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Die erfolglose Schriftstellerin Franziska Großhirsch gewinnt mit ihrem Text »Das Seil« unerwartet einen renommierten Literaturpreis. Auf das Preisgeld melden jedoch auch andere ihre Ansprüche an. Allen voran Tante Hilde, bei der sie gemeinsam mit ihrem Cousin Martin eine alles andere als wohlbehütete Kindheit verbracht hat, ihr Ex-Freund und zu guter Letzt auch ihre Literaturagentin. Franziska bleibt nichts anderes übrig, als sich bis zum Tag der Preisverleihung in ihrer Wohnung zu verbarrikadieren, schließlich stammt der Gewinnertext nicht aus ihrer Feder. Das Handy liegt ausgeschaltet im Tiefkühlfach, die Fenster und Türen sind mit Klebeband gesichert, doch die Geister ihrer Vergangenheit kann Franziska nicht länger abwehren. Sie steigen aus ihrer Seele und belagern die Wohnung, um Stück für Stück vor den Vorhang zu treten, um endlich gesehen zu werden und die alles entscheidende Frage zu stellen: Von wem stammt eigentlich »Das Seil«?
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Seitenzahl: 92
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Impressum
Autorin und Klappentext
Titelseite
Buchanfang
Die Autorin dankt dem BMKOES,
das die Arbeit an dem vorliegenden Roman
mit zwei Arbeitsstipendien unterstützt hat.
© 2025, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Gedicht: »Der Fluss«
Aus: Lydia Steinbacher Neue Tage, Gedichte
© Septime Verlag, 2024
Lektorat: Christie Jagenteufel
Cover: Jürgen Schütz
Umschlagbild: Character Untold © Brooke Shaden
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-99120-064-2
Printversion: Hardcover
ISBN: 978-3-99120-058-1
Septime Verlag e.U. | Johannagasse 15-17/18 | A-1050 Wien
www.septime-verlag.at
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Anna Herzig
ist eine österreichisch-kanadische Schriftstellerin und wurde 1987 in Wien geboren. Der Fokus der Autorin von bereits vier Romanen und zahlreichen Erzählungen in Anthologien und Zeitschriften zentriert sich auf Menschen, zwischenmenschliche Makel und Abgründe, besondere Momente und Begegnungen. Die Schriftstellerin und Künstlerin forscht und schreibt nah am Leben. Meist irgendwo in Europa. Anna Herzig schreibt, um zu unterscheiden zwischen dem, was wahr ist, und dem, was sich davon entfernt. Sie lebt heute mit ihrer Familie in der Steiermark. Das Seil ist ihr erster Roman bei Septime.
Klappentext
Die erfolglose Schriftstellerin Franziska Großhirsch gewinnt mit ihrem Text »Das Seil« unerwartet einen renommierten Literaturpreis. Auf das Preisgeld melden jedoch auch andere ihre Ansprüche an. Allen voran Tante Hilde, bei der sie gemeinsam mit ihrem Cousin Martin eine alles andere als wohlbehütete Kindheit verbracht hat, ihr Ex-Freund und zu guter Letzt auch ihre Literaturagentin. Franziska bleibt nichts anderes übrig, als sich bis zum Tag der Preisverleihung in ihrer Wohnung zu verbarrikadieren, schließlich stammt der Gewinnertext nicht aus ihrer Feder.Das Handy liegt ausgeschaltet im Tiefkühlfach, die Fenster und Türen sind mit Klebeband gesichert, doch die Geister ihrer Vergangenheit kann Franziska nicht länger abwehren. Sie steigen aus ihrer Seele und belagern die Wohnung, um Stück für Stück vor den Vorhang zu treten, um endlich gesehen zu werden und die alles entscheidende Frage zu stellen:Von wem stammt eigentlich »Das Seil«?
Anna Herzig
Das Seil
Roman | Septime Verlag
Für alle, die eine schwere Kindheit überlebt haben.
Für Agathe, die Beschützerin des Seils.
Für alle, die dieses Buch lesen, lesen, lesen.
Ein Abdruck von Schlaf
im Donaugeschiebe
wie liege ich recht auf schräger Fläche
und was wenn die Wellen mich wecken?
Dieser Fluss heißt anders.
Oft habe ich mir als Kind
die Sonnenliege
ans Bett der Großmutter gestellt
zwei Flöße aneinandergebunden
Welcher Fluss trägt uns jetzt?
An knochenverwaistem Ort
ich lehne mein Rad an die Mauer
das Kreuz das hier getragen namenlos
und wie einst du benenne ich die Pflanzen
Wie eine hohe Kunst
im richtigen Moment eine Deutung gesprochen
Ich kenne diesen Fluss.
Lydia Steinbacher
Das ist ein Gefühl.
Das ist ein Gefühl, als ob einem etwas, das nicht von dieser Welt ist und auch nicht hierhergehört, mit Eispickeln die Wirbelsäule entlanghackt, sich ins Fleisch drückt. Und durchbricht. Schicht für Schicht für Schicht.
Die Tante steht am Flussrand und wartet, bis es dunkel wird. Es ist der dreiundzwanzigste Dezember.
Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein anderes Land, friedlich dahinruhend und verschneit wie schon seit Jahren nicht mehr. Irgendwo bellt ein Hund, ob in ihrer Nähe oder dort drüben, kann die Tante nicht sagen. Es ist eine behagliche, romantische Winternacht. Eine Nacht, in der Dinge unwiderruflich verändert werden. Die Tante sieht zu ihrem Bekannten, der wenige Meter hinter ihr in einem dunklen Transporter sitzt und mit den Fingern auf das Lenkrad trommelt. Sie nickt. Der Mann startet den Motor. Zu ihren Füßen treibt der Großvater leichter als gedacht davon.
Adieu, Papa, sagt die Tante.
Franziska hat ihn geliebt wie sonst nichts auf der Welt.
Wie ein paniertes Kalbsschnitzel auf einem Erdbeerfeld. Wie ein Honigkuchenpferd mitten im Winterglitzerschneequadrat. Wie ein kleines Mädchen seinen Großvater eben lieben kann.
Ihr schwarzes Festnetztelefon mit den beleuchteten Tasten steckt in der Ladestation undläutet zum unzähligen Mal an diesem Tag. Ihr linkes Auge zuckt. Egal, wie lange sie in den letzten achtundvierzig Stunden meditiert hat, das Auge will sich nicht beruhigen.
Franziska atmet, atmet, atmet.
Sie knackt mit dem Nacken einmal links, einmal rechts.
Das Läuten verstummt, der Eingangston einer Nachricht. Jemand hat etwas auf den Anrufbeantworter gesprochen. Seit der geheimen Abstimmung von zwölf Gremiumsmitgliedern vor zwei Tagen samt der darauffolgenden sensationellen Verkündung, dass Franziska Großhirsch, Enkeltochter des vor zwanzig Jahren tragisch verunfallten Schriftstellers Walter Werner Großhirsch, den bisher unantastbaren Dauersieger Hannes Krieger, nur vier Jahre älter als Franziska, vom Thron stoßend, die sechzigste Preisträgerin des größten Literaturpreises des Landes, dem Preis im Garten ist, fühlt sich das Leben in ihrem Körper viel zu eng an. Es ist eine weitere von sehr vielen Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter seit gestern Abend, aber die erste und einzige von ihrem literarischen Vorbild. Als sie seine Stimme hört, werden ihre Knie weich und sie muss sich an der Wand abstützen.
Glaubst, du bist jetzt etwas Besseres?, fragt Hannes Krieger, der alleinige Gewinner der bisherigen neunundfünfzig Preise im Garten mit Schaum vor dem Mund, du wirst dich noch anschauen.
Was hat sie ihm getan?, denkt Franziska. Er kennt sie doch gar nicht, woher hat er ihre Nummer?
Franziska nimmt das Telefon, drückt hastig eine Taste und löscht die Nachricht. Sie lässt ihren Oberkörper nach vorn fallen und die Arme werden schwer, der Kopf wird schwer, die Augen werden müde und alles tritt in den Hintergrund. Wie ein Hinsetzen in sich selbst. Alles wird gut, sagt der Großvater, mein Afferl, ich bin bei dir.
Es gibt einen Knopf in Franziskas Innerstem, den keiner kennt, selbst der Großvater wusste nichts davon. Wenn Franziska diesen geheimen Knopf drückt, tut ihr nichts mehr weh. Dann muss sie nichts mehr hören und es reicht, wenn sie einfach nur nickt, obwohl sie bereits schwebt, hoch über allen Dingen, die hier oben oder dort unten geschehen. Niemandem fällt auf, dass es diesen Knopf gibt. Die richtig großen Magier verraten niemals ihre Tricks.
Nicht einmal unter Folter.
Und dann steckt dieser Knopf plötzlich fest, es ist eine Ungeheuerlichkeit, schließlich hat sie ihn entworfen und bräuchte ihn noch, um die Preisverleihung zu überstehen.
Franziska kneift die Augen fest zusammen. Sie holt einen Becher Schlagsahne aus dem Kühlschrank, zieht den Deckel ab und trinkt, trinkt, trinkt.
Franziska geht ins Schlafzimmer, sieht sich um. Sie zieht eine alte, geflochtene Bambustruhe unter dem Bett hervor, hebt den Deckel hoch und nimmt einen großen Hammer heraus.
Hannes Krieger.
Wenn jemand vor dir steht und dir etwas antun will, dann merkst du das.
Ob man einem Freund oder Feind gegenübersteht, ist zuweilen einerlei.
Franziska darf nicht ins Gymnasium, nur zur Hauptschule, weil die Tante Hilde, eine der adoptierten Töchter des Großvaters und die Schwester ihrer Mutter, keinen großen Aufwand mit Franziska haben möchte. Die Tante hat bereits einen Sohn mit besonderen Bedürfnissen.
Bestraft bin ich eh schon genug, da brauch ich deine Spinnereien nicht auch noch. Keiner von uns ist eine feine Herrschaft und trotzdem kommen wir durchs Leben, sagt die Tante.
Es ist nur die Reifeprüfung, sagt Franziska, die haben viele.
Die Tante macht eine abwertende Geste mit der Hand und sagt: Wenn andere in den Inn springen, springst du dann auch?
Vielleicht, sagt Franziska und die Tante gibt ihr eine Ohrfeige.
Aua.Aua.Aua!, kreischt Martin, Aua.Aua.Aua! Franziska verzieht keine Miene. Vor einiger Zeit hat sie eine besondere Entdeckung gemacht: Alles, was Franziska nicht fühlt, spürt Martin umso mehr. Und seit einiger Zeit auch umgekehrt.
Was hat er denn?, hat Franziska die Tante als kleines Kind gefragt.
Etwas, das mein Leben für immer zerstört, hat die Tante geantwortet.
Aber wie heißt das?, hat Franziska gefragt und die Tante sagt ein Wort, das sie sich nicht merken kann. Seither ist Martin einfach Martin. Martin, der immer da ist, meist in geringer Entfernung zur Tante, Martin in einer Hängeschaukel im Wohnzimmer hin- und herschaukelnd, oft stundenlang dasselbe Lied singend, bis er sich übergeben muss. Martin, der schreit und tritt, wenn die Tante ihn wäscht. Martin, der sich ein Zimmer mit der Tante teilen muss, wegen der Selbstverletzung. Martin, der an allen noch so alltäglichen Dingen eine unbändige Freude empfinden kann.
Im Gegensatz zu Martin ist die Tante ihr ganzes Leben in einer ernsten Hülle aus Fleisch und Blut gefangen, außer es ist jener Tag im Monat, an dem die Geldleistungen vom Amt ausbezahlt werden. Dann ist die Tante umgeben von einer unheimlichen Fröhlichkeit, trinkt schon morgens zwei, drei kleine Gläser, schneidet aus verschiedenen Illustrierten, die sie in den Altpapiercontainern im Hof findet, die neueste Mode aus und klebt sie unter Fotos von ihrem Kopf.
Manchmal sind sogar ComicheftefürMartin dabei. Er reißtsie seiner Mutter aus der Hand und setzt sich stundenlang unter den Küchentisch. Martin beißt sich oft fest. Vorwiegend in der Tante. Franziska hat Mühe, das zu glauben, denn die meiste Zeit ist Martin einfach nur Martin. Aber die Tante hat ihr die Abdrücke seiner Zähne auf ihrer Haut gezeigt. Komm ihm besser nicht zu nahe, sagt die Tante, halte dich lieber von ihm fern, sagt die Tante.
Oft vergisst Franziska, dass die Tante die Mutter von Martin ist, weil sie die Tante als etwas anderes und im Besonderen nie sieht, wie sie ihn lieb hat. Wann immer die Tante ihren Sohn auf den Kopf küssen oder den Oberarm streicheln, ihn gelegentlich umarmen möchte, windet sich Martin sofort aus allem, was mit den Berührungen seiner Mutter zu tun hat, und zischt wie ein Reptil.
Wenn die Tante singt,hält sich Martin die Ohren zu, rennt polternd in sein Zimmer und weint, weint, weint. Um ihn aufzumuntern, summt Franziska die Melodie von Rhapsody in Blue. Das Lieblingsstück des Großvaters. Wenn sie summt, ist Martin beruhigt und beginnt, sich hin- und herzuwiegen. Dann wirkt der schwerfällige Kindskörper federleicht und sehr ausbalanciert. Die Tante ist so angespannt, dass Franziska zur Holzvitrine geht, die Lieblingsflüssigkeit der Tante in eines der unzähligen kleinen Gläser leert und vor sie hinstellt, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen.
Ich möchte studieren, sagt Franziska, und dann ins Ausland gehen.
Du wirst arbeiten gehen, sagt die Tante.
Aber ich möchte studieren, sagt Franziska beim Mittagessen, nachdem sie im Unterricht über die Wünsche und Zukunftspläne der Klasse gesprochen haben.
Andere Pflegekinder sind dankbar, wenn sie überhaupt eine Lehre machen dürfen, sagt die Tante. Und außerdem, fügt sie hinzu, Martin ist auch noch da. Und wenn ich nicht mehr bin, was wird aus deinem Cousin?
Franziska knackt links mit dem Nacken und rechts mit dem Nacken. Es ist eine angenehme Wiederholung.
Links und rechts.
Links und rechts.
Links und rechts.
Hör auf mit dem Blödsinn, schreit die Tante, du machst eine Lehre und jetzt schau, dass du mir aus den Augen gehst!
Bitte, sagt Franziska ein letztes Mal und die Tante lacht, lacht, lacht. Dann kommt der Husten, der zu einer schweren Krankheit mit vier Buchstaben werden wird.
Wenn man studiert, darf man nach Amerika, sagt Franziska.
Was willst du in Amerika, da kennst du niemanden und ohne Englisch bist du verloren, sagt die Tante. Und dann passiert etwas, womit weder Martin noch die Tante rechnen. Franziska beginnt, mit Inbrunst und in makellosem Englisch einen Reim aufzusagen:
One, two, buckle my shoe;
Three, four, open the door;
Five, six, pick up sticks;
Seven, eight, lay them straight;
Nine, ten, a big fat hen.