Das Science Fiction Jahr 2017 -  - E-Book

Das Science Fiction Jahr 2017 E-Book

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Beschreibung

In der 32. Ausgabe von "Das Science Fiction Jahr" finden sich Beiträge von Christian Endres, Fritz Heidorn, Michael K. Iwoleit, Udo Klotz, Jewgeni Lukin, Hannes Riffel, Lars Schmeink u. v. a. Darüber hinaus ergeben Interviews und Rezensionsblöcke über Literatur, Film und Comic ein umfangreiches Portfolio dessen, was das Jahr 2016 der Science Fiction gebracht hat.

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Impressum

Das Science Fiction Jahr 2017

Originalausgabe

Die einzelnen Rezensionssparten wurden verantwortet von:

Hardy Kettlitz (Bücher)

Andy Hahnemann (Film)

Hannes Riffel (Comics)

© 2017 by Golkonda Verlag

Die Rechte an den einzelnen Texten liegen bei den AutorInnen und ÜbersetzerInnen.

The copyright to the individual texts is held by the authors and translators.

Lektorat: Inger Banse, Michael Görden, Melanie Wylutzki

Korrektur: Inger Banse, Melanie Wylutzki

Umschlaggestaltung: s.BENeš [http://benswerk.wordpress.com]

Titelfotos: www.nasa.gov

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-946503-10-1 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-946503-11-8 (E-Book)

Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

Editorial

Wolfgang Neuhaus: Einige Schwierigkeiten, über den Kommunismus zu phantasieren

REVIEW | BUCH

Karlheinz Steinmüller: Igel, Füchse, Dart spielende Affen und Superforecaster

Michael K. Iwoleit: Eine Saison der Kurzatmigen: Anmerkungen zur deutschen SF-Story-Szene 2016

Udo Klotz: Von Zukünften nah und fern: Deutschsprachige SF-Romane 2016

Jakob Schmidt: Die Perspektive der Fachbuchhändler – Die Top 20 des Jahres 2016 im Otherland

Jewgeni Lukin: Blick aus der zweiten Schublade

Paul Semel: Interview mit Sylvain Neuvel

Lars Schmeink: Can We Talk?

Melanie Wylutzki: Interview mit Kai Meyer

G. Maximilian Knauer: Zum Begriff des Unsagbaren und der Mystik in der Science Fiction des 20. Jahrhunderts

Lars Schmeink: Spektakel der Katastrophe

REVIEW | FILM

Lutz Göllner: Agents of S.H.I.E.L.D., Defenders und Inhumans

REVIEW | COMIC

Fritz Heidorn: Nick der Weltraumfahrer – Der Sprung aus der Nachkriegszeit in das Raumfahrtzeitalter

TODESFÄLLE

PREISE

FACT | BIBLIOGRAPHIE

FACT | AUTOREN UND MITARBEITER

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

in diesem Jahr mussten Sie leider etwas länger auf DAS SCIENCE FICTION JAHR warten, das zwar die Jahreszahl 2017 trägt, aber dem Rückblick auf das Jahr 2016 gewidmet ist. Durch den Verkauf des Golkonda Verlages im April dieses Jahres kamen die Vorbereitungen der diesjährigen Ausgabe einige Monate ins Stocken, aber dank der Unterstützung unserer zahlreichen freien Mitarbeiter und unseres unermüdlichen Setzers und guten Geistes Hardy Kettlitz halten Sie es gerade noch vor Jahresschluss in den Händen.

Durch die Verpflichtungen des bisherigen Golkonda Verlegers Hannes Riffel als Herausgeber des TOR-Programms der S. Fischer Verlage blieb zu wenig Zeit für Golkonda und es musste ein neues Dach für den Verlag gefunden werden, um die für 2017 geplanten Werke umsetzen zu können. Der Europa Verlag hat diese Aufgabe dankenswerter Weise übernommen. Europa-Verleger Christian Strasser erwarb die Gesellschafteranteile und gewährleistet damit, dass Golkonda mit der bisherigen Ausrichtung weitermachen kann.

Beim SCIENCE FICTION JAHR haben diese Umstellungen bedauerlicherweise dazu geführt, dass Sie in dieser Ausgabe die vertrauten Besprechungen zu Games und Hörspielen nicht finden. Wir werden diese fehlenden Teile im nächsten Jahr nachholen und das Jahr 2016 in den Rückblick 2017 miteinbeziehen.

Trotz dieser Einschränkungen hat die vorliegende Ausgabe neben dem vertrauten umfangreichen Besprechungsteil eine ganze Reihe lesenswerter Essays und Interviews zu bieten. Wolfgang Neuhaus denkt in der Form eines erzählenden Essays über die utopischen Visionen aus der Zeit des real existierenden Sozialismus nach. Ein Thema, das Jewgeni Lukin aus der russischen Sicht spiegelt. Lars Schmeink plädiert für Diversität in der Science Fiction und Maximilian Knauer blickt auf die Mystik in den Klassikern des vorigen Jahrhunderts wie Frank Herberts Dune.

Neben einer Betrachtung des SF-Katastrophenfilms made in Hollywood hat mir die Wiederentdeckung eines deutschen Klassikers des SF-Comic besonderen Spaß gemacht: Fritz Heidorn zeigt an ausführlichen Beispielen, wie innovativ Hansrudi Wäscher schon in den späten 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Geschichten in NICK DER WELTRAUMFAHRER angelegt hatte. Hier wurde aus dem Fundus der Goldenen Jahre der amerikanischen SF geschöpft, lange bevor diese Ideen in deutschsprachigen Romanen ihren Niederschlag fanden.

Auch 2016 war bei den Neuerscheinungen ein reichhaltiges Jahr, wie der Rezensionsteil zeigt. In der Resonanz herausragend war Liu Cixin mit dem Auftakt zu seiner Hard-SF-Trilogie, deren erster Band Die drei Sonnen es bis auf die SPIEGEL-Bestsellerliste schaffte. Vielleicht kann man daran und an einigen anderen nachdenklichen Werken, auch deutscher Autoren, ablesen, wie groß der Hunger nach »Food for Thought« ist – jenseits der vielen unterhaltenden Serien und Reihen, die in den Buchhandelsregalen das Genre dominieren.

Golkonda möchte wie bisher ein Raum für das innovative Gedankenspiel in den Genres Science Fiction und Fantasy bleiben. Mit gelegentlichen Ausflügen in andere Sparten und dem Anspruch, wichtige Plattform für Sekundärliteratur zur SF zu sein. Mit der MEMORANDA-Reihe, wie bisher herausgegeben von Hardy Kettlitz, erscheinen im Frühjahr 2018 gleich vier neue Bücher u. a. von Uwe Anton, Hans Frey und Wolfgang Neuhaus.

Für mich persönlich ist die gerade übernommene Leitung von Golkonda eine Rückkehr zur meinen Wurzeln als SF-Lektor in den 70er- und 80er-Jahren und die Herausgabe des SCIENCE FICTION JAHR auch eine Hommage an den Begründer Wolfgang Jeschke, der mein großes Vorbild war, als ich meine Arbeit bei Bastei begann. Bei Golkonda darf ich nun einigen Autoren und Freunden aus dieser Zeit im Programm wiederbegegnen, wie Thomas Ziegler, Samuel R. Delany oder Karl Edward Wagner, nicht zu vergessen Captain Future, deren Editionen wir alle im nächsten Jahr fortsetzen werden.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und möchte mich noch einmal besonders bei allen Mitarbeitern und last but not least dem nur schwer ersetzbaren Hannes Riffel bedanken. Ohne eure Vorarbeit und Geduld in unruhigen Zeiten wäre diese Ausgabe nicht möglich geworden.

Ihr

Michael Görden

Wolfgang Neuhaus

Einige Schwierigkeiten, über den Kommunismus zu phantasieren

Eine Theorie-Erzählung zu den Brüdern Strugatzki

Berger musterte eingehend die Textur der Wände. Er befand sich in einem typischen Shoppingcenter im mittleren 21. Jahrhundert. Eher belustigt nahm er die der Antike nachempfundenen Säulenstützen der Halle zur Kenntnis. Andere Elemente der Dekoration waren bloß holografische Projektionen. Er stand an dem Brunnen im Zentrum des Gebäudes, der als Treffpunkt ausgemacht war. Berger hatte nie verstanden, was die Menschen an solchen Orten so faszinierte. Um ihn herum herrschte reges Treiben. Passanten strömten an ihm vorbei, ihre Einkaufstaschen gut gefüllt. Immer wieder flackerte persönlich abgestimmte Holowerbung in der Nähe der Konsumenten auf, was Berger amüsierte. Er studierte die Namen der Läden. Minor Jeans, Duro, Schuhmann. Die ganze Anlage erschien ihm wie ein Tempel, in dem die Gläubigen ihre Absolution durch den Kaufakt erfuhren. Jedenfalls der richtige Ort, um einen Eindruck zu gewinnen von der Welt der »gierigen Dinge«, wie sie von den Brüdern Strugatzki 1965 so vorausschauend beschrieben worden war, da war sich Berger sicher.

»Die Literatur soll die Psyche für eine äußere Welt trainieren, die trügerisch geworden ist, sie muss den Menschen auf noch grausamere Wunder vorbereiten, welche die Zukunft für ihn bereithält.«

Arkadi Strugatzki 1987[1]

Die Dinge waren in einem derartigen Überfluss vorhanden, dass sie unmöglich allein der Bedürfnisbefriedigung dienen konnten. Ihre Präsenz war aber gleichzeitig zu ehrfuchtgebietend, auch zu reserviert, um in einer fröhlichen Feier der individuellen oder kollektiven Verschwendung spontan verbraucht zu werden. Sie schienen durch ihre Anordnung zu sagen: halt, stopp, innehalten, bewundern. Um sie zu erwerben, musste man gewisse Voraussetzungen erfüllen. Man musste schon etwas besitzen, um sie haben zu können. Unterbrochen wurde die Reihe der Läden durch verschiedene Schnellrestaurants. Diego Pizza, China Meal, McFood. Sie waren auf schnelle Abfertigung ausgelegt, um das Ritual des Kaufens nur kurz zu unterbrechen. Ein solches Center war wie eine Pilgerstätte des Konsums. Die Dinge hatten eine Macht, der sich viele Menschen aus dieser Zeit nur schwer entziehen konnten. Die Mitarbeiter des Instituts für experimentelle Geschichtsforschung hatten ganze Arbeit geleistet. Das Shoppingcenter schien so etwas wie das Kraftzentrum dieser Welt zu sein. Hier kamen private und öffentliche Interessen zusammen, allerdings nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.

An diesem Ort sollte er Professor Ripow treffen. Ripow galt als einer der führenden Experten für die Geschichte zu Beginn der 2000er Jahre – einer Situation vielfältiger Umbrüche in der Weltgesellschaft. Er war auf die Begegnung gespannt. Granin hatte ihm eine Überraschung versprochen. Hans Martin Ripow, Professor der Neugeschichte, entpuppte sich als korpulenter Mann in seinen Fünfzigern, der nicht allzu sehr auf sein Äußeres zu achten schien. Ripow grüßte ihn flüchtig, als wolle er ihm signalisieren, er habe eigentlich Wichtigeres zu tun, und begann sogleich mit einem Monolog: »Sie also sind Wolfram Berger. Ich hatte Sie mir anders vorgestellt. Sie sind an der Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts interessiert? Eine fabelhafte Zeit. Die Menschheit wusste endlich, woran sie ist. Keine welthistorischen Irritationen, keine Ablenkungen mehr. Alle waren in der Marktgesellschaft gut aufgehoben, die mit unsichtbarer Hand reguliert wurde. Sicher musste mal etwas korrigiert werden. An den Rändern tummelten sich ein paar Fundamentalisten verschiedenster Art, aber mit denen wurde das System fertig. Religionen, Utopien, regionale Denkweisen – nichts konnte sich dem Sog des Kapitalismus entziehen. Waren es nicht Marx und Engels, die da in ihrem Manifest geschrieben haben, der Kapitalismus bringe alles Stehengebliebene und Ständische zum Verdampfen? Oder so ähnlich. Recht hatten sie … Kommen Sie, lassen Sie uns einen Spaziergang machen. Ich war schon lange nicht mehr hier. Ah, sehen Sie da die Sonderangebote? Kaum zu glauben, wie preiswert Pflegeroboter geworden sind. Und da die neuen Holo-Brillen. Haben Sie schon welche probiert? Holografie ist überhaupt das nächste große Konsumding … Aber wo war ich stehengeblieben? Ach, ja. Der Kapitalismus ist so flexibel, dass er alle Störungen, um es mal so zu nennen, wieder integrieren kann. Die perfekte Gesellschaft. Wir sind am Ende der Geschichte angelangt. Was wollen Sie? Die Menschen bekommen alles, was sie brauchen. Arbeit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung. Und sie können shoppen. Wer will, kann Sport treiben, sich weiterbilden, an seiner Vervollkommnung arbeiten. Ihm sind keine Grenzen gesetzt, nur die seines Willens.« Berger war amüsiert. So ein Redeschwall war seit langem nicht mehr auf ihn eingeprasselt. Vorsichtig warf er ein, dass es ja Klassen gab. »Klassen? Es gibt keine Klassen mehr, wie sie vielleicht mal zu den Zeiten von Marx existierten. Heute gibt es nur noch Individuen. Das Geheimnis des Kapitalismus ist die fortschreitende Individualisierung. Jedem das seine … Ah, da vorne ist Steinberg. Natürlich beim Einkaufen. Kann ich Sie einen Moment allein lassen?«

Noch ehe Berger antworten konnte, war Ripow in der Menge verschwunden. Berger war einen Moment lang irritiert. Also widmete er sich wieder seinen Kulturstudien. Berger wusste, dass er sich in einer Welt befand, in der die Erinnerung an den realen Sozialismus immer mehr verblasste. Fünfzig Jahre waren seit dem so genannten Mauerfall vergangen. Ein Zitat des SF-Theoretikers Darko Suvin hatte er neulich in den Archiven gefunden, zwei Jahrzehnte vor diesem Ereignis der Weltgeschichte geäußert: »SF aus sozialistischen Ländern stellt trotz offenkundiger Unterschiede aufgrund der Persönlichkeiten der Autoren, ihrer nationalen Herkunft und ihres Alters in ihren besten Ergebnissen die traditionellen Horizonte sozialistischer Hoffnung dar, mit Erkenntnissen, die aus den Siegen und Niederlagen eines großen gesellschaftlichen Experiments gewonnen wurden. Eine Darstellung, gestützt auf solche Erfahrungen, ist einmalig und sollte dem Leser außerhalb der sozialistischen Länder nicht vorenthalten werden. Der Verlust wäre für beide Seiten bedauerlich.«[2] Und zu diesem Verlust war es gekommen. Die Errungenschaften der Kultur dieser Länder gingen immer mehr im Gedächtnis der Weltgesellschaft verloren. Die Bücher der Strugatzkis[3] beispielsweise wiesen etwas Zeitloses auf, zugleich waren sie aber auch Zeugnisse verlorener Kämpfe um eine bessere Welt. Dem Kapitalismus fehlte jetzt ein Gegenmodell, das brachte die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche mit sich und förderte den Einfluss der besagten gierigen Dinge. Das heißt, es ging nicht nur um Objekte, Waren. Die Tätigkeiten der Menschen wurden eindimensionaler. Die Leute waren hauptsächlich an mehr oder weniger gut gemachter Unterhaltung interessiert. Die gemeinsame Verständigung in der Bevölkerung lief über Fernsehserien, Computerspiele und VR-Spektakel, ganz so, wie es die Brüder in Die gierigen Dinge des Jahrhunderts[4] vorweggenommen haben. Boris Strugatzki bezeichnete diese Zukunftsahnung als ihren einzigen – unbeabsichtigten – Prognose-Treffer.[5] Die Gesellschaft wirkte perspektivlos, da keine allgemeinen Ziele mehr existierten. Es gab kein Wozu, keine Suche nach anderen sinnvollen Werten. Das Phänomen der Konsumgesellschaft war übrigens systemübergreifend gewesen, wenn auch in der sozialistischen Welt aus ökonomischen Gründen anders ausgepägt und mit anderen Folgen.

»Haben Sie sich gut amüsiert?« Ripow tauchte wie aus dem Nichts wieder auf. Berger bejahte und erzählte Ripow von seinem Forschungsinteresse an den Strugatzkis. »Sie kennen also die Strugatzkis? Schön. Das waren Dissidenten der ehemaligen Sowjetunion. Ich weiß, dass man darüber streiten kann, aber ich denke, es verhielt sich so. Es mag ja sein, dass sie in einigen Texten sich auf den Sozialismus beriefen, aber das war nur Tarnung. Sie formulierten gerade eine Kritik an Totalitarismus und Kollektivismus.« Berger war mit dieser Einschätzung nicht zufrieden. Die Leistung der Strugatzkis ist doch gerade gewesen, sich einem grundlegenden Widerspruch gestellt zu haben. Wie kann man in Verhältnissen, die sich auf eine Utopie berufen, diese aber zugleich pervertieren, trotzdem positiv über diese Utopie schreiben, die aber wiederum aufgrund ihres virtuell-zukünftigen Zugriffs auf die Geschichte nicht ausformuliert werden kann? Der Kommunismus war gar nicht erschöpfend beschreibbar. Im ehemaligen Ostblock hat es zwar relativ spät Versuche gegeben, eine positive kommunistische Zukunft zu imaginieren – Berger dachte hier besonders an Andromedanebel von Iwan Jefremow[6]. Andere Bücher folgten, aber oft mit parteipolitisch genehmen Anstrich. Daneben schrieben Autoren wie die Strugatzkis »indirekte« Utopien, indem sie eine positive Ausgangssituation in groben Zügen entwarfen (bei den Brüdern »die Welt des Mittags«), die Helden aus dieser Zukunft aber vor allem (wie die Leser) mit harten politischen Realitäten konfrontierten, die aus der Gegenwart und Vergangenheit der Menschheitsgeschichte stammten. Das Modell der Strugatzkis lässt sich so beschreiben: Menschen mit einem kommunistischen Bewusstsein geraten auf einen Planeten, auf dem tiefste barbarische Verhältnisse herrschen – das war immer auch ein Kommentar zur Gegenwart, in der der Roman geschrieben wurde. »Interessant, dass Sie das so sehen. Ich bevorzuge ja die satirischen Werke der Brüder, da liegen die Dinge einfacher.« Ripow machte ein mürrisches Gesicht. »Aber was sollen diese Referenzen auf eine vergangene Zeit. Wen interessieren solche Details noch? Der Sozialismus ist passé. Die Utopien sind auserzählt.« Berger bestritt das energisch. Offenbar waren die Triebkräfte der Geschichte schwer zu verstehen. Warum suchten die Menschen nicht nach gemeinschaftlichen Lösungen? Es schien so, dass aus dem Individualkonzept der Natur – viele einzelne Menschen, die jeweils neue Mengen bilden – heraus bedingt, das individuelle Überleben und Wohlergehen an erster Stelle stand, vielleicht noch das der Familie und des Clans, manchmal das der Stadt, aber nicht das der Gesellschaft oder gar des Planeten. Die zuletzt genannten Ebenen wurden immer abstrakter, verorteten sich immer weiter weg von individuellen Bedürfnissen oder dem Alltagsbewusstsein. Aber eine neue Selbstverständigung der Gesellschaft war nötig. Ripow wurde ungeduldig. »Berger, Sie können noch so lange philosophieren. Das grundsätzliche Problem des Sozialismus war, dass er sich auf eine nicht-existierende Zukunft berief und dass er daraus seine Überlegenheit ableitete. Um mal mit einem historischen Zitat des Kulturtheoretikers Boris Groys zu kontern: ›West und Ost operierten nicht im gleichen Raum, aber was bedeutender ist, auch nicht in der gleichen Zeit. Die kommunistische Ideologie setzt voraus, dass ihr die Zukunft gehört. In der Sowjetunion hatte die sozialistische Zukunft schon begonnen, während die übrige Welt sich noch in der kapitalistischen Vergangenheit befand.‹[7] Welche Vermessenheit! Wenn man solche Ansprüche formuliert, muss man natürlich auch mal liefern. Das blieb aus und hat den Sozialismus dahin gebracht, wo er hingehört, auf den Müllhaufen der Geschichte. Der Sozialismus war der größte Versuch an lebenden Menschen und ist berechtigter Weise gescheitert.« Berger antwortete, dass ja wohl der Kapitalismus auch als ein Versuch betrachtet werden kann. Ripow polterte los: »Der Kapitalismus hat aber funktioniert, er ist noch da, Versuch hin oder her. Sie weichen aus, Berger. Im Sozialismus wurden die Menschen auf die eigentliche Geschichte vertröstet, die erst noch beginnen sollte. In diesem Bewusstsein sollten sie Opfer bringen. Das setzte eine Identifizierung mit höheren Zielen voraus, für was offensichtlich die meisten Menschen nicht geschaffen sind – abgesehen davon, dass die Ziele Blödsinn waren. Aber warum stehlen Sie mir meine Zeit mit solchen Themen? Ich dachte, Sie seien an der realen Geschichte interessiert. Schauen Sie sich um. Die Menschen gehen ihren Geschäften nach, befriedigen ihre kleinen Bedürfnisse, treffen Leute. Alles in Butter, was will man mehr. Das ist der Alltag von 2029 …« Berger konnte Ripow in einem Punkt nicht widersprechen. Das Problem war die Besetzung der Zukunft in dem Sinn, dass viele Politiker der Sozialisten von einem geschichtlichen Automatismus ausgingen, der zu einer höheren gesellschaftlichen Entwicklungsstufe führen musste. Diese wurde häufig als eine materielle Paradies-Vorstellung imaginiert, die nach einer Phase der Beschwernis erreicht werden kann. Das war offensichtlich ein Fehler. Abgesehen davon, dass niemand das »Paradies« für alle bestimmen kann, so wurden zu hohe Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt werden konnten. Als das deutlich wurde, kam es zu einer Verhärtung des Systems mit weiteren negativen Folgen nach innen. Auch ist die Idee der Vorgeschichte provozierend, da sie den Lebensinhalt von Millionen Menschen in letzter Instanz für irrelevant erklärt. Allerdings stellte sich schon die Frage, was das für ein Lebensinhalt war.

Während Berger solchen Gedanken nachhing, hatte Ripow die Auslagen eines weiteren Geschäfts begutachtet. »Sehen Sie die Vielzahl der Waren? Mich erfüllt das mit einer tiefen Genugtuung. Es zeigt die Leistungsfähigkeit dieses Systems.« Berger warf ein, dass die Menschen mit großem Aufwand Dinge produzierten, die sie nicht brauchten. Zugleich konditionierten subtile Mechanismen der Werbung und der Public Relation sie, um immer neue Konsumwünsche zu entwickeln. Das Denken der Menschen ist insofern gar nicht frei. Die Menschen zogen eine Gesellschaftsform vor, die ihnen kleine private Fluchten als Freiheit verkauft, während sie im Netz von Konsum und Macht zappeln. Hauptsache war, den Menschen selbst geht es gut, das Leben von Abermillionen Menschen in anderen Erdteilen war bedeutungslos. Berger fiel der Begriff »Trivialpragmatismus« ein, den der SF-Autor und Journalist Michael Szameit[8] geprägt hatte, um den Werteverfall, die überzogene Konsumeinstellung und den Egoismus der westlichen Lebensweise zu umreißen, die zum Vorbild für den ganzen Planeten zu werden drohte. Scholten und Körner hatten später eine Theorie darauf aufgebaut. Ripow wurde unruhig. »Was wollen Sie? Im Feudalismus definierten Kirche und Adel das Denken der Menschen, und die waren damals wesentlich unfreier. Sie hatten keine Bildung, keine ärztliche Versorgung, keine Reisemöglichkeiten. Diese Phase galt für viele Menschen Europas bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert. Heute steht das alles zur Verfügung. Was spielen da schon die paar Werbeclips für eine Rolle?« Das spiele im Zusammenhang sehr wohl eine Rolle, entgegnete Berger. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Istvan Csicsery-Ronay jr. habe in einem bemerkenswerten Essay zu Picknick am Wegesrand darauf hingewiesen, dass die Zivilisation verstrickt ist in »das Gespinst von instrumenteller Vernunft, Konsumgüterproduktion und Konsumgüteraustausch« und dass als Effekt »eben dieses Verlangen, Wissenschaft und Technik zur Hervorbringung eines höheren menschlichen Subjekts zu verwenden«, fehlt.[9] »Ah, mir dräut, da lugt der Neue Mensch um die Ecke.« Ripow war jetzt nicht mehr zu halten. »Wir wissen doch, wo das hingeführt hat. Von den anfänglichen Revolutionsschwärmereien direkt in den GULAG. Nee, mein Lieber, so kommen Sie mir nicht davon. Ich verlange, dass Sie mir das erklären.« Berger seufzte. Es ließ sich nicht bestreiten, dass die kommunistische Idee durch den Stalinismus diskreditiert worden war. Boris Strugatzki merkte dazu in einem seiner letzten Interviews an, dass den beiden Brüdern Anfang der Sechziger einige Erkenntnisse nicht erspart blieben. »Damals wurde uns mit äußerster Klarheit bewusst, dass wir von Lumpen und Ignoranten regiert wurden, die absolut nicht zu unseren Vorstellungen vom Kommunismus passten. Eine gewisse (schwache) Hoffnung, dass es möglich sein würde, die ›Lichte Zukunft‹ auszubauen, blieb uns noch einige Zeit – bis zu den tschechischen Ereignissen 1968, als alle Illusionen endgültig zerstoben und klar wurde, dass vor uns nichts lag als ein mehr oder weniger rigider, aber hoffnungsloser Totalitarismus.«[10]

Eine weitere Schwierigkeit ergab sich daraus, dass vonseiten der offiziellen Politik gar kein Interesse an einer Schilderung der weit entfernten Zukunft, der eigentlichen Welt des Kommunismus bestand. Wie Boris Strugatzki in dem gleichen Interview sagte: »›Positive Zukunftsszenarien‹ waren zwar erlaubt, aber nie besonders gern gesehen und schon gar nicht zum ›Ziel unserer SF‹ erklärt. Man ging davon aus, dass alles Notwendige über den Kommunismus und überhaupt über die Zukunft schon bei den Klassikern des Marxismus-Leninismus und außerdem im Programm der KPdSU stehe. Jede Tätigkeit eines SF-Autors wurde als potenzielle ›Revision‹ der Grundlagen betrachtet.«[11] Ripow zeigte offen sein Desinteresse an diesem Thema. »Berger, ich gebe Ihnen ja recht, dass die ›wissenschaftliche Phantastik‹ der Sowjetunion nicht deckungsgleich war mit des westlichen SF, aber das sind Schlachten von gestern, völlig uninteressant für uns.« Berger antwortete, dass es um mehr ging. Die realsozialistischen Gesellschaften selbst waren anders strukturiert; es sei schon richtig, dass sie Aspekte der Herrschaft aufwiesen, aber sie basierten auf einem anderen Modell der Vergesellschaftung. Im Kapitalismus und den vorhergehenden Gesellschaftsformationen war man gewissermaßen in der »falschen« Geschichte gefangen, da mehr oder weniger von den Interessen und Ansprüchen anderer abhängig. In der Gesellschaft des Sozialismus hatte die Chance bestanden, dass die Einzelnen den Zeitläuften weniger ausgeliefert gewesen wären. Der tatsächliche Geschichtsverlauf hatte diese Hoffnungen vorerst zunichte gemacht und die Idee der kommunistischen Utopie beschädigt. Das Grundproblem war, wie man die Ebenen von Gattungs-, Gesellschafts- und Individualgeschichte besser ausgleichen konnte. Im Feudalismus hatte eine Vorherrschaft der Individualgeschichte bestanden, da ein König oder Fürst weitgehende Verfügungsgewalt über Menschen und Dinge in seinem regionalen Machtbereich hatte. In der bürgerlichen Gesellschaft war das Verhältnis Individuum/Gesellschaft anders organisiert, zum Beispiel in einem übergeordneten Rechtssystem definiert, während die Gattungsgeschichte nur zögerlich in den Blick kam. Berger erinnerte sich, dass damals dieses über Themen wie Ressourcenverbrauch und Klimaveränderung geschah. Der Kommunismus als globale Gesellschaftsform bot nun weitergehend die Möglichkeit, einen Gattungsstandpunkt einzunehmen und von persönlichen oder regionalen Interessen abzusehen. Oder anders gesagt: seine eigenen Interessen mit denen der Gattung zu identifizieren. »Ich höre geduldig Ihrem Vortrag zu«, meinte Ripow zwischendurch. Berger fiel ein Satz aus Die gierigen Dinge des Jahrhunderts ein: An einer Stelle geht es um die schwierige Aufgabe, »den Menschen ihre von den Dingen aufgefressene Seele wiederzugeben und andere zu lehren, die Probleme der Welt wie die eigenen zu betrachten.«[12] Das Schlüsselproblem ist also das der gesellschaftlichen Erziehung. Das mag in der Welt, in der sie sich gerade befanden, befremdlich klingen, aber im Sozialismus mit dem Anspruch einer Übergangsgesellschaft zu einer höher entwickelten Gesellschaftsform hatte diese Aufforderung zur Erziehung einen anderen Kontext als in der bürgerlichen Gesellschaft. Berger kam eine Passage aus dem Roman Es ist schwer, ein Gott zu sein in den Sinn. Die Hauptfigur Don Rumata, ein Wissenschaftler auf geheimer Mission auf einem fremden Planeten, sinniert an einer Stelle über die Stadtbewohner: »Sie waren alle noch keine Menschen im eigentlich Sinn – vielmehr Rohmaterial, aus dem Jahrhunderte blutiger Geschichte einmal den wirklichen, stolzen und freien Menschen meißeln würden. Sie waren passiv, gierig und ungeheuer egoistisch. Psychologisch gesehen, waren sie fast alle Sklaven: Sklaven der Religion, Sklaven von ihresgleichen, Sklaven ihrer kleinlichen Leidenschaften und ihrer Habsucht […] Passivität und Unwissenheit führten sie in die Sklaverei, die ihrerseits immer neue Sklaverei hervorbrachte.«[13] Berger war klar, dass die Sensibilität für diese Problematik im damaligen so genannten Westen fehlte. Als symptomatisch sah er die Verfilmung des Romans durch Peter Fleischmann im Jahr 1989 an. Die Menschen aus der kommunistischen Zukunft wirkten kühl und leblos, während auf dem Planeten zwar Unterdrückung und Gewalt herrschten, aber auch das wahre menschliche Leben tobte, mittendrin Don Rumata – eine völlige Verkehrung der Intention des Buches. Offensichtlich verlangte der Sozialismus Bildung, eine psychische Reife, die Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit, die so schwer zu erreichen ist. In dem Roman Fluchtversuch lassen die Strugatzkis die Figur Saul sagen: »Kommunismus – das ist in erster Linie eine Idee. Und keine einfache […] Sie lässt sich nicht in fünf Jahren anhand anschaulicher Beispiele vermitteln.«[14] Aus dem wachsenden gesellschaftlichen Bewusstsein entstehen neue Energien für den Aufbau der Gesellschaft, nicht aus Zwang und schierer Überlebensnotwendigkeit wie in dieser Welt, auch wenn die Fassaden noch so schön glitzern. Allerdings lässt sich der Sozialismus nicht verstehen durch das reine Befolgen von Idealen, sondern nur durch die Stimulation zur Selbstentwicklung, was einhergeht mit der Entwicklung der besseren Gesellschaft. Wenn diese Aspekte durch politische, ökonomische Fehlentwicklungen nicht gefördert werden, dann besteht die Gefahr der Stagnation, der Rückentwicklung und Erosion, was dann im Ostblock geschah. Die Strugatzkis haben früh das Krisenpotenzial solcher Prozesse literarisch reflektiert.

In einem ihrer erfolgreichsten Romane, Picknick am Wegesrand[15], haben sie dazu die Metapher der »Zone« erfunden – eine Zone, in der Außerirdische Objekte zurückgelassen haben, deren Funktionieren sich den Menschen nicht erschließt. Die menschliche Gesellschaft ist mit der Zone überfordert, wobei die Geschichte in einem kapitalistischen Land spielt. »Genau«, antwortete Ripow schnell. »Sie haben mit als erste den bevorstehenden Untergang gespürt. Sie kennen doch bestimmt den Film Stalker von Andrej Tarkowski. Der ist ein Zeugnis der Ausweglosigkeit, der Stagnation, wie Sie ganz richtig bemerkt haben. Die Strugatzkis haben das Drehbuch[16] geschrieben, das wiederum auf Teilen ihres Romans Picknick am Wegesrand basiert. Um den Wissenschaftler Matthias Schwartz aus der Zeit zu zitieren. ›Damit bekommen die außerirdischen Wunderdinge eine weitere symbolische Bedeutung: Sie stehen gewissermaßen Pars pro Toto für die wissenschaftlich-industriellen und ideologischen Verirrungen der sowjetischen Gesellschaft. Indem die Helden ausgerechnet in den Abfällen am Wegesrand bei den Strugatzkis oder in den ausrangierten Industriehalden der Großbaustellen des Sozialismus bei Tarkowski ihre letzte Hoffnung auf Erfüllung der Wünsche suchen, repräsentieren sie die generelle Desillusionierung betreffs der kommunistischen Versprechen auf eine bessere Zukunft.‹«[17] Nicht so schnell, entfuhr es Berger. Die Zone hat sicher eine mehrfache Bedeutung, über die man diskutieren kann. Buch und Film haben Gemeinsamkeiten, sind aber unterschiedlich angelegt, zumal man den Film zwar als Übertragung des Buches sehen kann, aber die Unterschiede doch sehr groß sind. Gemeinsam ist beiden das Thema des Wünschens, und darauf kommt es an. Dieses Thema war Berger schon in Die gierigen Dinge des Jahrhunderts aufgefallen. Die Hauptfigur stellt als Experiment einer Person drei Wünsche frei. Die Wenigsten wünschen »nicht nur für sich persönlich oder für ihre Nächsten etwas«, »sondern auch für die große Welt, für die Menschheit insgesamt«.[18] Offenbar haben die Strugatzkis den Ausgang dieses Experiments, das sie auch privat veranstaltet haben, zu einem wichtigen Hintergrundthema in Picknick am Wegesrand 1972 gemacht. Die neue Gesellschaft muss massenhaft gewünscht werden, sonst funktioniert sie nicht. Was heißt das? Das bedeutet, dass es nicht um eine Desillusionierung der Versprechen geht, wie Schwartz meint, sondern um den Missstand, dass die Menschen sich den Kommunismus nicht mehr wünschen wollen, sondern ihr kleines privates Glück von größerer Wichtigkeit ist. Dabei ist der Sozialismus auf das Engagement seiner Mitglieder angewiesen, anders als der Kapitalismus, der vor allem duldsame Konsumenten braucht. In seinem Essay hat Csicsery-Ronay jr. das auf den Punkt gebracht: »Die futuristische Menschheit, die die Strugatzkis nach 1964 schildern, kann nicht mehr kritisch denken. Sie versinkt in Apathie und Konformität, gibt sich mit persönlichen Befriedigungen zufrieden, während Militarismus, Bürokratie und Konsumdenken den utopischen Wunsch in seine Parodie verwandeln: […] Die entgeistigten Menschen der Zukunft verlieren die Kraft, sich ein Gutes außerhalb ihres persönlichen Vorteils vorzustellen, und verlieren damit die Macht, sich das Glück der Menschengattung zu wünschen.«[19] Von der Kritik an der Konsumgesellschaft in Die gierigen Dinge des Jahrhunderts führt der Weg zur Erkenntnis einer Ohnmacht angesichts der realen politischen Entwicklung in der damaligen Sowjetunion. Das Buch Picknick am Wegesrand spielt dabei eine besondere Rolle, die im Westen oft verkannt wurde. Im Westen galt der Roman als »rätselhaft-bizarres Werk« oder als »existenzialistische Parabel«. Istvan Csicsery-Ronay jr. sieht dagegen den Höhepunkt dieser Themen in Picknick am Wegesrand erreicht – »eine Fabel über die Verzweiflung der Intelligenzija der sechziger Jahre, die sich der völligen Ausschaltung der Reformbewegung gegenübersah«[20]. Ungewöhnlich ist das Ende des Romans. Angesichts seines Todes in der Zone wünscht ein junger Mann noch »Glück für alle«. Der Held des Buches, der diesen geopfert hat, um zum Artefakt, das goldene Kugel genannt wird, vordringen zu können, ist so erschüttert, dass er kein privates Anliegen äußert, sondern diesen Wunsch wiederholt. Damit endet das Buch abrupt. Kann dieser Wunsch in Erfüllung gehen, schließlich haben die außerirdischen Artefakte große Macht bewiesen? Der Wunsch müsste »sitzen«. Glück für alle ist unspezifisch. Nein, es geht um die Situation, die des Wünschens bedarf. Eine Gesellschaft sollte aus sich heraus ihre Angelegenheiten und Probleme regeln können und nicht absoluter und darin absurder Wünsche bedürfen. Der Wunsch nach umfassendem Glück ist das Symptom für die angesprochenen Missstände. Je größer er formuliert wird, desto entwicklungsunfähiger ist die Gesellschaft. Werden sie zu groß, sind sie vergleichbar mit einem (sinnlosen) Gebet: Man kann sich genauso gut an Gott wenden als an das außerirdische Artefakt. Es wird diese übergeordnete Wunschinstanz nicht geben, die Menschheit selbst wird einen Weg finden müssen. Die Botschaft der Strugatzkis ist – neben der schonungslosen Bestandsaufnahme der mentalen Verfassung ihrer Gesellschaft – der Appell, das utopische Wünschen als Medium der Evolution des sozialistischen Systems zu kultivieren. Man kann keine Märchen-Wünsche erfüllen, aber die Bedingungen für mehr Glück für alle schaffen. Die Zielprojektion ist der Kommunismus, der jedoch als Gesellschaft nicht auszumalen ist. Aber der reale Sozialismus stagnierte, es gab kein Bedürfnis, keine ausreichende Bereitschaft in der Bevölkerung mehr, die Utopie, das heißt eine freie und glückvermehrende Gesellschaft denken zu wollen und zu können. Von dieser muss man überzeugt sein. Das war die bittere Analyse der Strugatzkis, die sie für die Nachwelt bereithielten.

»Ihre Darstellung klingt plausibel.« Ripow war merklich ruhiger geworden. »Ich frage mich allerdings, in welchem Verhältnis das Buch zum Film steht. In der westlichen Fachliteratur gilt die Zone als Ort des Erhabenen. Ich kenne den von Ihnen zitierten Text von Schwartz; er spricht von einem ›Moment der Epiphanie‹. Tarkowski habe ›dieses religiöse Moment, das bei den Strugatzkis nur eine zweifelhafte Option unter vielen ist, in seiner Verfilmung des Romans, Stalker (1979), zum zentralen Moment seines Werkes gemacht‹.«[21] Berger ärgerte sich über diese Engführung auf eine religiöse Interpretration. Tarkowski beklagte zwar den allgemeinen Verlust einer Spiritualität, aber aus seinem Filmkunstwerk kann man doch die Intention der Strugatzkis herauslesen. Die Zone ist auch als Metapher für den Sozialismus zu verstehen, während das Wunschzimmer als Pendant zur goldenen Kugel des Romans den unbekannten Kommunismus darstellt. Man kann in der Zone keinen geraden Weg zurücklegen, da man eine neue Gesellschaft aufbaut, bei der Nebeneffekte und unbekannte Probleme auftauchen. Man muss aber seine Überzeugung bewahren, muss den Willen mitbringen, sich in neues Gelände zu begeben und weiter zu experimentieren. Ohne die Fähigkeit zur Utopie wird sich der Kommunismus nicht realisieren lassen. Ripow hielt an. Er bedankte sich bei Berger für die interessante Begegnung und lud ihn noch zu einer seiner Vorlesungen ein. Er schien es plötzlich eilig zu haben.

***

Berger nimmt den Visiogenerator von seinem Kopf.

»Willkommen zurück, Kommunarde.«

Granin hilft ihm beim Aufstehen. Berger ist leicht schwindlig, aber er findet sich schnell wieder in der Wirklichkeit zurecht. Das war also mein Besuch in der Barbarei, denkt er.

»Dieser Ripow ist dir gut gelungen.«

»Ich habe lange gebraucht, um ihn so hinzukriegen.« Granin lacht. »Ich hoffe, er hat dich zum Schwitzen gebracht.«

»Naja, ich habe mich schon provoziert gefühlt, aber beim nächsten Mal kann der Schwierigkeitsgrad höher sein.«

»Angeber. Ich werde eine spezielle Version allein für dich programmieren.«

Berger verabschiedet sich und verlässt das Institut. Er betritt eine Gleitstraße, die direkt zum Gebäude des Weltrats führt. Er will Teresa sehen, die seit einiger Zeit dort arbeitet. Die Lektion in erlebter Vergangenheit hat ihn doch mehr geschockt, als er sich zuerst eingestanden hat. Mit welchen Banalitäten die Leute damals beschäftigt waren. Granin ist der Meinung, dass eine Zivilisation nicht zu selbstgefällig, zu sorglos werden sollte. Ihre Kinder, ihre Nachfahren müssen möglichst plastisch erinnert werden an die Last der Geschichte. Sie müssen die Situation richtiggehend durchmachen, so nah wie möglich an die jeweilige Gesellschaft herangeführt werden, um das Leiden zu verstehen, das diese geschichtlichen Formationen beherrscht hat. Dazu hatte Granin das Institut für experimentelle Geschichtsforschung gegründet. In ihm werden neueste Visiogeneratoren verwendet, die direkt an den Sinnesapparat gekoppelt sind und so eine realistische Illusion erzeugen. Dutzende von Programmen stehen den Interessierten bislang zur Verfügung. Eine Simulation der Sklavenhaltergesellschaft im antiken Griechenland oder eine der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft in den oberitalienischen Städten des Mittelalters reizen Berger. Er kommt an einer Reihe von neu gebauten Spektralglashäusern vorbei. Ihm fällt ein altes Zitat von Arkadi Strugatzki ein, in dem dieser von einer kommenden Zukunft sprach, in der »die Wissenschaft zur Triebkraft der Wirtschaft und des täglichen Lebens geworden ist«[22]. Auch wenn sie es nicht erleben konnten, so hatten die Strugatzkis dieses Morgen mit herbeifantasiert – ein Morgen, das immer wieder gegen die Trägheit und Beharrungskräfte der Geschichte errungen werden muss.

Anmerkungen

1 zitiert nach: Barbara Kerneck: »Die unwahrscheinliche Freiheit des Geistes«, in: Johann P. Tammen (Hg.): DIE HOREN Bd. 217 (Bremerhaven: Verlag für neue Wissenschaft 2005), S. 164

2 aus: Darko Suvin: »Vorwort«, in: ders. (Hg.): Andere Welten, andere Meere (München: Goldmann 1970), S. 10/11

3 siehe den Überblick, den Erik Simon verfasst hat: »Arkadi & Boris Strugatzki: Leben und Werk«, unter: http://golkonda-verlag.de/cms/front_content.php?idcat=12&lang=1

4 siehe: Die gierigen Dinge des Jahrhunderts, in: Sascha Mamczak/Erik Simon (Hg.): Arkadi und Boris Strugatzki Werkausgabe – Fünfter Band (München: Heyne 2013). Gleich zwei verschiedene Hardcover-Varianten der Werkausgabe sind parallel bei Golkonda erschienen.

5 aus: Sebastian Pranz: »Ein letztes Interview mit Boris Strugatzki«, in: Franz Rottensteiner (Hg.): QUARBER MERKUR 114 (Gießen: Lindenstruth 2013), S. 235. Siehe dazu auch: Boris Strugatzki: »Wie die richtigen Schwierigkeiten begannen. Über zwei unserer Romane aus den sechziger Jahren«, in: Wolfgang Jeschke (Hg.): Das Science Fiction Jahr2001 (München: Heyne 2001), S. 492/3

6 siehe: Uwe Neuhold: »Der Weg zum Futurokommunismus«, in: Iwan Jefremow: Andromedanebel (München: Heyne 2015)

7 aus: Boris Groys: »›Geld schlägt Wort‹. Gespräch mit Frank M. Raddatz«, in: LETTRE INTERNATIONAL 111, 2015, S. 35

8 zitiert nach: Christian Schobeß: »Zu einigen Erzählungen von zwei DDR-Autoren«, in: Franz Rottensteiner (Hg.): QUARBER MERKUR 102 (Passau: EDFC e. V. 2005), S. 87

9 aus: Istvan Csicsery-Ronay jr.: »Das letzte Märchen: Picknick am Wegesrand und das Märchenparadigma in der Science Fiction der Strugatzkis«, in: Franz Rottensteiner (Hg.): POLARIS 10 (Frankfurt / Main: Suhrkamp 1986), S. 136

10 aus: Martin Hartwig: »Interview mit Boris Strugatzki«, in: Franz Rottensteiner (Hg.): QUARBER MERKUR 113 (Gießen: Lindenstruth 2012), S. 205

11 ebd., S. 208

12 in: Die gierigen Dinge des Jahrhunderts, a. a. O., S. 320

13 aus: Es ist schwer, ein Gott zu sein, in: Sascha Mamczak/Erik Simon (Hg.): Arkadi und Boris Strugatzki Werkausgabe – Vierter Band (München: Heyne 2012), S. 289 f.

14 aus: Fluchtversuch, in: ebd., S. 120

15 siehe: Picknick am Wegesrand, in: Sascha Mamczak/Erik Simon (Hg.): Arkadi und Boris Strugatzki Werkausgabe – Zweiter Band (München: Heyne 2010)

16 Eines ihrer Szenarien wurde unter dem Titel »Die Wunschmaschine« veröffentlicht, in: Franz Rottensteiner (Hg.): POLARIS 10, a. a. O.

17 aus: Matthias Schwartz: »Wunderdinge und Glücksmaschinen«, in: Sascha Mamczak/Hannes Riffel (Hg.): Das Science Fiction Jahr2016 (Berlin: Golkonda 2016), S. 428

18 in: Die gierigen Dinge des Jahrhunderts, a. a. O., S. 274

19 in: Istvan Csicsery-Ronay jr.: »Das letzte Märchen: Picknick am Wegesrand und das Märchenparadigma in der Science Fiction der Strugatzkis«, a. a. O., S. 118

20 in: ebd., S. 126

21 in: Matthias Schwartz: »Wunderdinge und Glücksmaschinen«, a. a. O., S. 428

22 aus: Wsewolod Rewitsch: »Phantastik ist kein Thema, sondern eine Denkweise. Versuch eines literarischen Porträts: Arkadi und Boris Strugatzki«, in: Erik Simon (Hg.): LICHTJAHR 3 (Berlin: Das Neue Berlin 1984), S. 161

REVIEW | BUCH

Science-Fiction-Literatur 2016

Obwohl die Fantasy im Bereich der phantastischen Literatur noch immer mehr Leser als die SF findet, sind auch im Jahr 2016 eine große Anzahl interessanter und äußerst lesenswerter Science-Fiction-Romane erschienen, die auch international für Aufsehen gesorgt haben. Bestes Beispiel dafür ist Die drei Sonnen von Cixin Liu, der nicht nur vom ehemaligen US-Präsidenten Obama empfohlen wurde, sondern inzwischen weltweit eine verkaufte Auflage von 7 Millionen Exemplaren überschritten hat. Außerhalb der SF-Szene sorgten aber auch die Romane von Margaret Atwood und T. C. Boyle für Furore.

In diesem Jahr legen wir aber auch einen großen Schwerpunkt auf die Sachbücher zur Science Fiction, von denen erfreulicherweise wieder mehr als in den vorangegangenen Jahren erschienen sind.

Wie schon für die letzten beiden Ausgaben haben wir Michael K. Iwoleit und Udo Klotz gebeten, einen besonderen Blick auf die deutschsprachige Science Fiction in Form von Kurzgeschichten und Romanen zu werfen, die überwiegend in Genre- und Kleinverlagen erschienen sind.

Und nicht zu vergessen gibt es ein weiteres Mal die Bestsellerliste der Berliner Spezialbuchhandlung Otherland, die so manche Überraschung zu bieten hat.

Hardy Kettlitz

MARGARET ATWOOD

DAS HERZ KOMMT ZULETZT

(The Heart Goes Last · 2015)

Roman · Berlin Verlag · Hardcover · 390 Seiten · auch als E-Book

Deutsch von Monika Baark

Obwohl die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood (*1939) das 70. Lebensjahr längst überschritten hat, schenkt sie ihren Lesern noch immer alle paar Jahre ein neues Werk. Nicht selten hat sie dabei ihre gesellschaftskritischen Überlegungen in einem phantastischen Erzählrahmen transportiert, ohne langweilig oder oberlehrerhaft zu werden. Dies gelingt auch in ihrer jüngsten Dystopie mit dem Titel Das Herz kommt zuletzt hervorragend.

Die USA der nahen Zukunft kann man als einen ›gescheiterten Staat‹ bezeichnen. Ein normales Leben ist angesichts einer anhaltenden Wirtschaftskrise, aber auch eines Zusammensbruchs der öffentlichen Ordnung, kaum mehr möglich. Leider haben Stan und Charmaine, ein junges Paar, nicht die nötigen Mittel, um sich hinter hohen Mauern zu verstecken. Das wenige Geld, das Charmaine beim Kellnern verdient, reicht für die reguläre Beschaffung der Nahrungsmittel nicht aus, sodass sie containern müssen. Weil sie ihre Hypothek nicht abbezahlen konnten und so ihr Haus verloren, müssen sie nun – meist mit knurrendem Magen – ein Auto ›bewohnen‹: »Die Fenster lassen sie meist zu, wegen der Mücken und der Gangs und der allein herumziehenden Vandalen.« Da hören die beiden vom ›Positron Project‹, einem abgeschotteten Wohnprojekt, das im Sinne des American Dream mit dem eigentlich verloren geglaubten Komfort amerikanischer suburbs für sich wirbt: »[…] ›Beim Positron-Projekt in der Stadt Consilience kann es wieder so sein wie früher. Arbeiten Sie zusammen mit Gleichgesinnten! Helfen Sie mit, Probleme unseres Landes wie Arbeitslosigkeit und Kriminalität zu lösen, und gleichzeitig Ihre eigenen Probleme zu lösen. Betonen Sie das Positive!‹« Den tollen Job und das schöne Haus gibt es jedoch nicht immer, im Monatsturnus müssen Stan und Charmaine einem anderen Paar – ihren Hauspartnern – Platz machen und den Folgemonat im örtlichen Gefängnis verbringen: »In Consilience würden alle zwei Leben leben – einen Monat als Häftlinge, im nächsten Monat als Wärter oder Beamte.« – Die Ausmerzung von Arbeitslosigkeit und Kriminalität ist natürlich wenig erstaunlich, wenn die eigenen Bürger also das halbe Jahr im Gefängnis verbringen.

In der Not fängt der Teufel aber bekanntlich Fliegen und Stan und Charmaine ziehen tatsächlich freiwillig in die Modellstadt ein – obwohl sie von Stans Bruder vor diesem Schritt gewarnt wurden. Anstatt aber nun endlich ihre Ehe zumindest monatsweise auszuleben, entwickeln beide heimlich eine starke sexuelle Leidenschaft für ihre Hauspartner. Die brave Charmaine stürzt sich in eine wilde Affäre mit Max, was ihre Ehe gefährdet und sie zudem in Opposition zum Positron-Konzern bringt, der keine Kontakte zwischen den Hauspartnern duldet. Das Postkarten-Idyll ihres neuen Lebens droht bald wie ein Kartenhaus zusammenzufallen.

Atwoods Dystopie befasst sich mit einer hochinteressanten soziologischen Fragestellung: Können gesellschaftliche Krisen auf ›technische‹ Weise gelöst werden, indem ein neuer Mensch geschaffen wird? Ein Mensch, der so genügsam ist, dass er seine eigene Gefangenschaft akzeptiert und trotzdem dabei glücklich wird? Atwoods Roman ist nicht nur eine sehr lesenswerte Warnung vor solchen Experimenten, die in ihrem utopischen Streben den Menschen auf eine ökonomische, planbare Variable reduzieren. Er lässt sich auch als eine Art Zeitkritik lesen, wenn man bedenkt, dass die Vereinigten Staaten nun von einem ›Unternehmer-Präsidenten‹ regiert werden, der radikale Lösungen komplizierten Überlegungen vorzieht. Und doch ist Atwood nicht hoffnungslos. Die Leidenschaften und Antriebe des Menschen machen ihn zwar verletzlich und manipulierbar, und doch sind gerade sie das menschliche Merkmal, das den Keim zur Emanzipation in sich trägt.

Bartholomäus Figatowski

RACHEL BACH

STERNENSCHIFF

(Fortune’s Pawn · 2013)

Roman · Heyne · Paperback · 445 Seiten · auch als E-Book

Deutsch von Irene Holicki

Als Sigourney Weaver alias Warrant Officer Ellen Ripley an Bord der Nostromo zum ersten Mal den Flammenwerfer gegen das bösartige Alien erhob, bedeutete dies nicht nur ihren Durchbruch als Heldin des SF-Kinos, sondern auch eine Neudefinition der Rolle von Schauspielerinnen in Actionfilmen. Und seit David Webers unermüdliche Romanheldin Honor Harrington eine militärische Karriere hinlegte, die viele ihrer männlichen Kollegen vor Neid erblassen ließ, öffnete dies zahllosen Nachahmerinnen den heldenhaften Weg ins Weltall.

Auch Devi Morris in Sternenschiff, die bislang als Söldnerin in einem interstellaren Königreich tätig war, will hoch hinaus. Ihr erklärtes Ziel ist es, bei den Devastoren, einer ganz besonders elitären Elitetruppe, die dem Geweihten König (!) persönlich unterstellt ist, aufgenommen zu werden. Doch dies ist nicht so einfach, eben weil diese elitäre Elitetruppe so wahnsinnig elitär ist und eine einfache Söldnerin schon was ganz besonderes leisten muss, um bei ihr mitspielen zu dürfen. Kein Wunder, dass Devi die Chance ergreift, als Sicherheitsbegleiterin auf dem berüchtigten Handelsraumer »Glorreicher Narr« anzuheuern. Immerhin munkelt man, die Chancen für Securitypersonal das Rentenalter zu erreichen seien dort äußerst schlecht, was Devi einige Pluspunkte bei den Devastoren einbringen würde, sollte sie ihre Kontraktszeit überleben. Unter dem Kommando des leicht zwielichtigen Kapitäns Caldswell erlebt sie alsbald gemeinsam mit der Crew, die aus charakterlich durchaus interessanten Menschen und Aliens besteht, allerlei schillernde Abenteuer im All und auf fremden Planeten. Dabei bekommt es die Besatzung der »Glorreicher Narr« nicht nur mit fiesen Außerirdischen und bösen Buben menschlicher Herkunft zu tun, sondern wird in Ereignisse verstrickt, die weit über dem für einfache Handelsraumschiffe üblichen Level liegen. Das größte Problem für Devi stellt allerdings der geheimnisvolle und ach so gut aussehende Schiffskoch Rupert dar, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt.

Sternenschiff ist eine Space Opera, die tatsächlich an die SF-Kult-Serie FIREFLY erinnert, wie eine auf dem Backcover zitierte Rezension in Locus besagt. Dies liegt vor allem an dem Setting auf einem leicht schrottigen Raumschiff und seinem durchaus originellem und gut charaktersiertem Personal. Hinzu kommt eine rasante und actionreiche Handlung, wobei allerdings kaum eines der angerissenen Geheimnisse gelüftet oder die Konstellation der Figuren untereinander geklärt wird. Aber das liegt wohl daran, dass Devi, genau wie Honor Harrington, in mehr als einem Romanen auf große Fahrt gehen soll, was sie in den USA auch bereits in einigen Nachfolgebänden getan hat. Und immerhin heißt es auf dem Titel ja schon »Die Paradox-Saga« – und Sagas ziehen sich bekanntlich oft in die Länge.

All das wäre ja nun gut und schön, und Lesern, die interstellare Abenteuer dem tristen Alltag vorziehen, durchaus zu empfehlen, gäbe es da nicht ein großes Manko. Und das liegt in der Person der Heldin Devi Morris selbst. Denn Devi ist im Grunde nicht mehr als ein obrigkeitshöriges, auf Gewalt versessenes Flintenweib, dessen Motiven der Leser nur schwer folgen kann – und die Leserin schon gar nicht. Tragen andere SF-Heldinnen zumindest dazu bei, Geschlechterrollen zu hinterfragen, indem sie in Männerdomänen einbrechen, stellt Devi höchstens die Fragen, ob sie endlich mal wieder jemanden umbringen darf, bzw. Rupert, den schönen Smutje, ins Bett zerren kann. Das hat mit Emanzipation etwa so viel zu tun wie pubertierende Mädchen in unserer realen Welt, die sich auf dem Schulhof prügeln, um mit den »toughen« Jungs mithalten zu können. Leider findet sich nicht einmal der Hauch von Ironie bei der Darstellung Devis in dem Roman, sodass das Lesevergnügen dadurch schon arg gemindert wird. Dies ist schade, denn Rachel Bach, die unter dem Namen Rachel Aaron vor der PARADOX-Saga bereits einige Fantasy-Romane veröffentlicht hat, verfügt durchaus über erzählerisches Talent.

Christian Hoffmann

PAOLO BACIGALUPI

WATER – DER KAMPF BEGINNT

(The Water Knife · 2013)

Roman · Blessing · Hardcover · 464 Seiten · auch als E-Book

Deutsch von Wolfgang Müller

Seit über zehn Jahren bereichert Paolo Bacigalupi die Science Fiction mit seinen langen und kurzen Prosawerken. In der Zukunft vieler seiner Romane und Storys folgt er dem bedenklichen Pfad, den unsere Welt unbestreitbar eingeschlagen hat, und nutzt klimatische und wirtschaftliche Kollapse, das Verschwinden von Rohstoffen oder überhandnehmende Gentechnik als Aufhänger seiner Geschichten. Zuletzt ist sein Roman Waterknife als Water – Kampf ums Wasser bei Blessing als Hardcover und als E-Book auf Deutsch erschienen, inzwischen gibt es bei Heyne auch ein Taschenbuch.

Water setzt in einer bedrohlich nahen Zukunft ein. Wirbelstürme und Dürren haben den amerikanischen Kontinent verändert. Während die Drogenkartelle Mexiko außerdem endgültig unter sich aufteilten, werden die Konflikte zwischen den einzelnen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten immer größer. Der Schatten des Bürgerkriegs hängt vor allem über dem trockenen Südwesten der USA, wo das Wasser knapp geworden ist und man an vielen Tagen ohne Staubmaske und Schutzbrille nicht aus dem Haus kann. Wer das Wasser hat und seinen Fluss bestimmt, hat die Macht, ganze Städte zu verdammen. Metropolen wie Phoenix sind am Austrocknen und Sterben, gleichzeitig entstehen hoch moderne Arkologien mit komplexen Wasseraufbereitungsanlagen, in denen die Angestellten der Unternehmen wohnen, die mit Grundwasserleiter-Fracking die letzten Wasser-Reserven aus der Erde saugen – oft genug sind diese Projekte bloß leere Versprechen. In den Luxus-Appartements über der Stadt heißt es trotzdem Duschen statt Dürsten. Die einzelnen Bundesstaaten schicken unterdessen Söldner-Trupps und Milizen in den erbitterten Kampf ums Wasser und die wichtigen Rechte am Colorado River. Menschen werden ermordet, Wasserwerke und Staudämme gesprengt. In diesem blutigen Strudel eskalierender Gewalt ertrinken Männer und Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, darunter die mutige Reporterin Lucy, die junge Maria und Angel, der als Problemlöser und so genanntes ›Waterknife‹ für die Wasser-Königin von Nevada arbeitet …

Allein vom Setting und den realistisch-endzeitlichen Details her ist das alles ganz klar Paolo Bacigalupi – logisch, der Roman wurde ja auch von Bacigalupis eigener Story »The Tamarisk Hunter« aus dem Jahre 2006 inspiriert. Dennoch fällt beim Lesen schnell auf, dass der Autor, der in den letzten Jahren alle wichtigen SF-Preise gewonnen hat, ein ordentliches Stück aus dem vermeintlichen Genre-Ghetto rauskommt, um es mal provokant auszudrücken. Nach mustergültiger Biopunk-SF und Young-Adult-SF ist nun also das nächste Etikett dran, die nächste Zielgruppe im Visier. Mit Water wendet sich Bacigalupi fraglos an ein breiteres Publikum und sucht mit gefälligem Plot und passenden Protagonisten, klarer Sprache sowie Gewalt, Folter und Sex den Kompromiss zwischen der Genre-Literatur und einem packenden und drastischen, mainstreamtauglichen Öko-Thriller. Aber wir wissen ja, dass Krimis ein exzellentes Vehikel für Science Fiction sein können, und das mahnende Setting im nahen, veränderten Morgen ist und bleibt natürlich auch, was es ist, selbst wenn Bacigalupi andere Schwerpunkte setzt als in früheren Büchern.

Da der Balance-Akt am Ende für alle ziemlich gut funktioniert und der Roman unterm Strich immer noch genug von dem enthält, was SF-Fans an Bacigalupi schätzen gelernt haben, kann man dem Amerikaner nur wünschen, dass der Plan aufgeht und er mit »Water« und seinen sprudelnden Visionen einer kaputten Welt mehr Leser findet denn je.

Christian Endres

T. C. BOYLE

DIE TERRANAUTEN

(The Terranauts · 2015)

Roman · Hanser Verlag · Hardcover · 608 Seiten · auch als E-Book

Deutsch von Dirk van Gunsteren

Die Ecosphäre 2 ist ein von der Umwelt abgeschnittenes künstliches Ökosystem, dessen Funktionstüchtigkeit von vier Frauen und vier Männer über einen Zeitraum von zwei Jahren bewiesen werden soll. Da der Vorgängerversuch nicht zuletzt an einer Verletzung scheiterte, die sich eine der Teilnehmerinnen zugezogen hatte, steht das Projekt unter einem gewissen Erfolgszwang, was allen Beteiligten nur zu bewusst ist. Doch es bedarf gar nicht besonderer Unglücksfälle, um das Zusammenleben aus dem Gleichgewicht kippen zu lassen – ein simpler Stromausfall könnte bereits genügen. T. C. Boyle hat aus dieser Situation einen spannenden Roman gemacht.

Der Grundgedanke der Ecosphäre ist eigentlich simpel: Man verkleinert die Welt auf eine Handvoll Gebäude, schließt das Konstrukt luftdicht ab und versucht, die anfangs stabilen Umweltbedingungen zu erhalten. Doch obwohl die gesamte Crew aus entsprechend kundigen Experten besteht, kommt es schnell zu Schwierigkeiten, von denen Ungezieferbefall und monotone Ernährung noch die harmloseren Probleme darstellen. Als viel gravierender erweist sich der soziale Sprengstoff, wenn acht Menschen über zwei Jahre hinweg auf beschränktem Raum zusammenleben sollen, wobei es natürlich auch zu erotischen Rivalitäten kommt. Außerdem sind die Ansprüche der Projektleitung und der allgegenwärtigen Medien zu erfüllen.

Tom Coraghessan Boyle (Jg. 1948) lässt Die Terranauten von drei Figuren erzählen: der attraktiv-naiven Dawn Chapman, dem selbstbewussten Aufschneider Ramsay Roothoorp und der eifersüchtigen Konkurrentin Linda Ryu, die beim Casting aussortiert wurde und die die Ereignisse daher nur von außen beobachten kann. Als sich Dawn ausgerechnet mit dem »Mistkerl« Ramsey zusammentut und von ihm schwanger wird, spitzt sich die Situation zu …

Das beschriebene Experiment hat es wirklich gegeben: 1991 und 1994 kam es zu entsprechenden Versuchen in den USA, um Besiedlungschancen auf Mond und Mars auszuloten. Boyle hat die Ereignisse aufgegriffen und fiktional angereichert, wobei es ihm in erster Linie um die menschlichen Konflikte ging. Das Resultat hätte ein wenig kompakter ausfallen können, liest sich aber über weite Strecken als treffendes Porträt höchst unterschiedlicher Menschen, die im Rahmen eines Experiments aneinander gekettet sind und alle auf ihre Weise versuchen, die Lage in den Griff zu bekommen. Dass sich hierbei Sartres berühmter Ausspruch »Die Hölle, das sind die anderen« ein weiteres Mal als zutreffend erweist, liegt in der Natur der Sache.

Kai U. Jürgens

JAMES L. CAMBIAS

MEER DER DUNKELHEIT

(A Darkling Sea · 2014)

Roman · Cross Cult · Paperback · 420 Seiten · auch als E-Book

Deutsch von Claudia Kern

Der Amerikaner James L. Cambias ist seit den 90ern als Autor in der Rollenspiel-Szene tätig und verfasste bereits zahlreiche Kurzgeschichten, die in englischsprachigen Magazinen und Anthologien veröffentlicht wurden und Cambias Nominierungen für den Nebula und den James Tiptree Jr. Award einbrachten. Sein Romandebüt A Darkling Sea aus dem Jahre 2014 wurde von Robert J. Sawyer, Gregory Benford, Jo Walton und Vernor Vinge in höchsten Tönen gelobt. Auch John Scalzi ist seit Jahren ein Fan von Cambias (genau genommen kennen die beiden sich schon ewig, da Cambias auf dem College für die Studentenzeitung schrieb, deren Chefredakteur Scalzi war). 2016 ist Cambias’ Erstling unter dem Titel Meer der Dunkelheit bei Cross Cult als schön aufgemachtes Paperback erschienen.

Meer der Dunkelheit beginnt in einer Zukunft, in der den Menschen interstellare Reisen möglich sind, auf Ilmatar, dem Eismond des Riesenplaneten Ukko. Unter dem kilometerdicken Eis existiert ein Ozean voller Leben, das eine Gruppe irdischer Wissenschaftler auf der Hitode-Unterwasserstation erforscht. Vor allem die Ilmataraner – riesige intelligente Hummer, die sich über Sonar verständigen – stehen im Fokus. Trotz aller Wissbegierde dürfen sich die terranischen Entdecker den Illmataranern, die ihre Siedlungen um Unterwasservulkane herum errichten, nicht nähern oder zeigen. Einmischung und direkter Kontakt sind strikt verboten. Darüber wachen die Sholen, humanoide Otterwesen mit sechs Gliedmaßen und einem regen Sexualverhalten. Sie betrachten die Expansion der Menschheit mit Ablehnung, fürchten jede Art von Kolonialisierung und wollen verhindern, dass das Habitat unter der gefrorenen Oberfläche gestört wird. Ein Zwischenfall ändert plötzlich alles: Die llmataraner werden der Menschen gewahr, und die Sholen schicken Abgesandte, um die Wissenschaftler zum Verlassen der Station am Meeresgrund zu zwingen …

James Cambias hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass Meer der Dunkelheit eine kritische Auseinandersetzung mit der Ersten Direktive aus Star Trek ist, also dem heiligen Prinzip der Nichteinmischung bei Kontakt mit anderen Spezies und Kulturen auf fremden, nativen Planeten. Das Ergebnis von Cambias’ Hinterfragung dieses Konzepts ist nie so drastisch wie Sprecher für die Toten von Orson Scott Card, aber ein gefälliger, süffiger Erstkontakt-Roman über das Erwachen von Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen und Aliens. Ein Roman, der faktisch und atmosphärisch immer auf Hard-SF setzt und einen vielleicht nicht im Sturm erobert, allerdings früh genug fasziniert und bis zum Schluss fesselt. Besonders gefällt die exotische Oldschool-Attitüde des Tauch-Abenteuers, das Cambias aus der Perspektive aller drei Völker schildert. Ärgerlich ist eigentlich nur, dass er zu den SF-Autoren gehört, die einem die Aliens nicht gleich beim ersten Auftritt beschreiben und konsequent bis zur ersten Betrachtung durch die Menschen warten, sodass das Vorstellungsmodul des Lesers erst mal ohne Input arbeiten muss und kein Bild erzeugen kann.

Trotzdem gehört Meer der Dunkelheit definitiv auf die Leseliste jedes Fans guter Hard-SF- und Erstkontakt-Romane, die zugleich das Abenteuer in fremden Gefilden nicht zu kurz kommen lassen. Wer mal zwei, drei Tage so richtig schön abtauchen will, ist im eisigen Ozean von James L. Cambias genau richtig.

Christian Endres

BECKY CHAMBERS

DER LANGE WEG ZU EINEM KLEINEN ZORNIGEN PLANETEN

(The Long Way to a Small Angry Planet · 2015)

Roman · FISCHER Tor · 544 Seiten – auch als E-Book

Aus dem Amerikanischen von Karin Will

Der Titel dieses Debütromans mag vielleicht witzig klingen, ist tatsächlich aber eine exakte Beschreibung dessen, was hier erzählt wird. Wir begleiten die Crew der Wayfarer auf ihrem wirklich sehr langen Weg zu dem einen Job, der sie endlich in eine höhere Gehaltsklasse katapultieren könnte. Bisher verdiente sich die Besatzung mehr schlecht als recht ihr Geld mit dem Anlegen kleinerer Raumtunnel, sprich Wurmlöcher, wo Start- und Zielpunkt gut abgesteckt und die ohne größere Risiken durch den Zwischenraum gebohrt werden konnten. Nun aber sollen sie einen weit entfernten Planeten, der noch dazu den extrem aggressiven und zu Wutausbrüchen neigenden Toremi gehört, an die Infrastruktur der galaktischen Union anbinden. Blöd nur, dass sie keinen Blindstoß durch den Zwischenraum dorthin machen können, sondern den ganzen langen Weg auf konventionelle Weise zurücklegen müssen. Zeit genug für die Leser, um die äußerst heterogene, von verschiedenen Planeten stammende Besatzung kennenzulernen, mit all den Marotten ihrer jeweiligen Spezies, und sie langsam aber sicher ins Herz zu schließen.

Die Crew hat Becky Chamber recht bunt zusammengestellt. Da gibt es die Pilotin Sissix, die polyamoröse und recht freizügige Echsendame, die es als wechselwarmes Wesen gerne recht warm an Bord hat. Dies wiederum ist ein Zumutung für Corbin, den misanthropischen Algaeist, der für die optimale Versorgung der Treibstofftanks mit Algen zuständig ist. Techniker Jenks ist unsterblich in Lovey, die KI des Schiffes, verliebt. Seine chaotische Kollegin Kizzy ist Drogen und Parties gegenüber nicht abgeneigt. Rosemary wurde als Verwaltungsfachkraft neu eingestellt, um den Papierkram zu ordnen, den Captain Ashby seit Jahren liegen lässt – auch weil er stets alle Hände damit zu tun hat, den nächsten Auftrag an Land zu ziehen. Und Dr. Koch, der in seiner sechsbeinigen/ -armigen Erscheinung entfernt an eine Mischung aus Otter und Gecko erinnert, versucht als Smutje mit seinen hervorragenden Kochkünsten wenigstens zu den Essenszeiten ein wenig gute Stimmung zu verbreiten. Schade nur, dass die Navigatoren Ohan als Sianatpaar nie daran teilnehmen und lieber in ihrem Quartier aus dem Fenster starren. Dafür können sie aber auch als Einzige einen Raumsprung im Kopf berechnen, wozu noch nicht einmal eine KI fähig ist.

Das erinnert an manchen Stellen an die Serie FIREFLY von Joss Whedon. Nicht zuletzt trägt Chambers lockerflockiger Erzählstil einiges zu dieser Assozation bei. Doch um es ganz deutlich zu sagen: Viel mehr als eine Aneinanderreihung von kleinen aber feinen Geschichten, die das Zusammenleben der Crew auf dem langen Weg beschreiben, hat der Roman nicht zu bieten. Keinen besonders weitgefassten Spannungsbogen, keine Action, die nicht nach einem Kapitel schon wieder vorbei wäre, kein dunkles Geheimnis, das besonders raffiniert enthüllt wird. Wer dies nach gut einem Drittel des Romans versteht und sich ganz auf die Entwicklung der Figuren einlässt, wird dafür mit einer herzerwärmenden Geschichte über wahre Freundschaft belohnt.

Denn dieser zusammengewürfelte Haufen, kaum mehr als eine Zweckgemeinschaft, droht zunächst im Zuge der Ereignisse auf der Reise zu zerbrechen. Dann aber schafft es jedes einzelne Mitglied im entscheidenden Moment, die Animositäten beiseite zu lassen, über seinen Schatten zu springen und einfach mal das Richtige für die kleine Gemeinschaft zu tun. Das kommt mitunter ein wenig mit dem sozialpädagogischem Zeigefinger daher, entfaltet aber vor allem im letzten Drittel des Romans eine so wunderbare emotionale Wucht, dass sich der lange Weg dorthin voll und ganz lohnt. Die originelle Schlusspointe trägt einiges zum Wohlbefinden bei. Sie entlässt uns Leser mit dem Gefühl, dass die Menschheit vielleicht doch noch die Kurve kriegen könnte. Wenn wir nur endlich einmal anfangen würden, vernünftig miteinander umzugehen – das wäre doch schon mal was.

Frank Christian Stoffel

DIETMAR DATH

LEIDER BIN ICH TOT

(Originalausgabe · 2016)

Roman · Suhrkamp · Taschenbuch · 463 Seiten · auch als E-Book

Dietmar Dath, selbsternannter Leninist und hauptberuflicher Filmkritiker bei der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, zählt zu den produktivsten Autoren der Gegenwart. In seinem Roman Leider bin ich tot wendet er sich unter routiniertem Einsatz von Erzähltechniken der SF- und Fantasy-Literatur thematischen Aspekten und Fragestellungen der Religion zu. Es geht um Heilige und Scheinheilige, Glauben und Wissen, Gott, den Teufel und andere Wesenheiten höheren Bewusstseins. Noch mehr aber handelt der Roman, der in der Gegenwart des Jahres 2013 angesiedelt ist, vom unerwarteten Einbruch etwas gänzlich Unwahrscheinlichen, Destruktiven und Dämonischen in eine gar nicht ganz so heile Welt.

Erzählt wird in einem Wechsel kurzer Abschnitte, deren Erzählstränge mal mit, mal entgegen der Chronologie miteinander verknotet sind und sich um eine äußerst stolze Zahl von Figuren ranken. Da ist zunächst Abel, ein experimenteller Filmkünstler und Dokumentarfilmer. Als Anregung für seinen neuesten Film dient ihm die wissenschaftliche Tätigkeit seiner Schwester Nasrin, die über Modelle und Möglichkeiten der Wetterprognose forscht. Abel ist der klassische Typ eines Bohème-Künstlers, der sich selbst als Spieler, Einzelgänger und verlorene Gestalt begreift. Das für seinen neuen Film eingeworbene Geld nutzt er, um seinen Jugendfreund Wolf zu verführen, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Aber auch diese Offerte ist für ihn nichts als ein bloßes Spiel, eine intellektuelle Genugtuung, die weder auf Zuneigung noch auf Liebe beruht.

Wolf hat einen denkbar konträren Lebensweg eingeschlagen, wurde Pfarrer in der Thüringischen Provinz, ist von seinem dortigen Wirken jedoch längst desillusioniert. Auf das unmoralische Angebot Abels, seiner sich nie eingestandenen Jugendliebe, geht er zunächst nicht ein. Dann aber begibt er sich schließlich doch zum Flughafen, um den in London weilenden Filmemacher aufzusuchen. Noch vor dem Abflug jedoch überfällt ihn ein teuflischer Wahn. Ohne zu begreifen, was mit ihm geschieht, schlägt er plötzlich eine im Rollstuhl sitzende Teenagerin tot. In der Schilderung dieses Kampfes, in dessen Folge Wolf von einem Tag auf den anderen im Gefängnis landet, scheinen erstmals die untergründigen Mächte durch, die das Erzählen fortan bestimmen. Denn Wolf ist nicht nur Täter, sondern zugleich auch Opfer eines dämonischen Wesens, das im Roman sein Unwesen treibt.

Cyan, so einer von mehreren Namen dieser wandelbaren Gestalt, zählt zu den wunderlichsten Figuren des Romans: Ursprünglich ein Fötus, der in einen anderen Fötus einverleibt war, ist sie von den Toten zurückgekehrt, um das Lebensglück nachzuholen, das ihr selbst nie vergönnt war. Cyan ist getrieben von der Idee, neue Auflösungen des vergangenen und waltenden Geschehens zu finden, was allerdings weniger auf Gerechtigkeit als auf einen tödlichen Rachefeldzug hinausläuft. Ins Visier ihrer mörderischen Umtriebe geraten ihre Mutter sowie der Arzt, der sie als Fötus entfernt und getötet hatte, um ihre Zwillingsschwester zu retten; allen voran aber ihre Zwillingsschwester selbst, nämlich eben jene jugendliche Rollstuhlfahrerin, die der ahnungslose Wolf auf ihr Betreiben hin am Flughafen erschlägt.

Eingeführt wird die diabolische Cyan als Assistentin Abels. In Gegenwart des charakterlich labilen Filmemachers lernt sie ihre eigene Stärke kennen, an seiner filmkünstlerischen Arbeit schult sie sich für ihr weiteres Handeln. Abels konzeptioneller Ansatz beruht auf der Idee »Niemals nacheinander«. Zwar gebe es Vergangenheit und Zukunft, aber die Reihenfolge stehe nicht fest. Nach dieser Devise, die Abel bei seinen experimentellen Filmcollagen beherzigt und ihn glauben lässt, er würde als Künstler gottgleich handeln, greift Cyan unmittelbar in das Realgeschehen des Romans ein. Dabei tritt sie zunächst als Doppelgänger Abels auf, eignet sich fortan jedoch immer neue Identitäten an und bewegt sich schließlich frei durch Raum und Zeit, um die Gegenwart wie Vergangenheit nach ihrem eigenen Bauplan umzuformen.

Auch Nasrin, die Schwester des Filmemachers, hat bei ihren naturwissenschaftlichen Studien zum Wetter die Beschränkung fallengelassen, bloß linear in eine Richtung zu denken. Dabei hat sie eine wahrhaft aufregende Entdeckung gemacht, nämlich dass das Wetter sich wie ein mit Bewusstsein beseeltes Wesen höherer Intelligenz verhalte und interagiere. Und genau wie das Wetter, so die Überzeugung Nasrins, die als gläubige Muslimin prompt unter Terrorverdacht gerät, würden auch das Geld, Parteien, Verträge und anderes mehr über ein eigenes Bewusstsein verfügen.

Diese Erkenntnisse über höhere Formen der Intelligenz, über Schnittstellen zwischen Mensch und höher entwickeltem Bewusstsein, treffen auf das rege Interesse eines verschwörerischen Netzwerks von Milliardären. Die Mitglieder dieses Kreises treiben allesamt krumme Geschäfte, zeichnen sich zudem aber durch eine durchaus philanthropische Ader aus. Ausgerechnet Mitstreitern dieser Gruppierung gelingt es am Ende auch, den letzten großen Coup der Dämonin vorauszusehen und einzelne Akteure aus dem Fiasko zu retten, auf das der Roman zusteuert: ein martialisches Feuer, das Cyan als ihren letzten großen Streich anzettelt, um eine finale Lösung des Geschehens zu finden und alle in ihrem Sinne Schuldigen, Schwachen und Mitwisser in den Untergang zu reißen.

Damit aber ist das Personal des Romans längst nicht erschöpft. Hinzu kommen zahlreiche Mitglieder einer Dark-Metal-Band, diverse Sektenanführer und -anhänger, Rechtsradikale, Mitglieder der Drogenmafia, Geheimdienstagenten, Blogger, Politaktivisten – und selbst Dietmar Dath ist als eine literarische Figur innerhalb des Roman unterwegs.