Das Skelett vom Ochsenkopf - Ellys Meller - E-Book

Das Skelett vom Ochsenkopf E-Book

Ellys Meller

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Beschreibung

Im Mühlgraben, unweit des Brühls, liegt eine Frauenleiche. Als die Polizei eintrifft, geht der »Quedlinburger Müllheini« stiften. Hat er einen Grund zu fliehen? Zur gleichen Zeit wird Hauptkommissar Metz zu einem weiteren Leichenfund beordert. Bei den Ausgrabungen zur Umgehungsstraße wurde ein Skelett gefunden, das definitiv nicht aus der Römerzeit stammt.

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Inhaltsverzeichnis

Montag

Dienstag

Mittwoch

Gründonnerstag

Karfreitag

Samstag

Ostersonntag

Donnerstag

Montag

Donnerstag

Freitag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Montag

»Verfluchter Mist«, schimpfte Metz und bremste. Ein nerviges Quietschen ertönte, bis er zum Stehen kam und vom Fahrrad abstieg.

Einsam stand er auf der Landstraße, die zur Gerstorfer Burg führte. Mit schräg gelegtem Kopf besah er den Schaden. Das Hinterrad wies eindeutig einen Platten auf. Metz fühlte den Reifen ab und fand einen zentimeterlangen Riss. Eine grüne Glasscherbe schien der Übeltäter zu sein. Ihre scharfen Kanten blitzten im Sonnenlicht. Metz bückte sich und verstaute sie sorgsam im Bauchgurt. Wie nebenbei fragte er sich, wie diese Glasscherbe hierhergekommen war. Es war einfach eine Angewohnheit und dem Beruf geschuldet.

Im Revierkommissariat in Quedlinburg leistete er Polizeidienst, was ihm viel Kraft abverlangte. Diesen freien Tag hatte er sich daher anders vorgestellt. Emilia hatte ihn ermuntert, in der spärlichen Freizeit wieder seinem früheren Hobby nachzugehen. Kurzentschlossen hatte er sich ein Fahrrad gekauft, um seinem Faible wieder Leben einzuhauchen.

Metz streckte sich und lockerte die Schultern. So weit das Auge reichte, erblickte er sanfte wellige Täler und Hügel. Diese Hügelketten waren unterbrochen von Steinresten, die noch aus der Eiszeit stammten. Er sah saftig grüne Pflanzentriebe. Nur eine einzelne kleine Wolke konnte er ausmachen. Ansonsten war der Himmel makellos blau. Die Sonne schickte kräftige Wärmestrahlen zur Erde. Kräftiger, als es für den Frühling üblich war. Allerdings eine Wohltat nach den kalten Wintermonaten und der langen Regenperiode, die im Februar gefolgt war. Die Regenspeicher waren wieder aufgefüllt. Der kalte Ostwind der letzten Tage war durch die warmen Winde aus der Sahara vertrieben worden. Die Zugvögel kamen aus Afrika zurück. Schreiend zog eine V-Formation von Graugänsen über Metz hinweg. Der Frühling war zurück. Er hatte zwar erst einen Fuß in der Tür, doch die nächsten Tage sollte es passables Wetter geben. Passend für die Osterfeiertage und für die Einladung seines Freundes und Chefs, der Emilia und er endlich folgen wollten. Metz zog die Strickjacke aus und verknotete sie um seine Schultern. Ungewohnt warm fand es Metz zu dieser Tageszeit.

Er schulterte das Sportrad. Längst hatte er die Entscheidung getroffen, die Abkürzung über die Kuppe des Ochsenkopfes zu nehmen. Er lief einen mit Bäumen bestandenen Hügel hinauf und erreichte einen Turm. Metz wusste, dass es rund um Quedlinburg einige solche Türme gab. Sie stammten aus dem Mittelalter und hatten als eine Art Wachtürme fungiert. Die Wachleute hatten in früheren Zeiten Quedlinburg rechtzeitig vor Feinden gewarnt. Metz interessierte sich für Geschichte im Allgemeinen und für den Turm im Besonderen. Dieser bestand aus Muschelkalk und Gipsmörtel. Vorsichtig strich Metz über die spröde Textur des Mauerwerks. Er stellte sein Fahrrad ab und erklomm die Aussichtsplattform. Eine Wendeltreppe führte nach oben und versprach eine grandiose Aussicht.

Der beeindruckende Rundumblick belohnte ihn. Auf dem Turm war es windstill. Metz vernahm keine Geräusche, die der menschlichen Zivilisation geschuldet waren. Hoch über ihm kreiste ein Vogel. Metz beobachtete ihn, doch der Name dieses heimischen Raubvogels war ihm unbekannt. Das Tier stieß zu Boden. Kurz darauf stieg es erneut in die Luft und flog nach wenigen Kreisen davon.

Metz schaute in die Ferne. Vor ihm lag der Harz. Die Silhouette ließ erahnen, wie groß der Harz als Mittelgebirge war.

Nachdem er sich hinreichend am Anblick der Landschaft gelabt hatte, stieg er wieder ab und schulterte das Fahrrad erneut. Der Kiesweg auf der Hügelkette führte in Richtung Quedlinburg, vom Turm aus hatte er es gesehen. Er lief an braunen Feldern und kleinen Baumgruppen vorbei. Das Fahrrad wog immer schwerer. Er war etwa drei Kilometer gelaufen, als er Geräusche vernahm, die nicht hierher passten. Zumindest nicht an dieser Stelle. Metz hörte Hämmern, Klappern, laute Rufe.

Das weckte seine Neugier. Mit seinem Fahrrad über der Schulter kletterte er auf die Kuppe des Ochsenkopfes. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Aus der Hosentasche holte er ein Taschentuch und wischte sie weg. Er war eindeutig zu warm angezogen.

Vor sich sah er ein abgestecktes Territorium, das in kleine, aber gleichmäßige Felder aufgeteilt war. In einigen dieser Segmente hockten oder knieten Menschen in Arbeitskleidung. Metz beobachtete, wie sie vorsichtig die Erde aufbrachen und mit Werkzeugen sorgfältig kratzten oder Erde aussiebten. Schubkarren, Eimer und Wannen standen neben ihnen. Zwei kleine und wendige Bagger parkten etwas abseits. Metz beobachtete, wie die Archäologen aufgeregt gestikulierten. Sie versammelten sich alle um ein abgestecktes Territorium. Trotz der Entfernung erkannte Metz, dass etwas Ungewöhnliches passiert sein musste. Zwei Leute fuchtelten wild umher, eine Frau schlug die Hände vors Gesicht. Einer der Männer zog ein Handy aus der Tasche und lief dann telefonierend zu einem Bauwagen. Das Verhalten der Archäologen erstaunte ihn. Immer wieder schauten sie in eines der freigelegten Felder. Die Frau zog sich ihre Jacke fester um die Schultern. Unentwegt schüttelte sie den Kopf. Offensichtlich glaubte sie nicht, was sie sah. Jetzt zog sie ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich übers Gesicht. Irrte Metz sich oder weinte sie?

Metz lehnte sein Fahrrad, unweit der Ausgrabungsstätte, an einen Baum und näherte sich dem abgesperrten Areal. Ein älterer Mann mit einem imposanten Schnauzbart im Gesicht und einer goldumrandeten runden Brille kam aufgeregt auf ihn zu und hob abwehrend die Hände. Die Mimik des Mannes verriet Bestürzung.

»Sie dürfen das Gelände nicht weiter passieren. Archäologische Ausgrabungen. Wir haben soeben die Polizei verständigt.«

»Warum haben Sie denn die Polizei verständigt? Es ist doch eine archäologische Ausgrabung«, wollte Metz wissen.

»Das geht Sie nichts an!«, wetterte der Mann lautstark los. »Verlassen Sie das Areal!« Seine Nerven lagen blank. Die Halsschlagader schwoll an und das Gesicht bekam einen knallroten Farbton. Unwirsch drehte er sich um.

Der Mann, der sich bisher im Bauwagen befunden hatte, kam mit dem Handy am Ohr heraus und fand sich jetzt neben seinem Kollegen ein. Unübersehbar kam er diesem zu Hilfe. Die Frau, die sich in einiger Entfernung positioniert hatte, wischte ihre Tränen ab und schniefte deutlich.

»Sie schicken uns einen Streifenwagen«, raunte der Mann mit Handy dem cholerisch wirkenden Kollegen zu. Erleichtert atmete auch die Frau in den bunten Gummistiefeln auf.

Metz hatte die gedämpft gesprochenen Worte ebenfalls gehört. Hier ging es um etwas anderes, ahnte er.

»Mein Name ist Metz, ich bin Hauptkommissar bei der Quedlinburger Kriminalpolizei«, stellte er sich vor.

Der eine sah den anderen mit besorgtem Blick an. Noch bevor der Mann mit dem Handy antwortete, sprach Metz weiter:

»Das ist mein freier Tag. Mein Dienstausweis liegt im Büro im Revierkommissariat.« Er sah ihnen an, dass sie ihm nicht glaubten. Metz’ Handy klingelte und er entschuldigte sich mit einer knappen Geste bei den beiden, die ihn wie hypnotisiert anstarrten. Die verweint aussehende Frau bewegte sich mit ihren bunten Gummistiefeln in Richtung der Männer.

»Jäger, was ist los?«, fragte Metz seinen Kollegen.

»Wir haben den Anruf der archäologischen Abteilung erhalten. Auf dem Ochsenkopf hat man ein Skelett gefunden. Definitiv nichts Archäologisches, ließ man uns wissen.« Jäger informierte gewohnt zügig und zusammenfassend. »Hab gedacht, das sei ein Scherz. Die finden doch immerzu Skelette.«

Ohne auf Jägers Bemerkung einzugehen, forderte Metz ihn auf:

»Bestätigen Sie bitte, dass ich bereits am Tatort bin.«

Einige Sekunden herrschte Stille, dann fand Jäger seine Sprache wieder:

»Wie, Chef, Sie sind auf dem Ochsenkopf?« Jägers Stimme überschlug sich fast.

»Ja. Ich reiche das Handy an einen der Archäologen.«

Metz gab das Handy weiter. Der Mann mit den Schmutz verkrusteten Jeans griff danach. Nur langsam wich dessen ärgerlicher Gesichtsausdruck. Endlich gab er Metz das Handy zurück.

Abrupt drehte er sich um und machte Metz Zeichen, dass er ihm folgen sollte. Aufmerksam beobachtend folgte der Hauptkommissar. Der andere Archäologe schloss sich ihnen kurzerhand an. Die Männer erreichten das ausgehobene Feld.

Metz wusste nicht, was ihn erwartete – definitiv nicht das, was er jetzt sah.

Kaum hatte Jäger den fünften Becher Kaffee in sich hineingekippt, bekam er einen Anruf von der Zentrale. Eine Leiche sei am Holländergraben entdeckt worden.

»Scheiße!«, entfuhr es Polizeiobermeister Jäger im Büro 202 der Dienststelle der Quedlinburger Kripo, als er den Hörer wieder aufgelegt hatte. Ausgerechnet heute hatte der Hauptkommissar seinen freien Tag. Das Telefon klingelte erneut. Die Mitteilung, die Jäger nun erhielt, ließ ihn nicht lange überlegen und er klopfte an die Tür seines nächsthöheren Vorgesetzten.

»Dienstgruppenleiter Petersen. Ich hab die Meldung bekommen, dass eine Leiche am Holländergraben gefunden wurde.«

»Und, was hält Sie hier noch?«, fragte Petersen, ungewohnt kurz angebunden.

»Ich dachte, weil ...«

»Sie dachten, weil Hauptkommissar Metz seinen freien Tag hat, schicke ich Sie nicht los?«, formulierte Petersen bissig.

»Ist eher so, dass der Chef bereits an einem anderen Tatort ist«, erwiderte Jäger.

Petersen riss die Augen auf. »Seit ihr zwei ermittelt, gibt es eine Leiche nach der anderen. Vorbei die Ruhe und Gelassenheit.«

»Ich will nur klarstellen, dass der Chef nicht direkt bei einer Leiche ist, sondern eher bei einem Skelett.« Jäger wollte es genau haben.

Petersen war mit dem falschen Bein aufgestanden. Beim Rasieren hatte er sich geschnitten, sein Hemd war falsch zugeknöpft gewesen und zu guter Letzt war er vor der Haustür in Hundescheiße getreten. Er hatte nochmals in sein Haus zurückkehren müssen, um sich andere Schuhe anzuziehen. Er wollte es seiner Frau Adele nicht zumuten, die beschmutzten sauberzumachen. Also hatte er den Wasserhahn angedreht und sich dabei dermaßen ungeschickt angestellt, dass ihm Wasser auf sein Hemd und seine Anzugjacke spritzte. Also hatte er sich komplett umziehen müssen. Und jetzt diese Mitteilungen. Die Statistik, die er im Begriff war, zu erarbeiten, konnte er sich in den Allerwertesten stecken. Ach, er verkniff sich den Gedanken dazu.

»Wollen Sie damit andeuten, dass es einen ungelösten Fall gibt? Ausgerechnet bei uns?« Petersen sah Jäger streng an.

Jäger kratzte sich verlegen am Kopf, sagte aber nichts dazu. Er fand, dass ihm diese Schlussfolgerung nicht zustand.

»Wo hat man das Skelett gefunden?« Petersen lenkte ein. Weder Jäger noch Metz konnten wissen, dass sein Tag miserabel begonnen hatte.

»Soviel ich weiß, am Ochsenkopf. Bei irgendwelchen Ausgrabungen.«

Petersen biss sich auf die Unterlippe.

»Das gibt wieder nur Scherereien«, mutmaßte der Dienststellenleiter. Er erhob sich und ging zu der Espressomaschine, die in einer Ecke stand. Jäger sah nun den kleinen Schnitt an Petersens Kinn.

»Was stehen Sie hier rum, Jäger? Sie können das. Nehmen Sie Reeh und Rükken mit.«

»Sorry, die sind bereits unterwegs«, entgegnete Jäger.

»Nehmen Sie, was Sie brauchen und wen Sie brauchen.« Damit war der Polizeiobermeister entlassen.

Jäger holte die Waffe aus dem Schrank, klemmte sich seinen Laptop unter den Arm, verschloss das Büro und ging zur Einsatzzentrale, die sich in der ersten Etage befand.

»Wir haben den zweiten Funkwagen auch im Einsatz. Ein Verkehrsunfall«, informierte ihn Polizeirat Keiler, der gewissenhaft die Einsätze der Kollegen leitete und koordinierte, wenn er auch in der Regel nicht zu einer Grillparty eingeladen wurde, denn er galt unter den Kollegen als Spaßbremse.

»Ich schicke ihn dir später. Fahr am besten mit Dr. Wagner. Der wartet bereits auf dich. Hanni und Nanni sind auf dem Weg zum Tatort. Kennst sie ja. Müssen immer die Ersten sein.«

Jäger war sprachlos. Sprachlos darüber, dass Polizeirat Keiler dermaßen viele Worte mit ihm wechselte. Was war plötzlich in ihn gefahren?

Auf dem Gelände des Fuhrparks sah er Dr. Wagners Auto stehen. Ein schwarzer Audi. Jäger ging auf die rechte Türseite zu, als diese geöffnet wurde. Dr. Wagner saß grinsend auf dem Beifahrersitz.

»Kommen Sie, wie ich höre, werde ich viel zu tun bekommen. Eine Leiche im Brühl, ein Skelettfund bei den Ausgrabungen für die B6. Wahnsinn. Endlich komme ich in den Genuss Ihres Fahrstils. Petersen hat niemals damit hinter den Berg gehalten.«

Dr. Wagner hatte einen merkwürdigen Humor, das wusste Jäger aus den vorhergegangenen Fällen. Ohne weitere Bemerkung lief er um das Auto herum, nahm auf dem Fahrersitz Platz und ließ den Motor an. Zügig fuhr er die Gneisenaustraße entlang, am Stauffenbergplatz vorbei, die Weststraße weiter, die später zur Wipertistraße wurde. Den Servatii-Friedhof ließ er an der rechten Seite liegen und bog scharf nach links ein.

Er sah vereinzelte Menschengruppen, die sich um das Absperrband der Polizei drängten. Köpfe wurden gereckt. Gemurmel wurde laut. Vermutungen wurden geäußert. Doch alle wollten einen Blick erhaschen – auf die arme Kreatur, die es diesmal erwischt hatte.

Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurde der Audi durchgelassen. Jäger parkte und sie stiegen aus. Der Polizeiobermeister vergewisserte sich, dass seine Sig Sauer P6 fest im Schulterhalfter saß und griff nach dem Laptop.

Jäger und der Doktor begaben sich zum Fundort der Leiche. Hanni und Nanni, die Damen der Spurensicherung und die Besten im Harz, kümmerten sich bereits um den Tatort und die Spuren. Jäger wusste, wie es an einem Tatort aussah und wie die Polizei vorging. Aber er war Polizeiobermeister und kein ausgebildeter Kriminalist. Er ging mit Dr. Wagner, um sich die Leiche anzuschauen.

Am Holländergraben, der Wasser führte, lag eine Frau. Ihr regloser Blick starrte anklagend den allzu blauen Himmel an. Das linke Bein war unnatürlich angewinkelt und lag im Wasser. Der Rest ihres Körpers lag zum Teil auf der Böschung, zum Teil unterhalb der kleinen Brücke. Sie trug Jeans, Absatzschuhe und eine nachtblaue Seidenbluse. Darüber eine kurze Jacke. Vielleicht ein wenig voreilig, wegen des Wetters und der immer noch kühlen Winde, dachte Jäger. Eine knallrote schmale Handtasche lag zwei Meter entfernt von ihr. Jäger sah zu, wie der Gerichtsmediziner die Leiche der Frau vorsichtig untersuchte.

»Sie bekam einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Davon allein wäre sie vermutlich nicht gestorben. Erst der Sturz in den Mühlengraben ist dafür verantwortlich. Alles Weitere und Genauere ...«

»Nach der Obduktion«, vollendete Jäger den Standardsatz. Er sah zu, wie Hanni und Nanni die Hände der Toten einpackten, um Beweise zu sichern. Frau Müller entnahm Wasserproben und Frau Weber fotografierte die Lage der Toten aus verschiedenen Blickwinkeln.

In der Zwischenzeit war das zweite Polizeifahrzeug gekommen. Jäger hörte, wie einer der Kollegen jemandem hinterher brüllte:

»Bleiben Sie stehen! Haben Sie verstanden!« Er betätigte die Hupe des Polizeifahrzeugs. Der Flüchtende drehte sich nicht um. Er überquerte eine Straße und rannte auf den angrenzenden Brühl zu.

Jäger klappte den Laptop zu und drückte ihn Hauptkommissar Reeh in die Hand.

»Ich übernehme das!«, rief er dem Kollegen lautstark zu, der ihm nur noch hinterher starren konnte.

Jäger überquerte die Straße und hetzte in die weitläufige Parkanlage hinein. Vom Flüchtenden war keine Spur mehr zu sehen. Aus seiner Schulzeit wusste er noch, dass der Brühl eine quadratische Form besaß, mit einem Alleenkreuz und Diagonalalleen. Im Frühling wuchs der Bärlauch zwischen den einzelnen Bäumen und verströmte einen intensiven Duft nach Knoblauch. Jäger stand nicht der Sinn, nach den Schönheiten des Gartenparks zu sehen, er rannte weiter auf den Sandwegen und versuchte, den Flüchtenden zu finden. Wie ein Jagdhund nahm er ein Geräusch wahr und wechselte die Richtung. Der Flüchtende hatte einen entscheidenden Fehler begangen. Er rannte quer durch den Bärlauch. Die zertrampelten Blätter gaben die Spur preis, der Jäger nun folgen konnte. Egal, wem er folgte, dieser Typ war in bemerkenswerter Form. Jäger ließ nicht von der Verfolgung ab, dem anderen musste doch auch einmal die Puste ausgehen. Jäger wich herabhängenden Zweigen eines dichten Busches aus und endlich sichtete er den Flüchtenden.

»Stehen bleiben! Polizei!«

Der Flüchtende ignorierte den Ruf und rannte weiter. Jäger wurde wütend. Trotz Seitenstechen, das sich jetzt einstellte, hetzte er dem Flüchtenden hinterher und der Abstand wurde immer kleiner. Noch zwei Meter. Noch ein Meter. Jäger warf sich auf den Rücken des Mannes. Von der Wucht des Aufpralls umgerissen, krachte der Mann auf den Boden und blieb stöhnend im Bärlauch liegen, fest auf den Boden gedrückt. Die Handschellen klackten. Jäger riss den Mann auf die Füße und drehte ihn herum.

»Was haben Sie sich dabei gedacht?«, fragte Jäger außer Atem und deshalb gereizt. »Wie heißen Sie?«

Sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände. Er presste eine Hand auf die rechte Seite und atmete tief in den Bauch. Jäger konnte es nicht ausstehen, wenn jemand auf die Worte: ›Halt! Polizei!‹ nicht reagierte. Vor ihm stand ein Mann Mitte vierzig, der sportlich gut in Form war. Er war ein Meter achtzig groß und sehnig. Der Angesprochene wies mit einem Kopfzeichen auf seine linke Brusttasche.

»Mein Ausweis ist da drin«, sagte der Festgenommene, keinesfalls kleinmütig oder zerknirscht.

Vorsichtig holte Jäger den Ausweis aus dem dunkelblauen Arbeitsoverall und las Namen und Anschrift darauf.

»Das hätten wir uns beide ersparen können.« Jäger führte den Mann auf den Sandweg. »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?«, fragte er nochmals, diesmal in einem versöhnlicheren Ton.

Die Handschellen schloss er wieder auf. Polizeiobermeister Jäger kannte den Mann nicht persönlich, aber er hatte bereits von Marek Winkler gehört. Müllheini nannten ihn die Quedlinburger hin und wieder abfällig.

Marek Winkler zog seine Schultern hoch.

»Konnte ja nicht wissen, dass Sie wirklich so schnell sind. Die meisten geben auf, wenn ich Fersengeld gebe«, gab er selbstbewusst zurück.

Jäger hütete sich zu sagen, dass er unmittelbar davor gewesen war, aufzugeben, doch sein läuferischer Ehrgeiz in ihm ließ das nicht zu.

»Was hatten Sie denn am Holländergraben verloren?«, wollte Jäger wissen.

Marek Winkler sah Jäger unverständlich an. »Ich? Verloren?« Dann schüttelte er den Kopf. »Nichts. Ich sammle Müll ein. Überall.«

Jäger wählte die nächste Frage besser aus.

»Warum hielten Sie sich am Holländergraben auf?«

Marek Winter steckte seine Hände in die Hosentaschen und schaute in den Himmel. Dabei atmete er den leichten Knoblauchduft ein.

»Ich habe einen Plan, an welchem Tag ich wo und was einsammele. Die Stadt habe ich mir in Planquadrate eingeteilt und montags sind der Münzenberg und der Brühl dran.« Marek Winkler schaute Jäger offen an.

»Lassen Sie uns wieder zurückgehen, sonst alarmieren die Kollegen noch eine Hundertschaft«, sagte Jäger knurrig und griff nach dem Handy, um den Kollegen Entwarnung zu geben. »Bin mit dem Zeugen auf dem Rückweg.« Dann wandte er sich wieder an Marek Winkler. »Haben Sie etwas gesehen, das uns helfen kann?«

»Früh um 6 Uhr habe ich mit dem Münzenberg begonnen, diesmal ist es nur eine Plastiktüte geworden. Zwei Stunden habe ich dafür gebraucht. Dann habe ich den Sack abgestellt.«

»Wo?«

»Ich gehe immer zum Wiperti-Friedhof, da kann ich den Sack entleeren. Der Friedhofswärter hat nichts dagegen«, brummte Marek unwillig. Er musste ja der Polizei nicht auf die Nase binden, dass er dem Friedhofsgärtner gelegentlich eine Arbeit abnahm. Dafür bekam er immerhin eine ordentliche Mahlzeit und ab und zu etwas Geld zugesteckt, wenn eine dreckige oder schwere Arbeit zu verrichten war.

Wer weiß, was das für krumme Dinge sind, fragte sich Jäger insgeheim, schwieg aber dazu.

»Wann sind Sie denn am Holländergraben vorbeigekommen?«

»Gegen zehn«, antwortete Marek zögerlich. »Bin mir nicht sicher. Schaue ja nicht dauernd auf die Uhr.«

Jäger warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.

»Geht es nicht genauer? Wir ermitteln in einem Tötungsfall.«

»Was denn gesehen oder gehört?«, fragte Marek Winkler. Unterdessen waren sie zum Tatort zurückgekehrt. »Wie meinen Sie das denn?« Marek Winkler blieb vorsichtig gegenüber der Staatsmacht.

Hauptkommissar Reeh kam mit verärgertem Gesichtsausdruck auf Marek Winkler zu und griff nach dessen Arm. Jäger winkte ab.

»Lass gut sein. Ich nehme die Zeugenaussage selber auf. Bringt ihn bitte zum Revierkommissariat.«

Kopfschüttelnd ließ der Kollege Marek Winkler in das Polizeifahrzeug einsteigen.

»Nehmt bitte auch den Plastiksack mit, den der Zeuge stehen gelassen hat.« Polizeiobermeister Jäger wies auf einen Sack voller Müll, den Marek Winkler bei der Flucht im Stich gelassen hatte.

Das Skelett lag ausgestreckt auf dem Rücken und war an vier Holzpflöcken angebunden. Arme und Beine weit gespreizt. Es steckte in einer Art Büßergewand. Die Augen waren verbunden. Das Skelett gehörte keinesfalls zu den Artefakten, die die Wissenschaftler hier zu finden wünschten.

Aus der Ferne hörte er sich näherndes Sirenengeheul der Polizeifahrzeuge. Metz wandte sich an die Zeugen.

»Wer hat das Skelett gefunden?«

Die beiden Männer wiesen zu der Frau in den peppigen Gummistiefeln.

»Bitte halten Sie sich zu den Befragungen bereit. Die Kollegen der Spurensicherung werden den Tatort übernehmen.«

»Wie lange wird es dauern, bis Sie fertig sind?« Sein Tonfall klang vorwurfsvoll. »Wir stehen hier unter Zeitdruck«, präzisierte der Mann mit der dreckigen Jeans.

Metz schätzte ihn auf Anfang sechzig. Graue Haare bedeckten dessen Kopf. Wegen der buschigen Augenbrauen wirkte der Blick verbissen.

»Sie sind der Chef?« Metz ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Mein Name ist Meersig«, antwortete er mit frostiger Stimme. »Professor Doktor Meersig«, korrigierte er ungehalten.

»Was graben Sie hier aus und warum?« Metz hatte sein Heftchen für die Notizen nicht dabei und ein wenig ärgerte es ihn. Doch wer konnte ahnen, dass er an seinem freien Tag eher als das Einsatzteam am Tatort war. Dass es ein Tatort war, davon ging er aus.

»In Kürze wird es eine Umgehungsstraße geben, damit der Straßenverkehr durch Quedlinburg minimiert wird«, gab Professor Doktor Meersig knurrig zur Antwort.

»Seit wann graben Sie hier?«

»Seit einem halben Jahr. Wir müssen bis zum Samstag nach Karfreitag fertig sein, sonst kommt der gesamte Bauplan durcheinander. Sie wissen ja ...« Nun wirkte der Professor zerknirscht.

Metz verstand den Mann durchaus. Eine Baustelle war ein komplexes Räderwerk. Kam ein Rad ins Stocken, stockten alle anderen Rädchen ebenfalls, egal, wie bedeutsam oder winzig sie waren. Metz schaute auf die alles überragende Silhouette des Schlossberges in der Ferne von Quedlinburg. Man sagt dem Schloss nach, dass es zur Einweihung im Jahre 1021 strahlend weiß ausgesehen haben soll. Vielleicht war dem so, vielleicht auch nicht. Metz wusste nicht mehr, wo er das gelesen hatte.

»Ja, die Sache mit der Zeit und dem wirtschaftlichen Aspekt.« Metz hatte sich in den Harz versetzen lassen, weil ihm nicht nur der Zeitdruck nach seinem Burn-out zugesetzt hatte. »Bitte bleiben Sie, die Kollegen übernehmen jetzt. Wir tun unser Möglichstes, damit Sie weiterarbeiten können.«

Meersig brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Offenbar konnte er es nicht leiden, wenn man ihn stehen oder auch nur warten ließ.

Metz sah aus der Ferne, dass sich ein Polizeifahrzeug näherte. Die Hauptkommissare Reeh und Rükken. Wo blieb Jäger?

Das Fahrzeug hielt und die beiden stiegen aus. Sie gingen auf Metz zu.

»Wo steckt Jäger?«, fragte dieser.

Reeh und Rükken schauten sich kurz an und knobelten anscheinend aus, wer es Metz sagen sollte.

»Was ist los?« Metz hob zur Bekräftigung eine Augenbraue an.

»Hauptkommissar Metz, wir haben noch einen anderen Fall. Eine weibliche Leiche, sie wurde im Holländergraben am Brühl gefunden«, teilte ihm Reeh mit.

»Und Petersen hat Jäger dorthin beordert«, ergänzte Rükken. »Sowie auch das zweite Polizeifahrzeug«, fügte er hinzu. »Wir hatten dort ebenfalls Einsatz. Sind aber fertig.«

»Zwei Fälle auf einmal.« Metz zog scharf die Luft ein. Sah so ein Kürzertreten aus? Seit er hier in Quedlinburg seinen Dienst versah, kam es ihm vor, als wenn sein Leben mehr und mehr aus den Fugen geriet. Eine Zeit des Nichtstuns war ein verschwendeter Gedanke.

»Dann beginnen Sie mit der üblichen Routine. Absperren und Zeugenaussagen aufnehmen«, wies er die Hauptkommissare an. »Ich fange mit der Dame an.« Metz wies mit einem Kopfnicken auf die Zeugin.

Metz schätzte sie auf 1,80 m. Sie trug die vorschriftsmäßige Arbeitskleidung der Archäologen. Das Auffallendste an ihr waren ihre peppigen Gummistiefel. Die blonden Haare hatte sie sorgsam hochgesteckt. Die Brille, die sie trug, hatte ein eckiges Gestell und passte nicht zwingend in das schmale Gesicht. Ihre Gesichtshaut wies eher Dreckspuren als Make-up auf. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

»Es tut mir leid. Doch es ist notwendig, jeden zu befragen, der auf der Baustelle ...«, begann Metz.

»Ausgrabungsstelle«, verbesserte sie ihn. Dem Timbre ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie angespannt.

»Mein Name ist Metz und ich arbeite bei der Quedlinburger Kripo. Heute ist mein freier Tag«, versuchte Metz, sie aus ihrer Angespanntheit herauszuholen.

Die Frau schaute auf und Metz entdeckte die erste Spur eines Lächelns auf ihrem Gesicht.

»So sehen also Ihre freien Tage aus?«, fragte sie mitleidig. Ein Mundwinkel hatte sich zur Andeutung eines Lächelns nach oben gezogen. »Das ist ja fast wie bei uns. Haben wir ein Projekt, muss es durchgezogen werden. Komme, was da wolle.« Sie schniefte nochmals ins Taschentuch und putzte sich die Nase. Das hatte etwas Endgültiges.

»Wie heißen Sie?«

»Mein Name ist Anna Fiedler und ich bin Archäologin.«

Metz hörte einen fremden Dialekt in ihren Worten.

»Woher kommen Sie?«

»Aus dem Mansfelder Land. Der Dialekt ist etwas breit und nicht so angenehm für die Ohren«, erklärte sie, jetzt vorsichtig lächelnd.

Wenigstens weint sie nicht mehr ununterbrochen, dachte Metz, froh darüber, dass er ihre Gedanken in eine andere Richtung gelenkt hatte.

»Bitte schildern Sie mir genau Ihren heutigen Arbeitstag.«

Frau Fiedler rückte ihre Brille zurecht und wischte sich zum letzten Mal mit dem Taschentuch ihre Nase.

»Nichts Besonderes. Wie üblich war ich die Erste auf der Ausgrabungsstätte. Zuerst kochte ich eine Kanne Kaffee, die ist für uns alle, und dann schaute ich nach dem Rechten. Es gibt Ausgrabungsstätten, da fehlte über Nacht das eine oder andere Arbeitsgerät. Es war alles so, wie wir es gestern verlassen hatten. Dann habe ich den Himmel betrachtet. Ich freute mich auf einen wunderbaren Frühlingstag. Warm, leichter Wind, blauer Himmel, angenehm zum Arbeiten. Nicht wie in den vergangenen Wochen, mit viel Regen.«

Metz erwartete nicht, dass die Zeugin etwas gesehen hatte, was ihm spontan weiterhelfen konnte. Dieses Ereignis lag Jahre zurück. Fast beneidete Metz Polizeiobermeister Jäger, der wegen der Leiche am Holländergraben ermittelte.

»Am Morgen gegen 6 Uhr habe ich ihn wieder gesehen«, riss Frau Fiedler Metz aus den Gedanken, »diesen Mann. Das fällt mir gerade ein.«

»Wieder? Sagten Sie eben wieder gesehen?« Metz starrte sie an.

Frau Fiedler bejahte. Sie wusste, dass der Hauptkommissar auf genauere Angaben beharren würde.

»Zu Beginn ...« Die Zeugin konzentrierte sich. »Zu Beginn unserer Ausgrabungen war mir der etwas unheimlich. Ich sah ihn öfter stehen, also im Oktober letzten Jahres. Als wenn er uns zuschaute und uns beobachtete. Dann war er mehrere Tage oder Wochen nicht zu sehen, dann wieder täglich.«

Metz wusste aus Erfahrung, dass sich Zeugen irrten, etwas verwechselten oder keine detaillierten Beschreibungen abgaben. Anders schien es bei Frau Fiedler zu sein.

»Er ist groß, eher imposant, vielleicht Mitte oder Ende vierzig, trägt einen grau-melierten Bart. Hat etwas lodderige Kleidung an. Zerbeulte Hose, fleckiger Hut, Jacke. Olivgrüner Schal. Er kam nie näher, war nur stiller Beobachter.« Frau Fiedler blickte Metz an. »Wenn Ihnen das hilft?«

Metz bedauerte kurz, sein Heftchen nicht bei der Hand zu haben. Es war eine Marotte von ihm, dass er jeden Fall in ein separates Claire-Fontaineheft eintrug. Er musste es nachholen, wenn er wieder im Büro war.

»Vielen Dank«, antwortete Metz mit freundlichem Lächeln. »Hinterlassen Sie bitte Ihre Kontaktdaten bei den Polizeihauptkommissaren.«

Metz wies mit ausgestreckter Hand in Richtung Reeh und Rükken. Er sah, dass beide mit Befragungen beschäftigt waren. Gerade schüttelten die Zeugen verneinend die Köpfe. Die Angaben der Zeugin Fiedler hingegen waren detailgetreu. Sie würden mit den anderen Angaben verglichen werden und dann musste der beschriebene Zeuge gefunden werden.

»Ja, und nun?«, wandte sich Frau Fiedler nochmals an Metz.

»Wir warten auf den Gerichtsmediziner. Das Skelett wird abgeholt. Wenn die Spurensicherung ihre Arbeit beendet, können Sie weiterhin Ihrer Arbeit nachgehen«, versicherte ihr Metz. »Im Übrigen sind sich Ihre Arbeit und die der Spurensicherung nicht unähnlich. Nur, dass Jahrhunderte dazwischenliegen«, sagte Metz.

»Oder Jahrtausende«, entgegnete Frau Fiedler schniefend. Sie zog wieder ihr Taschentuch hervor.

Im Revierkommissariat ließ Jäger den Zeugen Marek Winkler eintreten.

»Nehmen Sie Platz«, forderte er ihn auf und wies auf einen Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. Hauptkommissar Metz war noch nicht zurück, was Jäger bedauerte. Sicher war er noch bei den Archäologen und überwachte den Abtransport der aufgefundenen Leiche. Unauffällig musterte er Marek Winkler. Dieser hatte lebhafte grüne Augen. Ungeniert sah er sich im Büro um. Beidseits von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln zogen sich tiefe Falten. Das wirkte jedoch nicht störend, sondern verlieh seinem Gesicht einen sehr charakteristischen Zug.

Jäger fuhr den Computer hoch. Petersen steckte den Kopf durch die Zwischentür.

»Hauptkommissar Metz?«, fragte er knapp.

Jäger verneinte.

»Kommen Sie in mein Büro.« Es klang fast wie ein Befehl. Jäger sperrte den Computer und bat Winkler, vor der Tür zu warten. Er war sich sicher, dass Winkler nicht stiften ging. Jäger hatte ihm versichert, dass er nur als Zeuge eine Aussage machen sollte.

Als Jäger vor Petersens Schreibtisch stand, klopfte dieser nervös auf die Tischplatte.

»Wer ist das denn?« Eine Kopfbewegung in Richtung angrenzendes Büro offenbarte, wen er meinte.

»Marek Winkler, ich habe ...«

»Etwa der Müllheini?«, fragte Petersen schroff.

Jäger erstarrte für den Moment. Nach der Schussverletzung, dem anschließenden Krankenhausaufenthalt und einer längeren Genesungsphase war der Dienstgruppenführer erst seit Kurzem wieder dienstfähig. Aber Jäger hatte ihn nicht in dieser gereizten Stimmung in Erinnerung. Weil er nicht wusste, wie er agieren sollte, räusperte er sich und sagte:

»Ich habe ihn im Brühl gestellt, als er flüchten wollte.«

Petersen ließ es unkommentiert.

»Wissen wir Näheres über die Leiche im Brühl?«

»Laut des Gerichtsmediziners war sie keine vierundzwanzig Stunden tot. Die Leichenstarre hatte sich noch nicht vollständig ausgebildet. Sie hat eine Kopfverletzung. Wenn ich richtig verstanden habe, ist sie unglücklich gestürzt.«

»Und wer ist sie? Sind wir da irgendwie weiter?«

Jäger schüttelte den Kopf. Was dachte sich Petersen eigentlich? Sie hatten die Leiche aus dem Holländergraben geborgen und ins gerichtsmedizinische Institut in Magdeburg überstellt.

»Wir sind mit den Überprüfungen der Zeugenaussagen beschäftigt.« Jäger wusste, dass er den größten Teil dieser Löwenaufgabe bewältigte.

»Ihr Zeuge«, Petersen deutete mit einem Nicken auf das nebenliegende Büro, während er weiter mit den Fingerkuppen auf den Tisch trommelte, »denken Sie, dass er etwas gesehen hat?«

»Es ist jemand, der viel beobachtet, der viel in Quedlinburg sieht. Vielleicht haben wir einen brauchbaren Zeugen.«

Petersen nickte gedankenverloren.

»Nehmen Sie die Aussage auf. Übrigens«, wies er Jäger an, »sollte es etwas Relevantes geben, dann machen Sie sich bemerkbar. Ich bin beim Staatsanwalt.«

Emilia Sander hatte Punkt 8 Uhr die Apothekentür geöffnet. Ein mittlerweile alltäglich gewordenes Vorgehen.

Bis vor Kurzem noch waren es die Mitarbeiter gewohnt gewesen, dass ihre Chefin nicht immer pünktlich war. Aber seit die Apothekerin mit Franck Metz zusammenwohnte, hatte sich einiges geändert. Emilia hatte sich nach Weihnachten entschlossen, Franck zu fragen, ob er bei ihr einziehen wollte. Das Jahr, in dem sich Franck entscheiden sollte, ob er dem Dienst gewachsen war, würde im August zu Ende sein. Nicht mehr viel Zeit, wenn man es auf diese Art betrachtete. Bis dahin wollte Emilia es sich mit Franck so angenehm machen, wie es ihre Zeit zuließ. Sie hatte nicht vor, Franck in seine Entscheidung hineinzureden. Niemals war das ein Thema zwischen ihnen.

Ihre gebrochene Nase war problemlos verheilt. Und auch den Schock, dass ein vermeintlicher Freund dermaßen eifersüchtig werden konnte, dass er sie umbringen wollte, hatte sie verarbeitet. Zumindest, wenn man sie darauf ansprach. Im Inneren beschäftigte sie dieses Trauma noch immer. Wenn sie ehrlich zu sich war, war das auch ein Grund, dass sie Franck gebeten hatte, bei ihr einzuziehen. Sie konnte nicht mehr mutterseelenallein sein, es verursachte ein gewisses Maß an Unbehagen, das sie bisher nicht gekannt hatte. Sie hoffte, dass sich dieses Gefühl in weiter Zukunft legte.

Sie wohnten in Emilias Wohnung in der Essiggasse. Platz bot dieses Zuhause allemal. Auch Franck hatte sich ohne Umstände daran gewöhnt, ohne Bedenken über den Brunnenschacht zu gehen – eine Besonderheit, die Emilia einem selbstverliebten Innenarchitekten zu verdanken hatte. Dieser Brunnenschacht war mit einer dicken Glasplatte bestückt und lag in ihrem Eingangsbereich. Im Innern waren Spots befestigt, die das Historische des ehemaligen Brunnens hervorhoben.

Frau Mandel, die Reinigungskraft, hatte sich nach ihrem Herzinfarkt wieder erholt und war seit Kurzem wieder einsatzbereit. Sie kümmerte sich weiterhin um die Sauberkeit in den Apothekenräumen, um Einkäufe in letzter Minute und um die Verpflegung der Mitarbeiterinnen.

Emilias Sohn Ole wohnte und studierte Musik in Leipzig, wie er es versprochen hatte. Viel Sesshaftigkeit hat er nicht in die Wiege gelegt bekommen, sagte einmal seine Oma zu ihm. Emilia musste innerlich schmunzeln, als sie daran dachte. Diesmal war Ole für drei Wochen nach Neuseeland gereist.

»Schauen Sie mal, die Farben sind doch echt krass. Finden Sie nicht auch?« Frau Weiß, die pharmazeutisch-technische Assistentin, präsentierte Emilia Sander die gefärbten Hühnereier. Erschrocken blickte Emilia auf die dunkelblauen Eier. Man konnte sie fast für Schwarz halten.

»Oh je, wollten wir die Farben so kräftig?«, fragte Emilia Sander überrascht und schaute Frau Weiß an.

»Dann färbe ich doch noch welche mit Zwiebelschale, ich glaube, dass der Kontrast gelingt«, meinte Frau Grünberger, die mit amüsiertem Blick auf die dunklen Eier schaute.

Emilia Sander hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass in der Woche vor Ostern jeden Morgen frisch gekochte und gefärbte Eier in der Apotheke auslagen. Sie hatte extra vier weiße Straußeneierschalen geordert. Das Arrangement sollte originell aussehen, und das war es auch. Außerdem war ihr Außenbereich frisch dekoriert. Die zwei Schneeeulen sahen bezaubernd aus. Zu ihren Füßen Ton und Marmoreier in Holzwolle-Nestern. Emilia Sander legte Wert auf die Natürlichkeit der Farben und hatte entsprechend vorgesorgt.

»Das Blauholz muss man vorsichtig dosieren. Aber ich finde es sehr apart. Wenn man den ersten Schock überwunden hat«, gab sie zu. Die Apothekerin drehte vorsichtig ein noch warmes Ei in der Hand. »Aber Frau Grünberger hat recht. Färben Sie noch Eier mit Krappwurz und Zwiebelschale, dann sieht das Ganze zusammen sehr interessant aus«, entschied Frau Sander. »Jetzt vor Ostern werden wir wieder alle Hände voll zu tun haben.« Sie wandte sich an Frau Mandel: »Bitte besorgen Sie uns ausreichend Bio-Eier.« Frau Mandel drückte mit einem Kopfnicken ihr Verstehen aus. »Wer denkt daran, dass für die Augenarztpraxis der Bedarf eingepackt wird?«, fragte Frau Sander ihre Mitarbeiterinnen.

»Ist in Arbeit«, versicherte Rosa Bach.

»Wo stehen die Tütchen mit Krappwurz und Blauholz?«

»Vorne neben jeder Kasse«, antwortete Frau Grünberger. »Und Sie versprechen sich ein gutes Geschäft, Frau Sander? Als ich die Sauerei gesehen habe, als Camilla die Eier kochte. Und auch der Geruch ... Ich weiß nicht, ob das den Frauen von heute noch passt«, gab Frau Grünberger zu bedenken. »So machen sie die Tütchen aus der Drogerie auf, können kalt oder heiß die Eier färben, hinterher alles durch den Ausguss jagen. Küche bleibt sauber, Hände auch. Und immer das gleiche Farbergebnis, wenn man sich an die Anleitung hält.«

»Ist aber auch langweilig«, ließ das Küken der Apotheke, Blanca, vernehmen. »Ich fand es interessant, wie Frau Weiß das Blauholz, und noch nicht einmal viel davon, in den Topf gegeben hat und das Wasser aufkochen ließ. Ich habe gesehen, dass das Wasser immer blauer wurde, bevor die Eier überhaupt im Wasser waren. Ich finde die ausgesprochen schick. Und umweltverträglich. Ich freue mich auf die Sorte Krappwurzel.«

»Da seht ihr es. Nur Mut, das wird schon.« Emilia war durchaus überzeugt von ihrer Idee. »Vielen Dank, Blanca. Außerdem werde ich wieder für jede Mitarbeiterin ein Osterei verstecken. Seid also aufmerksam. Bis Ostersamstag sollte jeder seins finden.« Ein beifälliges Murmeln war zu hören. »Habt ihr sonst noch Fragen?« Da alle den Kopf schüttelten, entließ Emilia Sander ihre Mitarbeiterinnen. Sie selbst hatte noch andere Aufgaben zu erledigen.

Der Vormittag verlief in der Apotheke zunächst verhalten. Die Kunden kamen und wurden zügig bedient. Jeder, der die Apotheke betrat, schielte auf die frisch gefärbten Eier. Sogar Frau Grünbergers Sorge verschwand. Besonders die männlichen Kunden griffen nach einer Aufforderung herzhaft zu. Bis zur Mittagszeit bestellte Frau Sander Ware, telefonierte mit verschiedenen Pharmavertretern, schrieb und beglich Rechnungen, erledigte die Buchführung. Ihr Dienstantritt war erst am Nachmittag vorgesehen.

Noch bevor sie begann, fing Frau Mandel sie ab. Montags ging sie auf den Markt und kaufte für die Belegschaft Produkte aus der Region ein.

»Ich habe frischen Salat gemacht. Das Brot ist von gestern. Habe ich gebacken. Stärken Sie sich in der Küche. Die Arbeit läuft nicht weg. Sie sehen etwas kränklich aus. Hat man sich nicht gut um Sie gekümmert, als ich auf Kur war?« In Frau Mandels Stimme schwang Sorge mit.

»Doch, die Frauen haben sich bestens um mich gekümmert.« Sie wies den leichten Vorwurf zurück. »Aber in letzter Zeit war doch alles etwas viel für mich. Wie jeder träume ich von einer Woche Urlaub«, gestand Emilia.

»Tss, tss. Kein Wunder. Wenn ich bedenke, was alles so war. Mir hat ja Frau Weiß immer Rede und Antwort stehen müssen. Sie müssen auf sich aufpassen, Sie sind unsere Arbeitgeberin. Sie tragen viel Verantwortung.«

Emilia Sander nickte. Sie konnte dem nichts entgegnen. Das letzte halbe Jahr hatte ihr viel Arbeit abverlangt. Viel emotionaler Stress. Angefangen hatte alles mit dem Bombenräumkommando, dann der Herzinfarkt von Frau Mandel, Franck Metz, der in ihr Leben getreten war, die Schwangerschaft von Violett, Blanca, die als Auszubildende inzwischen einen festen Platz im Team einnahm, der Weihnachtsadvent, das Zurückkehren ihres Sohns Ole. Schließlich der Mordanschlag gegen sie durch einen ehemaligen Apotheker und ihre gebrochene Nase.

Emilia Sander folgte Frau Mandel in die Küche.

»Du meine Güte, Frau Mandel, wann haben Sie das denn alles vorbereitet?«, entfuhr es ihr.

»Das macht sich doch fast von allein«, wehrte sie das Lob ab. »Außerdem ist es ja für die komplette Belegschaft. Das wird schon leer, da bin ich ohne Sorge.«

Emilia entdeckte einen warmen Rote-Linsen-Salat mit Fetakäse. In einer Auflaufform schwammen gebratene Hähnchenflügel und Unterschenkel in einer duftenden Brühe. Eine Schüssel mit Portulaksalat und Frischkäse stand daneben. Dazu das selbstgebackene Weißbrot mit Koriander und Käsewürfeln. Eine Kanne Tee stand auf dem Tisch. Aber es roch auch nach frischem Espresso. Frau Mandel folgte ihrem Blick.

»Aber erst nach dem Essen«, erklärte sie resolut.

»Versprochen«, beteuerte Emilia.

»Ich lass Sie jetzt in Ruhe essen. Bis morgen dann.« Frau Mandel arbeitete nach ihrem Herzinfarkt nur noch verkürzt.

Emilia hörte die Tür hinter sich zufallen. Sie blieb allein in der Küche. Vor ihr stand dieses köstliche Mittagessen. Und plötzlich bemerkte sie, dass sie Hunger hatte. Frau Mandel hatte geahnt, dass Emilia heute Morgen nicht gefrühstückt hatte. Nicht jeden Tag gab es eine so aufwändige Mahlzeit für die Belegschaft. Eigentlich sorgte sich jeder selbst um sein Essen, aber montags, wenn Markt war, fühlte sich Frau Mandel verpflichtet, auf die Gesundheit ihrer Kolleginnen und ihrer Chefin zu achten.

Nachdem sie in Ruhe gegessen und einen Espresso getrunken hatte, räumte sie das Geschirr in den Geschirrspüler. Sie fühlte sich gestärkt. Die Tasse Tee verschob sie auf später. Sie zog sich ihren Apothekenkittel an, band sich das Halstuch um und steckte sich die Plakette mit dem Wappentier der Apotheke an.

»Frau Weiß, Zeit für die Ablösung.« Emilia Sander übernahm die restlichen Arbeitsstunden, damit sich ihre Pharmazieingenieurin um eine unaufschiebbare familiäre Angelegenheit kümmern konnte.

Frau Weiß huschte dankbar aus der Offizin.

Emilia Sander war dermaßen in die Arbeit vertieft, dass sie sich erschrak, als ein Karton unsanft vor ihr auf dem Tresen abgestellt wurde.

Sie blickte erstaunt auf. Vor ihr stand Hildegard Bär aus der hiesigen Gärtnerei ›Midgard‹. Sie hatten sich den unumstößlichen Demeterrichtlinien verschrieben und stellten ein herrliches Bärlauchpesto her, das Emilia Sander bestellt hatte.

»Entschuldigung, Frau Sander, dass ich mich verspäte, aber es ist etwas Schreckliches passiert.« Hildegard war außer Puste. Immer zu Scherzen aufgelegt und niemals schlechter Laune, so kannte Emilia sie. Hildegard war eine Frau in den besten Jahren, agil, forsch, selbstbewusst. Manchmal zögerlich.

»Was ist denn passiert?«, fragte Emilia mitfühlend. »Sie sehen ja mitgenommen aus. Kommen Sie mit in mein Büro«, bot ihr Emilia Sander an.

»Nein, keinesfalls. Ich muss weiter«, wehrte sie kategorisch ab. »Der Vormittag bei der Polizei hat mich viel Zeit gekostet, ich muss die anderen Waren ausliefern.«

»Es wird doch jedermann Verständnis aufbringen, wenn Sie sich verspäten.«

»Sie schon, aber der Rest der Welt ...« Hildegard winkte mit der linken Hand ab. »Rechnung machen wir später, ich habe keine Zeit.«

Hildegard war schon beinahe draußen, als Emilia ihr nachrief:

»Was ist denn überhaupt passiert?«

»Ein Mord, genau vor unserer Tür.« Hildegard verließ eilig die Apotheke. Die agile Endfünfzigerin schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte die Bockstraße entlang.

Frau Grünberger und Emilia Sander blickten sich sprachlos an.

»Frau Sander. Jetzt geht alles von vorne los«, prophezeite Frau Grünberger sorgenvoll.

Plötzlich lag Emilia das Mittagessen schwer im Magen.

Metz schirmte seine Augen gegen die Sonne ab. Endlich kam Bewegung in die Sache.

»Der Gerichtsmediziner ist auf dem Weg.« Metz zeigte auf ein dunkles Auto, das mit erhöhter Geschwindigkeit den Mastenweg entlangbretterte, dann nach links einbog und auf den Ochsenkopf zuraste. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Dr. Wagner einen derartigen Fahrstil hatte.

Das Auto hielt an einem kleinen Bach. Die Fahrertür wurde aufgerissen und Jäger stieg aus. Aus der Entfernung sah Metz, dass sich aus der Beifahrertür der füllige Körper von Dr. Wagner herausschob. Irrte sich Metz oder wankte der Gerichtsmediziner?

Jäger hetzte über den Hügel bis zu den Ausgrabungen hoch. Dr. Wagner lief eher bedächtig hinterher.

»Chef, eher konnte ich nicht kommen.« Jäger hielt sich die Seite. Es war das zweite Mal am heutigen Tag, dass er Seitenstechen hatte.

»Wie sieht es in Ihrem Fall aus?«, fragte Metz.

»Meiner?« Jäger glaubte, sich verhört zu haben.

Metz nickte.

»Ich werde mit dem Skelett genug zu tun haben. Das wird eine harte Nuss. Sie können durchaus alleine arbeiten. Wenn Sie mich brauchen, wir sitzen doch im gleichen Büro. Also, wie sieht es aus?«

»Schlag auf den Kopf und unglücklich gestürzt.« Jäger fasste gewohnt kurz zusammen. »Es ist eine junge Frau, deren Identität noch nicht festgestellt werden konnte. Wobei ...«

»Wobei?« Metz betrachtete Jäger.

Der junge Mann war in den letzten Monaten zu einem verlässlichen Partner geworden. Er arbeitete hart und hatte den Ehrgeiz, alles richtig zu machen. Jäger kombinierte gut und entwickelte ein Gefühl für den Fall. In den letzten Monaten war die Mordkommission ja nicht untätig gewesen. Ein Ehemann erschlug aus Rage seine Ehefrau, ein junges Pärchen wurde angefahren und der Fahrer des Autos beging Fahrerflucht. Eine Mutter hat ihr Baby ausgesetzt. Alles Fälle, die gelöst wurden. Nur Jägers Fahrstil ließen Metz’ Nackenhaare hochstehen.

»Ich habe der Toten ins Gesicht geschaut. Und ich meine, dass ich sie schon einmal gesehen habe. Ich zermartere mir seit Stunden den Kopf, ich komme nicht darauf.« Jäger wirkte unzufrieden mit sich.

Schnaufend gesellte sich Dr. Wagner zu Metz und Jäger.

»Dienstgruppenleiter Petersen hat keinesfalls untertrieben.«

Metz und Jäger ließen den Satz unkommentiert, sie wussten beide, dass er Jägers Fahrweise meinte. Sie taten, als wüssten sie nicht, auf was Dr. Wagner anspielte.

»Wo liegt nun die skelettierte Leiche, Hauptkommissar?«, fragte der Gerichtsmediziner säuerlich dreinblickend, nachdem er einsah, dass Metz auf seine Bemerkung nicht eingehen würde.

Auf dem Plateau war in einem weiträumigen Areal der grüne Waldboden aufgerissen und braune Erde zu sehen. Die Ausgrabungsstätte zog sich bis zur Baumgrenze hin. In komplizierten Verfahren und Auswertungen von Luftbildern war das Gelände abgesteckt worden, so weit hatte man Metz in der Zwischenzeit instruiert, in der sie untätig auf Gerichtsmediziner und Spurensicherung warteten. Am Rande dieser Hochebene war das Skelett gefunden worden. Metz führte die Männer zum Fundort. Er ließ Dr. Wagner den Vortritt.

Dr. Wagner betrachtete das vor ihm liegende Skelett eingehend. Metz wartete gespannt, was der Gerichtsmediziner zu sagen hatte.

»Es ist schon eine besondere Auffindesituation, wenn ich das zu Beginn sagen kann. Mir kommt es wie eine Opferung vor«, mutmaßte Dr. Wagner. Mühsam hockte er sich hin. Sein Übergewicht behinderte ihn, doch das würde er nicht zugeben. »Wenn ich von der Größe der Knochen ausgehe, vermute ich, dass es sich um einen männlichen Toten handelt.« Er hob die Fetzen des Gewands hoch. »Der Verwesungsprozess ist im Wesentlichen abgeschlossen. Kann sein, dass die Leiche schon drei bis fünf Jahre hier liegt. Es wird nicht unmöglich sein, DNA-Material zu sichern.« Mit der Präzision eines Pathologen begutachtete er das Skelett. Dann zeigte er auf den linken Rippenbogen. »Hier, Hauptkommissar Metz, da sehe ich doch ...« Dr. Wagner beugte sich tiefer über die skelettierte Leiche. »Ja, da hab ich es. Gewaltsamer Tod, Hauptkommissar. Das Opfer wurde erschossen. Sehen Sie hier, diese beiden Rippen weisen Verletzungen auf. Sieht mir nach dem ersten Blick wie eine Schussverletzung aus. Nach der Obduktion wissen wir mehr. Was ist mit Hanni und Nanni?«

»Sind unterwegs«, antwortete Jäger.

»Mit Ihrem Fahrstil haben Sie die zwei wahrscheinlich gänzlich abgehängt.« Jäger blickte unschuldig drein. »Nun gut.« Dr. Wagner wandte sich wieder an Metz. »Hauptkommissar, Sie bekommen so schnell es geht den Bericht. Ich werde nicht umhinkommen, noch eine Kollegin hinzuzuziehen. Sie beide machen mir eine Menge Arbeit. Lassen Sie bitte die Überreste in die Gerichtsmedizin bringen.« Der Doktor drehte sich nach Hauptkommissar Reeh um, der in der Nähe stand, und rief ihm zu: »Sie können mich mitnehmen?«

Reeh nickte.

Der Gerichtsmediziner stieg in das Polizeifahrzeug.

»Sie bringen mir den Audi zurück?«, rief er Jäger zu.

»Er wird den Doktor schon gemütlich nach Hause bringen«, äußerte Jäger amüsiert.

Der Tatort war von den Hauptkommissaren Reeh und Rükken abgesperrt worden. Wie in der gesamten Republik litt auch die Quedlinburger Polizei unter chronischem Personalmangel. Es gab nur zwei Polizeifahrzeuge für Quedlinburg. Alles, was überdies gebraucht wurde, musste erst angefordert werden. Deshalb blieben Metz und Jäger und behielten den Tatort im Auge. Ein paar Hundebesitzer, die mit ihren Vierbeinern spazieren gingen, sah man von Weitem und einen Jogger, der einsam seinen Weg lief.

Endlich traf die Spurensicherung ein. Frau Weber und Frau Müller, hinter vorgehaltener Hand kurz und knapp ›Hanni und Nanni‹ genannt, hatten ihren Transporter unweit der Ausgrabungsstätte geparkt. Sie steckten in den weißen Schutzanzügen. Jede von ihnen schleppte einen der Spurensicherungskoffer.

»Hauptkommissar.« Frau Weber begrüßte Metz auf ihre Weise. Sie neigte etwas den Kopf zur Seite und hielt sich nicht mit Vorreden auf. »Wir können?«

»Ja.«

»Wurde irgendetwas verändert?«, fragte Frau Weber.

»Heute Morgen wurde das Skelett von den Archäologen gefunden. Aber da sie berufsmäßig damit vertraut sind, mit sensiblen Funden umzugehen, sollte es keine bedeutenden Verfälschungen von Spuren geben«, mutmaßte Metz. »Und den Gerichtsmediziner haben Sie knapp verpasst.«

Frau Weber und Frau Müller warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Nichts liebten sie so sehr wie verfälschte Spuren.

»Dann legen wir jetzt den Trampelpfad und beginnen mit der Spurensuche.« Mit höchster Konzentration machten sich die Damen ans Werk. Metz und Jäger zogen sich zurück. Sie wussten die gewissenhafte Arbeit der Frauen zu schätzen.

»Gehen wir ein Stück.« Metz schlug einen Bogen um die Ausgrabungsstätte und den Tatort und forderte Jäger auf, ihm zu folgen. »Klinkenputzen werden wir in diesem Fall nicht können. Aber lassen Sie uns über die Fälle reden.«

Jäger konnte dem nur zustimmen. Es war zwar ungewöhnlich, hier über den Ochsenkopf zu spazieren und dabei Brainstorming zu betreiben. Aber er kam fast nicht mehr an die frische Luft. Ein Fall jagte den anderen und er bildete sich ein, dass Metz ihn manchmal sonderbar beobachtete, so, als mache er sich Sorgen um seinen Gesundheitszustand.

Emilia Sander schloss mit der Gewissheit die Apotheke ab, dass sie morgen eine Stunde früher aufstehen musste.

Ihre Freundin Tess, die auch ihre Steuerberaterin war, hatte sie angemahnt, die monatlichen Steuerunterlagen abzugeben. Bisher bedurfte es nicht der Aufforderung. Morgen würde sie dieses Manko beheben. Emilia lief den kurzen Weg bis zu ihrer Wohnung. Nachdem sie ihre Wohnungstür aufgeschlossen hatte, legte sie ihre Handtasche ab und zog die Schuhe aus. Barfuß ging sie ins Bad und wusch sich die Hände. Ihr Wohnzimmer und auch die Küche, Schlafzimmer und