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Ein gutes Jahr ist seit der ersten schicksalhaften Begegnung von Sumika Maboroshi und Osamu Akechi vergangen. Als das beste Ermittlerteam Tokyos gelten die beiden schon lange, doch jetzt stehen sie einer noch nie dagewesenen Herausforderung gegenüber: An einem der unheilvollsten Orte des Landes treten sie gegen die kriminalistische Elite Japans an, um den Besten unter ihnen zu krönen. Ein Spiel soll es sein - ein elitärer Wettkampf, dessen Sieger unvorstellbare Chancen winken. Doch schon bald beginnen die Teilnehmer, daran zu zweifeln, ob wirklich nur ihre eigene Eitelkeit auf dem Spiel steht. Spätestens nachdem es den ersten Toten gibt…
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Getrieben von purer Angst hetzte sie durch den immer tiefer werdenden Wald.
Wieder und wieder wurde sie durch drahtige Sträucher und schlammige Pfützen aufgehalten aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie konnte sich nicht darum kümmern, dass ihr ehemals so blütenweißer Kimono sich immer mehr der Farbe des Waldes anzupassen begann. Sie konnte sich nicht darum kümmern, dass sein unteres Ende so zerfetzt war, dass schon längst neben den braunen auch rote Flecke hinzugekommen waren. Sie hetzte weiter. Blut von ihren geschundenen, über und über mit Kratzern und Wunden übersäten Beinen tropfte zu Boden. Fast so als wolle sie eine Spur legen, die zu ihr führte - die ihre Jäger, die erbarmungslos hinter ihr her waren und sie töten würden, nur noch aggressiver und unnachgiebiger machte. Auf einmal blieb sie stehen. Ein großer, reißender Fluss versperrte ihr den Weg. Sie konnte nicht weiter. Wo sollte sie nur hin?
Dieser Teil des Waldes war ihr vollkommen fremd und derart ausgezehrt wie sie von der gefühlt stundenlangen Flucht durch das Unterholz war, konnte sie nicht auf die andere Seite schwimmen.
Das hätte den Verfolgern ihre Arbeit wohl abgenommen. Sie ließ sich auf ihre Knie fallen. Ihr langes schwarzes Haar legte sich wie ein dunkler Mantel über sie und reichte bis auf den Boden. Sie schluchzte und neben dem Blut, das jetzt direkt von den Wunden hinunter tropfte, liefen auch Tränen an ihr herunter. Sie ergossen sich geradezu über das so zierlich aussehende Gesicht.
Die pechschwarzen Augen waren erfüllt von Angst, Verzweiflung, Panik und in gewissem Sinne auch Hoffnungslosigkeit.
Selbst aus ihrer kleinen Stupsnase lief eine Mischung aus Tränenflüssigkeit und Schweiß. Wie Kanäle zogen sie sich durch, bevor sie über ihren Mund zum Kinn gelangten. Selbst als sie mit dem Ärmel ihres Kimonos darüber wischte, konnte man immer noch die Ränder deutlich sehen. Was würde sie jetzt nur tun?
War es vielleicht nicht sogar besser, wenn sie ihr Schicksal den Fluten überlässt, anstatt sich den Bestien, die hinter ihr her waren, zum Fraß vorzuwerfen?
Vielleicht hatte sie ja doch noch die Kraft, ans andere Ufer zu gelangen. Sie wollte noch nicht sterben und wenn, dann wenigstens nicht als Beutetier. Die junge Frau stützte sich mit ihrem gesamten Gewicht auf ihr rechtes Knie, nachdem sie versucht hatte, ihren Fuß im schlammigen Boden zu fixieren.
„Jetzt oder nie!“, dachte sie.
Sie presste mit beiden Händen und aller Kraft auf ihr Knie, wippte nach oben und war kurz davor, auch mit ihrem anderen Bein Halt zu finden, doch sie rutschte weg und fiel wieder zu Boden.
Sie konnte nicht mehr.
Es war aus.
Man würde sie in ein paar Minuten genauso hier finden und sie wusste, was das bedeutete.
Sie würden über sie herfallen, sie langsam zerfleischen und ausbluten lassen. Auf das einzige was sie jetzt noch hoffen konnte, war ein schneller Tod.
Sie drehte sich auf den Rücken und krallte sich in den durch ihre eigene Körpertemperatur erwärmten Schlamm, der durch ihre Hände glitt. Es begann schon langsam zu dämmern. Die Sonne verfärbte sich orange-rot.
Nur für einen kurzen Augenblick verschwanden all die Strapazen aus dem Gesicht der Frau und wichen einem wehmütigen Lächeln. Es sollte wohl das letzte sein, was sie jemals sehen würde, denn in der Ferne hörte sie Geräusche. Äste wurden abgeknickt, Wasser spritzte auf. Es würde nicht mehr lange dauern und sie schloss die Augen.
Nach wenigen Augenblicken spürte sie aber, dass sich irgendetwas über ihr befinden musste. Die Wärme der letzten Sonnenstrahlen verschwand und blinzelnd öffnete sie ihre Augen wieder. Anfangs konnte sie nicht wirklich sehen, was es war, das sich dort befand. Nach wenigen Sekunden aber, als sich ihre Augen wieder an das Licht gewöhnt hatten, blickte sie in die großen Augen eines Kindes, das sich besorgt über sie beugte und fragte:
„Tante, ist bei dir alles in Ordnung?
Du musst aufstehen, sonst erkältest du dich noch!“.
Es dauerte eine Weile, bis die Frau begriff, was hier vor sich ging. Doch selbst als sie realisierte, was passierte, verstand sie es nicht.
„Was macht ein Kind hier ganz allein mitten in diesem Wald?“.
„Wa…, Was…?“.
Sie versuchte, zu sprechen, konnte aber nicht. Alle Kraft war aus ihr gewichen. Das kleine Mädchen lächelte und sagte zu ihr:
„Dein Kimono gefällt mir. Es ist schade, dass er so dreckig geworden ist. Meine Mama sagt auch immer, dass ich zum Spielen nichts Weißes anziehen soll. Hat dir deine Mama das nicht gesagt?“.
Ihr wurde diese ganze Sache immer unheimlicher.
Meinte dieses kleine Mädchen das wirklich ernst? Die Frau blickte noch einmal auf. Ein breites Lächeln zog sich über ihr Gesicht.
Die Frau konnte einfach nicht anders. Sie musste zurücklächeln und sagte kurz darauf:
„Ja, du hast Recht.
Meine Mama hat das auch zu mir gesagt.
Aber das ist mein Lieblingskimono…“.
„Aber schimpft sie dann nicht mit dir, wenn er so dreckig ist?“.
„Ach weißt du, meine Mama ist leider schon lange tot. Es ist also nicht mehr so wichtig, ob er nun dreckig geworden ist, oder?“.
„Nein!“.
Auf einmal verfinsterte sich das Gesicht des Mädchens. Die Stirn in Falten gezogen und zutiefst besorgt, schrie sie geradezu heraus:
„Dann musst du ja gerade darauf aufpassen. Wenn deine Mama dich jetzt vom Himmel aus sieht, wird sie bestimmt enttäuscht sein!
Wir müssen ihn wieder reinwaschen.
Willst du denn gar keine gute Tochter sein?“.
Es war, als ob die Frau ein Blitz durchzog, sie mit einem Mal das ganze Leid und die Erschöpfung vergaß. Der Lebenswille kehrte auch in ihr Gesicht zurück.
„Du hast Recht, meine Kleine. Ich will meine Mama stolz machen. Wir waschen den Kimono gemeinsam. Hast du Lust, mir zu helfen?“.
Die Freude kehrte wieder in das Gesicht des Mädchens zurück und auf einmal war es der Frau doch möglich, aufzustehen. Sie nahm die Kleine an ihre Hand und beide machten sich auf den Weg, immer am Ufer des Flusses entlang.
Die Sonne verschwand hinter den Hügeln. Dunkelheit legte sich über den Wald. Der Fluss war zu einem pechschwarzen Strom geworden.
Doch schon von weitem konnte man sehen, dass dies keine normale Nacht war. Ungefähr ein Dutzend Männer mit Fackeln standen am Ufer und schienen sich zu beraten. Man konnte nur Satzfetzen hören. Dinge wie
„Wo ist sie hin?“ oder „Unmöglich durch den Fluss!“ schallten durch das Tal.
„Hey!“.
Dieser Schrei kam auch von einem der Männer und man konnte vermuten, dass er etwas entdeckt hatte.
Etwas, das nicht besonders positiv war.
Zwei der Männer griffen sich an ihren Kopf, einer ließ sogar die Fackel fallen. Ein hektisches Gewirr von Stimmen stellte sich ein und einer von ihnen sprintete los. Die anderen folgten ihm. Man konnte nicht sagen, ob es aus Sorge um ihren Begleiter oder aufgrund der Situation war.
Sie rannten schnell, sogar noch schneller als sie gekommen waren.
Nach einigen Minuten kamen sie zu einer Hütte, die still an einer Flussbiegung stand. Einzig das Flackern von ein paar im Fenster erleuchteten Kerzen deutete darauf hin, dass jemand zu Hause war. Die Männer steuerten exakt auf diese Hütte zu. Sie schienen jetzt genauso angsterfüllt, verzweifelt und panisch wie die Frau im weißen Kimono.
„Aiko!“, schrie einer der Männer aus vollem Leib und riss die Tür auf.
Als er hineinblickte, versteinerte sein Gesicht.
Mit offenem Mund stand er regungslos da.
Als ihn die anderen endlich eingeholt hatten und ebenfalls in die Hütte blickten, konnten auch sie ihren Augen nicht trauen.
Kommissar Kobayashi hetzte die Treppen des Polizeipräsidiums hinauf. Nur kurz hatte er einen Blick in Richtung des gläsernen Fahrstuhls geworfen, doch schnell entschied er sich dagegen. Es würde viel zu lange dauern, damit in den zehnten Stock zu fahren, zumal nicht abzusehen war, wie oft der Fahrstuhl unterwegs Halt machen würde. Nein. Er musste die Treppe nehmen, wollte er zumindest einigermaßen rechtzeitig ankommen.
Im Laufschritt eilte der wohl Ende 20-jährige, schwarzhaarige Mann mit blassen Teint zum Treppenhaus. Sein blauer Schlips schwang wie ein Pendel über dem schwarzen Anzug mit weißem Hemd hin und her, begleitet von dem genauso regelmäßigen Schnaufen Kobayashis. Er riss die Tür auf und stürzte die Treppe hinauf. Dabei nahm er nicht nur zwei Treppen gleichzeitig sondern achtete mit größter Sorgfalt darauf, keinesfalls nach oben zu sehen. Die Stufen fixierend gewann er immer mehr an Höhe. Doch mit zunehmender
Zeit schwang das blaue Pendel an seinem Hals langsamer, die Abstände des Luftholens wurden geringer, die Schritte kürzer.
„Bald bin ich da!
Nur noch ein kleines Stück!“, feuerte er sich selbst mit flacher Stimme an ohne wissen zu können, wie weit es tatsächlich noch war. Schließlich hatte er die großen roten Zahlen an den Wänden, die das Stockwerk markierten, nie eines Blickes gewürdigt. Doch da, genau in diesem Moment war es soweit.
Unter immer lauter werdendem Stöhnen blickte er kurz, fast verstohlen in Richtung der nächsten Zahl. Eine große Acht war zu sehen. Dann der Blick auf die Uhr. Es war 11.55 Uhr.
„Es… Ich schaffe es!“.
Unermüdlich schritt er weiter nach oben. Die Neun und schließlich die Zehn waren an der Wand zu sehen und er drückte die Türklinke, die in den Gang der Mordkommission des Präsidiums führte so tief herunter, als wolle er sich an ihr festhalten. Er öffnete sie und da sah er es. Es schien als hätte er vor Freude einen Luftsprung machen können, so breit war das Grinsen auf seinem Gesicht.
Er hatte es geschafft.
„Kobayashi, endlich!“.
Schnell drehte er sich um, in die Richtung aus der sein Name gekommen war. Nicht sehr überraschend erblickte er dort seinen schon offensichtlich auf die Uhr schauenden Kollegen.
Noch bevor Kobayashi auch nur den Versuch machen konnte, ihm etwas zu entgegnen, wurde er schon am Arm gepackt und in den vor ihm liegenden Saal gezogen.
Oder zumindest das, was wie ein Saal aussah. Mit den wohl mehr als einhundert Stühlen, die in Zehnerreihen links und rechts eines kleinen Durchgangs aufgereiht waren, der Bühne, die festlich mit Blumen dekoriert wurde und dem Pult mit dem Wappen der japanischen Polizei darauf, musste man schon wissen, dass das nur ein umfunktioniertes Großraumbüro war, um daran zu zweifeln. Genau das Büro, in dem Kobayashi und der Mann, der ihn immer noch am Arm gepackt hatte, ihren täglichen Dienst taten.
Die beiden tauchten ein in ein lautes Gewirr von Stimmen, in ein schwarz weißes Meer aus Anzugsträgern, das nur einige kleine Farbtupfer hatte, die nahezu untergingen.
„Wissen Sie eigentlich, wie lange wir schon warten? Sie wissen genau, was auf dem Spiel steht, Kobayashi!“. Er schluckte.
„Wollen Sie, dass die Bombe hier hochgeht?“.
Obwohl er immer noch nicht ganz wieder zu Atem gekommen war, stockte dieser sofort. Es war, als hätte ihn diese Aussage an das erinnert, was auf dem Spiel stand. Nicht nur er, sein Kollege, sondern die ganze Abteilung, ja, das gesamte Präsidium waren in Gefahr.
Sollte heute diese Bombe explodieren, wäre nichts mehr so wie früher. Es wäre eine Katastrophe, wie sie wohl noch nie zuvor dagewesen war.
Während diese Gedanken durch den Kopf Kobayashis rasten, zog ihn sein Kollege immer weiter. In einer der vorderen Reihen bog er nach links ab und die beiden setzten sich auf zwei Stühle, die jeweils kleine Namensschilder an den Lehnen hatten. Darauf standen die Namen
„Eisuke Kobayashi“ und „Makoto Ono“.
„Nun reden Sie schon!
Was sagen die Kollegen aus Kyoto?“.
Fordernd und mit geweiteten Augen wandte er sich an Kobayashi. Sein Kollege der leicht älter schien und ebenso einen schwarzen Anzug trug, war bis zum Zerreißen gespannt.
„A…, Also..“
Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren.
„Die Kollegen sagten, dass es durchaus möglich ist, dass die Bombe heute explodieren wird aber die Indizien seien nicht eindeutig…“
„Wie ‚nicht eindeutig‘?“, fuhr Ono dazwischen.
„Es liegt doch nun vollkommen auf der Hand, dass es heute passiert. Das gesamte Morddezernat, der Polizeirat, sogar der Polizeipräsident.
Alle sind hier.
Es muss heute sein.
Das ist für ihn die perfekte Gelegenheit, die Bombe zu zünden!“.
„Und was ist, wenn Kobayashi und die Kollegen Recht haben?“.
Der Mann, der neben Ono saß, meldete sich zu Wort. Mit seiner tiefen, sonoren Stimme, versuchte er anscheinend nicht nur Zweifel auszudrücken, sondern auch den hitzigen Sitznachbarn zu beruhigen.
„Ich gebe zu, dass die Gelegenheit günstig ist aber was wissen wir denn schon?
Es gab keinerlei Ankündigungsschreiben, keine Androhung, noch nicht einmal eine Andeutung. Alles, was wir haben, sind Indizien und einige Aussagen der Kollegen“.
„Die, wie du genau weißt, stichhaltig sind!
Oder hat er nicht in der Vergangenheit keine Chance ausgelassen, wenn sie sich bot?
Er ist gefährlich, begreife das endlich, Suzuki!“.
Fast schon rüde aber immer noch im Flüsterton, wies Ono seinen Kollegen zurecht.
Der ließ sich davon scheinbar nicht beeindrucken und fixierte weiterhin die Bühne. Ruhig, die Beine übereinander geschlagen, schmunzelte er leicht.
„Also, was ist jetzt, Kobayashi!“.
„Die Kollegen aus Kyoto sagten, dass er durchaus dafür infrage kommt. Aber sie waren sich nicht sicher. Dass er so eine Aktion planen könnte, sei klar, bloß ob und wann er sie durchführt, konnten die Kollegen nicht eindeutig sagen. Sie haben uns aber den Rat gegeben, wachsam zu sein“.
„Wachsam sein?
Meinen die das ernst?
Denken sie wirklich, damit ist es das gewesen?
Wir haben es hier mit einem skrupellosen, eiskalten Kerl zu tun, der sich einfach so zum Spaß das nimmt, was er will und nicht eine Sekunde darüber nachdenkt, welches Leid er anderen damit zufügt. Er ist ein gemeingefährlicher Killer, er…“.
Plötzlich spürte Ono einen leichten Stoß in seine rechten Rippen. Er drehte sich in Richtung seines Kollegen Suzuki um und war kurz davor, ihn wieder zurechtzuweisen, als dieser stumm mit einer kleinen Kopfbewegung nach vorn auf die Bühne deutete - auf den Polizeirat und Leiter der Mordkommission des Polizeipräsidiums, Haneda.
Als ob sein durch Mark und Bein gehender Blick nicht schon genug hätte, ihn erstarren zu lassen, schaute nicht nur seine in jedem Sinne mächtige Gestalt ihn an. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie der gesamte Saal ihn fokussierte. Nur ihn, keinen anderen.
Sprachlos geworden, versuchte Ono etwas zu sagen, brachte jedoch nicht mehr als einige undeutliche Laute heraus. Da runzelte sich die Stirn des großen und kräftigen Haneda auf der Bühne, er drehte sich kurz zur Seite und deutet einem der weiteren im Saal versammelten Anzugträger etwas an. Ein leichtes Neigen und Heben des Kopfes genügte und schon machte er sich auf den Weg - erst zu einem kleinen Kasten neben der Bühne, dann genau auf Ono, Kobayashi und Suzuki zu.
Die drei sahen nur einen ungefähr dreißig Zentimeter langen, dünnen Gegenstand, den der Mann in der Hand hielt und damit in ihre Richtung zeigte. Für Ono stand wohl sofort fest, was es sein musste. Seine Reaktion mit vor Angst geweiteten Augen und sich immer deutlicher abzeichnenden Schweißperlen auf der Stirn war eindeutig.
Es konnte nichts anderes sein.
Sie war es.
Eine Pistole.
Immer näher kam der Mann und streckte sie ihm dann über den Kopf Kobayashis entgegen. Aber er drückte nicht ab. Nur langsam wanderte der zuvor abgewandte Blick Onos auf die Hand des Mannes. Doch was er sah, war nicht etwa das, was er vermutet hatte. Er blickte nicht in den Lauf einer Pistole, sondern sah die typische Gitterstruktur eines Mikrophons.
„Da Hauptkommissar Ono jetzt auch endlich die passende Ausrüstung hat, wird er Ihnen allen sicherlich gern noch einmal den Grund verraten, weshalb wir uns heute alle hier versammelt haben.
Herr Ono, bitte!
Was können Sie uns also sagen zu ihrem hochgeschätzten Kollegen und Vorgesetzten…“
Da plötzlich erinnerte er sich.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Vor einer Woche hatte er sich bereit erklärt, die Rede auf der Veranstaltung zu halten, weil er den Verdächtigen nicht aus den Augen lassen wollte. So hatte er doch überhaupt erst erfahren, dass er von Kyoto nach Tokyo gekommen war. Durch das Gespräch mit ihm, kam der Gedanke auf, dass er seinen Plan heute umsetzen und die Bombe explodieren lassen würde. Schließlich war er ein erbarmungsloser Killer, ein…
„…Herrn Oberinspektor Osamu Akechi!“.
Die Menge applaudierte und Akechi, der auf einem Stuhl auf der Bühne saß, nickte wohlwollend in alle Richtungen des vor ihm sitzenden Publikums.
Ono nutzte dies, um sich zu sammeln, tief Luft zu holen und seine Gedanken zu ordnen.
Er würde es ihm nicht so leicht machen und sich jetzt vor aller Augen bloß stellen. Er wusste schließlich, wer er wirklich war, dieser…
„…Ladykiller!“.
Nur Augenblicke nachdem er, dieses Wort flüsternd, seinen abgebrochenen Satz vervollständigt hatte, kam er der Aufforderung Hanedas nach. Obwohl insbesondere seine beiden Kollegen Kobayashi und Suzuki sicherlich Zweifel hatten, dass es sich immer noch um die gleiche Person handelte.
„Wir, die Mordkommission des Polizeipräsidiums in Tokyo, haben den Ruf, nicht eher zu ruhen, bis wir das geschafft haben, was nicht nur unsere Aufgabe, unser täglich Brot ist, sondern auch die Leidenschaft eines jeden Einzelnen von uns:
Und das ist, die Gerechtigkeit und den Wert jedes einzelnen Lebens aufrecht zu erhalten. Niemand kann sich dank uns sicher sein, dass es ungesühnt bleibt, einem anderen Menschen das Leben zu rauben. Jeder von uns kennt die vielen Gründe, die die Täter vorbringen. Sind sie manchmal nicht mehr als eine vorgeschobene Begründung von blinder Mordlust, kam uns sicher auch schon das eine oder andere Mal etwas unter, was uns mit der Frage konfrontierte:
‚Hätte ich nicht auch so handeln können?
Hätte ich selbst in dieser Situation nicht auch zumindest darüber nachgedacht, so zu handeln?‘
Dabei wissen wir doch, wie schrecklich jeder einzelne Tatort ist, wie schmerzlich den Angehörigen die schlimmste Nachricht aller Nachrichten zu überbringen.
Dafür kann es keine Routine, keinen Alltag geben. Und somit lernen wir jeden Tag aufs Neue, dass es für so etwas wie Mord keine Rechtfertigung geben kann. Das selbst jeden Tag zu verkörpern, dies nach außen zu repräsentieren und die Gesellschaft jeden Tag daran zu erinnern, ist auch eine Aufgabe, die es zu erfüllen gilt. Und das kann man am besten, indem die Täter verfolgt, gestellt und alle Indizien zusammengetragen werden, was in eine lückenlose Beweiskette mündet.
‚Kein genommenes Leben ist unwichtig!‘
Das ist die Botschaft hervorragender Polizeiarbeit und derjenige der sich dafür im letzten Jahr ganz besonders verdient gemacht hat, ist der von uns allen hoch geschätzte Oberinspektor Osamu Akechi. Eine Aufklärungsquote von einhundert Prozent und das bei einer Rekordanzahl an Fällen. Es ist wahrlich nicht übertrieben, zu sagen, dass er zur Elite der japanischen Polizei gehört. Scharfsinnig, rational, einfühlsam und immer auf die Folgen seines eigenen Handelns bedacht, erarbeitete sich der Oberinspektor einen tadellosen Ruf und wird heute zurecht als bester Ermittler des Jahres geehrt. Zu dieser Auszeichnung von uns, Ihren Kollegen, die besten Glückwünsche und Hoffnungen, dass Sie weiter so ein Aushängeschild unserer Abteilung bleiben. Vielen Dank für Ihre harte Arbeit!“.
Mit einer Verbeugung schloss Ono seine Rede ab, die den Saal hatte verstummen lassen. Erst nach einigen Augenblicken war etwas zu hören. Es war ein einsames Klatschen, das von der Bühne durch den Raum schallte. Alle schauten unweigerlich in diese Richtung und sahen den aufgestandenen Oberinspektor Akechi mit leicht nickendem Kopf und souveränem Lächeln auf den Lippen applaudieren. Nur kurze Zeit später schloss sich der gesamte Saal an. Eine tosende Beifallwelle brandete auf, die erst mit dem Gang des Polizeirats Haneda an das Rednerpult verstummte.
„Ich danke dem Kollegen Ono sehr für seine bewegende Laudatio für Oberinspektor Akechi. Und ich muss sagen, dass meine leichten Bedenken im Nachhinein betrachtet vollkommen unberechtigt waren. Bis kurz vor der heutigen Ehrungsveranstaltung hatte sich niemand für diese Rede gefunden, was mich schon dazu veranlasste, zu glauben, dass es Differenzen zwischen Ihnen und Herrn Akechi gäbe. Doch ich danke Herrn Ono, dass er mir die Augen geöffnet hat. Es war nicht eine zu große Distanz zu Herrn Akechi oder gar Differenzen, die hierfür verantwortlich waren. Vielmehr brauchte es ein sprachliches Talent wie Herrn Ono, die richtigen Worte zu finden. In diesem Sinne auch stellvertretend für Herrn Akechi einen kollegialen Dank an Sie, Herr Ono.“
Demonstrativ applaudierte Haneda und blickte in
Richtung des mittlerweile sitzenden Kollegen. Folgsamer Applaus der anderen Zuhörer ertönte.
„Die Folgen seines eigenen Handelns bedenken… Dachtest du hier etwa an etwas Bestimmtes, Ono?“.
Suzukis Grinsen war nicht zu übersehen und sein Sitznachbar hatte Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen.
Als auch dieser Applaus abgeebbt war, setzte Haneda fort:
„Doch nicht nur Oberinspektor Akechi soll heute wegen seiner Verdienste geehrt werden. Es gibt noch jemanden, der während des letzten Jahres Erstaunliches geleistet und - ich glaube, das hier so sagen zu können - wahre Wunder bewirkt hat. Die Rede ist natürlich von unserer Polizeipsychologin. Ich bitte Sie alle, sie auch ganz herzlich zu begrüßen. Einen Applaus also für Su…“.
Noch bevor er seinen Satz vollendet hatte, brach ein unglaublicher Beifallssturm los. Er tobte im gesamten Saal, pfiff durch die Reihen, hallte von den Wänden wider. Fast hätte man glauben können, ein Erdbeben erschüttere das Gebäude, so laut war es. Obwohl Polizeirat Haneda beide Hände nach oben streckte, um zu signalisieren, dass er wieder das Wort ergreifen wollte, dauerte es doch fast eine halbe Minute, bis das tatsächlich möglich war.
„Wie mir scheint muss ich mich doch revidieren. Dass sich jeder einzelne Kollege der gesamten Abteilung meldete, die Laudatio für Frau Maboroshi zu halten, scheint wohl ganz klare Gründe zu haben. Wie dem auch sei, möchte ich, wie zuvor schon bekanntgegeben selbst derjenige sein, der nicht nur auf ihr bewegtes letztes Jahr zurückblickt, sondern sie ebenso darin bestärkt, genauso auch im nächsten fortzufahren.
Frau Maboroshi…“
Haneda drehte sich um.
Neben dem schmunzelnden Akechi saß diejenige, die für diese Eruption des Raumes verantwortlich war. In einer schlichten, blau-schwarzen Polizeiuniform mit kurzem Oberteil, den typischen goldenen Bändern über der Schulter und einem bis leicht über die Knie reichenden Rock wirkte sie doch eher so, als würde sie darum bangen, die Kündigung zu erhalten. Ihre Beine eng aneinander gedrückt und zur Seite weggeknickt, konnte sie kaum ihren Blick vom Boden heben. Erst als sie merkte, dass der Hut, den sie zur Uniform passend auf dem Kopf trug, herunter zu fallen drohte, schaute sie auf. Eine nicht enden wollende Schar von Gesichtern fokussierte sie, schaute nur auf sie. So viele Menschen waren nun nur mit ihr beschäftigt, sie stand im Zentrum, war der Mittelpunkt. Da suchten ihre Augen nach Polizeirat Haneda.
„Soll ich jetzt schon etwas sagen?
Wollte er nicht erst seine Rede halten und warum will er auf das ganze Jahr zurückblicken? Das sollte doch,… ich hatte, aber…
Was mache ich nur?“.
Ein verlegenes Lächeln huschte über Sumikas Gesicht. Und noch bevor Haneda fortsetzen konnte, entluden sich wiederum Urgewalten im Publikum. Klatschen, vereinzelt sogar Rufe waren zu hören, die wiederum erst mit Nachdruck zum Verstummen gebracht werden mussten.
„Frau Maboroshi, im letzten Jahr, das auch das erste hier in unserer Abteilung war, haben Sie nicht nur die Quote der Fallaufklärung sondern auch die Arbeitsatmosphäre in beispielloser Art und Weise in die Höhe schnellen lassen. Wie komplex und verfahren die Suche nach einem Täter auch war, Sie fanden immer das letzte Puzzlestück, das uns zum entscheidenden Beweis oder dem Versteck des Mörders führte. Ich hatte sogar den Eindruck, dass ausweglos erscheinende Situationen ihre kriminalistische Intelligenz nur zu noch phänomenaleren Leistungen anspornen. Jeder Fall, den sie bearbeiteten, wurde gelöst - und dabei sollte ich besser sagen, von Ihnen gelöst. Sogar ihren Kollegen Akechi konnten Sie noch übertreffen. Denn ihren ersten Fall bearbeiteten Sie schon vor Ihrem ersten Arbeitstag in dieser Abteilung - und griffen dem bis dahin noch ratlosen Oberinspektor Akechi in unnachahmlicher Weise unter die Arme. Seine Empfehlung war jedoch nur letztes Mosaikstein, das sie hierher führte. Denn, Frau Maboroshi, Sie vereinbaren die Scharfsinnigkeit und Rationalität mit Ihrem tadellosen, stets freundlichen und angenehmen Wesen“.
„Bitte hören Sie auf!
Bitte!“.
Sumika presste die Augen zusammen, biss sich auf die Lippen. Ihr ganzer Körper verkrampfte.
„Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass Sie ein wahrer Glücksgriff für uns waren und sind. Sowohl fachlich als auch kollegial.
Wie sonst soll man sich erklären, dass die
Krankmeldungen im letzten Jahr…“.
„Nein! Nicht weiter! Bitte nicht!“.
„… den niedrigsten Stand seit 60 Jahren hatten?
Eine größere Wertschätzung kann es seitens Ihrer Kollegen nicht geben und nun möchte ich mein Versprechen an Sie erfüllen, die Rede kurz halten. Bevor wir jedoch schließen und ich Ihnen ganz offiziell die Urkunden in meinem Büro übergebe…“
„Was noch?“
Panik kam in Sumika auf. Natürlich hatte sie gewusst, dass das ihr bisher schwerster Tag seitdem sie die Stelle angetreten hatte, werden würde. Doch selbst sie, hatte das nicht ahnen können. Dieses Gefühl der Beklemmung, der Sorge, der Angst stieg immer höher, bohrte sich in jeden Gedanken. Es musste enden, schnell!
„…möchte Ihr Kollege noch etwas sagen. Bitte, Herr Akechi!“.
Schon wieder brach eine Naturgewalt über den Saal herein. Doch kein Sturm, keine Flut der Begeisterung zog auf. Es war ein eisiger Hauch der die Stimmung augenblicklich einfrieren ließ. Erstarrte Gesichter, eingefrorene Mienen waren überall im Publikum zu sehen.
„Vielen Dank, Herr Polizeirat!
Ich kann mich Ihren Worten nur anschließen. Wir haben wirklich eine wunderbare Kollegin hinzugewonnen“.
Ob aus Neugier, Unverständnis oder Hoffnung, Sumikas Blick wanderte noch einmal langsam nach oben. Sie schaute auf den wie immer souverän, unangreifbar und überlegen wirkenden Akechi, der ihren Blick erwiderte, ihr zuzwinkerte. Doch Sumikas Kopf war so leer, sie konnte sich noch nicht einmal fragen, was dies zu bedeuten hatte.
„Da wir heute schon so viel an schmeichelnden Worten gehört haben, möchte ich das Folgende nicht zu sehr ausdehnen, obwohl es eigentlich viel mehr Worte benötigte.
Sumika, ich möchte dir heute etwas sagen, dass ich eigentlich schon seit deinem ersten Tag hier hätte sagen können. Sumika, ich…“
Klirrend lag die Kälte förmlich in der Luft. Das Publikum hielt den Atem an, so als könnte jeder Atemzug der letzte sein.
„… danke dir, dass du mich besiegt hast!“.
In Sekundenschnelle änderte sich die Stimmung. Einzig Sumika verharrte, noch immer mit leerem Kopf.
„Kollegen“, Akechi wandte sich an das erstaunte Publikum, „ich weiß, dass das Zusammenarbeiten mit mir alles andere als einfach ist und viele nicht zuletzt deswegen wohl schon manchmal solche Gedanken hatten, wie Herr Ono sie vorhin schilderte. Immer standen Sie hinten an, wurden mit mir verglichen. Doch jetzt, dank unserer Kollegin Sumika, bin ich es, der endlich auch in dieser Rolle ist, die ich Ihnen seit meinem ersten Tag zuwies. Ich verstehe jetzt, habe am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, nicht immer Sieger zu sein. Doch, meine Lage ist trotzdem nicht ganz dieselbe wie Ihre. Denn…“. Er drehte sich wieder zu Sumika.
„…ich habe durch meine wunderbare Kollegin trotzdem gewonnen!“.
Akechi steckte das Mikrophon in die Halterung, kehrte zu seinem Stuhl zurück und setzte sich.
Stille.
Sekundenlang.
Immer länger.
Verwirrung, Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit schienen alle in eine Starre verfallen zu lassen. Nichts passierte. Dann, nach und nach wandten sich die Köpfe nach links und rechts, in der Hoffnung sich der Reaktion des Nachbarn anschließen zu können. Doch noch immer schien keiner wirklich zu wissen, wie es auf diese Worte Akechis am besten zu reagieren galt. Da auf einmal ein leises Klatschen aus einer Ecke des Saals. Verhalten, fast schüchtern kam es daher und breitete sich nur äußerst zäh im Saal aus. Schlussendlich erfasste es jedoch jeden - obwohl die Zurückhaltung und Unsicherheit blieben.
„Es scheint wohl doch falscher Alarm gewesen zu sein…“
Kobayashi flüsterte in Richtung seiner beiden Kollegen Ono und Suzuki.
„Abwarten!“.
Zu dieser mit größtem Misstrauen versetzten Antwort seines Kollegen Ono steuerte Suzuki ein breites, schelmisches Grinsen bei.
„Ich hoffe, die Rede war Ihnen kurz genug, Frau Maboroshi!“.
Auf dem Weg zum Büro des Polizeirats Haneda wandte sich dieser noch einmal kurz an die schräg hinter ihm laufende Sumika. Dadurch wieder an die nur wenige Augenblicke zurückliegende Rede erinnert, zuckte sie leicht verschreckt zusammen. Versuchte sie sich doch gerade von eben dem zu erholen, was er jetzt gerade wieder ansprach.
„A…, also… Natürlich!
Mir hat sie sehr gefallen.
Ich…, ich. Es ist nur, dass, vor so vielen Leuten…“.
Haneda, der bis dahin eisern nach vorn gesehen hatte, drehte sich um und blickte auf Akechi, der zu Sumikas Rechten neben ihr lief.
„Ihr Kollege sagte mir schon, dass Sie die große Öffentlichkeit eher meiden. Hoffentlich war das heute nicht zu viel für Sie. Aber großartige Leistungen müssen nun einmal auf großartige Weise geehrt werden. Sehen Sie das bitte keinesfalls als Strafe an.
Wo kämen wir denn da hin?
Das einzige, was eine Strafe wäre, wäre, wenn Sie nicht in dieser Abteilung arbeiten würden!“.
Sumika spürte, wie ihr Herz immer noch leicht in ihren Ohren pochte, das Blut, das vorher an ihnen vorbeigerauscht, sie fast überschwemmt haben musste, begann langsamer zu werden. Obwohl sie wusste, dass auch diese Äußerung wohl wieder einen leicht purpurnen Schleier über ihre Wangen legte, versuchte sie, sie nicht so sehr an sich herankommen zu lassen. Sie schloss kurz die Augen, atmete leise aber tief durch.
„Aber auch in diesem Bereich ergänzen Sie und ihr Kollege sich prächtig. Ihr Geschick im Umgang mit großem Publikum ist ja noch aus Ihrer Zeit in Kyoto berüchtigt, nicht wahr, Akechi?“.
„Nicht immer eilt mir ein schlechter Ruf voraus, wie ich sehe!“.
Zufrieden grinsend wandte sich Haneda wieder nach vorn, wo schon am Ende des Ganges der kleine Wegweiser zu seinem Büro zu sehen war.
„Herr Akechi…“.
Hinter vorgehaltener Hand flüsterte Sumika, selbst für den direkt neben ihr laufenden Oberinspektor wohl kaum hörbar, seinen Namen. Als er dies bemerkte, drehte er seinen Kopf zu ihr.
„Ich wollte mich bedanken, für Ihren Versuch, mir das alles ein bisschen leichter zu machen. Es tut mir leid, dass Sie deshalb das sagen mussten, was Sie gesagt haben. Ich weiß, wie ehrgeizig Sie sind. Das war bestimmt…“.
Noch bevor sie den Satz beenden konnte, legte Akechi seinen rechten Finger auf ihren Mund und erwiderte: „Gern geschehen!“.
Seinem breiten Grinsen konnte Sumika nur ein kleines, erstarrtes Lächeln entgegnen.
„Und außerdem…“, er kam näher und hauchte geradezu in ihr Ohr, „…weshalb denkst du, dass das, was ich gesagt habe, nicht der Wahrheit entspricht?“.
Sumikas Blut schoss wieder an ihrem Trommelfell vorbei, wurde unter Hochdruck durch die Adern gepumpt - und das obwohl gleichzeitig ein eisiger Schauer durch ihren Körper fuhr. Sie lief zwar weiter, doch nur, weil sie selbst nicht mehr imstande war, stehen zu bleiben. Wie eine Maschine spulten ihre Beine die erlernte Routine ab. „Zumindest für das Publikum schien es einigermaßen glaubhaft, oder?
Scheint mir also ein klarer Fall von ‚Wenn der Glaube groß genug ist, kann man auch einen Heringskopf anbeten‘, zu sein“.
Da entfernte sich Akechi von Sumika und sprach noch einige Worte mit Polizeirat Haneda. Diesmal wieder in normaler Lautstärke.
Auch wenn Sumika nicht vollkommen sicher sein konnte, ob sie mit dem, was sie vermutete richtig lag, wusste sie doch genau, was das bedeutete. Sie hatte verstanden und zwar auf beiden Ebenen.
„Dann kommen Sie einmal herein. Eine Ehrung ist ja erst dann vollkommen, wenn man neben den vielen flüchtigen Worten auch etwas Handfestes hat!“.
Den Schlüssel im Schloss drehend und die Türklinke hinunterdrückend, versuchte Haneda, so die Wartezeit für Sumika und Akechi zu überbrücken.
„Zwei Mal. Er schließt sein Büro immer zwei Mal ab. Man könnte fast den Eindruck bekommen, er misstraut seiner eigenen Abteilung. Schließlich ist er hier nur von Polizisten umgeben…“.
Sumika musste kurz ihre Augen zukneifen und ihren Kopf leicht schütteln, um diesen Gedanken nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.
„Es geht nicht um einen Fall, verstanden? Also halt dich zurück!“.
Schon seit ihrem ersten Tag in der Mordkommission des Tokyoter Polizeipräsidiums, eigentlich schon seit ihrem ersten Tag an der Universität oder sogar noch früher, hatte sie sie. Diese wunderschönen kleinen Techniken, die immer genau dann zur Anwendung kamen, wenn man sie brauchte. Da tut man auf der Straße so, als habe man den Kollegen nicht gesehen, wenn man ihn am Wochenende trifft. Der Lastwagen war schließlich nicht nur groß sondern auch so laut, dass Winken und Rufen einfach untergingen. Man hatte keine Wahl. Man konnte ihn nur nicht sehen. Und schließlich war man sowieso in einem Einsatz oder dachte darüber nach, wie der Täter wohl sein Alibi hatte bekommen können. Es gab nichts Anderes, keine andere Wahl, als den Kollegen nicht zu sehen. Und selbst, wenn er dann am nächsten Tag fragen würde, ob man ihn denn nicht gesehen hat, dann setzt man ein überraschtes Gesicht auf und sagt:
„Was?
Ich habe Sie nicht gesehen?
Wo war denn das und wann?“.
Jetzt muss man nur noch aufmerksam zuhören. Von Zeit zu Zeit nicht zu vergessen, nach oben zu blicken, so zu tun, als krame man in seinem Gedächtnis. Zum Schluss lächelt man einfach. Man lächelt auch die letzten Zweifel weg. So wird niemand hinter dem Rücken schlecht über einen reden. Und wenn man merkt, dass gerade über einen gesprochen wird, dann hört man nicht hin.
Absichtlich.
Ganz zufällig.
Erst mit der Zeit, erst durch ihr Studium hatte Sumika diese Techniken in einem anderen Licht gesehen. Die Vermeidung war es, die ihr bis jetzt immer so gute Dienste erwiesen hatte und dies auch weiterhin tat. Als sie durch die ersten Vorlesungen feststellte, dass sie sich in den Spinnenphobikern, die vergessen, vor dem Amazonasurlaub mit dem Partner eine wichtige Impfung aufzufrischen, den Schlangenphobikern, die den Garten immer von ihren Kindern wässern lassen, weil der Gartenschlauch eine zu angsteinflößende Form hat oder den Blut-/Spritzen-Phobikern, die anstatt einem blutenden Verletzten zu helfen, vor ihm Reißaus nahmen, wiederfand. Bloß konnte sie nicht einfach nur in Japan bleiben, auf regelmäßigen Regen hoffen oder auch den Verletzten übersehen.
Sie hatte vor etwas Angst, dass viel gefährlicher war. Sie hatte vor etwas Angst, dass, egal wo man auch war, immer, hinter jeder Ecke lauern konnte. Sie hatte vor dem Angst, was sich nicht vermeiden, nur abmildern ließ. Und genau deshalb hatte sie sich schon während der ersten Vorlesung entschieden. Sie würde alles, was über die Vermeidung bekannt ist, nutzen, um sie weiter zu perfektionieren, sich so zu wappnen, dass sie sogar vermeidet, wenn sie doch von ihren Ängsten umgeben ist.
Sich vor der Angst versteckt, sie nicht erahnen lässt, wo sie gerade ist - die kleine, menschenscheue Sumika.
Genau das würde sie tun. Genau das wollte sie tun. Genau das tat sie.
Nur eines machte ihr zu schaffen. Und das war ihre eigene Unberechenbarkeit. Die kleine Sumika erkannte manchmal viel zu spät, manchmal gar nicht, wann es Zeit war, zu vermeiden. Sie war zu naiv. Natürlich war es nützlich, zu ihr zu wechseln, wenn man in der Öffentlichkeit war. Das Gespräch mit anderen, die Erklärung, warum man nicht zum Karaoke gehen konnte, ihre Nettigkeit, die Fähigkeit, es immer wieder zu schaffen, dass man ihr nicht böse sein konnte. Das waren Qualitäten, die einfach nicht ungenutzt bleiben durften. Aber sie waren unzuverlässig. Viel zu sehr strengte es an, allzu lange diese Rolle zu spielen. Die Rede Hanedas war ein perfektes Beispiel. Für ihn mag die Rede kurz gewesen sein. Für diese Sumika war sie zu lang. Deshalb sollte sie wechseln - zu der Sumika, die rational, logisch, präzise, also alles ist, was der zweite Teil der Rede Hanedas gewürdigt hatte. Doch es war zu spät. Genau deshalb, weil das nicht mehr passieren sollte, musste sie diese Rolle spielen. Jetzt, wo wieder nicht abzusehen war, was im Büro des Polizeirats geschehen würde. Nur kurz zuckte Sumika also zusammen, als sie Haneda leicht mit der Hand auf ihrer Schulter in den Raum schob. Sie hatte die Rolle übernommen, konnte die andere erst einmal ablegen. Auch wenn das natürlich der anderen Sumika nicht gefiel, sah sie ein, dass es sein musste. Es war zwar kein Fall zu lösen aber sie hatte schon zu viel durchgemacht, um einfach fortfahren zu können. Und außerdem, war es nicht eine professionelle Sache, also auch so etwas, wie ein Fall?
„Setzen Sie sich doch, bitte!
Darf ich Ihnen etwas anbieten?“.
Beide, Akechi und Sumika schüttelten den Kopf, als sie schon dabei waren, die beiden dunklen Eichstühle mit schwarz-brauner Polsterung zurückzuziehen.
„Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mir ein Glas Wasser hole. Meine Kehle ist von der Rede noch ganz trocken“.
Kaum noch nahmen die beiden wahr, wie Haneda zu einer kleinen Anrichte ging und eine Flasche Wasser öffnete.
Sie sahen sich um.