Das Skript - Arno Strobel - E-Book + Hörbuch

Das Skript Hörbuch

Arno Strobel

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Beschreibung

Wenn Bestseller Angst machen – der neue packende Psychothriller von Arno Strobel! Eine Studentin bekommt per Post rätselhafte Botschaften zugeschickt – auf Menschenhaut geschrieben. Die Polizei verdächtigt den früheren Bestsellerautor Christoph Jahn: In dessen Roman schneidet ein Serienkiller jungen Frauen die Haut vom Körper, um darauf den Anfang seines Romans, der von allen Verlagen abgelehnt worden ist, auf grausige Weise neu zu schreiben. So erhofft er sich die Aufmerksamkeit für sein Werk, die es seiner Meinung nach verdient hat. Doch Jahn schiebt die Schuld auf einen geisteskranken Fan, der bereits vor Jahren Verbrechen aus seinen Romanen ›nachgestellt‹ haben soll, aber nie gefasst wurde. Die grausige Geschichte scheint sich zu wiederholen … Ein Entführungsfall, ein Serienkiller und ein Hauptverdächtiger mit beängstigender Phantasie: Brutal raffiniert erzählt Arno Strobel eine furchterregende Geschichte mit doppeltem Boden.

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Zeit:7 Std. 18 min

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Arno Strobel

Das Skript

Psychothriller

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Laura, Christine und [...]Prolog123I4II56III789IV1011V1213VI14VII151617VIII1819202122IX2324X252627XI28XII29XIII3031XIV3233XV343536XVI37XVII38/XVIII39DanksagungLeseprobe aus [...]1 Eva

Für Laura, Christine und Alexander

Prolog

Sie war nackt, und sie fror erbärmlich.

Ihr Körper versuchte in vibrierenden Schüben die Kälte abzuschütteln, die sich wie ein Film auf ihre Haut gelegt hatte. Ihr Atem prallte von der Wand dicht vor ihr ab und schlug ihr, angereichert mit Partikeln aus Moder und Fäulnis, zurück ins Gesicht. In kurzen Abständen drangen wimmernde Laute aus ihrem Mund. Sie hatte Angst. In einer Intensität, die ihr Verstand kaum zu bewältigen vermochte.

Um sie herum war es vollkommen dunkel, und in der absoluten Schwärze hatte es einige Zeit gedauert, bis sie sich über die Position ihres Körpers im Klaren war. Mittlerweile hatte sie begriffen, dass sie aufrecht an einer Wand stand. Wenn sie den Kopf ein kleines Stück senkte, um den schmerzenden Nacken zu entlasten, berührte ihre Stirn den kalten Stein. Ihre Arme waren mit Seilen um die Handgelenke wie ein V straff nach oben gebunden, von der Hüfte abwärts wurde sie durch etwas, das in Höhe der Taille über ihren Rücken verlief, fest gegen die Wand gepresst. Jede kleinste Bewegung schmerzte. Ihre Oberschenkel und Waden brannten. Die dünne Schlinge, die eng um ihren Hals lag, musste aus Draht sein. Sie zog sich sofort zu, wenn sie den Oberkörper auch nur minimal bewegte.

Ihre Gedanken formten das gleiche Wort wie schon hundertmal zuvor in den letzten Stunden: Mama. Sie konnte sich an keinen Tag, an keine einzige Stunde erinnern, in der sie sich so sehr nach der Geborgenheit ihrer Mutter gesehnt hatte wie in diesem Moment. Nicht einmal in ihrer Kindheit.

Als hinter ihr eine Tür geöffnet wurde, als die Schwärze des Raumes von flackerndem, gelblichem Licht durchbrochen wurde und sie die Anwesenheit eines menschlichen Wesens spürte, schrie sie auf.

Schritte kamen langsam näher. Schnaubend ausgestoßener Atem strich über ihren Nacken. Lange, viel zu lange.

»Bitte …«, flehte sie. »Bitte, tun Sie mir nicht weh. Ich … ich mache alles, was Sie möchten. Ich …« Ihre Stimme wurde von Tränen erstickt. »Bitte …«

Sie bekam keine Antwort, aber das Schnauben entfernte sich ein wenig. Dann waren rechts von ihr kratzende Geräusche zu hören, und die Schlinge um ihren Hals zog sich weiter zu. Als ihr Rücken sich schmerzhaft durchbog, stieß sie einen gurgelnden Laut aus. Nun konnte sie sich keinen Zentimeter mehr bewegen, ohne sich selbst zu strangulieren. »Bitte …« Sie stöhnte, sie weinte, sie verlor vor Angst beinahe den Verstand.

Etwas Dünnes, Kaltes strich über ihr Schulterblatt. Langsam, von links nach rechts und wieder zurück. Sie hielt die Luft an, wurde beherrscht vom dröhnenden Schlag ihres Herzens.

Dann explodierte der Schmerz.

1

23. April

Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand betrat Nina ihren kleinen Balkon und blinzelte gegen die Morgensonne, die sich schon zu drei viertel über den First des gegenüberliegenden Hauses geschoben hatte. Nach den langen Wintermonaten genoss sie das Gefühl der ersten zaghaften Wärme auf ihrer Haut so sehr, dass sie einen Seufzer ausstieß. Welch ein perfekter Start für diesen Tag. In einer Dreiviertelstunde würde Kerstin sie zu einer Shoppingtour in der Europa-Passage abholen. Am späten Nachmittag dann würde sie zu Dirk fahren und ihm bei den Vorbereitungen zu seiner Geburtstagsfeier helfen. 25 war er drei Tage zuvor geworden, fast genau zwei Jahre älter als sie selbst.

Nina nippte am Kaffee und überlegte, ob sie Dirk am Samstag schon um Viertel vor neun anrufen und ihm einen guten Morgen wünschen konnte. An den Tagen, an denen er nicht zur Uni musste, konnte er ohne Probleme bis mittags im Bett liegen bleiben. Manchmal, wenn sie bei ihm übernachtete, zog er sie auf die Matratze zurück, wenn sie aufstehen wollte. Sie schmunzelte. Ein paar Vorlesungen hatte sie schon verpasst.

Nina beschloss, dass der Tag viel zu schön war, um ihn halb zu verschlafen, und ging hinein. Der Telefonhörer lag auf dem weißen Ikea-Couchtisch. Sie wählte Dirks Nummer und legte sich mit schräg angezogenen Beinen auf die Zweiercouch, wo sie geduldig dem monotonen Tuten lauschte. Dabei stellte sie sich vor, wie Dirk sich das Kissen auf die Ohren presste, um weiterschlafen zu können. Umso überraschter war sie, als er sich mit einem sehr ausgeschlafen klingenden »Dirk Schäfer« meldete. »Guten Morgen«, sagte sie lächelnd, »du klingst ja richtig fit für diese Uhrzeit. Ich sollte dich wohl öfter abends alleine einschlafen lassen.«

»Auf keinen Fall. Ich bin nur so früh aufgestanden, weil ich eh die ganze Nacht nicht schlafen konnte.«

»Wegen der Party heute?«

»Wegen Einsamkeit, du innig geliebtes Wesen.«

Sie grinste. »Komm, du bist doch ganz froh, wenn du ab und zu im Bett fernsehen und Chips futtern kannst, gib’s zu.«

»Niemals. Aber sag mal, wolltest du nicht heute mit deiner seltsamen Freundin Kerstin Hamburgs Schuhgeschäfte leer kaufen?« Dirk und Kerstin mochten sich nicht sehr. Er fand sie schnippisch, sie hielt ihn für einen Angeber, der mit dem Geld seines Vaters protzte, was er wiederum als Neid auslegte. Nina hing immer dazwischen und hatte sich angewöhnt, auf die beiderseitigen Kommentare nicht mehr einzugehen, vor allem, weil sie wusste, dass diese Dinge nur vorgeschoben waren. Der wahre Grund für die gegenseitige Antipathie war die kurze Beziehung, die die beiden etwa zwei Jahre zuvor gehabt hatten und die nach einigen Wochen mit großem Geschrei beendet gewesen war.

»Doch, sie holt mi…« Die Türklingel unterbrach sie. Es gab nur einen, der um diese Uhrzeit bei ihr klingelte. »Wart mal kurz – bestimmt der Briefträger.« Nina schwang die Beine von der Couch und ging zur Tür, doch statt des fast immer freundlich lächelnden Dietmar Fuchs stand ein junger Mann in braunem Hemd und brauner Cargohose vor ihr und hielt ihr mit teilnahmsloser Miene ein Päckchen entgegen. Auf seiner Hemdtasche war das Logo von UPS aufgenäht. Dass Nina barfuß in ihrem blau-weiß gestreiften Nachthemd vor ihm stand, schien ihn nicht sonderlich zu überraschen.

»Morgen. Eine Sendung für Sie«, sagte er, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck dabei veränderte. Nina legte das Telefon neben sich auf den Boden und nahm ihm das Päckchen aus der Hand. Es hatte etwa die Maße einer Buchsendung und war dick mit braunem Paketband umwickelt. Der Absender auf einem Aufkleber in der linken oberen Ecke war allerdings ein privater:

Peter Dorscher

Selburgring 17

22111 Hamburg

Weder der Name noch die Adresse sagten ihr etwas. Sie klemmte sich das Päckchen zwischen die Knie, nahm den Plastikstift, der seitlich an dem Gerät baumelte, das der UPS-Mann ihr nun entgegenhielt, und krakelte ihre Unterschrift, so gut es ging, auf das Display.

Auf dem Weg zum Wohnzimmer hatte sie den Hörer wieder am Ohr. »So, da bin ich wieder.« Sie legte das Päckchen auf dem Couchtisch ab und ging zur Balkontür. »War der Paketdienst, ist wahrscheinlich ein Buch, das ich online erstei…«

»Du sollst deine Zeit nicht mit Lesen vertrödeln, sondern mit mir verbringen«, fiel Dirk ihr nörgelnd ins Wort.

»Alles zu seiner Zeit, Süßer, du kommst bestimmt nicht zu kurz. Jetzt mache ich mich jedenfalls mal fertig, sonst stehe ich immer noch im Nachthemd hier, wenn Kerstin gleich klingelt.«

»Soll das etwa heißen, du hast dem Kerl gerade im Nachthemd die Tür geöffnet? Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl, Weib?«

»Du Spinner«, antwortete sie lachend. »Ich leg jetzt auf. Tschüss bis nachher.«

»Na gut, bis später, aber dass mir das nicht noch mal vorkommt, sonst muss ich darauf bestehen, dass du bei mir einziehst, damit ich jeden deiner Schritte kontrollieren kann.« Nina schüttelte den Kopf und beendete das Gespräch.

Es war ein Scherz, aber Dirk hatte sie wenige Wochen zuvor schon einmal gefragt, ob sie sich vorstellen könne, zu ihm zu ziehen. Platz genug war vorhanden, sein Vater hatte ihm zum Studienbeginn eine geräumige und bestimmt sündhaft teure Maisonette-Wohnung in der Hochallee in Harvestehude gekauft, unweit des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, wo Dirk Medizin studierte. Schäfer senior war Inhaber einer Firma, die Kunststoffteile für die Automobilindustrie herstellte, und das Thema Geld schien in Dirks Familie eine eher untergeordnete Rolle zu spielen.

Sie liebte ihn, und im Grunde wünschte sie sich nichts mehr, als mit ihm zusammenzuleben, aber nach gerade mal einem halben Jahr war es ihr einfach noch zu früh, ihre eigene Wohnung und damit auch die Rückzugsmöglichkeit für alle Fälle aufzugeben. Vielleicht, dachte sie, wenn er in ein paar Monaten noch mal fragt …

Nina ging ins Bad, drückte einen Klecks Zahnpasta auf den runden Kopf der elektrischen Zahnbürste und betrachtete sich im Spiegel, während die kleinen, rotierenden Borsten in ihrem Mund ihre Arbeit taten. Die hellblonden Haare fielen ihr noch etwas zerzaust bis auf den Rücken. In Verbindung mit ihren blauen Augen und dem Schimmer aus Sommersprossen, der Nase und Wangen überzog, verleiteten sie immer wieder den einen oder anderen ihrer Kommilitonen dazu, sie zu unterschätzen. Meist passierte das aber nur einmal. Sie beugte sich ein wenig nach vorne, rieb über ihre Nase, die sich den ganzen Winter über permanent geschält hatte, und dachte dabei an Dirk, der diese Stelle so gerne küsste.

Sie schaltete die Zahnbürste ab, spülte sich den Mund aus und ging zurück ins Wohnzimmer. Das Päckchen lag neben der Kaffeetasse auf dem Tisch. Sie nahm beides und ging damit in die Küche, wo sie die Tasse auf der Spüle abstellte und dann ein Messer aus der Schublade holte, mit dem sie das in mehreren Lagen aufgeklebte Paketband durchschnitt. Als sie den oberen Teil des Päckchens aufklappte, fiel ihr Blick auf etwas, das in braunes Packpapier eingewickelt war. Es hätte ein Taschenbuch sein können, doch dafür war es zu leicht. Hastig wickelte sie das Papier ab. Eine Art Leinwand kam zum Vorschein, auf einen Keilrahmen gespannt, wie sie ihn von ungerahmten Gemälden kannte. Doch statt eines gemalten Motivs standen dort nur einige wenige Wörter in handgeschriebenen Druckbuchstaben:

DER LESER

 

Kriminalroman

 

von

Anonymus

Nina verstand nicht, was das bedeuten sollte. Sie drückte das Packpapier in den aufgeklappten Karton auf der Arbeitsplatte und ließ den Blick über das eigenartige Material wandern, das eine ungewöhnlich blasse Farbe und eine unregelmäßige Struktur hatte. Eine Tierhaut? Vielleicht von einem Schwein? Etwas Wertvolles, womöglich Altägyptisches? Nein, oder? Am oberen rechten Rand war ein dunkler, zur Mitte hin erhabener, ovaler Punkt von vielleicht einem Zentimeter Durchmesser. Sie hielt den Rahmen etwas schräg und hob ihn ein Stück höher, um diesen Punkt genauer betrachten zu können. Dabei bemerkte sie, dass von der Rückseite einige Fetzen herabhingen. Als sie den Keilrahmen umdrehte und neben den Klammern, mit denen die Schreibfläche auf den Rahmen getackert worden war, die ausgefransten Ränder mit dunkelroten, kleinen Klümpchen sah, begann ihr zu dämmern, worum es sich handelte. Schemenhaft noch, und in der Überzeugung, dass sie sich irrte, sich irren musste. Und doch schon klar genug, um wie das noch entfernte, dumpfe Grollen eines schweren Gewitters eine Woge des Entsetzens in ihr zu erzeugen.

Mit spitzen Fingern drehte Nina den Rahmen wieder um, und als sie den dunklen Punkt nun genauer betrachtete, wurde aus der Ahnung im Bruchteil einer Sekunde Gewissheit. Mit einem Schrei warf sie das Ding auf die Arbeitsplatte und schlug sich die zitternden Hände vor den Mund.

Dieser dunkle Punkt konnte ein etwas in die Länge gezogener Pigmentfleck sein. Bei dem Material, das jemand als Titelseite eines Romans benutzt hatte, und an dessen Rändern noch kleine Fleischstückchen hingen, handelte es sich offenbar tatsächlich um Haut. Und sie stammte nicht von einem Tier.

2

»Guten Tag. Frau Nina Hartmann?«

»Ja.«

»Sie haben uns angerufen wegen eines Päckchens, das Sie bekommen haben. Ein …« – der Uniformierte warf einen Blick auf einen Zettel, schaute stirnrunzelnd zu seinem Kollegen –, »… ein Rahmen, der mit einem seltsamen Material bespannt ist … vielleicht Haut. Und auf dem irgendein Text steht?«

Nina nickte, und sie kam sich plötzlich albern vor. Jetzt, da diese beiden Polizisten vor ihr standen, erschien ihr die ganze Situation vollkommen verrückt, geradezu irreal. Sie hatte sich wahrscheinlich zu viele dieser blutrünstigen Thriller zusammen mit Dirk angeschaut. Eine Botschaft auf Menschenhaut? Mitten in Hamburg, verschickt an eine Studentin? Hatte sie den Verstand verloren? Warum hatte sie nur auf Dirk gehört, sich von ihm drängen lassen, die Polizei zu alarmieren? Was, wenn sich das Ganze als dummer Scherz herausstellte? Vielleicht sogar von Dirk selbst? Aber nein, er hatte zwar manchmal die verrücktesten Einfälle, doch so weit würde er nicht gehen. Hoffte sie zumindest.

»Können wir das bitte mal sehen, Frau Hartmann?«

»Ja, bitte, kommen Sie rein.«

Nina wandte sich ab, und die Männer folgten ihr in ihre kleine, helle Küche, wo der seltsame Rahmen noch immer auf der Arbeitsplatte neben dem Herd lag. Sie hatte ihn so hingeworfen, dass die Schrift auf dem Kopf stand.

Der ältere der beiden Polizisten neigte den Kopf zur Seite, um die Wörter lesen zu können, zog dann einen Kugelschreiber aus der Jackentasche, schob die Spitze vorsichtig unter den Rahmen und hob ihn damit ein Stück an.

»Haben Sie das Ding angefasst?«

»Ja, natürlich, ich hab es doch ausgepackt.«

»Klar, aber ich meine, Sie haben es doch hoffentlich nicht überall angefasst? Dabei könnten Sie alle Spuren verwischt haben. Wenn welche da sind.«

»Nein, als ich … als ich gesehen habe, was es ist, habe ich es da hingelegt und nicht mehr angefasst. Wenn das wirklich … Gott …«

Nachdem der Beamte in gebückter Haltung die Unterseite betrachtet hatte, richtete er sich wieder auf und drehte den Rahmen so weit, dass er die Schrift lesen konnte. »Offenbar tatsächlich so was wie eine Geschichte. Also der Anfang von einem Roman oder so. Verrückt … Sieht komisch aus von unten. Schau’s dir mal an«, sagte er zu seinem Kollegen, und an Nina gewandt: »Wie war dieses Ding eingepackt? Damit?« Er zeigte auf das Paket mit dem zusammengedrückten Papier darin, und Nina nickte.

»Peter Dorscher? Kennen Sie jemanden, der so heißt?«

»Nein.«

»Hm …« Er warf einen erneuten Blick auf den Deckel. »Selburgring, nie gehört. Kennen Sie vielleicht diese Straße?« Wieder verneinte Nina.

Der andere Beamte war mit der Begutachtung des Rahmens fertig. »Soll ich eine Tüte holen?«

»Ja, die Biologen können sich das mal ansehen.«

»Was denken Sie, was das sein könnte?«, fragte Nina vorsichtig. »Ich meine, dieses Material.«

»Ich weiß es nicht, Frau Hartmann, aber Sie haben recht, merkwürdig sieht das schon aus. Vor allem auf der Rückseite, an den Rändern. Scheint noch ziemlich … frisch zu sein. Vielleicht Schweinehaut. Und Sie haben keine Vorstellung, wer Ihnen das geschickt haben könnte?«

»Nein.«

»Haben Sie vielleicht jemanden im Bekanntenkreis, der Krimis schreibt oder so?«

»Nicht, dass ich wüsste. Und selbst wenn – warum sollte jemand mir so was schicken? Auf einen Rahmen gespannt? Ich meine …«

»Wir erleben die verrücktesten Dinge. Vielleicht eine Werbemaßnahme? Guerilla-Marketing oder wie das heißt. Mal was ganz Ausgefallenes: Krimi auf Schweineleder oder so.«

Sein Kollege kam zurück, in der Hand eine große Papiertüte und mehrere Gummihandschuhe. Er legte die Tüte auf der Arbeitsplatte ab, streifte sich die Handschuhe über, packte den Rahmen am äußeren Rand vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger an, während sein Kollege die Tüte aufhielt. Nina sah ihnen verwundert dabei zu. »Ich dachte immer, diese Tüten müssen aus Plastik sein?«

»Das sind Märchen aus dem Vorabendprogramm.« Der Polizist bugsierte den Rahmen vorsichtig in die Öffnung. »In einer Plastiktüte, und dann noch luftdicht verschlossen, da würden Fingerabdrücke schlecht werden.«

»Wann werden Sie wissen, was es ist?«

»Heute ist Samstag. Da wird in den Laboren normalerweise nicht gearbeitet. Wir geben das jetzt auf dem Präsidium beim Kriminaldauerdienst ab, die werden dann entscheiden, ob sie die Bereitschaft der Biologen anrufen oder ob das Ding bis Montag liegen bleibt. Sie werden informiert, sobald wir was wissen. Aber ich gehe mal davon aus, dass sich das Ganze als harmlos herausstellen wird, das ist meistens so.«

3

Stephan Erdmann fand Andrea Matthiessen in den Strahlen der tiefstehenden Aprilsonne vor einem Beet kniend, als er ihren kleinen Garten betrat. Sie stützte sich mit der linken Hand auf einem sandigen Stück zwischen zwei Sträuchern auf dem Boden ab, hatte sich weit vornübergebeugt und zupfte mit der behandschuhten Rechten welke Blätter ab. Erdmann war durch den Vorgarten gegangen, nachdem sich auf sein Klingeln hin nichts geregt hatte. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, als er unmittelbar hinter ihr stehen blieb und sagte: »Welch ein außergewöhnlicher Anblick.«

Matthiessen zuckte zusammen und wäre fast vornüber in die Sträucher gekippt, konnte sich aber im letzten Moment noch mit der freien Hand abfangen. Wütend sah sie zu ihm hoch. »Herr Erdmann! Was soll das? Sind Sie verrückt geworden, sich an mich heranzuschleichen?«

»Die Frau Hauptkommissarin auf allen vieren …« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich Ihnen helfen?«

Matthiessen ignorierte seine Hand. Mit einem Schwung, der eher zu einer Mittzwanzigerin als zu einer Frau Anfang vierzig gepasst hätte, richtete sie sich auf und blitzte ihren neuen Partner kampfeslustig an. »Falls Sie sich für witzig halten – Sie sind es nicht. Was wollen Sie hier, und was fällt Ihnen überhaupt ein, in mein Privatleben einzudringen?«

Erdmann sah ihr dabei zu, wie sie das Haargummi löste, sich einige dunkle Strähnen aus dem Gesicht strich und die langen Haare wieder zu einem Pferdeschwanz band, bevor er antwortete.

»Der PvD hat versucht, Sie zu erreichen, und weil Sie nicht ans Telefon gegangen sind, hat er mich angerufen. Ich habe ihm gesagt, überhaupt kein Problem, ich bin selbstverständlich immer dienstbereit.« Er machte eine kurze Pause, in der er den fassungslosen Ausdruck auf ihrem Gesicht genoss. »Ihr Wagen steht vor der Tür, und als Sie nicht aufgemacht haben, dachte ich, ich schau mal im Garten nach. Und siehe da, ich finde Sie auf Knien.«

Auf Matthiessens Stirn zeigten sich deutliche Falten, und für einen kurzen Moment sah es so aus, als wolle sie auf ihn losgehen, doch dann stockte sie und fasste sich mit einer hastigen Bewegung hinten an den Gürtel ihrer Jeans, wo in einer kleinen Ledertasche ihr Mobiltelefon steckte. Sie zog es heraus und drückte nach einem Blick auf das Display ein paarmal auf eine Taste, ehe sie es mit einem resignierten Seufzer sinken ließ. Ihrem Gesicht war das schlechte Gewissen deutlich anzusehen. »Leer.«

Er hatte Matthiessen zwar schon öfter gesehen und hier und da auch schon mal flüchtig gegrüßt, aber erst seit drei Tagen arbeitete Erdmann mit ihr in der Besonderen Aufbauorganisation Heike, kurz BAO Heike, zusammen, die nach dem Verschwinden von Heike Kleenkamp gebildet worden war. Die 21-jährige Tochter des Herausgebers der Hamburger Allgemeinen Tageszeitung war am Dienstagabend nach einem Kneipenbesuch nicht nach Hause gekommen. Am Mittwochvormittag hatte Dieter Kleenkamp seinen Freund, den Hamburger Polizeipräsidenten, angerufen, der vorsorglich den Leiter des LKA4, Kriminalrat Jan Eckes, davon in Kenntnis setzte, auch wenn man zu einem so frühen Zeitpunkt noch keinen direkten Handlungsbedarf sah, solange es keine Hinweise auf eine Straftat gab. In den allermeisten Fällen tauchten gerade junge Menschen im Alter zwischen 15 und 25 nach einem Tag wieder gutgelaunt auf, nachdem sie bei Freunden übernachtet oder eine lange Party gefeiert hatten, und wunderten sich über die Panik, die in ihrem Umfeld ausgebrochen war. In diesem Fall gab es jedoch eine Freundin, die Heike auf dem Nachhauseweg begleitet und sich erst ein paar hundert Meter vor dem Haus der Familie Kleenkamp von ihr verabschiedet hatte. Sie hatte Heikes Vater erzählt, seine Tochter sei sehr müde gewesen und habe gleich ins Bett gewollt. Dass es sich bei der verschwundenen jungen Frau um die Tochter des Herausgebers der zweitgrößten Hamburger Tageszeitung und persönlichen Freundes von Polizeipräsident Reimann handelte, gab der ganzen Sache eine zusätzliche Brisanz. Als am frühen Mittwochnachmittag dann eine Frau, die nur zweihundert Meter entfernt in der gleichen Straße wohnte, an der Haustür der Kleenkamp’schen Stadtvilla geklingelt und der Haushaltshilfe Heikes Tasche samt Portemonnaie, Führerschein und Personalausweis entgegengehalten hatte, die sie in der Hecke vor ihrem Haus gefunden hatte, wurde nur wenige Stunden später die BAO Heike unter der Leitung des Ersten Kriminalhauptkommissars Georg Stohrmann gegründet, der neben sechs weiteren Beamten auch Hauptkommissarin Andrea Matthiessen als Stohrmanns Stellvertreterin und er, Stephan Erdmann, angehörten.

Das war nun drei Tage her, lange genug, ihn zu der Überzeugung kommen zu lassen, dass Andrea Matthiessen die wohl pedantischste Polizistin war, die ihm je begegnet war. Sie war humorlos, trank offenbar niemals Alkohol, und wenn sie ihre Nase nicht in Dienstvorschriften steckte oder ihren männlichen Kollegen sagte, wie sie sich zu benehmen hatten, rannte sie im Wald herum oder aß irgendwelches gesundes Zeug. Sie ging ihm auf die Nerven, zumal sie ranghöher war als er und ihn das deutlich spüren ließ.

Dass der Polizeiführer vom Dienst sie nicht erreichen konnte, weil die perfekte Frau Hauptkommissarin vergessen hatte, ihr Handy aufzuladen, gefiel ihm beinahe.

»Das ist mir ja noch nie passiert. Peinlich. Worum geht’s? Heike Kleenkamp?«

»Ja. Wir sollen reinkommen. Stohrmann ist auch schon da. Der PvD sagte, es ist was Merkwürdiges aufgetaucht, offenbar ein Hinweis. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Ich bin in zwei Minuten fertig, ich ziehe mir nur schnell was anderes an.« Sie ließ ihn stehen und verschwand durch die Terrassentür im Haus.

Erdmann versuchte, von seinem Platz aus einen Blick durch das große Fenster ins Innere zu erhaschen. Er hätte zu gerne gesehen, wie diese Frau wohnte, aber die Sonne spiegelte sich in der Scheibe, so dass er nichts erkennen konnte. Außerdem stand er auch zu weit vom Fenster entfernt. Wahrscheinlich war ihr Wohnzimmer im Biedermeier-Stil eingerichtet, passen würde es zu ihr. Er sah sich in dem kleinen, noch winterlich, aber gepflegt aussehenden Garten um, ließ den Blick über die Rückseite des weißen Einfamilienhauses wandern und setzte sich dann in Bewegung, auf die Terrasse mit der großen Scheibe zu. Vielleicht konnte er ja doch einen Blick – Er konnte nicht, denn noch bevor er den Rand der beigen Terrassenplatten erreicht hatte, stand Matthiessen schon wieder in der Tür. Sie trug nun eine schwarze Jeans und einen engen beigefarbenen Pullover mit V-Ausschnitt. Über dem Arm hatte sie eine braune Lederjacke hängen. Erdmann stellte widerwillig fest, dass diese Sachen ihre sportliche Figur betonten und sie ganz passabel aussah.

»Sie stehen ja immer noch hier rum«, sagte sie und schüttelte den Kopf, als könne sie es nicht glauben. »Denken Sie, ich lasse die Terrassentür offen stehen? Gehen Sie nach vorne, ich komme zur Haustür raus.« Und während sie sich schon umdrehte, fügte sie hinzu: »Ab und zu ist es auch für einen Oberkommissar erlaubt, mitzudenken.«

Erdmann fühlte Ärger in sich aufsteigen, und er fragte sich, ob das wirklich nur an Matthiessens Bemerkung lag. Er verließ den Garten wieder über den schmalen Weg neben dem Haus und kam gleichzeitig mit ihr vorne an. Sie ging zielstrebig auf den silbernen Golf aus dem Fahrzeugpool des LKA zu, den sie fuhr, seit Erdmann mit ihr zusammenarbeitete. »Kommen Sie, wir nehmen meinen.« Mit dem Kopf deutete sie zum Straßenrand, wo Erdmanns schwarzer Passat stand. »Den können Sie da stehen lassen, ich setze Sie später wieder hier ab.«

Erdmann steuerte auf die Beifahrerseite des Golf zu, doch bevor er den Wagen erreicht hatte, war Matthiessen schon dort eingestiegen. Von wegen, ich setze sie später wieder hier ab – die Frau Hauptkommissarin lässt sich in ihrem Wagen von mir chauffieren, dachte er und ignorierte dabei die Tatsache, dass es durchaus üblich war, dass der Dienstrangniedrigere fuhr. Während er den Fahrersitz in die richtige Position brachte, stellte er sachlich fest, dass er sich über Matthiessen geradezu ärgern wollte.

»Ein Wort noch zu unserer Zusammenarbeit, Herr Erdmann«, sagte sie mit ruhiger Stimme, als er von ihrer Einfahrt auf die Straße abbog.

Ah, jetzt kommt’s! Er warf einen schnellen Blick zu ihr hinüber, wobei er versuchte, ein unschuldiges Grinsen aufzusetzen.

»Mir ist klar, dass Sie mich nicht sonderlich mögen, und ich kann Ihnen versichern, dass mir das herzlich egal ist. Ich habe mich nicht darum gerissen, in diese BAO zu kommen, aber man hat an höherer Stelle so entschieden, auch, dass wir zusammenarbeiten, und zwar an einer Sache, bei der es im schlimmsten Fall um ein Menschenleben geht. Dabei ist kein Platz für Machtspielchen oder so was. Vielleicht denken Sie ja, es genügt, in teuren Markenklamotten herumzulaufen, um wie ein Chef auszusehen. Dem ist nicht so.« Wie zur Unterstreichung ließ sie ihren Blick über seine Designerjeans, das hellgraue Markenpoloshirt und das teure, anthrazitfarbene Sakko wandern, das er trug. »Ich habe die größere Erfahrung und den höheren Dienstrang, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das ein für alle Mal akzeptieren könnten und sich Ihre spitzen Bemerkungen und kleinen Gesten zumindest in meiner Gegenwart sparen würden. Fassen Sie das als ernstgemeinte Bitte auf. Dieses Mal noch.«

Erdmann musste an einer Kreuzung anhalten und sah wieder zu seiner Kollegin. Einem Impuls folgend wollte er ihr sagen, was er von ihr und ihrer Erfahrung hielt und wo sie sich ihre Dienstvorschriften und ihr rechthaberisches Getue hinstecken konnte. Und dass die Tatsache, dass er Wert auf sein Äußeres legte und nicht in Billigklamotten herumlief, rein überhaupt nichts mit seiner Qualifikation als Kriminalbeamter zu tun hatte. Aber er machte sich im gleichen Moment bewusst, dass sie ihm ziemliche Schwierigkeiten machen konnte, ob ihm das nun gefiel oder nicht, und dass bis auf die Sache mit seiner Kleidung das, was sie gesagt hatte, zudem stimmte. Sie arbeiteten zusammen, und es kam nicht darauf an, dass sie sich besonders mochten, sondern dass sie die junge Frau finden und – sollte sie tatsächlich entführt worden sein – hoffentlich vor Schlimmerem bewahren konnten. Auch wenn er nicht verstand, warum man ihm Matthiessen vor die Nase gesetzt hatte, war er doch mit 38 nur vier Jahre jünger und hatte selbst Erfahrung genug, um diesen Fa…

»Also, Herr Erdmann, wie sieht es aus?«, unterbrach sie seine Gedanken und sah ihn offen an.

Er legte den Kopf ein wenig schräg und schürzte die Lippen, so, als hätte sie einen Vorschlag gemacht, über den er erst nachdenken musste. Schließlich nickte er. »Gut, konzentrieren wir uns auf den Fall.« Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Straße frei war, fuhr er los. Er fühlte sich ganz gut.

Recht gegeben hatte er ihr nicht.

I

Tage zuvor

Als sie zu sich kam, stand ihr Rücken in Flammen. Als hätte sie mit dem Öffnen der Augen einen wahnsinnigen Mechanismus in Gang gesetzt, trug ihr Puls augenblicklich die unerträglichen Schmerzen von der Stelle unterhalb ihrer linken Schulter in bizarrem Rhythmus über ihren Rücken und jagte den Schmerz von dort mit unglaublicher Brutalität durch ihren gesamten Körper.

Sie lag auf dem Bauch, auf einer schmalen Unterlage, so schmal, dass die Arme links und rechts herabhingen. Irgendwo unter ihr waren sie gefesselt. Auch die Beine konnte sie kaum bewegen, etwas um ihre Fußgelenke hielt sie fest.

Sie wusste nicht, seit wann sie so dalag, sie hatte auch keine Vorstellung davon, wie oft sich ihr Bewusstsein in die gnädige Schwärze zurückgezogen hatte, um dann wiederzukehren in diese Welt aus Schmerz und Kälte. Und wahnsinnig machender Angst.

Zeit war zu einem bedeutungslosen Begriff geworden. Sie wollte schreien, nein, sie musste schreien, doch aus ihrem Mund rieselte nur ein Krächzen wie ein welkes Blatt, das zwischen ihren aufgeplatzten Lippen zerbröselt war. Erneut wurde sie überrannt von dieser Panik, die so grauenvoll war, dass sie keinem gesunden Verstand entsprungen sein konnte. Ihre Kehle schnürte sich zu, das Atmen fiel ihr immer schwerer, wurde fast unmöglich … Ächzend riss sie den Kopf nach oben, so weit es ging, ihr ganzer Körper bäumte sich zuckend auf in einer Mischung aus panischer Gier nach Sauerstoff und einer Explosion der Schmerzen. Bis eine Stimme aus einem letzten, geschützten Bereich ihres Bewusstseins ihr sagte, dass sie sich beruhigen musste, weil es die Angst war, die ihr die Luft abdrückte. Sie verharrte, spürte, dass ihr das Atmen wieder etwas leichter fiel, und ließ dann den Kopf sinken, langsam, weil die Bewegung höllisch weh tat.

Als ihre Wange wieder auf dem harten Untergrund lag, starrte sie leise wimmernd in die Dunkelheit. Sie war nicht mehr fähig, in Worten zu denken, und so produzierte ihr Verstand Bilder ihrer Mutter. Ihrer Mama. Aus dem Wimmern wurde Weinen, vor Verzweiflung, vor Schmerz.

Das knarzende Geräusch der Tür ließ sie augenblicklich verstummen. Sie erstarrte, den Blick auf die brüchige Backsteinwand neben sich gerichtet, die von dem schwachen Lichtschein aus der Dunkelheit geschält wurde und ihr gesamtes Gesichtsfeld einnahm. Sie lauschte panisch, suchte hinter sich, in den Bereich ihres Gefängnisses hinein, den sie nicht sehen konnte, nach dem Geräusch von Schritten, und hörte nur den schneller werdenden Rhythmus ihres eigenen Atems. Sie hielt die Luft an und spürte ihren Herzschlag von innen gegen das Trommelfell hämmern. Sie klammerte sich an die irrwitzige Hoffnung, dass dieses Monster nur nach ihr sehen wollte. Ihr nicht mehr weh tun wollte. Keine Schmerzen mehr, nur keine neuen Schmerzen mehr. Wo war ihre Mutter hin? Gerade war sie doch noch da gewesen, sie –

Das Schnaufen. Da war es wieder, über ihr.

4

Für die Fahrt zum Präsidium am Bruno-Georges-Platz brauchten sie knappe zwanzig Minuten, die sie größtenteils schweigend zurücklegten. Erdmann stellte den Wagen auf dem Parkplatz neben dem Haupteingang ab, bog den Rückspiegel so, dass er sich darin sehen konnte, kontrollierte mit schnellem Blick die kurzen schwarzen Haare und bleckte die Zähne. Er hasste es, auch nur den kleinsten Krümel zwischen den Zähnen hängen zu haben, und kontrollierte das mehrmals täglich. Dann stieg er aus und gab Matthiessen den Schlüssel, schließlich hatte sie für den Golf unterschrieben.

Stohrmann saß mit dem Polizeiführer vom Dienst, Hauptkommissar Dietmar Thevis, an dem großen Tisch im Einsatzraum der BAO Heike, als sie hereinkamen. Die beiden Männer sahen von mehreren Fotos auf, die sie zwischen sich auf dem Tisch ausgebreitet hatten. Neben dem schlanken, durchtrainierten Thevis wirkte der Leiter der BAO eher wie ein behäbiger Verwaltungsbeamter: Georg Stohrmann war nicht dick, etwas füllig vielleicht – Erdmann schätzte ihn auf 90 bis 95 Kilo bei einer Größe von 1,85 Meter –, aber alles an ihm schien schlaff und untrainiert zu sein. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch seine blasse Haut und den dunklen Haarkranz, der die kreisrunde Glatze eingrenzte. Er sah älter aus als 48, und seine Bewegungen waren genauso behäbig, wie es sein Erscheinungsbild vermuten ließ. Einzig seine hellgrauen Augen wollten nicht zu seiner sonstigen Erscheinung passen. Sie wirkten hochkonzentriert, schienen alles und jeden zu fixieren und im gleichen Atemzug zu analysieren. Erdmann beschlich jedes Mal ein unangenehmes Gefühl, wenn Stohrmann ihn ansah. Es war, als könne er in seinen Kopf blicken oder würde es zumindest versuchen.

»Guten Tag«, begrüßte KHK Stohrmann sie und sah Matthiessen an. »Was war los? Warum konnte der PvD Sie nicht erreichen?«

»Der Akku meines Handys war leer, tut mir leid.« Man konnte deutlich sehen, wie peinlich es ihr war.

Stohrmann nickte. »Der Akku, verstehe. Das ist natürlich ungünstig, wenn man als stellvertretende Leiterin einer BAO an einem frischen Fall arbeitet und nicht zu Hause ist. Und noch ungünstiger ist es, wenn man die Verantwortung für den kompletten Außendienst der BAO trägt, weil der Leiter sich um die Organisation und den Innendienst kümmert und damit weiß Gott genug zu tun hat.«

»Aber ich war zu Hause, den ganzen Tag.«

»Ich habe auch versucht, Sie übers Festnetz zu erreichen, Frau Matthiessen«, schaltete der PvD, Hauptkommissar Thevis, sich ein.

»Ich war ab dem frühen Nachmittag im Garten, da habe ich das Telefon wohl nicht gehört.«

»Na ja, letztendlich hat ja Oberkommissar Erdmann dafür gesorgt, dass Sie jetzt hier sind.« Bevor Matthiessen noch etwas entgegnen konnte, deutete Stohrmann auf die Stühle gegenüber. »Setzen Sie sich bitte, sieht so aus, als käme Bewegung in den Fall.« Stohrmann schob die Fotos über den Tisch zu ihnen herüber. »Schauen Sie sich das hier mal an.«

Erdmann zog eines der Fotos zu sich heran und beugte sich ein Stück nach vorne, weil die Deckenlampe sich so auf der glänzenden Oberfläche spiegelte, dass er nichts erkennen konnte. Kriminalroman? Anonymus? Er verstand nicht, was das mit Heike Kleenkamps Verschwinden zu tun haben sollte. Er sah zu Andrea Matthiessen. Das Foto, das sie vor sich liegen hatte, zeigte die Rückseite eines Rahmens. Die Ränder des aufgespannten Materials waren mit Tackerklammern auf dem Holz befestigt und sahen seltsam aus. Unappetitlich war das Wort, das ihm zuerst dazu einfiel.

»Wenn Sie sich fragen, was das mit der Kleenkamp-Tochter zu tun hat«, sagte Stohrmann, »dann schauen Sie sich mal die Nahaufnahme der rechten oberen Ecke an.«

Matthiessen zog die besagte Aufnahme zwischen den restlichen heraus und legte sie so, dass auch Erdmann sie sehen konnte. Der machte aus unappetitlich ein ekelhaft, als er die dunklen Bröckchen sah, die an einigen Stellen am Rand des Materials hingen, bei dem es sich ziemlich sicher um eine noch recht frische Tierhaut handeln musste. »Ist das ein Stempel? Oder eine Tätowierung?«, fragte Matthiessen neben ihm, was seinen Blick auf eine Stelle des Fotos lenkte, an der etwas Rotes auf dem umgeschlagenen und festgetackerten Rand zu sehen war. Es sah tatsächlich aus wie ein kleiner Teil einer Tätowierung, jedoch ohne dass Erdmann hätte erkennen können, was es darstellen sollte.

»Ich denke schon«, bestätigte Stohrmann und wartete einen Moment. »Und?«

Erdmann sah Matthiessen dabei zu, wie sie sich das Foto dicht vor die Augen hielt. »O Gott … das könnte … eine Rose?«

Stohrmann nickte. »Wir halten es für möglich. Der Kollege Thevis hat den Biologen aus der Bereitschaft alarmiert. Der hat das Ding schon im Labor auf dem Tisch. Außerdem haben wir einen Schriftexperten drangesetzt.«

Erst bei der Erwähnung der Rose erinnerte Erdmann sich an die Beschreibung, die Dieter Kleenkamp von seiner Tochter abgegeben hatte. Eine Tätowierung, auf dem linken Schulterblatt. Eine rote Rose. »Mist.« Er starrte auf die Fotografie, die seine Kollegin vor sich auf dem Tisch abgelegt hatte. »Wie groß ist dieses Ding?«

»Etwa sechzehn Zentimeter lang und zwölf breit.« Thevis deutete die Ausmaße mit den Händen an. »Stark gedehnt und, soweit ich das beurteilen kann, auch irgendwie chemisch behandelt, vielleicht konserviert.«

»Und wo kommt das her?«

Matthiessen hatte Thevis angesprochen, aber KHK Stohrmann antwortete: »Es wurde per UPS-Paket verschickt, an eine Studentin. Nina irgendwas, Geschwister-Scholl-Straße, Eppendorf. Fahren Sie hin und reden Sie mit ihr. Versuchen Sie rauszufinden, warum gerade sie dieses Paket bekommen hat. Irgendeine Verbindung muss es ja geben. Es stand ein Absender auf dem Paket, aber der ist erfunden, in Hamburg gibt’s weder den Namen noch die Straße.« Er schob eine Klarsichthülle über den Tisch zu ihnen herüber, in der einige Blätter steckten. »Hier, der Bericht der Kollegen, die das Ding bei ihr abgeholt haben.« Matthiessen zog die Hülle ganz zu sich heran und warf einen flüchtigen Blick darauf. »Gibt es sonst noch was? Einen Brief? Eine Forderung?«

»Wenn es eine Forderung geben würde, hätte ich Ihnen das sicher schon gesagt, oder, Frau Matthiessen?«

»Ja, das hätten Sie wohl.« Sie stand auf, Erdmann griff sich die Klarsichthülle. »Können wir los?«

Als sie auf den Golf zugingen, hielt Matthiessen ihrem Kollegen den Schlüssel hin. »Ich möchte mir während der Fahrt den Bericht ansehen.« Erdmann nahm den Schlüssel an sich und reichte ihr dafür die Klarsichthülle.

Sie nannte ihm die Adresse, zog ihr Handy aus der Gürteltasche und hängte es an das lange Ladekabel, das im Zigarettenanzünder steckte. Erdmann warf immer wieder einen schnellen Blick zur Seite, während er den Wagen durch den dichten Verkehr manövrierte. Er sah, wie Matthiessen eine Nummer eintippte, die sie von einem der Blätter auf ihren Oberschenkeln ablas. Nach einer Weile sagte sie: »Niemand da«, gab eine andere Nummer ein und hielt sich das Gerät wieder ans Ohr. Diesmal hatte sie mehr Glück, denn nur Sekunden später sagte sie: »Guten Tag, Frau Hartmann, Hauptkommissarin Andrea Matthiessen hier, ich rufe Sie an wegen dieses Pakets, das Sie heute Morgen bekommen haben … Ja, genau … Ich bin – Nein, ich bin mit einem Kollegen auf dem Weg zu Ihnen, wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.« Kurze Pause, dann: »Ah, verstehe, ich habe eben schon versucht, Sie über Festnetz zu erreichen … Eine Feier? Hm … dürfen wir Sie trotzdem kurz stören? Es wird bestimmt nicht lange dauern, aber es ist sehr wichtig … Wo, Hochallee? Ja … in Harvestehude, gut. Und der Name Ihres – Schäfer? Dirk Schäfer, in Ordnung. Wir sind etwa in einer Viertelstunde da. Bis gleich.« Matthiessen ließ das Telefon sinken. »Sie ist bei ihrem Freund. Wir müssen in die Hochallee.«

»Ja, ich hab’s mitbekommen. Steht in dem Bericht eigentlich was davon, ob sie eine Idee hat, warum dieses Paket ausgerechnet an sie geschickt wurde?«

»Das kann ich Ihnen sagen, wenn ich den Bericht gelesen habe. Ich könnte jetzt damit anfangen, während Sie uns nach Harvestehude fahren.«

Klugscheißerische Zicke, dachte er und hätte eine passende Bemerkung für sie parat gehabt, die er sich aber verkniff. Stattdessen starrte er angestrengt auf den Verkehr vor sich. Kein Wunder, dass KHK Stohrmann sie nicht mochte. Wenn sie sich ihm gegenüber ähnlich benahm … Warum aber hatte er sie dann in die BAO geholt und sie sogar zu seiner Stellvertreterin gemacht? Das war doch völlig unlogisch. »Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?« Sein Blick war noch immer starr nach vorne gerichtet, und er hätte sich im gleichen Moment auf die Zunge beißen können, weil er ahnte, wie sie darauf reagieren würde.

»Ich lese, Herr Erdmann«, sagte sie auch prompt, ohne dabei von dem Blatt aufzusehen, das sie in Händen hielt. Nur Sekunden später aber atmete sie geräuschvoll aus und sah ihn an. »Also los, fragen Sie.«

»Es geht um Stohrmann. Kennen Sie ihn schon länger?«

Sie zögerte, kurz nur, aber Erdmann bemerkte es. »Warum möchten Sie das wissen?« Ein schneller Blick zeigte ihm, dass sie die Brauen hochgezogen hatte, so dass sich auf ihrer Stirn Falten bildeten.

»Warum antworten Sie mit einer Gegenfrage?«

Wieder zögerte sie, dieses Mal jedoch deutlich länger. »Ja, wir kennen uns schon einige Zeit, etwa zehn Jahre. Es interessiert mich aber trotzdem, warum Sie das wissen wollen.«

Erdmann zuckte mit den Schultern. »Ach, nur so, immerhin ist er der Leiter der BAO. Wie ist er so?«

»Wie er so ist? Herr Erdmann, ich werde mit Ihnen sicher nicht über einen Vorgesetzten reden. Und nun würde ich gerne den Bericht weiterlesen, wenn Sie erlauben.«

II

Zuvor

»Bitte«, flüsterte sie und erschrak darüber, »können Sie bitte … bitte tun Sie mir nicht mehr weh. Ich –« Sie musste anfallartig weinen, ihr Körper krampfte sich zusammen, sie schrie auf. Sie verstummte.

Das Schnaufen. Es war jetzt wieder ganz nah an ihrem Ohr. Ein Flüstern, so leise, dass sie es kaum verstand, so grauenvoll, dass sie erstarrte: »Kapitel eins.«

5

Sie saßen Nina Hartmann an einem runden Esstisch gegenüber.

Um sie herum herrschte ein heilloses Durcheinander. Überall in dem großen, modern eingerichteten Wohnzimmer waren Teppiche zusammengerollt und Möbel zusammengeschoben worden. Auf einem Tisch an der Längswand stand eine Armee von Gläsern, daneben leere Schüsseln in verschiedenen Größen. Die Vorbereitungen für die Party waren augenscheinlich in vollem Gange.

Rechts und links von Nina Hartmann hatten Dirk Schäfer, dem die sicher sündhaft teure Wohnung gehörte, und dessen Freund Christian Zender Platz genommen und blickten ihnen erwartungsvoll entgegen. Nina Hartmann hatte die beiden vorgestellt, als Matthiessen und er angekommen waren. Schäfer wirkte mit seinen bis über die Ohren reichenden hellblonden Haaren und der markanten Kinnpartie auf Erdmann wie ein Sunnyboy aus Kalifornien. Er war über eins achtzig groß und schlank. Christian Zender war das genaue Gegenteil. Ein gutes Stück kleiner und hager, das längliche Gesicht dominiert von einer randlosen, eckigen Brille mit extrem dicken Gläsern. Wie zwei kleine Glasbausteine, die durch einen Draht in der Mitte verbunden waren, ließen sie seine Augen übernatürlich groß wirken, was ihm ein latent irres Aussehen verlieh.

Die beiden jungen Männer hatten Bierflaschen vor sich stehen, und Erdmann hatte das Gefühl, dass es nicht die ersten an diesem Nachmittag waren. Ninas Freund hatte ihnen etwas angeboten, aber sowohl Matthiessen als auch er hatten dankend abgelehnt.

Erdmann betrachtete die Studentin, die nervös auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und sich immer wieder Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Sie war eine attraktive junge Frau, wie er fand, mit einem nicht puppenhaft hübschen, aber doch interessanten Gesicht. Er war gespannt, wie Matthiessen vorgehen würde, und überlegte sich, dass er mit den jungen Leuten wahrscheinlich erst ein wenig locker plaudern würde, um Nina Hartmann die Nervosität und vielleicht auch die Angst zu nehmen, plötzlich in etwas hineingezogen zu werden.

»Frau Hartmann, Sie wissen, es geht um das Päckchen, das Sie heute Morgen bekommen haben.« Matthiessen wirkte ruhig und sachlich, fast schon kühl, so, wie er es auch von ihr erwartet hatte. »Wir müssen als Erstes versuchen herauszufinden, warum dieses Päckchen ausgerechnet an Sie gegangen ist.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf den Bericht, den sie mitgebracht und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. »In dem Bericht der Kollegen von heute Morgen steht, Sie haben keine Idee, wer Ihnen das geschickt haben könnte?«

»Haben Sie schon geklärt, um was es sich bei diesem … Ding überhaupt handelt?«, fragte Schäfer, bevor seine Freundin antworten konnte. »Haben Sie vielleicht Fotos dabei? Ich würde dieses Ding gern mal sehen.«

»Das Ding ist im Moment bei den Biologen im Labor«, sagte Erdmann knapp. »Fotos haben wir keine hier.« Er wandte sich demonstrativ wieder Nina Hartmann zu. »Kennen Sie eine Frau namens Heike Kleenkamp?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Wer ist das?«

Erdmann sah Matthiessen an, die zu einer Erklärung ansetzte. »Heike Kleenkamp ist wahrscheinlich am Dienstagabend entführt worden. Sie ist die Tochter …«

»… von Dieter Kleenkamp«, fiel Zender ihr ins Wort. »Mister Tageszeitung himself, der Typ ist steinreich. Also, wenn ich jemanden entführen wollte, würde ich mir auch die kleine Kleenkamp aussuchen. Reich und ziemlich lecker. Pecunia non olet – Geld stinkt nicht.« Beifallheischend grinste er Schäfer an, der aber keine Reaktion zeigte, wofür seine Freundin ihm einen dankbaren Blick schenkte.

»Die Kleine ist 21 Jahre alt.« Matthiessens Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was sie von Zenders Erklärungen hielt. »Wenn sie entführt wurde, ist ihr Leben in Gefahr, und sie steht im Moment wahrscheinlich Todesängste aus. Ich bezweifle, dass sie Verständnis für Ihre Art von Humor hätte. Ich jedenfalls habe es nicht. Was mich aber interessieren würde: Woher kennen Sie Heike Kleenkamp?«

»Ich? Ach, ich kenne sie eigentlich gar nicht, ich hab sie mal auf der einen oder anderen Party gesehen und mitbekommen, wer sie ist. Ich glaube, sie hat gerade mit dem Studium angefangen, BWL oder so. Ich habe in der HAT gelesen, dass sie vermisst wird.«

»Und Sie, Herr Schäfer, kennen Sie Heike Kleenkamp?«, wandte sie sich an Ninas Freund.

»Nein«, antwortete er ohne Zögern. »Ich hab schon mal von ihr gehört, aber ich kenne sie nicht.«

»Ich kenne Sie auch nicht, da bin ich sicher«, sagte Nina Hartmann und zog damit Matthiessens Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ich studiere deutsche Sprache und Literatur und schreibe hier und da schon mal einen Artikel als freie Mitarbeiterin für die HAT. Nach dem Studium möchte ich dort ein Volontariat beginnen. Ich weiß zwar, dass der Verleger Kleenkamp heißt, aber dass er eine Tochter hat, wusste ich nicht. Ich verstehe auch nicht … was hat ihr Verschwinden mit dem Päckchen zu tun, das ich heute Morgen erhalten habe?«

»Tut mir leid, aber wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht viel sagen. Wie mein Kollege schon erwähnte, befindet sich der Rahmen gerade im Labor. Wir müssen die Ergebnisse abwarten. Im Moment ziehen wir einfach alle Möglichkeiten in Betracht, auch, dass dieses Päckchen etwas mit dem Verschwinden der jungen Frau zu tun haben könnte. Aber wenn Sie Artikel für die Hamburger Aktuelle Tageszeitung schreiben, gibt es immerhin schon mal einen Berührungspunkt, auch wenn Sie der Meinung sind, Heike Kleenkamp nicht zu kennen.«

»Aber warum?« Es war wieder Ninas Freund, der die Frage gestellt hatte.

»Warum was?« Erdmann gingen die Zwischenfragen der beiden jungen Männer langsam auf die Nerven.

»Warum denken Sie, dass das Päckchen etwas mit dem Verschwinden zu tun haben könnte? Und warum ist dieses Ding im Labor? Wonach genau suchen Sie?«

»Fingerabdrücke zum Beispiel.«

»Fingerabdrücke? Bei den Biologen? Ich bin kein Kriminalist, aber ich dachte, Biologen beschäftigen sich eher mit Analysen? DNA und so was?«

»Da dachten Sie richtig. Wir lassen auch das Material analysieren, auf das dieser Romananfang geschrieben wurde.«

Dirk Schäfer stieß ein kurzes Lachen aus. »Ach ja, Nina glaubt ja tatsächlich, es könne sich um …«

»Dirk, bitte …« Nina sah ihren Freund fast flehend an, woraufhin er entschuldigend die Schultern hob und verstummte.

»Gab es neben diesem Päckchen etwas Außergewöhnliches in den letzten Tagen?«, wandte Matthiessen sich wieder an Nina. »Haben Sie jemanden kennengelernt, oder gab es vielleicht ungewöhnliche Anrufe?«

»Ungewöhnliche Anrufe? Was meinen Sie?«

»Die Frau Hauptkommissarin möchte wissen, ob der böse Mann dich angerufen hat, Nini«, meldete sich Zender wieder zu Wort. Mit einer übertriebenen Geste legte er die Handflächen auf die Wangen und riss die Augen auf. Nun sah er tatsächlich wie ein Irrer aus. »Der … Hautkrimischreiberverbrecher.«

Erdmann warf Matthiessen einen Blick zu und sah, dass sie über die Einlage Zenders ebenso irritiert war wie er. Er hoffte für den jungen Mann, dass sein seltsames Auftreten das Ergebnis des nachmittäglichen Bierkonsums war.

»Entschuldigen Sie«, sagte Zender, »aber ich finde es einfach nicht fair, dass Sie unserer Nini hier Fragen stellen, ohne ihr zu sagen, worum es überhaupt geht. Immerhin scheint es ja Gründe dafür zu geben, dass Sie denken, sie wäre vielleicht in diese Entführungsgeschichte verwickelt.«

»Wir haben Frau Hartmann gesagt, was wir sagen können, Herr Zender.« Matthiessens Stimme klang nun deutlich schärfer. »Wenn Sie sich allerdings weiterhin einmischen, werden wir unsere Unterhaltung mit ihr alleine im Präsidium fortsetzen.«

»Schon gut.« Er winkte ab und schüttelte in einer theatralischen Geste den Kopf. Im nächsten Moment überlegte er es sich jedoch offenbar anders, denn er beugte sich mit wichtiger Miene nach vorne und stützte die Unterarme auf der Tischplatte ab. »Manus manum lavat. Eine Hand wäscht die andere. Was halten Sie zur Abwechslung mal davon?« Er sah von Matthiessen zu Erdmann, dann zu Nina, die offensichtlich nicht wusste, was er meinte. Erdmann fragte sich, was dieser Schnösel da aufführte und vor allem, was er damit bezweckte. »Wenn Sie von Nini was wissen möchten, ist es ihr gutes Recht zu erfahren, worum es sich handelt. Sie müssen …«

»Chris«, unterbrach Nina Hartmann ihn nun selbst. Offenbar war ihr sein Auftritt peinlich. »Nun hör schon auf, ich kann für mich selbst sprechen.«

»Ich weiß, aber lass mich das noch zu Ende bringen.« Wieder wandte er sich an Matthiessen. »Es muss doch etwas geben, das einen Zusammenhang zwischen der Entführung von Heike Kleenkamp und diesem Ding, das Nini bekommen hat, vermuten lässt. Sie haben ja sicher nicht heute Morgen diesen Rahmen gesehen und gedacht: Hey, der hat bestimmt was mit der Kleenkamp-Entführung zu tun, oder?«

Erdmann spürte, wie sein Ärger langsam wuchs. »Was wir gedacht und getan haben, tut nichts zur Sache, Herr Zender. Die Entführung geht Sie nichts an, und die Fragen, die wir Frau Hartmann stellen möchten – wenn wir mal dazu kämen, ihr Fragen zu stellen –, gehen Sie ebenfalls nichts an. Wir befragen sie als Zeugin, daher hat sie …«

» … kein Aussageverweigerungsrecht, weil sie keine Verdächtige ist, ich weiß, ich bin angehender Jurist. Aber vielleicht greift ja das Auskunftsverweigerungsrecht nach Paragraph 55 der Strafprozessordnung, weil Nini sich durch ihre Aussage der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen würde. Das kann sie allerdings nicht wissen, weil sie ja nicht weiß, worum es eigentlich geht. Außerdem haben Sie es versäumt, Nini über ihr Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren. Contra legem.«

Erdmann verdrehte die Augen. Ein angehender Jurist, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Doch dann fiel ihm Heike Kleenkamps Tätowierung wieder ein, die Rose, und was es bedeuten würde, wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass … »Diese junge Frau ist seit fast vier Tagen verschwunden, und vielleicht kann Frau Hartmann uns den entscheidenden Hinweis geben, der darüber entscheidet, ob Heike Kleenkamp stirbt oder am Leben bleibt, Herr Zender.«

Das Dauergrinsen verschwand aus Zenders Gesicht, und Erdmann sah ihm deutlich an, dass er sich nicht mehr so sicher fühlte wie noch eine Minute zuvor. »Ich möchte ja nur, dass Sie Nini sagen, in was sie da reingezogen wird.« Seine Stimme hatte den fordernden Ton verloren, und er war bedeutend ruhiger geworden. »Was ist denn mit diesem Rahmen? Nini sagte, das sah ganz seltsam aus, wie … Haut.«

Bevor Erdmann etwas erwidern konnte, antwortete Matthiessen: »Schweinehaut womöglich, wir wissen es noch nicht.« Sie sah Zender dabei fest in die Augen, der ihrem Blick allerdings nur Sekunden standhielt. Bürschchen, dachte Erdmann.

Matthiessen blätterte eine Seite des Berichts um und sah dann wieder zu Nina Hartmann hoch. »Also noch mal: Sie kennen Heike Kleenkamp nicht, und es kann auch nicht sein, dass sie früher vielleicht auf der gleichen Schule waren? Oder im gleichen Verein, bei einer Organisation? Nichts?«

»Aber wie soll ich das denn wissen? Ich weiß nur, dass ich sie nicht kenne.«

»Also gut. Und wie war das in den letzten Tagen, gab es irgendwelche außergewöhnlichen Begegnungen, Anrufe oder Ähnliches?«

»Nein, alles war wie immer.«

»Und Sie sind sicher, dass Sie niemanden kennen, der einen Roman geschrieben hat oder schreiben möchte? Einen Krimi? Jemanden, der vielleicht versucht hat, etwas zu veröffentlichen, und abgelehnt worden ist?«

Erdmann registrierte, dass die junge Frau kurz stockte. »Also … zumindest weiß ich nichts davon.« Sie richtete sich ein wenig auf und zog ihren Pullover zurecht. Täuschte er sich oder wirkte sie mit einem Mal unsicher?

»Denken Sie bitte noch mal genau nach«, sagte er. »Es kann enorm wichtig sein. Sind Sie ganz sicher?«

Sie warf ihrem Freund einen flüchtigen Blick zu, bevor sie nickte. »Ja, ganz sicher.«

Matthiessen setzte zu einer weiteren Frage an, wurde aber durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen. Ruhig stand sie auf, zog das Telefon aus der Tasche und nahm das Gespräch an, während sie den Raum verließ. Als Erdmann die Befragung gerade fortführen wollte, war sie jedoch schon wieder zurück. »Kommen Sie, wir müssen los«, sagte sie zu ihm, und an Nina Hartmann gewandt: »Vielen Dank für Ihre Hilfe, wir melden uns wieder.«

Erdmann wartete, bis sie ein Stockwerk von Dirk Schäfers Wohnungstür entfernt waren, dann fragte er: »Wer war das, was ist los?«

»Der PvD. Im Stadtpark ist eine Leiche gefunden worden. Weiblich. Jemand hat ihr die Haut vom Rücken geschnitten.«

6

Die Tote befand sich in dem Waldstück, das sich um Planetarium und Jahnkampfbahn ausdehnte. Sie saß nur wenige Meter hinter der Baumgrenze auf dem moosigen Boden, mit dem Rücken so an einen Stamm gelehnt, dass sie vom Waldrand nicht zu sehen war. Ihr Kopf war nach vorne gesunken, das Kinn ruhte auf der Brust, eingerahmt von dicken rotblonden Haaren. Sie schirmten das eingefallene Gesicht zu beiden Seiten wie Vorhänge von der Umgebung ab. Sie war nackt. Erdmann konnte schlecht einschätzen, wie alt sie war, er sah zu wenig von ihrem Gesicht, aber sie schien noch unter dreißig zu sein.

Als Matthiessen ihm im Treppenhaus in der Hochallee eröffnet hatte, dass es sich bei der Toten wohl nicht um Heike Kleenkamp handelte, hatte er so etwas wie Erleichterung verspürt. Aber jetzt, wo er den mit Abschürfungen und Schmutz übersäten Körper betrachtete, fragte er sich, weshalb er auch nur für einen Moment erleichtert gewesen war. Was machte es für einen Unterschied, wie die junge Frau hieß und wer ihre Eltern waren? Dort vor ihm auf dem Boden saß ein Mensch, der auf bestialische Weise ermordet worden war.

»Was können Sie uns schon sagen?«, fragte Matthiessen den noch sehr jungen Arzt, der neben der Toten in die Hocke gegangen war und ihre Hände untersuchte. Der Mann sah zu ihr hoch.

»Sie muss mindestens zwei Tage tot sein, die Starre hat sich teilweise schon gelöst. Der Hals sieht aus, als sei sie mit einem dünnen Seil oder Draht stranguliert worden. Sie ist mit ziemlicher Sicherheit nicht hier gestorben. Totenflecke hauptsächlich im vorderen Bereich, ziemlich gleichmäßig, Druckstellen im Brustbereich und an den Oberschenkeln. Sie lag nach Todeseintritt also längere Zeit auf dem Bauch, auf einer glatten Fläche, kein Waldboden.« Er machte eine Pause und starrte auf die tote Frau, als suche er nach etwas, das er noch vergessen hatte.

»Kann ich ihren Rücken mal sehen?«, fragte Erdmann.

»Jemand hat ihr die Haut stümperhaft vom Körper geschnitten und ihr dabei den ganzen Rücken zerfetzt.« Erdmann sah dem jungen Mann an, dass ihn das mitnahm. Bist wohl noch nicht lange dabei