Das siebte Grab - Igor De Amicis - E-Book
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Das siebte Grab E-Book

Igor De Amicis

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Beschreibung

Sieben leere Gräber. Sieben Namen. Ein Wettlauf gegen die Zeit.

Sieben leere Gräber auf einem Friedhof in Neapel, daneben sieben Grabsteine mit den Namen bekannter Handlanger des organisierten Verbrechens – die alle noch am Leben sind. Als der erste von ihnen ermordet aufgefunden wird, ahnt Michele Vigilante, dass jemand auf Rache sinnt, denn auch sein Name steht auf einem der Gräber. Gerade nach zwanzig Jahren aus dem Gefängnis entlassen, wird er zum Jäger des Mörders, und zum Gejagten seiner eigenen Vergangenheit. Auch die Ermittler Lopresti und Correnti erkennen, dass sie es bei dem Killer mit einem Profi zu tun haben, als sich ein Grab nach dem anderen füllt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Seitenzahl: 454

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Igor DeAmicis, 1976 in Rom geboren, ist Kommissar der Strafvollzugspolizei in einem italienischen Gefängnis und kennt mafiöse Strukturen, Drogenhandel und Straßenkriminalität aus erster Hand. Gerade dadurch schafft er es, noch in den dunkelsten Charakteren etwas Menschliches zu entdecken. Momentan schreibt er an seinem zweiten Thriller.

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IGOR DE AMICIS

DAS SIEBTE GRAB

THRILLER

Aus dem Italienischen

Die italienische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel La settima Lapide bei DeA Planeta, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Igor De Amicis

© First published in Italy by DeA Planeta

This edition published in arrangement with Grandi & Associati

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Quellennachweise:

»Nu Latitante« (Tommy Riccio), Mea Sound.

Der lachende Mann, Lübbe 2004.

»Faust«, aus: Adelbert von Chamisso,Gedichte. Ausgabe letzter Hand, Holzinger 2014.

Cover: Bürosüd

Covermotiv: Plainpicture / Anja Weber-Decker

Redaktion: Brigitte Lindecke

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-25499-5V002

www.penguin-verlag.de

Für Paola, mit all meiner Liebe

1

1.

Montag, 18. Januar 2016,

Santa Margherita, ungarische Königstochter, geweihte Jungfrau und Ordensschwester

Die Morgenluft war kühl. Ein sanfter Nieselregen legte sich wie ein hauchfeiner Schleier auf den kleinen Dorffriedhof in der Provinz Neapel. Ein düsterer Ort, ein Ort des Schmerzes. Akkurat ausgerichtete Gräberreihen, bronzefarbene Lettern auf den Grabsteinen, Bilder der Verstorbenen, flackernde Grablichter und verwelkte Blumen. Ein verrostetes Eisentor, das schon bessere Tage gesehen hatte, mit Kies bestreute Wege.

Ab und zu waren gedämpfte Geräusche zu hören, aber kein einziges Gebet. Die tägliche Prozession der untröstlichen Witwen würde erst noch kommen. Immer der gleiche Weg, die gleichen Gesten, die ehrerbietig gesetzten Schritte, um sich in Würde und Andacht der letzten Ruhestätte ihrer Liebsten zu nähern.

Der Glaube war etwas Großartiges.

Mitten in diesen Ort der Stille hatte man sieben marmorne Grabsteine in die dunkle Erde gerammt, die wie abgebrochene Zähne aus einem weit aufgerissenen Mund ragten.

Vor dem ersten lag das erste Opfer, Arme und Beine weit von sich gestreckt, die Kehle glatt durchtrennt, auf dem Gesicht ein zur Fratze erstarrter stummer Schrei. Aus der klaffenden Wunde war Blut über den goldenen Padre-Pio-Anhänger bis hinunter ins Gras geflossen. Eine Katze hatte ein wenig davon aufgeleckt.

Vitaliano Esposito, 27. Oktober 1963–14. Januar 2016, lautete die Inschrift. Auf den anderen sechs Grabstelen waren nur die Namen und die Geburtsdaten zu lesen. Der Tod ließ noch auf sich warten. Die Gräber warteten geduldig, sie hatten Zeit. Ihre Bewohner würden kommen. So viel stand fest.

2.

Gefängnis blieb Gefängnis. Eine ebenso banale wie zutreffende Betrachtung. Gefängnis blieb Gefängnis, bis zum letzten Gang über den Korridor, bis zur letzten Nacht, bis sich die Zellentür zum letzten Mal schloss.

Da konnte man noch so viele Poster mit nackten Brüsten und Ärschen zwischen Padre Pio und den Papst an die Wand kleben, um die üblichen fünf Zigaretten Karten spielen, in der Werkstatt arbeiten oder mit den Sozialarbeitern sprechen, bis einem die Zunge abfiel. Aber das änderte alles nichts. Gefängnis blieb Gefängnis, daran war nicht zu rütteln. Ein Kasten aus Stahl und Beton, Neonlicht und Zwiebelgestank, erfüllt vom Geräusch der Schlüssel, die im Schloss gedreht wurden. Und man konnte bloß warten, dass die Zeit verging. Sekunden, Minuten, Tage, Jahre.

Gefängnis blieb Gefängnis. Und wer das anders sah, war noch nie drin gewesen.

Michele Vigilante lag auf der oberen Pritsche des Stockbetts, reckte und streckte sich und starrte auf die Schimmelflecken an der Decke. Er schlief zunehmend schlechter, höchstens fünf Stunden pro Nacht. Nicht dass es ihm etwas ausmachte, er hatte alle Zeit der Welt, den versäumten Schlaf nachzuholen. Doch selbst wenn er ausgeschlafen war, hatte er den Eindruck, dass die Zeit immer langsamer verging. Und das seit mehr als zwanzig Jahren. So lange saß er bereits.

Durch das vergitterte, halb gekippte Fenster drang klares Morgenlicht in die Zelle, und eiskalte Luft strömte herein. Er liebte das Prickeln auf der Haut, das seine Lebensgeister weckte. In den Gängen war es still, die anderen Häftlinge schliefen noch oder verhielten sich ruhig.

Die schönste Zeit des Tages.

Genüsslich zündete er sich die erste Zigarette an und blies eine graue Rauchwolke in Richtung der Schimmelflecken. Seit Jahren starrte er die Decke an, kannte jeden Fleck und jeden Riss. Inzwischen hatten sie sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.

Vom Ende des Gangs hörte man jetzt das Scheppern von Messingschlüsseln, Türen gingen auf und zu, gedämpfte Stimmen und das hallende Geräusch von Stiefeln waren zu vernehmen. Es waren mehr als sonst. Er wusste genau, was das bedeutete.

»Vigilante, Durchsuchung.«

Sobald der Wärter die Klappe in der Tür öffnete, kletterte Michele von seiner Pritsche, erst auf den Hocker, dann auf den Boden. Er wollte die Zigarette aus dem gekippten Fenster werfen, aber sie war erst halb aufgeraucht. Also hielt er sie mit fragendem Gesichtsausdruck dem Wärter hin, der kaum merklich nickte. Daraufhin ging er auf den Flur und rauchte zu Ende. Eines der kleinen Privilegien, die einem zugestanden wurden, wenn man so lange hier war.

Die Durchsuchung lief stets nach dem gleichen Schema ab. Die Gefangenen wurden im Gemeinschaftsraum eingeschlossen, während die Wärter Schränke und Taschen inspizierten, die Matratzen umdrehten und die Zwischenräume zwischen Gitter und Fensterscheibe kontrollierten.

Michele stellte sich ans Fenster, nahm noch ein paar Züge und betrachtete die liebliche Landschaft mit den grünen Hügeln und einem unendlich weiten, klaren Himmel.

So schlecht war es hier gar nicht, von der Tatsache, dass er ein Gefangener war, einmal abgesehen.

Die anderen Häftlinge redeten aufgeregt durcheinander, ihre Stimmen überschlugen sich fast, sinnloses Geschwätz ohne Substanz und Respekt. Als würden sie in Endlosschleife den immer gleichen Rosenkranz beten, ein stumpfsinniges Ritual, das ihn mehr und mehr nervte. Es ging darum, wer wie verhaftet worden und wer ein Verräter war oder wer sich rächen wollte. Und wer es nicht geschafft hatte.

Dann hechelten sie die Familie durch, die Kinder, die Anwälte, den Richter, den Prozess, die Berufung, die Verurteilung, die Bullen und vor allem die Kronzeugen, angebliche Freunde, die sie denunziert hatten, um die eigene Haut zu retten. Das waren die Schlimmsten. Diesem Abschaum hatten sie es zu verdanken, dass sie im Gefängnis saßen.

Irgendjemand hatte die Nase voll und schlug eine Runde Karten vor. Michele hielt sich raus und schwieg. Er hatte seit Jahren nichts mehr zu sagen. Nach einer halben Stunde hörte er rhythmische Klopfgeräusche. Ein schwerer Hammer wurde kraftvoll gegen die Gitter geschlagen, um zu prüfen, ob sie noch stabil verankert waren, damit niemand auf die dumme Idee kam, sich an zusammengeknoteten Bettlaken aus dem Fenster abzuseilen. Eine stümperhafte Methode zu fliehen, zwar klappte es manchmal sogar, doch nach wenigen Tagen wurden die Entflohenen bei Freunden oder Verwandten wieder gefasst.

Die Hammerschläge waren das Signal, dass die Durchsuchung zu Ende war und die Häftlinge wieder in die Zellen zurückkehren konnten. In Reih und Glied, nach Zellennummern geordnet. Michele nahm seinen Platz ein, um in seine zehn Quadratmeter mit Blick auf die Hügel zurückzukehren, ein wenig aufzuräumen und noch eine Zigarette zu rauchen, während der Espressokocher brodelte und zischte.

Sein Plan löste sich in Wohlgefallen auf, als ein Wärter auf ihn zukam: »Du nicht, Vigilante. Termin beim Psychologen.«

Michele unterdrückte einen Fluch.

Verdammt, warum denn so früh?

Er hatte keine Lust, sich von einem jungen Schnösel die Welt erklären zu lassen, der von ihm verlangte, seine kriminelle Vergangenheit kritisch zu hinterfragen. Wenn er nur an dieses aufgesetzte Lächeln dachte! Für ihn war die Situation klar, genau wie für die Gerichte. Mehr musste er nicht wissen.

»Kann ich mir vorher noch einen Kaffee machen?«

Der Beamte runzelte die Stirn. »Fünf Minuten, Vigila’, sonst kriege ich Ärger.«

Michele bedankte sich und ging zu seiner Zelle.

Der Kaffee, den er zubereitete, war stark und würzig, so mochte er ihn am liebsten. Er sog den aromatischen Duft tief ein, eine der wenigen Möglichkeiten, zumindest in Gedanken von hier zu fliehen. Er schloss die Augen und versuchte, alles andere auszublenden: das Geräusch der Stiefel, die Durchsuchung, das Gefängnis, sein Leben insgesamt.

Aber es hatte keinen Sinn, der Realität konnte man nicht entfliehen, nicht einmal vorübergehend. Nicht den Mauern und Gittern, nicht dem penetranten Schweißgeruch und dem ständigen Lärm, nicht dem Geplärre der Fernseher in den Nachbarzellen und schon gar nicht dem Psychologen, der im Sprechzimmer auf ihn wartete.

Er schaltete den Gaskocher aus und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Irgendwie sah er aus wie einer dieser harten Typen aus Spielfilmen, kantiges Gesicht, finsterer Blick. Manchmal nannten die jüngeren Häftlinge ihn Vincent, angeblich, weil er sie an einen gewissen Vincent Cassel erinnerte. Er hatte den Schauspieler im Fernsehen gesehen und sah da keine große Ähnlichkeit. Cassel versuchte, gefährlich auszusehen, was ihm nicht so recht gelang. Allerdings ging er mit Monica Bellucci ins Bett. Ganz so blöd konnte er also nicht sein.

Michele musterte die stechenden, fast schwarzen Augen, die ihn aus dem Spiegel anstarrten. Sie dominierten sein zerfurchtes Gesicht, Zeugnis einer langen, schweren Zeit. Augen, die viele Fragen stellten, auf die er keine Antwort wusste. Und im Grunde seines Herzens wollte er sie auch gar nicht wissen.

Während er sich auf den Weg ins Sprechzimmer machte, fand er sich mit dem Gedanken ab, sich mal wieder mit einem selbst ernannten Weltverbesserer herumschlagen zu müssen, der sich vielleicht selbst komisch dabei vorkam, ihm das Leben erklären zu wollen. Ein grüner Junge frisch von der Hochschule, der sein Lebensglück darin fand, sich ab und zu einen runterzuholen.

Im Vorübergehen grüßte er einige Mitgefangene, die auf dem Weg zur Dusche waren, und als er an der letzten Zelle vor der Treppe vorbeikam, warf er eher zufällig einen Blick hinein.

Die Tür stand offen, die Zelle war leer. Michele wollte gerade weitergehen, als ihm plötzlich ein unverwechselbarer Geruch in die Nase stieg, der Geruch nach Camping und Knast: Gas. Er wusste genau, was das zu bedeuten hatte.

Sofort stürzte er in die Zelle und rüttelte an der Klinke der Klotür, drückte und zerrte und zog mit aller Kraft. Nichts. Fluchend warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die von innen zugesperrte Tür, und endlich sprang sie auf.

Dann sah er ihn. Er saß auf der Kloschüssel, eine Plastiktüte über dem Kopf, darunter die aufgedrehte Gasflasche. Eine Möglichkeit, sich zuzudröhnen, wenn Methadon und Subutex nicht mehr ausreichten. Gas war die Droge der Armen und der Knastis, mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass man dabei draufgehen konnte. Das Herz begann zu rasen, man wurde ohnmächtig und starb: auf dem Klo, mit dem Müllbeutel über dem Kopf.

Michele versuchte, dem jungen Mann die Tüte vom Kopf zu reißen, doch der wehrte sich und umklammerte sie mit beiden Händen wie ein Besessener, den Mund weit aufgerissen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Offenbar war der Junkie entschlossen, sich seinen Rausch nicht nehmen zu lassen, aber Michele Vigilante, genannt Tiradritto, kannte kein Pardon, er wusste, dass er handeln musste, in mehr als zwanzig Jahren Knast hatte er schon alles erlebt. Er zerriss die Tüte, zerrte sie seinem Gegenüber vom Kopf, schnappte sich die Gasflasche und schleuderte sie auf den Boden.

Der Typ starrte ihn mit leeren Augen an, er stank nach Kotze und Butan, war völlig weggetreten, das Gesicht leichenblass, aus seinem Mund rann ein Speichelfaden.

»Was zum Teufel …«, stammelte er.

Ohne lange zu fackeln, schlug Michele ihm gezielt mit der flachen Hand ins Gesicht. Dem jungen Mann riss es fast den Kopf weg, er war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Michele packte ihn an den Haaren und zog ihn hoch, schleifte ihn zum Zellenfenster und drückte sein Gesicht gegen das Gitter.

»Atme, du Arsch. Atme!«

Der Junge wehrte sich, trat wie wild um sich und schrie. Micheles Griff wurde noch fester, Mitleid hatte er keines. Er musste das jetzt durchziehen.

»Mach den Mund auf! Atme, du dämliches Arschloch!«

Der Widerstand des Burschen ließ schließlich nach, er schnappte nach Luft, Sauerstoff drang in seine Lungen. Er würgte, kotzte Rotz und Galle, dann wurde sein Atem allmählich regelmäßiger. Michele löste den Griff, und der junge Häftling sank in sich zusammen.

Als Michele sich aufrichtete, schoss Adrenalin durch seinen Körper, sein Herz pumpte wie wild, und seine Arme zitterten von der Anstrengung. Er musste an sich halten, um nicht auf den am Boden liegenden Jungen einzutreten, der, das Gesicht blutverschmiert, die Augen seltsam verdreht, mühsam auf die Bein zu kommen versuchte.

»Was zum Teufel willst du? Wer hat dich gerufen?«, presste der Junge nach eine Weile heraus, als er wieder einigermaßen zu sich gekommen war.

Das war zu viel für Michele, er würde sich jetzt nicht auch noch Vorwürfe machen lassen. Er verlor die Beherrschung und trat zu, immer wieder. Dabei umklammerten seine Hände das Gitter vor dem Fenster so fest, dass seine Knöchel weiß anliefen. Der Junge lag gegen die Wand gepresst am Boden, diese Lektion würde er so schnell nicht vergessen. Es war eine Lektion fürs Leben.

Dazu brauchte man keinen Psychologen.

Es dauerte nicht lange, bis das Geräusch näher kommender Schritte erklang, denn die Schreie des Junkies waren weithin zu hören gewesen.

Michele wurde gepackt, und er ließ sich widerstandslos aus der Zelle ziehen.

Während sie ihn wegschleppten, hörte er immer noch die Schreie, dann den Ruf eines Wärters: »Schnell, einen Arzt!«

Man brachte ihn in die Beobachtungszelle, wo es nichts gab, womit man sich selbst hätte verletzen können. Was Michele ohnehin nicht vorhatte.

Nach einigen Minuten öffnete sich die Türklappe, und der wachhabende Wärter schaute nach ihm, ein Ranghöherer, der sich um die kritischen Fälle kümmerte. Der Typ war ganz in Ordnung, er machte seinen Job nicht erst seit gestern und wusste, wo’s langging.

Er brauchte ebenfalls keinen Psychologen.

»Vigila’, ein wenig Geduld noch.«

»Alles klar, Superio’!«

»Hast du was zu rauchen dabei?«

»Nein, ich habe alles oben gelassen.«

Der Beamte reichte ihm eine brennende Zigarette durch die Öffnung, die Klappe schloss sich, und Michele war wieder allein. Er streckte sich auf der am Boden festgeschraubten Eisenpritsche aus und starrte auf die Schimmelflecken an der Decke.

Die waren beim letzten Mal noch nicht da gewesen.

Nach zwei Stunden öffnete sich die Stahltür, und der Hochsicherheitsgefangene Michele Vigilante wurde ein Stockwerk tiefer gebracht, eine Treppe hinab, durch mehrere Türen hindurch und am Schalter der Häftlingsaufnahme vorbei bis zum Zimmer des Comandante, dem Chef der Wachmannschaften, der bei Disziplinarverstößen in Aktion trat. Auf dem ganzen Weg wurde kein Wort gesprochen, weder von den beiden Wärtern, die ihn begleiteten, noch von ihm. Er wusste, wie man sich zu benehmen hatte. Eigentlich gab es in diesem Gefängnis sowieso nichts, über das er nicht Bescheid wusste.

Er durfte sofort eintreten, ohne zu klopfen, ohne warten zu müssen.

»Vigilante, Michele, die Disziplinarkommission ist zusammengekommen wegen des heutigen Vorfalls, wie er vom zuständigen Beamten protokolliert wurde, also wegen der Ihnen zur Last gelegten Attacke auf einen Mithäftling.«

Die monoton heruntergebetete Litanei des Comandante war ihm wohlbekannt. Er nickte ihm zu, während er den anderen Anwesenden lediglich einen kurzen Blick zuwarf: dem Gefängnisdirektor, dem diensthabenden Arzt und der Sozialarbeiterin. Dann konzentrierte er sich wieder auf den Comandante. Sie verstanden sich ohne Worte, kannten sich seit Jahren, der eine vor, der andere hinter den Gittern. Und dennoch beide im Knast.

»Ihnen wird vorgeworfen, gegenüber des Gefangenen Ascienzo, Roberto heute Morgen in der Zelle des Letztgenannten, genauer gesagt in seinem Abort, handgreiflich geworden zu sein. Möchten Sie sich zu dem Vorwurf äußern? Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«

»Nein.«

Kurz, knapp, präzise.

»Entschuldigen Sie, was soll das heißen?«

Der Comandante drehte sich zu dem Arzt um, von dem dieser Einwurf kam. Ein geschniegeltes junges Bürschchen im perfekt gebügelten weißen Hemd, das Stethoskop um den Hals, das Namensschild am Revers und verschiedenfarbige Stifte in der Brusttasche. Einer, der im Gefängnis nicht einmal gepinkelt hätte.

»Gibt es Gründe, die Sie zu einem solchen Verhalten veranlasst haben«, erkundigte er sich. »Der Gefangene Ascienzo wurde als Notfall auf die Krankenstation gebracht, wo er mindestens zehn Tage zur Beobachtung bleiben wird, sofern keine Komplikationen auftreten. Ich habe die Platzwunde auf der Stirn mit fünfzehn Stichen nähen müssen, und Sie wollen mir erzählen, Sie wüssten nicht, was passiert ist?«

Vigilante schaute den Mediziner mit großen Augen an, als hätte er ein unbekanntes Wesen vor sich, eine Laune der Natur, einen Hund mit drei Köpfen oder sechs Beinen. Der Comandante schien innerlich zu schmunzeln, verzog aber keine Miene. Er musste professionell bleiben.

»Dottore, ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht weiß, ich will mich nur nicht dazu äußern«, antwortete Michele im neapolitanischen Dialekt.

Schlicht und einfach.

»So geht das nicht! Sie können vor der Disziplinarkommission nicht ein so impertinentes Verhalten an den Tag legen. Das ist ein Affront! Sie haben die Pflicht, sich zu äußern. Und zwar wahrheitsgemäß und in angemessener Form. Für wen halten Sie sich? Was glauben Sie, mit wem Sie es hier zu tun haben? Wir in dieser Kommission haben die Pflicht …«

Michele hatte genug von dem Geschwätz und ging in die Offensive: »Er hat mich einen niederträchtigen Verräter genannt.«

Niederträchtig und Verräter waren die schlimmsten Beleidigungen im Knast und wurden allein von Kinderschänder übertroffen. Ein Stigma, das man nie mehr loswurde, das einem den Hass und die Verachtung der Mitgefangenen einbrachte. Und einen zu Freiwild machte. Wenn man nicht höllisch aufpasste, überstand man die Haftzeit nicht.

Der Comandante unterdrückte erneut ein Lächeln, er glaubte ihm kein Wort. Das Ganze war eine Farce, völlig absurd, niemand würde sich je erlauben, Michele Vigilante niederträchtig zu nennen. Doch er wusste auch, dass er nicht von seiner Version des Geschehens abweichen würde und es wenig Sinn hatte nachzuhaken.

»Und Sie glauben, das genügt als Rechtfertigung, einen Mitgefangenen derart zuzurichten?«

Der Arzt hatte überhaupt nichts verstanden, der Knastjargon war ihm zu fremd.

»Dottore, ich bitte Sie, ich bin ein seriöser Mensch.«

»Seriös? Bei Ihrem Strafregister? Bei all den Menschen, die Sie auf dem Gewissen haben – und wer weiß, was wir alles nicht wissen …«

»Da draußen herrscht Krieg. Wenn ich nicht geschossen hätte, hätten es die anderen getan.«

Micheles Stimme war schneidend geworden, er war bereit zum nächsten Angriff und taxierte den Arzt, dem allmählich mulmig wurde, mit eisigem Blick. Trotzdem ließ dieser Jungspund nicht locker.

»Wollen Sie mir etwa erzählen, Sie seien ein Heiliger? Und dass Sie unschuldig hier einsitzen?«

Michele spürte Wut in sich aufsteigen, aber er starrte den Arzt einfach weiter an, das Gesicht unbeweglich, die Zähne fest aufeinandergepresst.

»Jedenfalls, Vigilante«, schaltete sich der Direktor zu seinen Gunsten ein, »Tatsache ist, dass Sie sich in den vergangenen Jahren immer einwandfrei und respektvoll verhalten haben. Ich halte deshalb eine vorzeitige Haftentlassung wegen guter Führung nach wie vor für gerechtfertigt. Allerdings dürfen sich ähnliche Vorfälle wie der von heute nicht wiederholen. Die Disziplinarkommission verfügt deshalb zwei Wochen Ausschluss von allen Gemeinschaftsaktivitäten.«

Eine Bestrafung, die Michele am Arsch vorbeiging. Isolation hatte ihm noch nie etwas ausgemacht, selbst in seiner Anfangszeit nicht.

»Sie können gehen.« Der Direktor war froh, die Sache schnell hinter sich gebracht zu haben.

Michele wandte sich zur Tür, doch der Comandante hielt ihn zurück.

»Eine Sache noch, Vigilante. Als ich in Ascienzos Zelle kam, habe ich einen merkwürdigen Geruch wahrgenommen. Diesen besonderen Geruch, Sie wissen, was ich meine. Können Sie mir dazu etwas sagen?«

Er hatte die letzten Worte sehr deutlich artikuliert, damit allen die Bedeutung bewusst wurde.

Michele zuckte gleichgültig mit den Schultern und zeigte ihm die leeren Handflächen, dabei wirkte er wie ein Schauspieler in einer neapolitanischen Komödie.

»Ich habe nichts gerochen.«

»Dachte ich mir. Dem Jungen geht es übrigens gut.«

Michele nickte.

»Woher wollen Sie das wissen?« Der Arzt schien unbedingt das letzte Wort haben zu wollen. »Ich habe ihn gerade erst genäht, und bei so vielen Stichen weiß man nie, ob es nicht doch noch Komplikationen gibt.«

Der Comandante ignorierte den Einwand und tauschte mit Michele einen wissenden Blick. Der erhob sich, verließ den Raum und ging ruhigen Schrittes in Richtung Isolationszelle.

3.

Dienstag, 19. Januar 2016,

San Mario, persischer Arzt und Märtyrer

Zwei Wochen Isolationshaft konnten ein Segen sein, besonders wenn man sein halbes Leben im Knast verbracht hatte. Endlich hatte man mal seine Ruhe, ohne dass einen dauernd jemand um Zigaretten anschnorrt, ohne die Fixer, die sich um Methadon stritten, ohne nervtötendes Geschwätz und ohne Psychologen. Er war nicht zum ersten Mal hier, und es würde auch nicht das letzte Mal sein, jedenfalls ging er davon aus.

Im Grunde war es hier gar nicht so schlecht.

Bevor er in die Isolationszelle verlegt wurde, hatte Michele darum gebeten, noch bei der Bibliothek vorbeigehen zu dürfen. Er hatte sich drei Bücher ausgeliehen. Einen italienischen Krimi mit einem Ermittler, der ein Doppelleben führte – er war zugleich Rausschmeißer in einer Bar und schlief deshalb viel zu wenig –, einen schwedischen Thriller mit tausend Seiten voller Abgründe und irrwitziger Wendungen, über dem er schon nach dem ersten Kapitel einschlief, und einen Klassiker eines englischen Autors.

Letzteres war eines der Bücher, an die man sich ein Leben lang erinnerte und die einen dazu anregten, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Es handelte sich um eine düstere und abenteuerliche Geschichte über eine Expedition zu einem Fluss in Afrika, die zu einer Reise in den Wahnsinn wurde und die ganze Zwiespältigkeit der menschlichen Seele enthüllte.

Den Krimi las er in einem Rutsch durch, den schwedischen Thriller brach er entnervt ab, um sich schließlich von dem schwarzen Strom der im Kongo spielenden Erzählung davontragen zu lassen, der sich wie eine Schlange durch die Verlockungen des Bösen schlängelte.

»Vigilante, steh auf, du kannst gehen.«

Michele erhob sich von der Pritsche und hielt Ausschau nach seinen Schuhen.

»Das muss ein Irrtum sein, ich bin erst gestern gekommen.«

»Nein, kein Irrtum. Du sollst zur Verwaltung, Papiere unterschreiben.«

Der Wärter nestelte an dem Ring mit den schweren Messingschlüsseln, Symbole der Obrigkeit, massiv, glänzend und Ehrfurcht gebietend. Wenn sie sich im Schloss drehten, gab es ein unverwechselbares Geräusch, ein kurzes Knacken wie ein Befehl. Jeder, der das einmal gehört hatte, vergaß es nie wieder.

Er verließ die Zelle und drehte sich nach einigen Schritten fragend um.

Der Beamte verstand sofort und grinste wissend. »Nein, Vigila’, diesmal gehst du allein. Mach dir keine Gedanken.«

Sofort lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter, und Misstrauen kroch in ihm hoch. Im Gefängnis musste man sich immer Gedanken machen. Er hätte gern eine Zigarette geraucht, doch die lagen in der Zelle, und zurückgehen wollte er nicht.

Zum Ende des Gangs spähend, setzte er seinen Weg fort, bewusst langsam und gleichmäßig, rennen war im Gefängnis verboten.

Er passierte das gepanzerte Tor des Hochsicherheitstrakts, jenen Bereich des Gefängnisses, der den AS3 vorbehalten war, den der Organisierten Kriminalität zugehörigen Häftlingen. Mafia, Camorra, ’Ndrangheta und Sacra Corona Unita. Alle faulen Äpfel zusammen in einem Korb, den man auf den Boden des Brunnens heruntergelassen hatte.

Weiter ging es eine Treppe tiefer und durch mehrere Tore, jedes Mal das gleiche Geräusch der Schlüssel, jedes Mal die gleiche Frage: »Sie sind?«

Und jedes Mal die gleiche Antwort: »Vigilante, zur Verwaltung.«

Der Verwaltungsbeamte war schwer beschäftigt, er pendelte zwischen Faxgerät, Telefon und Fotokopierer hin und her. Seine Uniformjacke war tadellos geknöpft, nur die Krawatte hatte er etwas gelockert. Der drahtige kleine Mann mit dem hageren Gesicht und dem grauen Bart kam aus Apulien, ein Pragmatiker, der nicht viele Worte machte. Wenn man recht hatte, hatte man recht, und wenn nicht, dann nicht. Basta. Egal ob man Aufseher oder Inhaftierter war. Seine Kollegen nannten ihn Sereno, den Ruhigen, weil er selbst im größten Chaos den Überblick behielt und sagte: »Immer mit der Ruhe!«

Als Michele an die Tür klopfte und sie öffnete, blickte Sereno von seinem Schreibtisch auf und musterte ihn wie eine lästige Fliege.

»Vigilante, du musst ein paar Papiere unterschreiben.«

»Was für Papiere?«

Sereno legte das Telefon zur Seite und sah ihn durchdringend an. »Die Gutschrift.«

Obwohl Michele gelassen zu bleiben versuchte, verkrampfte er sich unwillkürlich.

Es ging um die ihm gutgeschriebenen Tage bis zu seiner vorzeitigen Entlassung, die bestimmt noch in weiter Ferne lag. Jedes Halbjahr mit guter Führung brachte ihm fünfundvierzig Tage – natürlich durfte er sich keine disziplinarischen Verstöße leisten und musste regelmäßig an den diversen Erziehungs- und Resozialisierungsprogrammen teilnehmen.

Anfangs hatte er sich einen Dreck um solche Maßnahmen geschert, aber in letzter Zeit, von dem Zwischenfall auf dem Klo abgesehen, hatte er sich zusammengerissen und seine Haftzeit ohne Isolationszelle und Disziplinarverfahren abgesessen.

Den Antrag auf vorzeitige Entlassung hatte er vor einigen Monaten bei der Strafvollstreckungsbehörde gestellt. Eigentlich bloß, weil die anderen Häftlinge es genauso machten, und ein bisschen, um Sereno einen Gefallen zu tun. Er hatte einfach alle ihm zustehenden Tage beantragt, ohne die geringste Ahnung, wie viele das sein mochten. Jetzt war die Antwort da und mit ihr das Datum seiner Entlassung.

Der Beamte reichte ihm einige Formulare, die alle gleich aussahen mit ihren rätselhaften Zahlenreihen, Paragrafen, Gesetzen und Verordnungen. Michele unterschrieb sie, ohne genauer hinzusehen. Es war alles zu viel für ihn. Er hatte das Gefühl, eine Flipperkugel würde durch seinen Kopf rasen, er konnte sich auf nichts konzentrieren, die Welt um ihn herum schien Karussell zu fahren. Bilder, Erinnerungen und Gedanken liefen wie ein Film vor seinem inneren Auge ab und vermischten sich zu einem unheilvollen Brei.

Ein Gefühl stieg in ihm auf, das ihm seit Jahren fremd war. Angst.

»Und wann werde ich entlassen?«

Die Frage kam ihm über die Lippen, noch bevor er darüber nachgedacht hatte.

Sereno hob den Blick, sein Gesicht war ernst wie immer, doch seinen Mund umspielte der Hauch eines Lächelns. Kaum merklich, aber immerhin.

»Heute.«

Seltsam verwirrt und benommen verließ Michele das Büro. Das Bild des dunklen afrikanischen Stroms kam ihm in den Sinn. Dass er aus dem Gefängnis entlassen würde, war noch nicht bis in sein Gehirn vorgedrungen.

Der Wärter am Tor zum Hochsicherheitstrakt öffnete ihm.

»Geht es dir nicht gut, Vigila’? Du machst ja ein Gesicht, als ob …«

Ohne zu antworten, ging er an ihm vorbei. Als er seine Zelle betrat, sah plötzlich alles ganz anders aus, als wäre in seiner Abwesenheit komplett umgeräumt worden. Der Raum wirkte größer, heller, einladender, sicherer. So etwas wie Wehmut kam in ihm auf. Hier war alles geordnet, vorgezeichnet, es gab klare Regeln, feste Zeiten, getaktete Abläufe: Öffnung der Zelle, Durchsuchung, Spaziergang, Durchzählen, Essen, Therapie, Durchzählen, Schließung der Zelle. Alles minutiös festgelegt, alles wohlbekannt, immer gleich, jeden Tag.

Und jetzt?

Er setzte einen Kaffee auf, stark, schwarz, bitter. Den letzten. Dann schaltete er den Fernseher ein, es lief eine Werbesendung für Töpfe und Matratzen.

Ein Topfset, bestehend aus zwölf Teilen mit gusseisernem Boden, einen Zentimeter dick …

Während der Espressokocher blubberte, beschloss er, sich zu rasieren. Er musste seine Fassung wiederfinden, sich an vertraute Abläufe halten, an gewohnte Rituale, um für die Freiheit gewappnet zu sein. Sonst passierte dasselbe wie beim Kokain.

Es geht dir gut, es geht dir gut, es geht dir gut, redete man sich ein, und mit einem Mal begann sich im Kopf alles zu drehen. Wie eine Flut, die einen überschwemmte und alles mitriss, Freude, Angst, Euphorie und Panik.

Und für die ersten zehn Anrufer ein Messerset aus Edelstahl mit japanischer Klinge …

Michele betrachtete den Einwegrasierer aus weißem Plastik. Seine Hand zitterte. Er hielt inne, nicht dass er sich noch die Kehle durchschnitt. Das wäre eine echte Sensation. Eine Geschichte, die der Flurfunk genüsslich ausschlachten würde. Unfall beim Rasieren nach zwanzig Jahren Knast, am Tag der Entlassung, dumm gelaufen.

Und ein Bett der Premiumklasse, Federkernmatratze mit Allergikerbezug … Lattenrost aus Holz, Daunenkissen, Daunendecken … Rufen Sie an! Rufen Sie an! Rufen Sie an!

Seufzend warf er den Rasierer in den Mülleimer und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Wer war der blasse, von harten Jahren gezeichnete Mittvierziger, der ihm da entgegenblickte? Voller Bedauern dachte er an den gebräunten jungen Mann, der er einmal gewesen war. Früher. Der Karriere gemacht hatte. Der sich Respekt verschafft hatte. Der Eier gehabt hatte.

Der Kaffee war nach oben gestiegen, es roch verbrannt. Michele drehte den Gaskocher ab und goss die dampfende schwarze Flüssigkeit in den Plastikbecher, kippte sie in einem Zug herunter, um zu sich zu kommen. Anschließend setzte er sich auf das untere Bett, zog zwei abgegriffene Stofftaschen darunter hervor, dieselben, die er vor fünfzehn Jahren dort deponiert hatte, und begann zu packen.

Die Zeit war abgelaufen. Es war vorbei.

Der Moment war gekommen.

Was in die Taschen passte, stopfte er hinein, den Rest ließ er liegen. Vielleicht konnte sein Nachfolger noch etwas damit anfangen.

Ein letztes Mal sah er sich um. Zwanzig Jahre hinter Gittern. Die ersten fünf kreuz und quer durch Italien, eine Verlegung nach der anderen, zuletzt fast fünfzehn Jahre hier, in dieser Zehn-Quadratmeter-Zelle. Er starrte auf das schmale, hohe Fenster, die verrosteten, ehemals blauen Gitterstäbe, dahinter die Landschaft, sein Stück Welt, sein Freiheitsversprechen. Fünfzehn Jahre lang dieselben grünen oder graubraunen Hügel, je nach Jahreszeit, dasselbe Dorf in der Ferne, dessen Namen er nie hatte wissen wollen, die Häuser, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren und deren Entstehung er verfolgt hatte. Die Lichter, die morgens und abends leuchteten und ihn an die Menschen denken ließen, die dort lebten. Wer waren sie? Was machten sie? Hatten sie ein gutes Leben?

Und manchmal hatte er sich wie ein unsichtbarer Teil ihres Lebens gefühlt.

Er wandte sich vom Fenster ab und schaute auf das am Boden fest verschraubte Stockbett, auf die feuerfeste Matratze und dachte an die vielen Jahre, die er darauf gelegen und gewartet hatte. Sein Blick wanderte weiter durch die Zelle, zu dem Tisch und den beiden Schemeln, die von Inhaftierten in anderen Gefängnissen gefertigt worden waren, zu dem Fernseher, der in einem Metallrahmen steckte, damit man ihn nicht als Waffe benutzen konnte, zu den kleinen Schränkchen im Bad, die er aus Pappe zusammengeleimt hatte. Es hatte ihn Monate gekostet, und jetzt tat es ihm fast leid, sie zurückzulassen. Ebenso wie die Bücher, die in einer Ecke aufgestapelt waren.

Eines klemmte er sich unter die Achsel, bevor er nach den beiden Taschen griff, in denen sein ganzes Leben steckte, schaute noch einmal auf die Schimmelflecken an der Decke und verließ die Zelle.

Schweigend beobachteten die Mithäftlinge durch die Türklappe, wie er an ihnen vorbeiging, ihre Hände umklammerten die Gitterstäbe. Manche schauten ungläubig, andere riefen ihm schüchterne Abschiedsworte zu, bis schließlich Beifall aufbrandete. Ein Wärter drückte ihm die Hand und wünschte ihm Glück. Ein Mitgefangener bat ihn, eine Nachricht nach draußen zu bringen, und bot ihm eine Zigarette an, andere hofften tief im Inneren, die Nächsten zu sein, die gehen durften.

Vor der letzten Zelle hielt Michele inne. Roberto stand direkt hinter der Klappe, so dicht, dass sein Gesicht sie fast ausfüllte. Michele erahnte das eng anliegende weiße Achselhemd, den Waschbrettbauch, die Tattoos auf den Armen und am Hals, die langen Wimpern und die gewellten Haare. Der Prototyp eines jungen Camorrista. Eine Kreuzung aus Pitbull und Mister Napoli. Allerdings war sein Gesicht nicht mehr ganz so hübsch wie vorher, man konnte noch die Narben der fünfzehn Stiche sehen, das rechte Auge war blutunterlaufen, die Spuren von Micheles Lektion waren nach wie vor deutlich zu erkennen. Aber im Grunde hätte es schlimmer kommen können, der Comandante hatte recht gehabt: Dem Jungen ging es gut.

Er wirkte verlegen, hielt sich an den Gitterstäben fest und schaute zu Boden.

»Stimmt es, lo Zi’, dass du rauskommst?«

Nach so vielen Jahren im Gefängnis hatte sich Michele den Titel Zio, Onkel, redlich verdient, eine Bezeichnung, die Hochachtung, Bewunderung und Respekt ausdrückte. Schlussendlich schien es auch dieser junge Mann begriffen zu haben, nachdem ihm irgendwer geflüstert oder auch etwas nachdrücklicher beigebracht hatte, wer Michele Vigilante wirklich war.

Zio Michele verdiente Respekt.

Innerhalb und außerhalb dieser Mauern.

»Ja, mein Junge, es ist vorbei.«

Er musterte das verunstaltete Gesicht des jungen Mannes, befand, dass die Narben heilen würden, und schob ihm das Buch durch die Gitterstäbe.

Der junge Mann betrachtete es neugierig. »Was ist das?«

»Was soll das schon sein. Ein Buch natürlich!«

»Das sehe ich, danke, aber ich lese nicht gern, dazu fehlt mir die Geduld und …«

»Nimm das Buch und lies es!«

»Wirklich, das ist nichts für mich.«

»Es wird dir gefallen. Jetzt nimm das Buch und lies es!«

Micheles Ton wurde entschiedener und sein Blick härter. Also nahm Roberto das Buch und blätterte darin, dann schaute er auf den Titel.

»Herz der Finsternis von Joseph …«

»Joseph Conrad, genau.«

»Danke, lo Zi’.«

»Gern geschehen. Von der ersten bis zur letzten Seite lesen, ist das klar?«

»Und wenn ich es durchhabe?«

»Wenn du es durchhast, fängst du noch mal von vorne an.«

Der Junge sah ihn ungläubig an. Meinte er das wirklich ernst? Er konnte nicht wissen, dass Michele Vigilante, was Bücher betraf, keine Witze machte.

Der Ältere würde es diesem chillu guaglione, wie man einen Grünschnabel nannte, diesem kleinen Angeber nicht erlauben, es noch einmal an Respekt fehlen zu lassen. Das hier war ein Befehl, und das hatte dieser Bursche hoffentlich genau so verstanden. Und würde gehorchen, ohne Fragen zu stellen, ohne Wenn und Aber.

Michele musterte den Jüngeren erneut, irgendwie erinnerte er ihn an ihn selbst in jungen Jahren. Der gleiche Gesichtsausdruck, die gleiche Sturheit, die gleiche Arroganz und die gleiche Überzeugung, alles besser zu wissen. Fatal.

»Und vergiss nicht: Das Gefängnis ist schlecht. Immer.«

»Weiß ich.«

»Nein, das weißt du nicht.«

Erneut wurde Micheles Tonfall schneidend. Die beiden sahen sich durch die Gitterstäbe der Türklappe in die Augen. Ein kurzer Moment der Stille.

»Nun mach schon, Vigilante«, rief der Beamte vom Tor her.

Roberto suchte nach den passenden Worten, fand sie nicht. Reden war nicht seine Stärke. Am Ende kam ihm lediglich ein geflüstertes »Danke, lo Zi’« über die zitternden Lippen.

Aber Michele genügte das. Geschwätz war Frauensache. Was gesagt werden musste, war gesagt. Dieses letzte »Danke« war ein Zeichen des Respekts und der Hoffnung. Es war mehr als nur ein Wort, es war ein ganzes Leben.

Er hob die Hand zu einem letzten Gruß, dann ging er weiter den Gang hinunter, die Taschen schleifte er hinter sich her. Der Beamte hatte bereits das Tor geöffnet und wartete auf ihn.

»Hoffentlich sehen wir uns nicht so schnell wieder, Vigilante«, sagte er und lächelte.

»Das garantiere ich dir.«

»Bist du sicher?«, fragte der Beamte, der jetzt in den Dialekt seiner kampanischen Heimat wechselte.

»Mich wirst du nicht wiedersehen, Superio’.«

Der Wärter nahm den schweren Schlüsselbund vom Gürtel der Uniform und blickte Michele in die Augen. Beide waren sich der Bedeutung dieses Augenblicks bewusst.

Michele Vigilante nickte schweigend, und der Beamte ließ den Schlüsselbund auf den Betonboden fallen. Das klirrende Geräusch hallte durch den Gang.

Wie ein Echo ertönte es aus den Zellen: »O weh, dem Wärter sind die Schlüssel runtergefallen!«

Eine alte Tradition. Wenn die Schlüssel auf dem Boden klirrten, war das ein Zeichen, dass der Entlassene nicht mehr wiederkommen würde. Nie mehr.

Neuer Beifall brandete auf, das Klatschen hallte durch den engen Korridor. Irgendwer begann, seinen Blechnapf gegen die Gitterstäbe zu schlagen, und kurze Zeit später brach die Hölle los, und der Lärm wurde ohrenbetäubend. Der Wachmann blieb ungerührt, dieses Spektakel hatte er schon unzählige Male miterlebt.

Michele lächelte seinem alten Widerpart ein letztes Mal zu und ging zur Treppe. Dann schloss sich das schwere Eisentor hinter ihm.

Nachdem er noch weitere Unterschriften geleistet hatte, bekam er seine persönlichen Sachen zurück: ein Goldkettchen mit dem Padre-Pio-Medaillon, eine Uhr mit Krokodillederarmband, die am 12. Oktober 1996 um elf Uhr siebenundzwanzig stehen geblieben war. Er legte sie um sein linkes Handgelenk, ohne zu wissen, ob sie überhaupt noch funktionierte. Eine Parallele zu ihm selbst. Schließlich die Brieftasche mit vergilbten Fotos und den längst nicht mehr gültigen Dokumenten, den Schlüsselbund und ein, zwei, drei, vier Telefonmünzen.

»Warte, Vigilante, hier ist noch etwas.«

Aus einem gelben Umschlag zog Sereno ein zweites Goldkettchen, an dem ein filigran gestaltetes Kruzifix hing.

Michele starrte auf die Kette. Er wusste genau, was sie zu bedeuten hatte, obwohl er sie in die hinterste Ecke seiner Erinnerungen verbannt hatte. Vergebens. Selbst nach so vielen Jahren war sie allgegenwärtig, weit weg und dennoch immer präsent.

Ein unendlicher Schmerz, in wenigen Gramm Gold eingeschlossen.

Er griff nach der hauchdünnen Kette, die so fragil wirkte, als könne sie jeden Moment zu Staub zerfallen.

Sein Magen krampfte sich zusammen, in seiner Kehle bildete sich ein Kloß. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und vernebelte ihm das Hirn, während seine Beine zu zittern und seine Augen zu brennen begannen. Ein kalter Schauer überlief ihn.

»Vigila’, ich verstehe ja, dass dir das nahegeht, aber ich habe nicht ewig Zeit«, mahnte ihn Sereno. »Unterschreib jetzt und mach, dass du wegkommst.«

Michele unterschrieb, zögerte kurz und legte sich das Kettchen mit dem Kruzifix um. Padre Pio warf er achtlos in eine Tasche. Er nahm das restliche Geld entgegen, das er im Knast verdient hatte, verabschiedete sich und begab sich durch den nächsten Gang zum Sicherheitstor, bis er schließlich die mit Stacheldraht bewehrte Betonmauer erreichte. Ein Uniformierter brachte ihn bis an den kleinen Ausgang im mächtigen Außenportal. Das letzte Hindernis, die letzte Tür, öffnete sich langsam, und vor seinen Augen tauchte der Gefängnisparkplatz auf.

Dann waren hinter ihm Schritte zu hören. Er erkannte sie, ohne sich umzudrehen. Der Comandante in seiner blauen Uniform wirkte angespannt, zwischen den Fingern hielt er ein halb gerauchtes Zigarillo. Er war einer der wenigen, die länger im Gefängnis waren als Michele, auch das verdiente Respekt. Sie sahen einander in die Augen und verabschiedeten sich. Der Waffenstillstand zwischen ihnen hatte all die Jahre gehalten, eine Art Kalter Krieg, in dem jeder die Rolle des anderen respektiert hatte. Sie mussten nicht viele Worte machen.

»Auf Nimmerwiedersehen, Vigilante.«

Michele nickte kurz und schüttelte ihm die Hand.

Er war frei.

4.

Die Kaffeemaschine war schon wieder kaputt, jemand hatte das leicht vergilbte Schild mit der Aufschrift Defekt aufgehängt. Ispettore Carmine Lopresti steckte das Kleingeld wieder ein und fluchte, sein apulischer Dialekt war unverkennbar.

Das Polizeipräsidium, ein imposanter, monumentaler Palazzo aus faschistischer Zeit, zwischen der Via Medina und der Via Diaz gelegen, hatte nichts von seiner Respekt gebietenden Aura verloren, zumal die weiße Marmorfassade wie ein Diamant aus dem Grau der Altstadt Neapels hervorstach.

Lopresti versuchte, die Kopfschmerzen zu ignorieren, wenngleich es in seinen Schläfen nach einer durchzechten Nacht und lediglich zwei Stunden Schlaf brutal hämmerte. Er betrachtete sein Spiegelbild in den Glastüren des Büros, und trotz seines Hangovers konnte er ein wohlgefälliges Lächeln nicht unterdrücken. Neununddreißig Jahre, die man ihm weiß Gott nicht ansah. Hochgewachsen, schwarze Haare, athletische Figur, braun gebrannt. Ein Adonis mit dem gelangweilten Gesicht eines Fernsehstars.

Betont lässig, eigens für die Empfangssekretärinnen, die kurz vor der Rente standen, nahm er seine Sonnenbrille ab. Er wusste um seine Wirkung auf Frauen, genoss sie sichtlich. Sein geheimnisvolles, fast diabolisches Lächeln ließ sie schwach werden, kaum eine vermochte seiner Faszination zu widerstehen. Doch er wusste genau, wann er die Womanizerrolle abzulegen und sich wie ein echter Polizist zu verhalten hatte.

Hastig eilte er den Gang zum Büro des Abteilungsleiters entlang, grüßte im Vorübergehen ein paar alte Bekannte. Er war zu spät dran. Nicht viel, aber zu spät. Und Dottore Taglieri achtete penibel auf Pünktlichkeit. Vielleicht würde er bei ihm ein Auge zudrücken, vielleicht sogar beide, immerhin war er sein Lieblingsermittler. Trotzdem war es besser, er übertrieb es nicht.

Er klopfte, ging hinein und murmelte ein paar halbherzige Entschuldigungen. Die Besprechung hatte bereits begonnen, niemand nahm wirklich Notiz von ihm. Deshalb stellte er sich neben die Tür und sah sich um.

Im Büro war das halbe Einsatzkommando versammelt. Annunziati und Morganti waren fähige Beamte mit Streifenerfahrung, die ihre Hausaufgaben gemacht hatten und keine Freunde großer Worte waren. Sie wussten, wann man unverbindlich lächeln und wann man zuschlagen musste. Der Ispettore arbeitete gern mit den beiden zusammen, weil er sich hundertprozentig auf sie verlassen konnte.

Disero und Cozzolino kannte er bislang nicht persönlich, hatte jedoch viel Gutes über sie gehört. Angeblich erledigten sie ihren Job, wie es sich gehörte, unauffällig und effizient, ohne jemandem auf die Nerven zu gehen, was schon eine Menge wert war. Und dann war da noch Corrieri, aber den vergaß er lieber. Ein träger Fettsack und nicht gerade der Hellste, der sich bis zu seiner Pensionierung durchzumogeln versuchte, ohne anzuecken. Ein Arschkriecher vor dem Herrn. Einer, der mit den Füßen anklopfte, wie man hier unten jemanden nannte, der zu jeder Einladung mit einem Arm voller Geschenke aufkreuzte.

Er war vor einigen Jahren in ihre Abteilung versetzt worden, und niemand wusste so recht, woher er kam. Jedenfalls war er mit seiner linkischen Art und dem immer verschwitzten Vollmondgesicht unter der glänzenden Glatze binnen kürzester Zeit zum Gespött der Questura geworden. Mit seinen winzigen Äuglein erinnerte er zudem an ein Schwein, und früher oder später würde ein sardischer Kollege ein leckeres porceddu aus ihm machen.

Sie beide waren wie Feuer und Wasser. Allein bei seinem Anblick kam dem Ispettore die Galle hoch. Er konnte diesen Kollegen einfach nicht ausstehen. Der Typ ging ihm auf die Nerven, ohne dass er zu sagen vermochte warum.

Erst jetzt bemerkte Taglieri ihn und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, während er weitersprach.

»Die Grabsteine wurden entfernt, die Spurensicherung hat ihre Arbeit abgeschlossen, die Leiche ist in der Pathologie. Der Autopsiebefund ist eindeutig, man hat dem Opfer die Kehle durchtrennt, von einem Ohr zum anderen.«

Lopresti wusste genau, worüber sein Vorgesetzter dozierte. Die Sache mit dem Friedhof hatte sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Provinz verbreitet. Und in den Polizeidienststellen halb Italiens hatte das Bild der leeren Gräber, die auf ihre zukünftigen Bewohner warteten, die Alarmglocken schrillen lassen. Angst gemischt mit Sensationsgier, hatte sich wie ein übler Gestank über das ganze Land gelegt. Eigentlich wollte man die Ermittlungen geheim halten und nicht mit der Presse sprechen, aber das Gerede über ’o Schiattamuorto, den Sensenmann, war eingeschlagen wie eine Bombe, und in den Bars gab es kein anderes Gesprächsthema mehr. Allerdings war man bislang auf vage Vermutungen angewiesen, was Raum ließ für wüste Spekulationen und abenteuerliche Hypothesen. Eine Legende war geboren. Aus den sieben Grabstelen wurden neun, dann dreizehn. Inzwischen war man bei mindestens fünfzehn angelangt.

Das musste ja ein verdammt großer Friedhof sein, überlegte der Ispettore amüsiert.

Was die Namen betraf, die auf den Grabsteinen eingraviert waren, so handelte es sich um die Namen von sieben Größen der neapolitanischen Unterwelt, wobei sich bislang nur der Name von Vittoriano Esposito, genannt ’o Maresciallo, herumgesprochen hatte, ein Clanchef der Camorra, der anfangs mit Drogen und später mit Waffen gehandelt hatte, bisher der Einzige, der tot auf dem ihm zugedachten Grab aufgefunden worden war. Ein Erpresser, der derzeit friedlich in der Pathologie lag und sich in die Eingeweide schauen ließ.

Was die anderen potenziellen Opfer betraf, so hatte die Grabsteinlotterie begonnen. Der ein oder andere Name wurde genannt, doch Genaues wusste man nicht, da die Stelen mit den Namen in Windeseile entfernt worden waren, bevor ein Grabsteintourismus einsetzen konnte. Insofern waren wild wuchernden Spekulationen Tor und Tür geöffnet. So gut wie jeder wurde hinter vorgehaltener Hand ins Spiel gebracht: von den Bossen bis hinunter zum kleinen Vorstadtdealer, vom Kotzbrocken aus der Nachbarschaft bis zum Möchtegernplayboy, vom bestechlichen Bürgermeister bis zum sündigen Priester. Wenn er vom Stammtischgeschwätz und der brodelnden Gerüchteküche einmal absah, war Lopresti sich einer Sache ganz sicher: Die Insider wussten Bescheid und kannten die Namen. Genauso wie die Polizei.

»Was die anderen sechs betrifft, müssen wir unverzüglich handeln. Alle gehören der Organisierten Kriminalität an, sind Bosse oder eine Stufe darunter, haben ein beachtliches Vorstrafenregister, wenngleich von unterschiedlicher Schwere der Delikte. Jedenfalls gehören alle der Camorra an. Gennaro Rizzo etwa, der nach wie vor den Kokainhandel mit Südamerika kontrolliert, von dem aber keiner weiß, wo er sich aufhält. Interpol sucht ihn seit fünf Jahren und hat einen internationalen Haftbefehl ausgestellt, bisher ohne Erfolg. Er ist spurlos verschwunden. Dann wären da die Surace-Brüder, Antonio und Ciro, die ebenfalls abgetaucht sind. Wobei die beiden eher zu den Kleinkriminellen zu zählen sind, mit ein wenig Glück verrät sie jemand, und wir finden sie. Giovanni Morra wiederum steht unter Hausarrest, wir hören sein Telefon ab, vor der Tür sind Beamte postiert, sodass wir wenn nötig sofort zugreifen können. Giuseppe Notari dagegen befindet sich auf freiem Fuß und …«

»Wer zum Teufel ist Giuseppe Notari?«, fragte Disero.

»Peppe ’o Cardinale«, erklärte ihm Cozzolino.

Disero nickte, und Lopresti registrierte, dass die Kollegen die Spitznamen der Camorristi offenbar besser kannten als die bürgerlichen Namen, die einzig für die Behörden und die Akten wichtig waren. Ein gutes Zeichen: Sie verstanden ihre Sprache.

»Also noch mal: Notari ist auf freiem Fuß, er kann sich also unbehelligt durch sein Dorf bewegen, San Giuseppe Campano. Er geht sonntags auf die Piazza und lässt sich von seinem Volk huldigen. Bei Prozessionen hält der Zug der Gläubigen mit der Madonna vor seinem Haus an, und bei öffentlichen Veranstaltungen sitzt er in der ersten Reihe, als wäre er der Präfekt persönlich.«

Mit einer gewissen Bitterkeit dachte Lopresti, dass Giuseppe Notari das in gewissem Sinne auch war. Galt der Präfekt als Repräsentant der Regierung in der Region, so hatte Peppe ’o Cardinale die gleiche Funktion für seinen Clan, den Staat im Staat.

Zwei Hunde, die sich anbellten und nur darauf warteten, einander an die Gurgel zu gehen.

»In diesem Fall brauchen wir für ihn ebenfalls eine Überwachung, und zwar eine äußerst diskrete. Wir müssen auf die verschiedenen SIM-Karten zugreifen, die er benutzt, und die Chinesen und die Roma im Auge behalten, über die er sie bezieht. Und dann haben wir noch Michele Vigilante, der zum Glück vorerst kein Problem darstellt, denn er sitzt im Knast.«

»M-m, Dottore, entschuldigen Sie«, warf Corrieri mit unterwürfiger Stimme ein.

Taglieri schnaubte, er hasste es, unterbrochen zu werden, und das war inzwischen das zweite Mal.

»Was gibt’s, Ispettore?«

»Vigilante wurde heute Morgen entlassen.«

Alles verstummte, und die unwirkliche Stille eines Wallfahrtsortes machte sich breit. Selbst ihr Chef war sprachlos, ein Novum in der Geschichte der Questura. Fragend blickte er in die Runde, doch niemand wagte sich aus der Deckung, um nichts Falsches zu sagen.

»Wie, er wurde entlassen?«

»Nun, man hat seine vorzeitige Entlassung genehmigt, seine Strafe wurde verkürzt, und heute Morgen hat er das Gefängnis verlassen. Ich habe den Verwaltungsbeamten kontaktiert, es war genau um neun Uhr zweiundzwanzig.«

Corrieri mochte ein Schreibtischhengst sein, aber effizient war er.

Taglieri fuhr sich mit der Hand über das hohlwangige Gesicht, strich über die Bartstoppeln und die vorstehenden Wangenknochen. Seine obsessive Leidenschaft für das Joggen und der aufreibende Job fraßen ihn regelrecht auf. Es war nicht einmal Mittag, und er war schon mit den Nerven am Ende. Sein Nacken schmerzte, die Halsschlagader pochte.

Am liebsten hätte er alles kurz und klein geschlagen und den uralten Computer, der auf seinem Schreibtisch ohnehin zu viel Platz wegnahm, durch das geschlossene Fenster geworfen und auf das splitternde Geräusch bei seinem Aufprall auf dem Bürgersteig gewartet. Aber das ging natürlich nicht. Er war der Chef und musste die Fassung wahren.

Er seufzte schwer. »Gut, noch einer mehr, den wir überwachen müssen. Kein Problem, das kriegen wir hin. Sofern wir Verstärkung bekommen, natürlich.«

Der Ispettore schaute besorgt zu seinem Vorgesetzten hinüber, so erschöpft hatte er ihn selten gesehen. Sie kannten sich inzwischen einige Jahre und schätzten einander, Taglieri war es auch gewesen, der ihn davon überzeugt hatte, sich für die Squadra mobile, die Einsatztruppe, zu bewerben.

»Wir müssen sofort mit der Telefonüberwachung beginnen, die richterliche Erlaubnis dazu liegt vor«, fügte er hinzu. »Ruft eure Kontaktmänner an, sucht nach Hinweisen, geht jeder noch so kleinen Spur nach. Gebt alles, bringt die Madonna zum Weinen und lasst das Wunder von San Gennaro noch einmal geschehen. Macht alles, was ihr für richtig haltet, der Erfolg heiligt die Mittel.«

»Bei allem Respekt, Dottore, ist das nicht ein bisschen übertrieben? Im Grunde ist das ein Mordfall wie jeder andere«, wandte Cozzolino ein.

Taglieri sah ihn streng an. »Cozzoli’, hast du denn überhaupt nichts verstanden? Jemand hat sich die Mühe gemacht, dieses makabre Schauspiel auf dem Friedhof zu inszenieren. Denkst du, das war nur Jux und Tollerei? Meinst du wirklich, dass er es bei einem Mord bewenden lässt? Nein, der macht weiter, das geht ratzfatz, bum, bum und fertig. Du gehst in die Stammkneipe des Opfers, knallst es ab und verschwindest, das passiert schneller, als der Kaffee kalt wird. Und keiner sieht oder hört etwas. Du setzt dich auf deine Vespa, und weg bist du. Wenn jemand sich so etwas ausdenkt und ’o Maresciallo eigenhändig die Kehle durchschneidet …« Der Dottore machte eine Handbewegung, als würde er mit einem Pinsel einen Strich auf eine Leinwand malen. »Wenn jemand so etwas tut, dann ist doch sonnenklar, dass das noch nicht alles war.«

Die Kommissare wirkten ratlos. Eines schien allerdings offenkundig. Wenn Taglieri in einer offiziellen Besprechung auf diese Weise mit ihnen sprach, dann war die Lage ernster als gedacht.

»Wir bilden jetzt die Einsatzteams. Ich will zweimal täglich auf den neuesten Stand gebracht werden und jeden Abend einen schriftlichen Bericht, und vor allem will ich Resultate. Annunziati und Morganti, ihr kümmert euch um San Giuliano Campano, um Peppe ’o Cardinale und diese verrückten Surace-Brüder. Spürt sie auf. Disero und Cozzolino …«

Lopresti wollte aufspringen und dagegen protestieren, wer für ihn übrig blieb. Dieser Bastard, dachte er empört. Bloß weil er fünf Minuten zu spät gekommen war, tat er ihm das an.

Nein. Nein. Nein.

»… ihr befragt Giovanni Morra und eure Informanten vor Ort. Lopresti und Corrieri, ihr beschafft Informationen über Gennaro Rizzo. Und treibt Michele Vigilante auf. Selbst wenn er draußen ist, heißt das noch lange nicht, dass er bereits untergetaucht ist.«

Verdammte Scheiße.

»Chef, ich würde lieber alleine arbeiten. Um meine Informanten zu schützen, ich habe meine Quellen …« Verzweifelt versuchte er zu retten, was zu retten war, und spielte seinen letzten Trumpf aus.

Leider pokerte Taglieri besser als er und hatte anscheinend nicht vor, sich das Heft aus der Hand nehmen zu lassen.

»Lopresti, deine Informanten sind mir scheißegal. Ich leite diese Ermittlungen, und du wirst mit deinem Kollegen zusammenarbeiten, ob du willst oder nicht. Von ihm kannst du noch viel lernen.«

Corrieri starrte zu Boden, und Lopresti hätte alles dafür gegeben, jetzt woanders zu sein. Ganz gleich wo, Hauptsache weg. Weit weg von diesem Typen.

Er startete einen allerletzten Versuch: »Ich zweifle nicht an der Kompetenz meines Kollegen, aber mein Modus Operandi sieht eigentlich nicht vor …«

»Schluss jetzt! Dein Modus Operandi ist mir wurscht. Wir haben es mit einem Camorra-Krieg zu tun, uns steht eine neue Faida wie die von Scampia bevor, ist euch das eigentlich klar?«

Allgemeines Schweigen folgte. Lopresti sparte sich weitere Proteste, und auch die anderen pressten die Lippen aufeinander.

Die Camorra-Fehde in Neapels berüchtigtem Stadtteil Scampia würden sie nie vergessen, viele von ihnen waren damals persönlich dabei gewesen.

Von Oktober 2004 bis Februar 2005 hatte es mehr als siebzig Tote gegeben, Schießereien auf offener Straße, in Wohnhäusern und Lokalen. Es war blindwütig drauflosgeschossen worden, gnadenlos, auch viele Unschuldige waren der blutigen Auseinandersetzung zum Opfer gefallen. Es hatte jeden treffen können, der im falschen Moment am falschen Ort war: Camorristi, Familienangehörige, Polizisten, Passanten. Um die eigentlichen Zielpersonen aus ihrem Versteck zu locken, war den Kontrahenten jedes Mittel recht gewesen, selbst vor Frauen und Kindern hatten sie nicht haltgemacht.

Ein grausamer Konkurrenzkampf war damals entbrannt zwischen den Clans, die traditionell den Drogenmarkt in Neapel und Umgebung kontrollierten, und den zu kurz Gekommenen, die ebenfalls ein Stück vom Kuchen abhaben wollten. Im Grunde eine Banalität, doch nicht banal genug, um sich nicht gegenseitig abzuschlachten.

Das erste Opfer hatte es eher zufällig getroffen, einen Barbesucher, der von einem Umtrunk mit Freunden kam. Ein Schuss, er stürzte zu Boden, Blut und Hirnmasse breiteten sich auf dem Asphalt aus. Damit hatte alles begonnen.

Blut verlangte nach Blut. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Rache, Morde und Folter. Brände und Begräbnisse.

Die Frauen des Stadtviertels hatten Blumentöpfe auf die Autos der Polizisten geworfen, die Verdächtige verhaften wollten. Drei Tote in einem ausgebrannten Auto. Eine enthauptete Leiche, die nicht identifiziert werden konnte. Jubel und ein Feuerwerk, als ein rivalisierender Boss verhaftet wurde. Drei Tote während eines Besuchs des Staatspräsidenten. Ermordete Mütter und Kinder, Schuldige und Unschuldige, Gute und Böse. Blut und Hass im Namen der Ehre, dabei ging es in Wahrheit immer nur um Macht, Drogen, Geld und Rache.

Und dann der Frieden, besiegelt durch einen Kuss.

Durch den Kuss zwischen den Bossen zweier Clans, in einem Gerichtssaal, während sie auf ihr Urteil warteten. Es war das Signal, dass die Faida zu Ende war und die Waffen niedergelegt wurden. Alles sollte wieder so werden wie zuvor. Feinde waren keine Feinde mehr, das vergossene Blut war vergessen, alles zurück auf Anfang, die Geschäfte begannen zu florieren wie eh und je.

Dabei waren die Geschäfte immer weitergelaufen, selbst als die grausamen Auseinandersetzungen ihren Höhepunkt erreichten: Der Drogenhandel war weitergegangen, kaltblütig und gefühllos, zwischen den sogenannten Segeln, den Hochhaustürmen von Scampia, und auf den Plätzen von Secondigliano, in versteckten Hauseingängen und auf den Toiletten der Diskotheken, unberührt von allem, was drumherum passierte.

Die Drogen führten ein Eigenleben, unaufhaltsam wie ein Fluss, der nie versiegte. Drogen waren allgegenwärtig, in düsteren Gassen und verschwiegenen Straßenecken ebenso wie in den Salons der besseren Gesellschaft, in den Venen der Verzweifelten ebenso wie in den Nasen der Reichen. Alle suchten nach dem Kick, wollten nichts mehr spüren. Das Geld zirkulierte, die Gewinne wuchsen. Damals wie heute. Geld regierte die Welt.

Geld regierte immer. Alles.

Dottore Taglieri hatte sein Ziel erreicht, seine Worte zeigten Wirkung. Bedeutungsschweres Schweigen breitete sich wie eine Decke über dem Raum aus. Annunziati und Morganti blickten ausdruckslos auf ihre Schuhspitzen, Disero und Cozzolino starrten auf die zahlreichen Kalender an der Wand, und Corrieri tat so, als würde er in einer Akte etwas suchen. Lopresti war zur Salzsäule erstarrt.

»Ihr alle wisst, was zu tun ist. Ich erwarte keinen blinden Aktionismus, sondern Resultate.«

Alle nickten.

Die Besprechung war zu Ende.

5.

Michele betrachtete die tief hängenden Wolken. Der Himmel war ein Nebeneinander verschiedener Grautöne, die sich in der Ferne verloren. Die Luft war kalt, ein Windhauch streifte sein Gesicht. Ein angenehm prickelndes Gefühl, das er in vollen Zügen auskostete. Er hatte das Gefängnis rasch hinter sich gelassen, ging nun zügig den Hügel hinunter und kam dabei an vielen Häusern vorbei, deren Bau und Bezug er seinerzeit miterlebt hatte. Bekannte Gesichter gab es allerdings nicht. Da war niemand, der ihn ansprach oder ihm zulächelte. Die Türen blieben verschlossen, die Vorhänge vor den Fenstern zugezogen, er war nichts als ein Schatten, der alles von den Hügeln aus beobachtet hatte.