Herr Rudi - Anna Herzig - E-Book

Herr Rudi E-Book

Anna Herzig

0,0

Beschreibung

Zwei Tage vor seiner Pensionierung bekommt der Herr Rudi die Diagnose Krebs, er denkt: Okay. Hat's ihn also auch erwischt. Sein Leben hat der Wiener Gerichtsvollzieher damit verbracht, der Livi hinterherzutrauern, erste und einzige Liebe. Die nach Zitrone-Orangen-Marmelade geschmeckt hat beim Küssen, und für deren Reanimation er sogar sein heißgeliebtes gelbes Curry stehen lassen würde. Aber da hilft alles nicht, die Livi ist tot, und das seit 40 Jahren. Seit 40 Jahren also sitzt ihr dämlicher Geist ihm auf der Schulter. Und jetzt haben wir das Schlamassel: Hexenschuss. Im Hotelzimmer in Salzburg mit einer Badewanne voller Blaubeeren. In der sind Dinge passiert. Und eine Pistole liegt da auch noch, auf dem Nachtschrank. Anna Herzig entfaltet die brutale Wucht der Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen, ohne dabei den hartnäckigen Charme des Lebens zu missachten. Die Geschichte eines lebenslangen Requiems auf die große Liebe und die Bedeutung von besten Freunden, erzählt in einer derben wie herzerwärmenden Manier.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 79

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna Herzig wurde 1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geboren. Sie lebt in Salzburg. Nach mehreren Veröffentlichungen im Digitalen erschien 2017 mit »Sommernachtsreigen« Herzigs erstes gedrucktes Buch bei Voland & Quist.

Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin, Dresden und Leipzig, 2020

© by Verlag Voland & Quist GmbHKorrektorat: Kristina WengorzUmschlaggestaltung: Nina BachmannSatz: Fred UhdeDruck und Bindung: PBtisk, Czech Republic

www.voland-quist.de

eISBN 978-3-863-91262-8

Für den Herrn Rudi und seinen Beschützer.

AUFTRITT HERR RUDI, bitte schön.

DER HERR RUDI KNIET NACKT auf dem Boden eines Hotelzimmers. Sein Körper bedeckt mit Badewannenschaum. Er stützt sich auf den Resten seiner Existenz ab. Auf allen vieren zu kriechen, lässt einen demütig werden. So hört man.

Eine durchwühlte Reisetasche liegt auf dem Bett. Seine liebste, die mit den vielen bunten Enten darauf. Vereinzelte Blaubeeren tummeln sich auf dem Bettlaken. Friedlich sehen sie aus, scheinen sich wohlzufühlen.

Nicht weinen, Rudi.

Er hält sich mit zwei Fingern an der Katzenohrenhaube fest, die ihm der Fritz geschenkt hat. Versucht, die Schmerzen des Hexenschusses durch die Finger in die Haube umzuleiten. Energetischer Kuhhandel sozusagen.

Frauenbeine gehen vor seinen Augen auf und ab. Ein Fuß in einer gelben, der andere in einer blauen Socke. Knöchel, Knie und weiter hinauf: der verheißungsvolle Weg zu schönen Erinnerungen.

Aus dieser Sicht nimmt er seine Umgebung nur mehr halbiert wahr. Vielleicht noch ein paar Minuten so bleiben. Der Ausblick aus seinem Zimmer offenbart wenig Trostspendendes.

»Ich seh dich nicht mehr, Livi. Warum kann ich dich nicht sehen?«, fragt er.

Aus irgendeiner Ecke hört er sie doch kichern.

»Hallo?«, fragt sie.

»Livilein …«, versucht er, sie zu locken.

Stille.

»Livi, versteh mich doch«, sagt er.

»Nein.«

»Bitte.«

»Nein.«

»Es ist meine Entscheidung«, sagt der Herr Rudi in seiner autoritärsten Gerichtsvollzieherstimme und schlägt mit der flachen Hand auf den Boden.

»Und ich hab Nein gesagt«, antwortet sie.

»Jetzt gib mir die Kugel, sonst lernst du mich kennen. Und zwar richtig.«

»Nein.«

Mit dem rechten Bein tritt er, so fest er kann, nach hinten aus, gegen die Wand. Und wimmert den Schmerz von der Seele in das Knie, in den Fuß.

»Du bist langsam«, quengelt sie, »langsam und langweilig.«

Junge Erwachsene, denkt der Herr Rudi.

»Spüren …«, sagt sie.

»Geht nicht«, antwortet er.

»Aber ich will!«

»Es. Geht. Nicht. Livi.«

»Ich will, ich will.«

Wenn er wenigstens die Salzburger Berge sehen könnte.

»Wenn ich jetzt den Untersberg sehen könnte.«

»Dann?«, fragt die Livi.

»Dann wäre alles anders.«

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf seiner Zunge tobt ein Blaubeersturm.

Wenn er den Nebel in seinem Kopf wie einen Vorhang beiseiteschieben könnte, vielleicht würde es gelingen, einen Blick auf Livi zu erhaschen. Das Problem mit Nebel jener Art: Er ist hartnäckig.

Das Problem mit Geistern jener Art: Sie sind hartnäckig.

ALSO SCHNUPPERT er. Ist bemüht, sie anhand ihres Geruches zu finden. Wenn die Livi auftaucht, manifestiert sich das nämlich in einem zarten Duft aus Orangen und Zitronen. Und der knallt dem Herrn Rudi direkt bis in die Seele.

»Livi, gib mir die Kugel«, murrt er.

»Nein«, antwortet sie.

»Wenn ich was entscheide, kann ich auch mit den Konsequenzen leben. Verstehst mich.«

»Fang mich doch.«

»Livi, nein.«

»Doch.«

»Jetzt gib mir die Kugel.«

»Brauchst du nicht.«

»Doch. Für eine Waffe braucht man eine Kugel.«

»Warum?«

»So will es der Mechanismus«, schnauft er.

»Hallo?«, fragt sie.

»Nein.«

»Hallo, hallo?«, fragt sie.

»Nein, nein.«

»Ich hab das beschlossen, ich will nicht mehr. Kannst du mich nicht ein bisschen verstehen?«

»Spiel was mit mir.«

»Gib mir die Kugel für die Waffe, du lästiges Kind.«

»Ich bin neunzehn.«

»Ist doch dasselbe.«

»Ist gar nicht dasselbe Und keine Kugel für dich. Pastabasta«, schmollt sie.

Und der Herr Rudi weiß: Weiterdiskutieren ist bestenfalls wertlos.

WENN ER DEN FRITZ jetzt anrufen und sagen würde: »Du, ich brauch dich.«

»Fritz. Ich brauch das jetzt, dass du dich mit mir in die Bella-Palma-Pizzeria setzt. Hallein, das war doch immer unser Revier. Ein Glas Rotwein nach dem anderen. Und noch eins und dann immer so weiter. Bis uns richtig fein die Lichter ausgehen.«

Weil Wein, alleine getrunken, meist nach der größten Einsamkeit schmeckt. Und ein bisschen nach Wein. Aber hauptsächlich nach: Ich möchte reden. Bitte. Aber er hat dem Fritz nichts gesagt. Weil, denkt der Herr Rudi, die Dinge, die einem passieren, die Angelegenheiten von demjenigen sind, dem die Dinge eben passieren.

»Ach was, Rudi«, würde der Fritz sagen, »egal, was ist, wir kriegen das wieder hin.«

Vorsichtig probiert er also trotzdem eine Trockenübung, die seinen Freund vielleicht nicht in eine sofortige, alles mobilisierende Panik versetzen würde.

»Fritz.«

Räuspern.

»Fritz, ich …«

Räuspern.

»Wie geht’s dir. Ich brauch was. Nein. Anders.«

Räuspern.

»Fritz. Ich hab. Ich. Nein. Okay.«

Räuspern.

»Fritz. Ich hab dich lieb.«

Vergiss es, Rudi, denkt er, zieh da niemanden mit hinein.

Es beginnt zu regnen. Nicht nur in Salzburg, sondern ebenso im Kopf vom Herrn Rudi.

»DA FRAGST DU DICH SCHON«, hat der Herr Rudi vor ein paar Wochen gesagt.

»Was?«, hat der Fritz geantwortet.

»Ich mein, da fragst du dich schon, was es zu bedeuten hat, das Leben.«

»Ja, eh.«

»Was kommt denn? Nachdem schon alles passiert ist, mein ich.«

»Ich weiß nicht«, sagt der Fritz und schaut in sein Weinglas.

Dort findet man mal mehr, mal weniger Bedeutsames. Schätze und Erinnerungen. Momente, in denen man gewusst hat, wer man ist. Deswegen ist ein zweites, drittes oder viertes Glas Rotwein keine blöde Idee. Dann findet man den Rest.

»Wie machst du das«, sagt der Herr Rudi und schiebt sein Sushi-Tellerchen zur Seite.

»Hunger«, antwortet der Fritz.

»So ein kleiner Körper.«

»Aber der hier«, sagt der Fritz und klopft sich auf den Bauch, »zählt für zwei Männer.«

Der Herr Rudi versteht das mit dem zärtlich angefutterten Bauch ja. Er selbst ist nämlich ein passionierter Nachtesser. Da kann er gar nichts dafür, weil in der Nacht, da erwacht sein ganzer Organismus zum Leben. Untertags fährt er auf Autopilot, aber nachts, da spürt er seinen Körper vibrieren. Da kriegt er Appetit auf alles, was es in der Welt an Köstlichkeiten gibt. Der Herr Rudi ist nämlich ein Stier und wohnt sozusagen im Genuss.

»Wie geht’s denn mit der …?«, fragt er den Fritz.

»Wem?«

»Wie heißt sie noch mal, ich hab’s vergessen.«

»Silvia.«

»Genau.«

»Na ja.«

»Nichts mehr?«

»Weiß nicht.«

»Ist was passiert?«

»Sie will noch ein Kind.«

»Mit dir?«

»Mit wem sonst?«

»Zusammen habt ihr doch schon vier.«

»Eben. Isst du das noch?«

»Nein, bedien dich.«

»Danke.«

»Und?«

»Was und?«

»Was machst?«

»Gibt nur drei Möglichkeiten«, antwortet der Fritz kauend und holt sich das nächste Tellerchen vom Fließband, »entweder ich sitz es aus.«

»Kannst.«

»Oder ich erfüll ihr das.«

»Kannst auch.«

»Oder.«

»Oder?«, fragt der Herr Rudi.

»Trennung.«

»Keine andere Möglichkeit?«

»Eher nicht.«

»Das tut mir leid.«

»Es ist, wie es ist.«

Der Herr Rudi nimmt sein Weinglas und prostet dem Fritz zu.

»Irgendwann, mein Freund …«, sagt er.

»Wenn du mit mein Freund anfängst, dann willst du doch was von mir«, antwortet der Fritz.

»… irgendwann, mein Freund, wenn wir das nächste Mal gemeinsam in Salzburg sind …«

»Jetzt kommt’s.«

»… dann fährst du mit mir den Untersberg hinauf!«

Der Fritz verschluckt sich am Grinsen vom Herrn Rudi und auch ein bisschen an einer Litschi.

»Spinnst?«

»Doch, doch, das machen wir.«

»Spinnst!«

»Sei nicht so.«

»Ich hab Höhenangst, Rudi, das weißt du ganz genau. Ich steig nicht mal auf eine Leiter.«

»In der Untersbergbahn passiert dir nichts. Die Aussicht ist genüsslich, das sag ich dir.«

»Ich setz mich ganz sicher nicht in so eine Todeskabine.«

»Sei nicht komisch, Fritz.«

»Aber wirklich nicht!«

»Dann gehen wir hinauf.«

»Du bist eine blöde Sau.«

DER HEXENSCHUSS HOLT den Herrn Rudi zurück. Realität ist dort, wo Schmerz ist.

Ihm fällt der geöffnete, noch fast volle Rotwein wieder ein, der in Griffweite steht. Der Herr Rudi trinkt aus der Flasche und weint. Trinkt und weint und trinkt und weint, während er auf dem Boden kniet, mit der einen Hand abgestützt, in der anderen die Flasche.

»Que sera, seraaaa«, grölt er zwischen zwei Schluchzern, »whatever will be, will be.« Dann summt er, weil er den Rest vergessen hat. Auf drei Gliedern beginnt er zu wippen. Wiederkehrende Bewegungen. Vielleicht, wenn er schnell genug trinkt und wippt und trinkt und wippt und trinkt und weiter wippt, kann er sich in der Zeit zurücktrinken. Wie eine Zeitmaschine, nur ohne Zeitmaschine, dafür mit Rotwein.

Heureka, wenn das gelänge!

Er würde sich zurücktrinken zur Olivia. Zurück zu jenem Sommer, bevor sie starb. Zurücktrinken zu seinem Vater und ihm sagen, dass er nach dem Tod der Mutter ein Recht darauf gehabt hätte, wieder glücklich zu sein, egal, was die Leute im Dorf sagen. Zurücktrinken zu einer anderen Berufswahl, einer, die das Elend der Menschen nicht noch aussichtsloser macht.

»Que sera«, jammert er und ist für einen Moment unachtsam. Die Flasche rollt davon, und der Herr Rudi ist fassungslos ob dieses Verrats.

»Soso«, sagt er. »Soso, du mieser Verräter. Ich brauch dich eh nicht.«

Die Flasche, mittlerweile regungslos auf der anderen Seite des Raums angekommen, bleibt kühl und lässt sich auf keine Diskussion ein.

»Ich hab’s nicht so gemeint«, flüstert er, »wenn du mir entgegenkommst, wäre das fein.«

Keine Antwort.

»Können wir das so machen, bitte schön?«

Keine Antwort.

»Schau, ich hab doch nur mehr dich.«