FanPro und Heyne. Wolfgang hatte sich von den neuen Welten begeistern lassen, und fortan publizierte Heyne die Romane zu unseren Rollenspielen –Battletech,Shadowrun,Das Schwarze Auge,Earthdawn,Renegade Legion,Mechwarrior Dark Age– insgesamt weit mehr als 200 Titel, die über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erschienen. Wolfgangs Verdienst dabei war, das Potenzial dieser Serien früh erkannt zu haben.

Wolfgang Jeschkes Status als Spitzenautor deutscher Science Fiction ist unbestritten, aber überstrahlt wird er noch durch seine Arbeit als Herausgeber und Lektor für die Heyne SF- und Fantasy-Reihe. Seit 1973 zusammen mit Herbert W. Franke, ab 1977 allein, formte er bis 2002 die Reihe und machte sie zum Aushängeschild des Verlags. Neben der Pflege ausländischer Spitzenautoren gab er auch dem deutschen Nachwuchs eine Chance, etablierte Unterreihen wie dieBIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR, die die besten Werke der SF präsentierte, gab Hunderte von Anthologien heraus und schuf mit demSCIENCE FICTION JAHReine voluminöse sekundärliterarische Bestandsaufnahme des Genres. Und neben all dem fand er noch Zeit, die Welt bis in ihre entlegenen Winkel zu bereisen.

Wolfgang Jeschke starb am 10. Juni 2015 in München nach langer, heimtückischer Krankheit. Die deutsche Science-Fiction-Szene verliert mit ihm ihre wichtigste Persönlichkeit und ich einen Freund und Förderer. Wolfgang hinterlässt seine Frau Rosemarie und seinen Sohn Julian. Unsere Gedanken sind bei ihnen.

Werner Fuchs

Als Ehrengast auf der World Science Fiction Convention

Meine Kontakte mit Wolfgang Jeschke standen in Zusammenhang mit dem Ersten Deutschen Fantasy Club e. V.

1984 verlieh ihm unser Verein den Deutschen Fantasy Preis für seine Verdienste um die Science Fiction und Fantasy im deutschsprachigen Raum. Man muss wissen, dass es bis Ende der Siebzigerjahre in Deutschland üblich war, sämtliche Romane aus der Unterhaltungsliteratur, die im Taschenbuchformat erschienen, auf eine Standardlänge von meistens 160 Seiten zusammenzukürzen. Wolfgang Jeschke war nun derjenige, der im Heyne-Verlag – er betreute die dortige Science-Fiction-Reihe seit 1973 – durchsetzte, dass dem Kürzen ein Ende gemacht wurde und die Taschenbücher mit flexiblem Umfang und Preis erscheinen konnten. Ein Beispiel: Die Heyne-Fassung von Frank HerbertsDer Wüstenplanetaus dem Jahr 1967 hatte gerade mal 320 Seiten, die von 1984 dagegen 720.

Erst im Lauf des nächsten Jahrzehnts begriffen auch die anderen Verlage, dass sogar Leser von Unterhaltungsliteratur einen gewissen Qualitätsstandard erwarteten und durchaus bereit waren, den entsprechenden Preis dafür zu bezahlen. Heute hat sich die Tendenz ganz offenbar umgekehrt; ein Roman wird umso leichter veröffentlicht, je dicker er ist.

1984 war auch das Jahr, in dem ich Wolfgang Jeschke persönlich kennenlernte. Später trafen wir uns öfter bei den sogenannten »OldieCons« – fannischen Treffen ergrauter Fans – in Unterwössen, wo wir auch regelmäßig Dr. Franz Ettls gedachten, eines Fans der ersten Stunde und Erquirler des legendären »Vurguzz« (ein hochprozentiges Bazillenvernichtungsmittel).

Im Jahr 2008 veranstaltete ich den siebten und letzten Kongress der Phantasie, der unter dem passenden Motto »Die letzten Dinge. Die andere Welt in Literatur, Kunst, Medien und Religion« stand. Wolfgang Jeschke hielt dort einen Vortrag mit dem Titel »Science Fiction und die letzten Dinge«, in dem er unter anderem bekannte, Materialist und Atheist zu sein. Er sagte: »Mein Credo: Der Atheist lebt in einer lichterfüllten Welt, und er lebt freier. Seine Ansicht ist geprägt von der Gewissheit, dass der menschliche Geist das Universum zunehmend erkennen und erklären kann, ohne ontologisch zweifelhafte Krücken zu benutzen, die ihm auf perfide Weise von Kind an indoktriniert werden und an die so viele Menschen lebenslang gekettet sind.«