Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht -  - E-Book

Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht E-Book

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Beschreibung

Das (Neo-)Sokratische Gespräch ist eine philosophische Unterrichtsmethode, die auf Leonard Nelson zurückgeht und von Gustav Heckmann weiterentwickelt wurde. Auch wenn die Methode namentlich an Sokrates anknüpft, unterscheidet sich diese Form der Unterredung insofern von der des antiken Philosophen, als die Untersuchungen von philosophischen oder ethischen Problemen bzw. Fragestellungen nicht im Zwiegespräch, sondern in moderierten Gruppengesprächen durchgeführt werden. Im Theorieteil des achten Bandes der Reihe »Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht« werden die theoretischen Grundlagen, die Leonard Nelson und Gustav Heckmann in Bezug auf das Sokratische Gespräch entwickelt haben, vorgestellt. Im anschließenden Praxisteil zeigen wichtige Vertreter:innen des Sokratischen Gesprächs – unter anderem Dieter Birnbacher, Klaus Blesenkemper, Klaus Draken, Dieter Krohn, Gisela Raupach-Strey und Ute Siebert –, wie die Methode im Philosophie- und Ethikunterricht angewandt werden kann. Wie alle Bücher dieser Reihe endet auch dieser Band mit einer Auswahlbibliographie.

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Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf 12 Themenbände angelegt:

Philosophieren mit Filmen im Unterricht

Philosophieren mit Gedankenexperimenten

Philosophieren mit Dilemmata

Philosophieren mit Comics und Graphic Novels

Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht

Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht

Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht

Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht

Philosophieren mit Bildern und Fotografien

Digitale Medien im Philosophie- und Ethikunterricht

Hörbücher, Hörspiele und Hördokumentationen im Philosophie- und Ethikunterricht

►Ausführliche Informationen unter:www.philosophie-didaktik.de

Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht

Band 8

Herausgegeben von Martina und Jörg Peters

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über ‹https://portal.dnb.de›.

eISBN (PDF) 978-3-7873-3665-4

eISBN (ePub) 978-3-7873-4642-4

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

Felix Meiner Verlag GmbH, Richardstraße 47, 22081 Hamburg [email protected]

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2025. Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings (§ 44 b UrhG) vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Konvertierung: Bookwire GmbH.

Inhalt

Einführung:

»Nicht-Lehren«, »Dialektik«, »Elenktik« und »Mäeutik« – Elemente des sokratischen Dialogs im Neosokratischen Gespräch

Martina Peters & Jörg Peters

1

Theorie des Sokratischen Gesprächs im Philosophie- und Ethikunterricht

Die sokratische Methode

Leonard Nelson

Sechs pädagogische Maßnahmen

Gustav Heckmann

Der Ursprung der sokratischen Methode in der griechischen Antike

Ute Siebert

Vergleich der sokratischen Methode bei Sokrates und Nelson

Rainer Loska

Theoretische Grundlagen des Sokratischen Gesprächs heute

Detlef Horster

2

Praxis des Sokratischen Gesprächs im Philosophie- und Ethikunterricht

Das Sokratische Gespräch – eine philosophische Standortbestimmung

Dieter Birnbacher

Über Sokratisches Gespräch und Sokratische Arbeitswochen

Gustav Heckmann & Dieter Krohn

Grundregeln des Sokratischen Gesprächs

Gisela Raupach-Strey

Vernunft – Erziehung – Demokratie

Wolfgang Klafki

Das sokratische Gespräch

Klaus Blesenkemper

Sokratisches Gespräch und Lehrgespräch

Klaus Draken

Die Bedeutung der Sokratischen Methode für den Philosophie- und Ethikunterricht

Gisela Raupach-Strey

Schulunterricht und das Sokratische Gespräch nach Leonard Nelson und Gustav Heckmann

Klaus Draken

Das sokratische Gespräch im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II

Barbara Neißer

Das positive Potential des Sokratischen Paradigmas am Lernort Schule

Gisela Raupach-Strey

Neosokratisches Denkerlebnis – »Schadenfreude«

Klaus Blesenkemper

Eignet sich das »Sokratische Gespräch« für die Schule?

Klaus Draken

Auswahlbibliographie

einführung

»Nicht-Lehren«, »Dialektik«, »Elenktik« und »Mäeutik« – Elemente des sokratischen Dialogs im Neosokratischen Gespräch

Martina Peters & Jörg Peters

In vielen Beiträgen zum Sokratischen Gespräch wird sinnvollerweise der Fokus erst einmal auf die theoretischen Grundlagen dieser ursprünglich auf Hochschulveranstaltungen ausgerichteten philosophischen Methode gelegt. Die Autorinnen und Autoren präsentieren dabei zunächst die Regeln und Phasen des methodischen Vorgehens, bevor sie sich dem Wert, den das Sokratische Gespräch aus ihrer Sicht für den Philosophie- bzw. Ethikunterricht haben kann, zuwenden. Um unnötige Redundanzen zu vermeiden, soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, die Grundlagen der Sokratischen Methode im Einzelnen vorzustellen. Allerdings sei ein kurzer Blick auf ihr philosophisches Fundament geworfen, das seinen Ursprung in der griechischen Antike hat.

⮫ »Ich aber bin niemals jemandes Lehrer gewesen«

Einer der »maßgebendsten Menschen«1 in der Geschichte der Philosophie ist der um 469 v.Chr. geborene griechische Philosoph Sokrates, der Wissen als Voraussetzung zur Realisierung von Tugend ansah und sein Leben lang danach forschte. Seine Bemühungen bestanden vor allen Dingen darin, Scheinwissen – besonders in den Lehren der Sophisten – zu entlarven und durch ruheloses Fragen seine Mitmenschen auf den Weg zur Erkenntnis zu bringen.

Wenn man sein Augenmerk auf die von Sokrates in seinen Befragungen vorgenommene Methode lenkt, stellt sichdie Frage, ob er durch sein Vorgehen in irgendeiner Form lehrend tätig war. Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, scheint es sinnvoll, zunächst den Begriff des Lehrens näher zu bestimmen. So heißt es unter dem Stichwort ›Lehren‹ in dem von Heinrich Rombach herausgegebenen Lexikon der Pädagogik, dass »L[ehren] von verwandten und überschneidenden Phänomenen wie ›Unterrichten‹, ›Unterweisen‹ und ›Belehren‹ abzuheben [ist]. Jedes Unterrichten ist auch ein L[ehren], aber nicht jedes L[ehren] ist ein Unterrichten«.2 Dieser Definition zufolge muss das sokratische Handeln als eine besondere Art des Lehrens verstanden werden. Der griechische Philosoph unterrichtete nämlich nicht im engeren Sinne, wie dies heutzutage Lehrerinnen und Lehrer im schulischen bzw. Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer im universitären Kontext praktizieren oder wie es zu seiner Zeit die Sophisten teilweise sogar in großen Stadien getan haben. Vielmehr machte er permanent auf Probleme aufmerksam, wies auf Missstände hin, war auf Wahrheitssuche, richtete sich nach der Vernunft und ließ grundsätzlich Emotionen in seinen Unterredungen außen vor. Negativ formuliert bedeutet »Lehren« im sokratischen Verständnis also nicht, den oder die Gesprächspartner zu überreden, zu manipulieren, zu indoktrinieren oder – griechisch gewendet – durch rhetorische Spitzfindigkeiten auf seine Seite zu ziehen. Eine positive Auslegung des Begriffs würde Sokrates wahrscheinlich mit den Worten: »Lehren ist die Suche nach dem, was für den Menschen gut ist,« umreißen. Dementsprechend kann man sagen, dass Sokrates durch sein Handeln den Versuch unternahm, »den Menschen stutzig zu machen und ihn aus seiner Verhaftung an Selbstverständlichkeitsüberzeugungen herauszulösen, ihn also ›umzuwenden‹, [ihm] nicht aber […] ein Können oder Vermögen, etwas ihm Fehlendes, die sophia, einzubilden«.3

Sokrates’ Bemühungen richteten sich vor allem gegen das angebliche Wissen der Sophisten, gaben die Weisheitslehrer – wie ihr Name schon sagt – doch vor, sophia, Weisheit zu besitzen und diese gegen einen entsprechenden Lohn auch unterrichten zu können. Nur in diesem Zusammenhang ist überhaupt zu verstehen, warum Sokrates von sich behauptet hat, er habe nie gelehrt, geschweige denn unterrichtet, und dürfe deshalb auch nicht als Lehrer bezeichnet werden. In der Apologie führt Sokrates diesen Gedanken folgendermaßen aus:

»Von mir wird man denn den Eindruck haben, daß ich mein lebelang immer der gleiche geblieben bin, sowohl was meine gelegentliche öffentliche Tätigkeit anlangt, wie in meinen persönlichen Angelegenheiten […]. Ich aber bin niemals jemandes Lehrer gewesen. Wohl aber habe ich, wenn jemand Verlangen trug mich reden zu hören, in Ausübung meines eigenartigen Berufes mich niemals jemandem, gleichviel ob jung oder alt, versagt, auch verstehe ich mich zu solchen Unterhaltungen nicht etwa nur, wenn man mich dafür bezahlt, sonst aber nicht; nein, ob reich oder arm, ich lasse mich fragen, und wer will, kann antworten und hören, was ich sage. Und ob nun ein solcher Frager ein tüchtiger Mann wird oder nicht, dafür bin billigerweise nicht ich verantwortlich, denn ich habe ja nie irgendeinem Unterricht versprochen oder erteilt, und behauptet etwa jemand, er habe von mir jemals beiseits etwas gelernt oder gehört, was nicht auch alle anderen hören konnten, so könnt ihr überzeugt sein, dass er die Unwahrheit sagt.«4

Sokrates erläutert hier, es habe 1. bei ihm jeder, egal ob alt oder jung, ob reich oder arm, seine Reden auf Gesprächs- und nicht wie bei den Sophisten auf Monologbasis hören können, ohne 2. dafür einen Lohn zu entrichten; und er habe 3. niemals das Versprechen abgegeben, dass durch ihn eine Unterweisung erfolge oder er irgendjemandem irgendeine Wissenschaft in Aussicht gestellt oder gelehrt habe; und wenn 4. irgendjemand behaupte, er habe bei ihm privatim irgendetwas gelernt oder gehört, was nicht auch alle Welt hören konnte, so spreche er nicht die Wahrheit.5 Schließlich sei er, Sokrates, nicht wissend, und ein Nicht-Wissen lasse sich nun einmal nicht verkaufen.6 Inmitten der Wissenden – der Sophisten – bezeichnet Sokrates sich selbst als den einzigen Nichtwissenden; und wie das Orakel in Delphi prophezeit hat, ist das Grund genug, ihn zu den weisesten Menschen zu rechnen:

»Als Zeugen nämlich für meine Weisheit, für ihr Vorhandensein überhaupt wie für ihre Beschaffenheit, will ich euch den Gott in Delphi stellen. Ihr kanntet ja doch den Chairephon […] [und] sein heftiges Losstürmen auf jedes erstrebte Ziel. So war er denn, als er einst nach Delphi kam, kühn genug, das Orakel darüber zu befragen […], ob jemand weiser sei als ich. Da tat nun die Pythia den Spruch, es sei niemand weiser als ich. […][Allem] Anschein nach gilt dieser Spruch nicht eigentlich […] [mir], sondern der Gott bedient sich meines Namens nur beispielsweise, als wolle er sagen: ›Derjenige unter euch, ihr Menschen, ist der weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, daß seine Weisheit in Wirklichkeit keinen Heller wert ist.‹ Dieses also im Sinne der Gottheit zu erforschen und zu ergründen, mach ich auch jetzt noch immer die Rund bei Bürgern und Fremden, wo ich einen für weise halte; stellt sich mir dies aber als nicht zutreffend heraus, dann mache ich mich zum Helfer des Gottes und erbringe den Nachweis, daß er nicht weise ist.«7

Für Sokrates gibt es nur ein Wissen, das dem Menschen von Nutzen ist, nämlich das Wissen um das beste Leben, das Wissen um das Gute: »Dies Wissen allein ist«, wie Lichtenstein konstatiert, »erzieherisch, weil es dem Menschen den Grund seiner Existenz hell macht und ihn im Innersten befriedigt.«8 Das Erziehungsprinzip des Sokrates dagegen stellt sich als ›den Menschen zu prüfen‹, ›ihn zu mahnen‹, ›ihn zur Sorge um das richtige Leben zu führen‹ dar, oder kurz gesagt: Sokrates geht es darum, dass die Seele eines Menschen so gut wie möglich werde.9

Neben dem ›Nicht-Lehren‹ dürfte auch die Tatsache, dass Sokrates – einer Hebamme gleich – grundsätzlich seine Gesprächspartner von der Annahme, etwas zu wissen, entbunden hat, bedeutsam sein:

»Mit meiner Entbindungskunst steht es im übrigen so wie bei […] [den Hebammen]; der Unterschied ist aber der, daß meine Kunst Männer, nicht […] [Frauen] entbindet, und daß es die Seelen der Männer sind, auf deren Geburtswehen sie ihr Augenmerk richtet, nicht ihre Leiber. Der wichtigste Teil meiner Kunst ist die Fähigkeit, auf jede Weise zu prüfen, ob der Geist des Jünglings eine Schein- oder Lügengeburt zutage bringt, oder etwas Echtes und Wahres. Denn in folgendem Punkte gleiche ich den Hebammen: ich selber bin unfruchtbar an Weisheit, und mit dem Vorwurf, den schon viele mir gemacht haben, daß ich nämlich zwar die anderen frage, selbst aber keinerlei Antwort gebe, weil ich über keine Weisheit gebiete, hat es seine volle Richtigkeit. Der Grund dafür ist folgender: zu entbinden zwingt mich der Gott, selbst aber zu gebären hat er mir versagt. Demgemäß bin ich selber aller Weisheit bar, auch habe ich nicht irgendwelchen Fund aufzuweisen, der als Frucht meiner Seele gelten könnte. Diejenigen aber, die mit mir verkehren, erscheinen anfänglich zum Teil völlig unwissend, alle aber, denen Gott es vergönnt, machen im Verlauf unseres Verkehres wunderbare Fortschritte nach ihrem eigenen Zeugnis und dem anderer, und zwar offenbar ohne von mir je etwas gelernt zu haben; vielmehr haben sie selbst aus sich viel Schönes herausgefunden und halten es fest. Die Entbindung aber ist des Gottes und mein Werk.«10

Diese Art der Entbindung ist durch drei Mittel gekennzeichnet11: 1. durch Ironie, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann, weil sie für die nachfolgenden Ausführungen zum Neosokratischen Gespräch ohne Bedeutung ist12; 2. durch die sokratische Dialektik oder das prüfende Gespräch (Elenktik) und 3. durch die Mäeutik (Hebammenkunst) selbst, d.h. die Kunst, die im Menschen schlummernde Erkenntnis durch geschickte Fragen zu wecken.13 Sokrates sieht seine erzieherischen Bemühungen vor allen Dingen darin, sittliche Einsicht und Seinserkenntnis in der Seele zu wecken, wobei das sittliche Bewusstsein an der Frage, was an dem zu behandelnden Gegenstand hier und jetzt das Gute sei, gewissermaßen von selbst erwachsen muss. So produziert ein Vortrag, wie ihn die Sophisten zu halten pflegten, nur Meinungen oder Scheinwissen, aber kein Wissen im sokratischen Verständnis.

Um sich von trügerischen Wertvorstellungen zu lösen und zu Rechenschaft geben‹ und Rechenschaft einfordern‹ zu gelangen, kann nur die Dialektik, der Dialog (als Polylog)14, also ein Gespräch zwischen Partnern helfen. Im Gorgias etwa erklärt Sokrates Polos, warum er kein Politiker und Redner (geworden) sei: Er habe es als Mitglied der Ratsversammlung nicht verstanden, Stimmen einzusammeln, und es mag ihm auch in Zukunft nicht zugemutet werden. Vielmehr fordere er die Stimme von demjenigen, mit welchem er sich jeweils unterrede15, was nichts anderes heißt, als dass nach Sokrates Philosophie nur dann betrieben werden kann, wenn man gewillt ist, seine Gedanken auszutauschen, dabei von den Gesprächspartnern Rechenschaft für ihre Auffassungen und Standpunkte zu verlangen und selbst für die eigene Position Rechenschaft abzulegen. Dabei gilt es, niemanden zu überreden, sondern durch triftige Gründe argumentativ zu überzeugen. Die Aufgabe eines solch elenktischen, d.h. prüfenden Gesprächs darf aber nur als Appell an die Freiheit der Entscheidung verstanden werden, die auf einem sittlichen Grundwissen basiert. Damit ist, wie Stenzel betont, das Ziel aller Erziehung und Bildung für Sokrates das »Durchstoßen jeder Verständigung bis zu dem sinngebenden, Kräfte erzeugenden, handelnden Kerne des Menschen«.16 So kann diese Art der Erziehung »nicht ›selbsterzeugend‹, sondern nur ›entbindend‹ sein«.17 Damit ist natürlich die Mäeutik angesprochen, die besagt, dass nicht der Lehrer, sondern der Schüler im Mittelpunkt des philosophischen Interesses steht; und ein Schüler, der lernt, ist ein Schüler der Wahrheit, nicht aber der Schüler eines menschlichen Lehrers. Sokrates will daher immer nur der Anstoß zum Suchen sein, dem Menschen klarmachen, dass nicht er ihm die Wahrheit vermitteln, sondern ihn nur auf den richtigen Weg bringen kann. Das Suchen und eventuell das Finden muss der einzelne Mensch allerdings jeweils selbst übernehmen. Eine Geburt ist immer schmerzhaft und auch die Hilfestellung, die Sokrates gibt, ist mit Schmerzen verbunden, denn es gehört zu den Aufgaben eines Geburtshelfers der Seele zu prüfen, ob die Ausgeburten des jungen Geistes Falsches und Wahres oder »etwas Echtes und Wahres«18 zutage bringen, d.h., ob ihre Überlegungen bestehen können und sich als Lebenswahrheiten im Denken und Tun auszeichnen. Die sokratische Methode erweist sich somit als »Begegnung mit hartem, zur Beantwortung zwingendem Anspruch«.19

Die sokratische Pädagogik bzw. das sokratische Vorgehen hat durchaus Methode, wenn man darunter ein sich selbst wissendes und auf Zwecke bezogenes Tun versteht. Dieses Vorgehen ist aber weder ein – wie bereits anfangs ausgeführt – schulmäßiges Unterrichtsgespräch noch irgendeine rationale Kalkulation für den praktischen Gebrauch. So fällt der Begriff des Guten für Sokrates mit dem Begriff des Menschen zusammen, und daher stellt für ihn sittliche Erziehung ein Äquivalent zur Menschenbildung dar. Aus diesem Grund muss sittliche Erziehung als Werk am Menschen betrachtet werden, weil Wissen und Wille des Menschen von teleologischer Struktur sind.20 Sie ist Aufgabe des ganzen Lebens, und gleichzeitig ist das ganze Leben eine Aufgabe zur sittlichen Selbstvervollkommnung, oder wie Jaeger konstatiert: »Bildung im sokratischen Sinn wird zum Streben nach philosophisch bewußter Lebensgestaltung, die auf das Ziel gerichtet ist, die geistige und sittliche Bestimmung des Menschen zu erfüllen.«21

⮫ Die Elemente des Neosokratischen Gesprächs

Nicht ohne Grund standen bei der Darstellung, wie Sokrates Untersuchungen – zumindest in den fiktiven platonischen Dialogen – angegangen ist, also sein Nicht-Lehren, die Dailektik, die Elenktik und die Mäeutik im Zentrum des Interesses. Es handelt sich hierbei nämlich um Elemente, die auch für die Durchführung eines Neosokratischen Gesprächs eine wesentliche Rolle spielen. So wie Sokrates Monologe oder (lange) Vorträge – wie sie die Sophisten ja hielten – ablehnte, finden sie auch im Sokratischen Gespräch keinen Platz. Vielmehr ist dieses dialektisch angelegt, wenn man unter Dialektik die Kunst versteht, ein philosophisches Gespräch zu führen, durch das Wissen erworben oder überprüft werden kann: »Dialegesthai [heißt,] sich unterreden, sich über eine Sache mit jemandem auseinandersetzen.«22 Fischers Definition der sokratischen Dialektik kann uneingeschränkt auf den Polylog des Sokratischen Gesprächs übertragen werden, denn auch dort findet eine Unterredung statt, wodurch Wissen zu einem Thema oder einer Fragestellung erworben werden kann. Innerhalb der Auseinandersetzung mit der zu behandelnden Sache kann es nicht Ziel sein, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in irgendeiner Form dazu zu bringen, die Meinung anderer kritiklos zu übernehmen. Stattdessen sollen sie anhand eines aus ihren Reihen gewählten Beispiels einer – meist ethischen – Problemstellung nachgehen und Antworten auf die sich einstellenden Fragen finden. Dabei wird ständig geprüft, ob das Vorgetragene richtig, haltbar, widerspruchsfrei und konsensfähig ist. Dieses Vorgehen erinnert an die sokratische Elenktik, deren Ziel »die Befreiung von Scheinwissen ist«, das durch »Erfragen und Prüfen von Meinungen« und durch »das Aufdecken von Widersprüchen« erreicht wird. »Geprüft wird in der Rechenschaftsabgabe […] das Verhältnis des Einzelnen zur Wahrheit, die ihn mit sich und so mit den anderen in Einklang bringt.«23 Im Sokratischen Gespräch geht es nicht darum, Falsches oder Sophistisches zu entlarven, sondern beispielsweise um eine möglichst genaue Definition eines Begriffs wie etwa dem der ›Gerechtigkeit‹. Daher sind alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer verpflichtet, die Aussagen ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter dahingehend zu prüfen, ob man diese a) vollständig aufgefasst und verstanden hat und ob b) diese sich auf den Gang der Argumentation beziehen. Erst wenn ein Konsens unter allen Teilnehmenden besteht, kann der nächste Schritt im Sokratischen Gespräch vollzogen werden, der ebenfalls dem elenktischen Prinzip unterliegt. Auf diese Weise schafft es die Gruppe zwar, nach Wahrheit zu suchen, aber: »Ein erreichter Konsens ist nicht mit der Wahrheit gleichzusetzen, sondern bleibt prinzipiell überholbar durch bessere Erkenntnis. Denn ein faktischer Konsens ist immer begrenzt, da er ganz bestimmten Bedingungen unterliegt. Er bleibt gebunden an die Grenzen der Einsichtsfähigkeit der beteiligten Individuen zu diesem Zeitpunkt und ebenso an die Grenzen der Dialogfähigkeit der Gruppe.«24

Die bisherige Darstellung macht schon deutlich, dass ein Sokratisches Gespräch Zeit beansprucht, weil nicht Philosophie ge- bzw. erlernt wird, sondern die Gruppenmitglieder angehalten sind, selbsttätig zu philosophieren.25 Der Weg des Philosophierens ist selten ein gerader, so dass auch Umwege gegangen werden müssen, um konsensfähige Ergebnisse zu erhalten. Ein möglicher Erkenntnisgewinn muss demnach aus der Gruppe selbst entwickelt werden. Man kann konstatieren, dass im Sokratischen Gespräch das mäeutische Prinzip insofern angewandt wird, als einer Gesprächsleiterin bzw. einem Gesprächsleiter lediglich die Funktion zukommt, formale Hilfestellungen im Gesprächsverlauf zu übernehmen, etwa durch Rückfragen oder Verschriftlichung von Beiträgen. Inhaltlich hat sie oder er sich zurückzuhalten und darf keine eigenen Ideen, Vorschläge, Verbesserungen etc. einbringen, um den Gruppenprozess weder zu stören noch zu beeinflussen. Wie beim antiken Sokrates ist es die Aufgabe der Gesprächsleiterinnen und -leiter, die Teilnehmenden nur anzustoßen, sie bei der Geburt ihrer philosophischen Gedanken zu unterstützen, ohne für sie das Weitergehen, sprich: das Denken, zu übernehmen. Auf diese Weise fungieren die Leiterinnen und Leiter eines Sokratischen Gesprächs nicht nur als philosophische Hebammen, sondern nehmen zudem auch noch gleichzeitig die Rolle von Nicht-Lehrenden ein.

⮫ Das Sokratische Gespräch in der Schule

Wie schon angemerkt, ist das Sokratische Gespräch in seiner reinen Form zeitaufwändig und eignet sich aus diesem Grund nur eingeschränkt für den alltäglichen Schulunterricht. Die Durchführung eines Sokratischen Gesprächs kann sicherlich in Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag oder in einer Projektwoche angeboten werden. Will man es dennoch etwa in den Unterricht der Oberstufe integrieren, so darf man nicht an den strengen Vorgaben von Nelson und Heckmann festhalten, sondern muss die Regeln an schulische Bedingungen anpassen.26 Es wäre nämlich allzu bedauernswert, wenn eine Methode, die das selbständige Denken fördert, hilft, Begriffe infrage zu stellen und in das Philosophieren einführt, in der Schule nicht berücksichtigt werden würde.

Wie das Sokratische Gespräch im schulischen Unterricht konkret eingesetzt werden kann, zeigen die Beiträge im Praxisteil des vorliegenden Bandes. Darüber hinaus finden sich in diesem Teil auch die wenigen existierenden Verlaufsprotokolle, die die Bedeutung der Methode für den Philosophie- bzw. Ethikunterricht evident machen. Der praktischen Umsetzung gehen zwei Theorieteile voraus, wobei der erste die beiden grundlegenden Lehren von Nelson und Heckmann beinhaltet, während der zweite weiterführende Vorstellungen der derzeit maßgebenden Sokratikerinnen und Sokratiker berücksichtigt. Das Buch schließt mit einer Auswahlbibliographie zum Sokratischen Gespräch, die sich neben den essentiellen Schriften auf solche Beiträge zum Thema konzentriert, die den schulischen Unterricht im Fokus haben.

1

Jaspers, Karl: »Sokrates«, in: Jaspers, Karl:

Die maßgebenden Menschen

, SP 126, Piper Verlag, München

9

1986, S. 81–103.

2

Rombach, Heinrich:

Lexikon der Pädagogik

, Neue Ausgabe, 4 Bde., Bd. 3: Kultur – Schulbuch, hrsg. vom Willmann- Institut, München – Wien, Herder Verlag, Freiburg – Basel – Wien 1974, S. 46–50: S. 47.

3

Fischer, Wolfgang: »›In Wahrheit aber bin ich nie irgend jemandes Lehrer gewesen‹ (Apol. Plat. 33 a)«, in: Breinbauer, Ines M.; Langer, Michael (Hrsg.):

Gefährdung der Bildung – Gefährdung des Menschen. Perspektiven verantworteter Pädagogik,

Festschrift für Marian Heiger zum 60. Geburtstag, Böhlau Verlag, Graz/Wien 1988, S. 31–39.

4

Platon: »Apologie«, in: Platon: Sämtliche Dialoge, 7 Bde., Bd. 1: Protagoras – Laches und Euthyphron – Apologie und Kriton – Gorgias, hrsg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Apelt, Otto, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1988, Apologie 33 a-b (S. 49–50).

5

Vgl. Lichtenstein, Ernst:

Paideia. Die Grundlagen des europäischen Bildungsdenkens im griechisch-römischen Altertum

, Das Bildungsproblem in der Geschichte des europäischen Erziehungsdenkens, Bd. 1.1 Hermann Schroedel Verlag, Hannover – Berlin – Darmstadt – Dortmund 1970, S. 74.

6

Vgl.

ibid

., Apologie 33a (S. 50).

7

Ibid

., Apologie 20 e – 21 a (S. 29) und 23 a-b (S. 32–33).

8

Lichtenstein, Ernst:

Paideia. Die Grundlagen des europäischen Bildungsdenkens im griechisch-römischen Altertum

, a.a.O., S. 74.

9

Dies zeigt eindrucksvoll die Unterredung zwischen Sokrates und Hippokrates in Platon: »Protagoras«, in: Platon:

Sämtliche Dialoge

, 7 Bde., Bd. 1: Protagoras – Laches und Euthyphron – Apologie und Kriton – Gorgias, a.a.O., Protagoras 310 a – 314 c (S. 38–47).

10

Platon: »Theätet«, in: Platon: Sämtliche Dialoge, 7 Bde., Bd. 4: Theätet – Parmenides – Philebos, hrsg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Apelt, Otto, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1988, Theätet 150 c-d (S. 42–43).

11

Fischer, Wolfgang: »Die sokratische Negation des Wissens – pädagogisch«, in: Fischer, Wolfgang:

Kleine Texte zur Pädagogik der Antike

, Schneider Verlag, Hohengehren 1997, S. 83–135: S. 84–87.

12

Wer sich mit der Ironie bei Sokrates auseinandersetzen möchte, sollte das Buch Boder, Werner:

Die sokratische Ironie in den platonischen Frühdialogen

, Studien zur antiken Philosophie, Bd. 3, John Benjamins Publishing, Amsterdam 1973 zurate ziehen.

13

Vgl. dazu besonders Platon: »Menon«, in: Platon:

Sämtliche Dialoge

, 7 Bde., Bd. 2: Menon – Kratylos – Phaidon – Phaidros, hrsg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Apelt, Otto, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1988, Menon 85 c (S. 47).

14

Blesenkemper, Klaus: »Das sokratische Gespräch«, in: Brüning, Barbara (Hrsg.):

Ethik / Philosophie-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II

, Cornelsen Verlag GmbH, Berlin 42023, S. 71–84: S. 71.

15

Platon: »Gorgias«, in: Platon:

Sämtliche Dialoge

, 7 Bde., Bd. 1: Protagoras – Laches und Euthyphron – Apologie und Kriton – Gorgias, a.a.O., Gorgias 473 c – 474 b (S. 72–73).

16

Stenzel, Julius: Platon der Erzieher, mit einer Einführung von Gaiser, Konrad, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1961, S. 71.

17

Lichtenstein, Ernst:

Paideia. Die Grundlagen des europäischen Bildungsdenkens im griechisch-römischen Altertum

, a.a.O., S. 77.

18

Platon: »Theätet«, in: Platon:

Sämtliche Dialoge

, 7 Bde., Bd. 4: Theätet – Parmenides – Philebos, a.a.O., Theätet 150 c (S. 42).

19

Lichtenstein, Ernst:

Paideia. Die Grundlagen des europäischen Bildungsdenkens im griechisch-römischen Altertum

, a.a.O., S. 78.

20

Vgl. Jaeger, Werner Jaeger:

Paideia. Die Formung des griechischen Menschen

, 3 Bde., Bd. 2: Das Zeitalter der großen Bildner und Bildungssysteme. Erster Teil, Walter de Gruyter & Co., Berlin

3

1959, S. 120–121.

21

Ibid., S. 121–122.

22

Fischer, Wolfgang: Über das Lehren und Lernen von Philosophie bei Platon oder: Die dem Menschen eigentlich zukommende Bildung ist das Philosophieren, aber das Philosophieren ist nicht jedermanns Sache«, in:

Zeitschrift für Pädagogik

29,1983, Heft 1, S. 71–86: S. 76.

23

Waldenfels, Bernhard: »Elenchus, Elenktik«, in: Ritter, Joachim:

Historisches Wörterbuch der Philosophie

, unter Mitwirkung von mehr als 700 Fachgelehrten, 13 Bde., Bd. 2: D-F, Schwabe & Co Verlag, Basel – Stuttgart1972, S. 442–443: S. 442 und vgl. Erler, Michael: »Elenchos«, in: Schäfer, Christian (Hrsg.):

Platon-Lexikon

, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2007, S. S. 107–108.

24

Raupach-Strey, Gisela: »Grundregeln des Sokratischen Gesprächs«, in: Krohn, Walter, Neißer, Barbara, Walter, Nora (Hrsg.): Neuere Aspekte des Sokratischen Gesprächs, Sokratisches Philosophieren, Bd. 4, dipa-Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 145–162: S. 153.

25

Vgl. dazu Kant, Immanuel: »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765–1766«, in: Kant, Immanuel:

Kant’s gesammelte Schriften

, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 2: Vorkritische Schriften II (1757–1777), Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1912, S. 303–113, S. 305–308, auch unter dem Titel »Der »Der ›Selber-denken‹-Ansatz«, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.):

Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte

, Felix Meiner Verlag, Hamburg 32024, S. 19–21 sowie Martens, Ekkehard:

Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik

, Hermann Schroedel Verlag KG, Hannover – Dortmund – Darmstadt – Berlin 1979, S. 136 und S. 140–147 (unter dem Titel »Der »Der ›Selber-denken‹-Ansatz«, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.):

Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte

, a.a.O., S. 27–32).

26

Vgl. dazu

Sokratische Didaktik. Die didaktische Bedeutung der Sokratischen Methode in der Tradition von Leonard Nelson und Gustav Heckmann

, Sokratisches Philosophieren, Bd. 10, LIT Verlag, Berlin 22012, S. 374–381, vgl. auch Draken, Klaus: »Schulunterricht und das Sokratische Gespräch nach Leonard Nelson und Gustav Heckmann«, in:

Zeitschrift für Didaktik der Philosophie

11, 1989, Heft 1 : Das zwingende Argument, S. 46–49: S. 47–49 und vgl. Neißer, Barbara: »Das sokratische Gespräch im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II«, in: Krohn, Dieter, Neißer, Barbara, Walter, Nora (Hrsg.):

Neuere Aspekte des Sokratischen Gesprächs

, Sokratisches Philosophieren, a.a.O., S. 88–101: S. 90–93 [auch erschienen in: Birnbacher, Dieter; Krohn, Dieter (Hrsg.):

Das sokratische Gespräch

, RUB 18230, Philipp Reclam jun., Ditzingen 2002, S. 198–214: S. xxx].

1 theorie des sokratischen ge-sprächs im philosophie- und ethikunterricht

Die sokratische Methode

Leonard Nelson

Als ein getreuer Schüler des Sokrates und seines großen Nachfolgers Platon kann ich es nur schwer rechtfertigen, Ihrer Aufforderung zu folgen und zu Ihnen über die sokratische Methode zu sprechen. Die sokratische Methode ist Ihnen bekannt als eine Methode des philosophischen Unterrichts. Aber es steht, nach Platons Worten, mit dem Philosophieren anders als mit anderen Lehrgegenständen: »Es läßt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichem Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.«1

Ich fühle mich daher in ähnlicher Verlegenheit wie etwa ein Geiger, der auf die Frage, wie er das Geigen zustande bringe, wohl von seiner Kunst etwas vorführen kann, aber nicht in Begriffen auseinandersetzen kann, wie man das Geigen anfängt.

Die sokratische Methode ist nämlich nicht die Kunst, Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren, nicht die Kunst, über Philosophen zu unterrichten, sondern Schüler zu Philosophen zu machen. Wollte ich daher von der sokratischen Methode eine rechte Vorstellung geben, so müßte ich meine Rede hier abbrechen und, statt Ihnen etwas vorzutragen, mit Ihnen eine philosophische Frage nach sokratischer Methode behandeln. Aber wie sagte Platon? Nur ein »lange Zeit fortgesetzter, dem Gegenstande gewidmeter Verkehr« Iäßt das Licht der philosophischen Erkenntnis aufleuchten.

So greife ich denn – mit Rücksicht auf die Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit – doch zu dem Wagnis einer Schilderung der sokratischen Methode, zu dem Versuch, Ihnen durch Worte ihren Sinn und ihre Bedeutung nahezubringen. Ich rechtfertige diesen Kompromiß damit, daß ich meine Aufgabe begrenze, indem ich den Zweck meiner Ausführungen nur darin suche, wenigstens Ihre Aufmerksamkeit auf diese Lehrart zu richten und dadurch deren Beachtung zu fördern.

Wie es noch wenig ist, wenn man von der Rede des Großinquisitors in Dostojewskis Roman nichts anderes weiß, als daß sie die großartigste Erörterung eines der ethischen Fundamentalprobleme ist, so ist es doch so viel, daß man fortan eher geneigt sein wird, diese Rede mit Aufmerksamkeit zu lesen. Und wie es noch wenig ist, wenn man am einstigen physikalischen Institut hier in der Prinzenstraße die Gedenktafel beachtet, die vom ersten elektrischen Telegraphen Kunde gibt, wie er, von Gauss und Wilhelm Weber erfunden, zur Verbindung dieses Instituts mit der Sternwarte diente, so ist es doch immerhin so viel, daß man fortan der Geschichte dieser Erfindung mit größerer Ehrfurcht nachgehen wird. Und so hoffe ich auch durch die Behandlung meines Themas Ihr Interesse zu erwecken für die bedeutsame und in all ihrer Schlichtheit tiefe Methode, die den Namen des athenischen Weisen trägt, dem wir ihre Erfindung verdanken.

Sie ist als eins der Stiefkinder der Philosophie mißachtet und verstoßen worden, und nur ihr Name hat sich erhalten neben ihrer beliebteren älteren Schwester, der einschmeichelnderen und bequemer zu lenkenden, der dogmatischen Methode.

Sie argwöhnen vielleicht bei mir eine persönliche Neigung zu der jüngeren der beiden Schwestern. Und ich will freimütig gestehen, daß in der Tat, je länger ich mich ihres Umganges erfreue, ihr Reiz mich nur immer stärker fesselt, so daß es mir ein wahrhaftes Gebot der Ritterlichkeit geworden ist, die Verschollene und Totgesagte ins Leben zurückzuführen und ihr hier den Ehrenplatz zu erstreiten, den man bisher der innerlich toten und nur immer wieder prahlerisch aufgeputzten buhlerischen Schwester vorbehalten hat.

Aber lassen Sie mich hinzufügen – und ich will hoffen, so viel Ihnen heute zu beweisen –, daß nicht blinde Neigung mich leitet, sondern daß es der innere Wert ist, der mich zu der äußerlich Unscheinbaren zieht. Oder werden Sie sagen, das unglückliche Schicksal könne die von der erdrückenden Mehrheit der Philosophen Verschmähte nicht unverdient getroffen haben, und darum sei es müßig, ihr künstlich neues Leben einhauchen zu wollen?

Ich will mich hier nicht auf den allgemeinen Satz berufen, daß sich in der Geschichte keine prästabilisierte Harmonie findet zwischen Verdienst und Erfolg. Denn, allerdings, eine Methode – als Weg zu einem Ziel – besitzt in ihrem Erfolg oder Mißerfolg einen sehr gewichtigen Prüfstein.

Doch kommt hier für eine gerechte Beurteilung erst eine Vorfrage in Betracht, die Frage nämlich, ob die fragliche Wissenschaft denn bereits so weit fortgeschritten ist, daß in ihr die Lösung ihrer Probleme auf einem vorgeschriebenen Weg überhaupt erstrebt wird, mit anderen Worten, daß man in ihr allgemeingültige Methoden anerkennt.

Diese Frage ist in der Mathematik und den auf ihr fußenden Naturwissenschaften längst zugunsten der Methode entschieden. Es gibt keinen Mathematiker, der nicht mit der progressiven Methode vertraut ist und sie handhabt. Es gibt keinen ernsthaften Naturforscher, der sich nicht der induktiven Methode bedient. Ja die Methode genießt in diesen Wissenschaften eine so selbstverständliche und unbestrittene Anerkennung, daß die ihrem Leitfaden folgenden Schüler sich des gesicherten Ganges ihrer Forschungen oft kaum bewußt sind. Aller Streit um Methoden geht hier nur um deren Zuverlässigkeit und Fruchtbarkeit. Wird daher hier eine Methode beiseite gelassen, oder bewahrt man ihr nur ein historisches Interesse, so ist die Vermutung berechtigt, daß sie der Forschung nichts mehr zu bieten hat.

Ganz anders aber da, wo in einer Wissenschaft noch das Recht gilt, daß jeder sich selbst Gesetz und Regel gibt, wo methodische Anweisungen von vornherein als nur zeitlich oder individuell bedingte, als nur geschichtlich zu beurteilende Forschungsweisen bewertet werden. Da kann es denn wohl das Glück fügen, daß eine Methode Anklang findet und eine Zeitlang die Richtung der Arbeiten bestimmt. Aber Irrtümer, die Begleiter jeder wissenschaftlichen Errungenschaft, werden hier nicht zum Ansatzpunkt, um die Mängel durch Anstrengungen in der gleichen Richtung zu überwinden, sondern sie werden zu Konstruktionsfehlern gestempelt, die völlig neuen Konstruktionen weichen müssen, denen dann freilich nur allzubald das gleiche Schicksal bereitet wird.

In diesem Jugendstadium der Entwicklung befindet sich das, was als philosophische Wissenschaft gilt, noch heute. Für dieses Urteil steht mir Windelband zur Seite, der anerkannte Historiker der Philosophie. Er verkündet uns, daß »selbst unter denjenigen Philosophen, welche für ihre Wissenschaft eine besondere Methode in Anspruch nehmen«, – und das seien bei weitem nicht alle – »nicht die geringste Übereinstimmung hinsichtlich dieser ›philosophischen Methode‹ obwaltet«.2

Diese Feststellung erscheint umso betrübender, als er kurz vorher zugestehen muß, daß nicht einmal für den Gegenstand der philosophischen Untersuchungen ein gleichbleibendes Merkmal festgestellt werden kann.

Man fragt sich nach alledem, was solche Philosophen von ihrer eigenen Wissenschaft eigentlich noch halten. Zum mindesten aber bleibt bei diesem Zustand der Anarchie die Frage unentschieden, ob die Mißachtung, die einer philosophischen Lehre zuteil wird, schon deren wissenschaftlichen Unwert beweist. Denn wie will man hoffen, den wissenschaftlichen Wert oder Unwert einer philosophischen Leistung beurteilen zu können, wenn es für die Urteilenden allgemeingültige wissenschaftliche Kriterien überhaupt nicht gibt?

Und dabei liegt es nicht etwa so, daß die Mannigfaltigkeit der Resultate den Philosophen die Aufstellung eines Leitfadens für ihre Wissenschaft erschwert hat. Im Gegenteil, die großen philosophischen Wahrheiten sind im Grunde von jeher das Gemeingut aller bedeutenden Denker gewesen. Hier war also ein gemeinsamer Ausgangspunkt gegeben. Aber die Begründung dieser Resultate nach eindeutigen, die Willkür ausschließenden Regeln vorzunehmen, sich auch nur die hier vorliegende methodische Aufgabe mit Bestimmtheit und Schärfe zu stellen, dieses öffentliche Interesse der Philosophie hat noch so wenig Achtung gefunden, daß wir uns nicht wundern dürfen, wenn die Bemühungen einzelner um die Befriedigung dieses Interesses vergebliche Anstrengungen geblieben sind.

In der Tat: Das Lebenswerk eines Sokrates und eines Kant, das im Dienst dieser methodischen Aufgabe stand, es hat unermeßlichen historischen Ruhm geerntet. Aber es ist in seiner revolutionären Bedeutung für den Aufbau der Philosophie als Wissenschaft unfruchtbar und wirkungslos geblieben.

Zweimal bestand in der Geschichte der Philosophie die Aussicht, die Philosophie aus dem Stadium des Herumtappens auf den sicheren Weg der Wissenschaft zu bringen. Den ersten mutigen Versuch hat das Altertum mit dem Tode bestraft. Als Verführer der Jugend ist Sokrates verurteilt worden. Die Neuzeit verschmäht den Ketzertod. Sie hat ihr Urteil abgegeben, indem sie – um noch einmal Windelband das Wort zu geben – über Kant »hinausgegangen« ist.3

Und dabei bedarf es zur Würdigung der Bedeutung dieser beiden Männer nicht etwa erst einer künstlichen Interpretation. Sie haben diesen Sinn ihrer Bemühungen selbst ausdrücklich und unablässig betont. Sokrates hat, wie jedermann weiß, kein System aufgestellt. Er hat wieder und wieder sein Nicht-Wissen zugestanden. Er ist jeder Behauptung entgegengetreten mit der Aufforderung, den Grund ihrer Wahrheit zu suchen. Er hat, wie es in der »Apologie« heißt, seine Mitbürger »ausgefragt, geprüft und ins Gebet genommen«4, nicht um ihnen lehrend eine neue Wahrheit zu vermitteln, sondern nur, um ihnen den Weg zu zeigen, auf dem sie sich finden läßt.

Seine ethische Lehre, sofern dieser Name überhaupt auf seine Untersuchungen anwendbar ist, gründet sich auf den Satz, daß Tugend lehrbar ist, in bestimmterer Sprache, daß Ethik Wissenschaft ist. Er hat diese Wissenschaft nicht aufgebaut, weil die Vorfrage ihn nicht losließ: Wie gelange ich zum Wissen über die Tugend? An dieser Vorfrage hat er festgehalten. Er hat den Mangel an fruchtbaren Ergebnissen gelassen hingenommen ohne eine Anwandlung von Skepsis hinsichtlich der Richtigkeit seiner Methode, unbeirrbar in der Überzeugung, trotz allem mit seinen Fragen auf dem allein richtigen Wege zu sein.

Die gesamte nachfolgende Philosophie steht völlig ratlos vor dieser denkwürdigen Tatsache – mit der einzigen Ausnahme Platons. Platon hat die Methode des Sokrates aufgenommen und beibehalten, auch dann noch, als seine eigenen Forschungen ihn längst über die Ergebnisse seines Lehrers hinausgeführt hatten. Er hat sie aufgenommen mit all ihren Unvollkommenheiten. Er hat ihre Schwächen und Härten nicht beseitigt, gewiß nicht aus Pietät gegen das Andenken des Lehrers, sondern weil er selbst dieser Mängel nicht Herr wurde. Ihn leitete, wie Sokrates selbst, das Wahrheitsgefühl. Er, der so kühn mit dem Gehalt der sokratischen Philosophie schaltete, daß die philosophischen Philologen sich noch heute streiten, was sokratisch, was platonisch an der Lehre des Platon ist – der aber diese Kühnheit zur Huldigung wandelte, indem er all seine Entdeckungen seinem großen Lehrer in den Mund legte –, er hat ihm die größere Huldigung dargebracht, indem er diese Entdeckungen in die unausgeglichene, oft schleppende, oft abwegige Form des sokratischen Gesprächs kleidete, mit seines Lehrers Fehlern die eigene Lehre belastend. Er hat dadurch freilich zugleich den noch ungehobenen Schatz geborgen und damit der Nachwelt die Möglichkeit gegeben, sich seiner von neuem zu bemächtigen und seinen Reichtum zu entfalten.

Vergeblich! Heute, nach zweitausend Jahren, ist das Urteil über Sokrates unsicherer und geteilter denn je. De Urteil eines Sachkenners wie Joël, daß Sokrates »der erste und vielleicht der letzte ganz echte, ganz reine Philosoph«5 war, steht das Urteil Heinrich Maiers gegenüber, der sagt, »daß man Sokrates zu dem gestempelt hat, was er ganz gewiß nicht war, zum Philosophen«.6

Dieser Zwiespalt des Urteils hat seine Wurzel in der Unangemessenheit der Kritik. Diese Kritik übt ihren Scharfsinn noch immer an den Ergebnissen der sokratischen Philosophie, Ergebnissen, die, weil sie nicht selbständig überliefert, vielleicht von Sokrates überhaupt niemals festgehalten worden sind, den widerstreitendsten Deutungen ausgesetzt bleiben. Wo aber die Kritik die Methode streift, da haftet ihr Lob an Trivialitäten, oder sie verlegt doch den Wert der sokratischen Methode allein in die Persönlichkeit des Sokrates, wie es das Urteil von Wilamowitz bezeugt, in dessen »Platon« wir lesen: »Die sokratische Methode ohne Sokrates ist nicht mehr, als die Pädagogik zu sein pflegt, die einem Seelenführer von Gottes Gnaden abguckt, wie er sich räuspert und wie er spuckt, seine angebliche Methode auf Flaschen zieht und dann meint, das Wasser des Lebens auszuschenken.«7

Wenn das lebendige, am Einzelproblem sich entfaltende Philosophieren des Sokrates keine Nacheiferer gefunden hat, so ist es nicht zu verwundern, daß der Wahrheitsgehalt der weit abstrakteren methodischen Untersuchungen Kants nicht aufgefaßt und aufgenommen worden ist – abgesehen von den wenigen, die seine Lehre verstanden und fortgebildet haben, aber ihrerseits vollends vom übermächtigen Zeitgeist in den Hintergrund gedrängt und von der Geschichte übergangen worden sind.

Es fehlte alles, daß man in der kritischen Methode Kants die Wiederaufnahme des sokratisch-platonischen Philosophierens entdeckte, alles, daß man die Kritik der reinen Vernunft als »Traktat von der Methode« nahm, als den ihr Urheber selbst sie nach seinen eigenen Worten hat verstanden wissen wollen.8 Kant hat außer diesem Traktat von der Methode ein System aufgebaut. Er hat die weiten Gebiete der Philosophie durch eine Füllevon Resultaten bereichert. Um diese Resultate ist der Kampf entbrannt; aber die Hoffnung auf einen befriedigenden Austrag war trügerisch, solange man es unterließ, den erfinderischen Weg nachzuprüfen, auf dem Kant zu seinen Resultaten vorgedrungen war. Der Dogmatismus blieb in der Herrschaft, ja er triumphierte mehr denn je in willkürlichen Systembildungen, die, eins das andere an Phantasterei überbietend, der nüchternen und kritischen Philosophieren des Kantischen Zeitalters das öffentliche Interesse völlig entfremdeten. Was an Bruchstücken von Kants Ergebnissen auf diesen ihnen fremden Boden verpflanzt wurde, konnte hier doch zu keinem gesunden Leben gedeihen und erhielt sich nur künstlich dank der die Philosophie verdrängenden Liebhaberei für die Geschichte der Philosophie.

Warum, so fragt Kant, ist dem »Skandal« nicht vorgebeugt, der »über kurz oder lang selbst dem Volke aus den Streitigkeiten aufstoßen muß, in welche sich Metaphysiker … ohne Kritik unausbleiblich verwickeln«?9

Offenbar ist es das Ziel jeder Wissenschaft, die ihr vorliegenden Urteile zu begründen durch Zurückführung auf allgemeinere Sätze, die ihrerseits gesichert werden müssen, um dann, von diesen Grundsätzen aus vorwärtsschreitend, mit Hilfe logischer Folgerungen das System der Wissenschaft aufzubauen. Dieser Aufbau der Wissenschaften, so schwierig er im einzelnen sein mag, vollzieht sich grundsätzlich bei ihnen allen nach der gleichen Methode, der des progressiven Schließens. Die eigentlich methodischen Probleme liegen in jeder Wissenschaft da, wo der Rückgang vom Besonderen zum Allgemeinen vollzogen werden muß, wo es darum geht, sich der obersten Sätze, der allgemeineren Prinzipien zu versichern.

Die glänzende Entwicklung der mathematischen Wissenschaft und ihr allgemein zugestandener Vorsprung erklärt sich daraus, daß ihre Grundsätze – ich sehe hier einstweilen von dem Problem der Axiomatik ab – sich dem Bewußtsein leicht anbieten, daß sie anschaulich klar und dadurch völlig einleuchtend sind, so einleuchtend, daß – wie neulich Hilbert an dieser Stelle bemerkte – die mathematische Einsicht jedermann aufgezwungen werden kann. Ja der Mathematiker ist nicht einmal genötigt, den Rückgang zu diesen Prinzipien erst künstlich zu vollziehen. Er kann von willkürlichen Begriffsbildungen ausgehen, über die Bildung dieser Begriffe hinaus getrost zu Urteilen fortschreiten, kurz, er kann unmittelbar systematisch und in diesem Sinne dogmatisch verfahren. Er kann dies, weil er in der Konstruierbarkeit der Begriffe ein Kriterium ihrer Realität besitzt, ein sicheres Kennzeichen dafür, daß sich seine Theorie nicht etwa auf bloße Fiktionen bezieht.

Schon die Naturwissenschaften genießen diesen Vorzug nicht. Die Gesetze, die den Erscheinungen der Natur zugrunde liegen, können nur erschlossen werden auf dem Weg der sogenannten Induktion. Aber da diese von der Beobachtung von Tatsachen ausgeht, deren Erkenntnis sie im Experiment von Zufälligkeiten befreit, da ferner alle Vorgänge in Raum und Zeit als solche der mathematischen Berechnung zugänglich sind, da endlich die gewonnenen Lehrsätze als Erfahrungssätze durch bestätigende oder widerstreitende Erfahrungen kontrollierbar sind, so haben die Naturwissenschaften im engen Anschluß an die Mathematik den Aufstieg zur Wissenschaft auch ihrerseits vollzogen. Wo dieser Anspruch, wie in der Biologie, noch bestritten wird, da handelt es sich um die Frage der metaphysischen Voraussetzungen innerhalb der induktiven Wissenschaften, und da zeigt sich dann freilich gleich die Verwirrung, die wir überall antreffen, wo wir in das Gebiet der Philosophie hinübertreten.

Die Philosophie beruht in ihren Grundsätzen nicht auf einleuchtenden Wahrheiten. Die Grundsätze sind in ihr vielmehr das Dunkelste, Unsicherste und Umstrittenste. Einigkeit herrscht nur da, wo es sich um die konkrete Anwendung dieser Sätze handelt. Aber wo es darum geht, von dem besonderen Fall der Anwendung abzusehen und die Grundsätze aus ihrer Verbindung mit der Erfahrung zu lösen, sie also in voller Abstraktheit aufzustellen, da verliert sich der Weg des Suchenden im metaphysischen Dunkel, wenn nicht schon das künstliche Licht der Methode ihm leuchtet.

Unter diesen Umständen möchte man erwarten, daß das Problem der Methode bei niemandem so in dem Vordergrund des Interesses zu finden sei wie bei dem Philosophen. Doch ist zu bedenken, daß die eben angestellte Erwägung ihrerseits ja schon durch einen methodischen Gesichtspunkt bedingt ist, indem sie vor aller eigentlichen philosophischen Spekulation die Frage aufwirft nach dem Wesen der philosophischen Erkenntnis, und durch diese Vorfrage erst Licht fällt auf die den eigentlichen Inhalt der Philosophie angehenden Probleme.

Lassen Sie uns an dieser Stelle einen Augenblick Halt machen und vorerst den Begriff der Methode, der uns hier beschäftigt, ein wenig schärfer ins Auge fassen. Was sollen wir uns eigentlich unter einer Methode vorstellen, die das Denken der Philosophen unter ihre Regeln zwingt? Es ist hier offenbar von etwas anderem die Rede als nur von den Denkregeln der Logik. Denn die Befolgung der logischen Gesetze ist eine unerläßliche Voraussetzung für jede Wissenschaft, und das die philosophische Methode auszeichnende Moment kann daher nicht darin gefunden werden, daß sie sich der Hilfsmittel der Logik bedient. Das hieße die ihr zufallende Leistung zu eng begrenzen. Nun darf man andererseits die Anforderungen an sie nicht zu weit spannen und ihr nicht das Unmögliche zutrauen, den Gehalt der philosophischen Erkenntnis schöpferisch zu vermehren.

Was die philosophische Methode leisten soll, ist nichts anderes, als jenen Rückgang zu den Prinzipien zu sichern, der ohne ihren Leitfaden nur ein Sprung ins Dunkle wäre, mit dem wir denn nach wie vor in die Willkür verloren blieben.

Aber wie soll man auch nur die für die Entdeckung eines solchen Leitfadens hinreichende Klarheit finden, da doch vor der Hand hier nichts klar ist als eben nur die Urteile, die den Einzelfall betreffen und für die der konkrete Verstandesgebrauch ausreicht, wie er in jedem Erfahrungsurteil der Wissenschaft und des täglichen Lebens gehandhabt wird? Wie soll, wenn man diese Urteile hinter sich läßt, überhaupt noch eine Orientierung gelingen?

Die Schwierigkeit, die hier vorzuliegen scheint, verschwindet bei kritischer Prüfung jener Erfahrungsurteile. In jedem einzelnen dieser Urteile liegt neben den einzelnen Daten, wie sie die Beobachtung liefert, in der Form der Beurteilung selbst eine Erkenntnis verborgen, die nur nicht als solche gesondert aufgefaßt wird und vermöge deren wir eben jenes gesuchte Prinzip in der Tat schon voraussetzen und anwenden.

Um ein triviales Beispiel zu geben:

Wollten wir hier über die Bedeutung des metaphysischen Begriffs der Substanz diskutieren, so würden wir voraussichtlich in einen aussichtslosen Streit geraten, in dem die Skeptiker alsbald die Oberhand gewinnen möchten. Wenn aber am Schluß unserer Diskussion ein solcher Skeptiker seinen Mantel, den er beim Eintreten neben der Tür aufgehängt hat, dort nicht mehr vorfindet, so wird er sich mit dem Verlust seines Mantels schwerlich schon dadurch abfinden, daß der für ihn mißliche Verlust ja nur seinen philosophischen Zweifel an der Beharrlichkeit der Substanz bestätigt. Wie jeder andere, der einen Gegenstand sucht, den er verloren hat, setzt er in seinem Urteil, das ihn zum Suchen bestimmt, die allgemeine Wahrheit voraus, daß kein Ding zu Nichts werden kann, und wendet dabei, ohne sich des Widerspruchs mit seiner Doktrin bewußt zu sein, den metaphysischen Satz von der Beharrlichkeit der Substanz an.

Oder: Wenn wir über die Allgemeingültigkeit der Rechtsidee diskutieren wollten, so würde wohl auch diese Diskussion das gleiche Schicksal erleiden und durch ihren Verlauf wiederum dem Skeptiker recht zu geben scheinen, der die Allgemeingültigkeit ethischer Wahrheiten bestreitet.

Wenn dieser Skeptiker aber heute abend in seiner Zeitung liest, daß die Landwirte noch immer mit der Ablieferung des Brotgetreides zögern, um die Konjunktur des Getreidemarktes auszunutzen, und daß daher das Brot demnächst wieder gestreckt werden muß, so wird er nicht leicht geneigt sein, mit seiner Entrüstung darum zurückzuhalten, weil ja für den Produzentet und den Konsumenten kein gemeinsames Recht gilt. Er verurteilt wie jeder andere den Wucher und beweist damit, daß er faktisch die metaphysische Voraussetzung der Gleichheit des Anspruchs auf Interessenbefriedigung, unabhängig von der Gunst oder Ungunst der persönlichen Lage, anerkennt.

Ähnlich bei allen anderen Erfahrungsurteilen.

Stellen wir die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit, so stoßen wir auf allgemeinere Sätze, die den Grund der gefällten Einzelurteile bilden. Wir gehen durch Zergliederung zugestandener Urteile zurück zu ihren Voraussetzungen. Wir verfahren regressiv, indem wir von den Folgen zu den Gründen aufsteigen. Bei diesem Regreß abstrahieren wir von den zufälligen Tatsachen, auf die sich das Einzelurteil bezieht, und heben durch diese Absonderung die ursprünglich dunkle Voraussetzung heraus, auf die jene Beurteilung des konkreten Falles zurückgeht. Die regressive Methode der Abstraktion, die zur Aufweisung der philosophischen Prinzipien dient, erzeugt also nicht neue Erkenntnisse, weder von Tatsachen noch von Gesetzen. Sie bringt nur durch Nachdenken auf klare Begriffe, was als ursprünglicher Besitz in unserer Vernunft ruhte und dunkel in jedem Einzelurteil vernehmlich wurde.

Doch es scheint, als wenn uns diese Erörterung weit von unserem eigentlichen Thema entfernt habe, das der Methode des philosophischen Unterrichts gilt.

Lassen Sie uns daher die Verbindung aufnehmen. Wir haben gefunden, daß die Philosophie der Inbegriff jener allgemeinen Vernunftwahrheiten ist, die nur durch Denken klar werden. Philosophieren ist demnach nichts anderes, als mit Hilfe des Verstandes jene abstrakten Vernunftwahrheiten zu isolieren und in allgemeinen Urteilen auszusprechen.

Was folgt daraus für den philosophischen Unterricht?

Jene allgemeinen Wahrheiten lassen sich, sofern sie in Worten ausgesprochen werden, zu Gehör bringen. Aber sie werden darum keineswegs eingesehen. Einsehen kann sie nur derjenige, der von ihrer Anwendung ausgeht in Urteilen, die er selbst fällt, und der dann, indem er selbst den Rückgang zu den Voraussetzungen dieser Erfahrungsurteile vollzieht, in ihnen seine eigenen Voraussetzungen wiedererkennt.

Man kann daher nicht Philosophie, den Inbegriff dieser philosophischen Prinzipien, unterrichtend vermitteln, wie man etwa geschichtliche Tatsachen vermitteln kann, ja wie sich selbst geometrische Grundsätze vermitteln lassen. Tatsachen der Geschichte können als solche überhaupt nicht eingesehen werden. Sie können nur zur Kenntnis genommen werden.

Und die Grundsätze der Mathematik lassen sich freilich einsehen, aber ihre Einsicht bedarf nicht des Umweges über den eigenen erfinderischen Gedankengang. Sie sind unmittelbar klar, sobald nur überhaupt die Aufmerksamkeit auf ihren Inhalt gerichtet wird. Greift daher hier ein Lehrer dem selbständigen Forschen des Schülers vor, indem er jene Grundsätze vorträgt, so tut das ihrer Klarheit keinen Abbruch. Der Schüler kann hier folgen, selbst wenn er den erfinderischen Weg zu ihnen hin nicht selbst durchläuft. Wieweit ein solcher Unterricht Sicherheit bietet, daß der Schüler wirklich mit Verständnis folgt, bleibt freilich eine eigene Frage.

Aber wer nach dieser Art Philosophie vorträgt, behandelt sie wie eine Wissenschaft von Tatsachen, die man zur Kenntnis nimmt, und so trägt er in Wahrheit bestenfalls nur Geschichte der Philosophie vor. Denn was er übermittelt, ist nicht die philosophische Wahrheit selbst, sondern nur die Tatsache, daß er oder ein anderer dieses oder jenes für eine philosophische Wahrheit hält. Indem er aber doch den Anspruch erhebt, damit Philosophie zu lehren, betrügt er im Grunde sich selbst und seine Schüler.

Wer im Ernst philosophische Einsicht vermitteln will, kann nur die Kunst des Philosophierens lehren wollen. Er kann seine Schüler nur anleiten, selbst den beschwerlichen Rückgang anzustellen, der allein die Einsicht in die Prinzipien gewährt. Soll es also überhaupt so etwas wie philosophischen Unterricht geben, so kann es nur Unterricht im Selbstdenken sein, genauer: in der selbständigen Handhabung der Kunst des Abstrahierens. Und so verstehen wir nunmehr die von mir eingangs aufgestellte Behauptung, daß die sokratische Methode als philosophische Unterrichtsmethode die Kunst sei, nicht Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren. Aber wir haben bereits weit mehr gewonnen. Wir wissen zugleich, daß diese Kunst, wenn sie gelingen soll, von den Regeln der regressiven Methode gelenkt werden muß.

Es steht freilich noch die Nachprüfung der Nebenfrage aus, ob diese allein angemessene philosophische Unterrichtsmethode mit Recht den Namen der sokratischen führt. Denn was ich vorhin über die Bedeutung des Sokrates gesagt habe, bezog sich nur auf die Tatsache seines methodischen Vorgehens überhaupt.

Da steht es nun zunächst fest, daß die Lehrweise des Sokrates von Fehlern strotzt. Jeder intelligentere Gymnasiast beanstandet, daß Sokrates in den platonischen Dialogen an den entscheidenden Stellen Monologe hält und daß der Schüler fast nur ein Jasager ist, von dem man, wie Fries bemerkt, nicht einmal immer recht sieht, wie er zu seinem »Ja« kommt.10 Und zu diesen didaktischen Mängeln treten schwere philosophische Fehler hinzu, so daß die ablehnenden Urteile der Mitunterredner vielfach unsere Zustimmung finden.

Aber um hier zur Entscheidung über Wahrheit und Irrtum, Wert und Unwert zu kommen, lassen Sie uns noch einmal auf Platons Darstellung zurücksehen. Niemand hat mit größerer Objektivität und tieferer Menschenkenntnis die Lehrweise des Sokrates und ihre Wirkung auf seine Schüler beurteilt. Wo immer sich ein Widerstand im Leser regt gegen die Weitschweifigkeit oder Spitzfindigkeit der Gesprächsführung, gegen die Eintönigkeit der Ableitungen, gegen die Ergebnislosigkeit des Wortkampfes, da bricht auch schon in einem der Gesprächsteilnehmer der gleiche Widerstand aus. Mit welchem Freimut läßt nicht Platon die Schüler ihr Mißfallen, ihre Zweifel, ihre Langeweile äußern – ich erinnere Sie nur an die Schmähungen des Kallikles im »Gorgias«11 –, ja Platon Iäßt Gespräche abbrechen, weil den Teilnehmern die Geduld ausgeht, und keineswegs neigt sich beim Leser die Entscheidung allemal zugunsten des Sokrates. Aberwas enthüllt diese Kritik anderes als die souveräne Sicherheit, mit der Platon zu der Methode seines Lehrers steht trotz aller ihrer Gebrechen? Gibt es einen stärkeren Beweis für die Gewißheit vom inneren Wert einer Sache, als sie darzustellen mit all ihren Unvollkommenheiten, getrost darauf bauend, daß sie sich bewähren wird? Es besteht hier bei Platon kein anderes Verhältnis zu dem Werk seines Lehrers, als es zu dessen Person – in der bekannten Rede im »Symposion« – Alkibiades bekundet, wenn ihm die körperlich plumpe Erscheinung des Sokrates dazu dient, durch die Kontrastierung mit dem inneren Wesen des Mannes dessen edle Persönlichkeit nur desto schöner erstrahlen zu lassen, indem er ihn jenen Silenen vergleicht, die in ihrem Inneren Götterbilder enthalten.

Aber worin liegt nun das Positive der sokratischen Leistung? Wo finden wir in ihr die Ansätze der Kunst, das Philosophieren zu lehren?

Gewiß nicht in dem bloßen Übergang von der Rhetorik der Sophisten zum Wechselgespräch mit den Schülern, ganz abgesehen davon, daß, wie ich schon sagte, des Sokrates’ Fragen meist nur Suggestivfragen sind, auf die er nichts anderes einholt, als: »Unzweifelhaft, mein Sokrates!« – »Wahrlich, beim Zeus, so ist es! Wie sollte es anders sein?«

Aber selbst wenn die Unbeholfenheit und die eigene philosophische Leidenschaft des Sokrates dem Schüler größere Selbsttätigkeit gelassen hätte, wir müssen doch erst fragen, welches denn überhaupt die tiefere Bedeutung des Gesprächs im philosophischen Unterricht ist und was ihre Anwendung im platonischen Dialog lehrt.

Wir finden das Gespräch als Kunstform beim Dichter im Drama und im Roman und als Unterrichtsform zum Zweck der Belehrung. Begrifflich lassen sich diese Formen trennen; in Wirklichkeit aber stellen wir an jedes Gespräch die Forderung der Lebendigkeit, Klarheit und Schönheit der Wechselrede, wie auch die der Parteinahme für die Wahrheit, der Entschiedenheit und der Überzeugungskraft. Wir wollen – wenn auch das Schwergewicht jeweils verschieden gelagert ist – im Künstler den Lehrer und im Lehrer den Künstler erkennen.

Nun aber müssen wir hier noch unterscheiden zwischen dem schriftlich niedergelegten Gespräch – mag dieses auch die Wiedergabe eines wirklichen sein – und dem Gespräch, das lebende Menschen führen.

Gespräche, die niedergeschrieben werden, büßen ihr ursprüngliches Leben ein, »wie die Blume in des Botanikers blecherner Kapsel«. Soll das niedergelegte Gespräch dennoch befriedigen, so muß die Atmosphäre vergeistigt und gereinigt, die Ansprüche müssen gesteigert werden, und es können dann solche seltsamen und wunderbaren Leistungen entstehen wie das Gespräch des Großinquisitors, das er mit einem schweigenden Gegner führt, der ihn schweigend besiegt.

Doch das Gespräch als Lehrform drängt dahin, die Annäherung an wirkliche Menschen zu wahren, da es sonst seine Aufgabe, Beispiel und Anleitung zu sein, im Stich läßt. Die Augenblicksform aber eines wirklichen Gesprächs mit seinen Unstetigkeiten im Spiegel der schriftlichen Wiedergabe aufzufangen, die Mitte zu halten zwischen bloßer Sinntreue und bloßer Worttreue, das bedeutet eine Aufgabe, deren Lösung vielleicht didaktisch gelingen kann, aber darum, weil sie einem bestimmten Zweck dient, den Ansprüchen der freien Schönheit nur selten genügt und darum insgesamt fast immer einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt. Ich kenne in der Literatur nur wenig belehrende Gespräche, bei denen dieser Mißklang wenigstens teilweise aufgehoben ist. Ich denke z. B. an einige Teile der bekannten drei Gespräche von Solowjeff, ferner an den sokratischen Dialog, mit dem der amerikanische Sozialist Bellamy seinen Lehrroman »Gleichheit« einleitet, und nicht zum wenigsten an die den echt sokratischen Geist treffenden Gespräche in August Niemanns Roman »Bakchen und Thyrsosträger«.