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Sumika Maboroshi ist eine ganz normale, vielleicht etwas zu schüchterne Studentin in Tokio, die im Haus ihrer Eltern wohnt... Doch sie lebt schon längst in ihrer ganz eigenen Welt. Als sie hinter das Geheimnis kommt, was ihr Nacht für Nacht den Schlaf raubt, glaubt sie, damit umgehen zu können. Bis es zu einer Katastrophe kommt, die sie schonungslos in die Wirklichkeit zurückholt und bis tief in ihre eigene Kindheit führt...
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Seitenzahl: 217
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Dunkel lag die Nacht über allem, was Sumika umgab. Sie hatte die Augen weit geöffnet, konnte jedoch nicht mehr sehen, als tiefes, endloses Schwarz. Doch plötzlich tauchte es wieder auf. Diese grelle Licht, das zuerst nicht mehr war als ein Schimmer - so unglaublich weit entfernt, dass es vollkommen unerreichbar schien. Bald schon wurde wie die letzten Male das Licht immer größer. Es schaukelte sich weiter und weiter auf. Mit jeder Schwingung nach unten wurde der helle Punkt größer, kam näher. Gebannt schaute Sumika auf ihn. Wie die sprichwörtliche Motte vom Licht wurde sie mit einer unglaublichen Faszination davon angezogen. Je heller der Schein wurde, desto weniger konnte sie dem Drang widerstehen, auf ihn zuzugehen. Sie setzte ihren rechten Fuß leicht nach vorn – unsicher, als würde sie sich auf einem Hochseil befinden, ständig in der Gefahr, in das schwarze Loch unter ihr zu fallen. Vielleicht war auch genau das der Grund. Sie wusste es nicht. Weder konnte sie sagen, wo sie war, noch wie sie hierhin kam. Alles schien unwirklich. Nur aus den Augenwinkeln blickte sie an sich herunter. Durch das weiterhin immer intensiver und größer werdende Licht erhaschte sie einen Blick auf das lange weiße Kleid, das sie trug, das schlaff an ihrem Körper herunterhing. Sumika musste zurückdenken. Sie erinnerte sich. Fetzen vergangener Tage zogen vor ihrem inneren Auge vorbei. Diesmal sah sie sich wieder in einem weißen Kleid, konnte sogar den glatten weißen Seidenstoff auf ihrem Körper spüren, der ihre Arme kühlte. Sie schloss die Augen. Das Licht war nun so stark, dass es selbst durch ihre Augenlider drang und ins ehemals so tiefe Schwarz mischten sich immer mehr weiße Streifen. Kurz darauf hörte sie ein weit entferntes Geräusch. Auch dieses kam näher und währenddessen wandelte sich das Bild vor ihren Augen immer mehr. Die weißen Streifen verdichteten sich, sie schienen sich zu sortieren und auszurichten. Dabei verloren sie zusehends diese unheimliche Kälte, die sie noch vor kurzem ausgestrahlt hatten. Die Formen wurden weicher, vertrauter, ja sie konnte sogar sehen, was da vor ihr war. Es waren Wolken. Diese wunderbar flauschigen Wolken, zu denen sie schon als Kind aufgeschaut hatte. Sehnsuchtsvoll hatte Sumika schon immer auf sie geschaut. Tagein tagaus bereisten sie die Welt, waren überall und doch nirgendwo zu Hause und konnten einfach weiterziehen, wenn es ihnen an einem Ort nicht mehr gefallen sollte. Und ihre Formen. Wie ein Chamäleon konnten sie sich wandeln und das ganz ohne Farbenspiel. Von einer Sekunde auf die andere wechselten sie ihre Gestalt und dabei waren es noch nicht einmal sie, die sich veränderten. Immer, wenn ein anderer hinauf in den Himmel schaute, sah er nicht das, was sein Vorgänger gesehen hatte. Alles war vollkommen anders, obwohl es doch genau gleich war. Doch bevor sich Sumika weiter in ihrer Gedankenwelt verlor, bohrte sich etwas in diese hinein. Unnachgiebig dröhnte das Geräusch in ihren Ohren. Das Licht wurde heller. Es kam weiter auf sie zu – wippte auf und ab. Sie hatte immer noch die Augen geschlossen. Die Wolken vor ihren Augen wuchsen immer mehr an. Sie kniff die Augen zusammen. Alles kam auf sie zu. Sie wusste, dass sie ertrinken würde. In den weißen Fluten würde sie ertrinken, es gab kein Entrinnen. Nichts konnte sie retten. Sumika schluckte. Sie musste husten, bekam keine Luft mehr. Das Dröhnen in ihren Ohren wurde unerträglich. Sie konnte nicht mehr. Es musste einfach enden. Ihr ganzer Körper war unter Spannung, die Fäuste geballt, ihre Zehen krallten sich in den Boden. Obwohl sie weglaufen wollte, gehorchten ihre Beine nicht. Sie konnte nur noch eins tun. Sie schrie. Dann wieder schwarze Leere und plötzlich konnte sie wieder sehen.
„Hey Sumika! Wie geht´s wie steht´s?“.
Noch bevor sie antworten konnte, spürte sie schon einen herzlichen aber wie immer etwas zu kräftigen Klaps auf ihrem Rücken, der sie leicht nach vorn überkippen ließ.
Heute sogar noch ein bisschen stärker als sonst. Als sie sich wieder gefangen hatte, blickte sie in das bis über beide Ohren strahlende Gesicht ihrer besten Freundin Kuraiko, die sich heute wieder einmal gegen ihre Kontaktlinsen und für die neue Brille entschieden hatte.
Man konnte viel oder wenig von ihr halten doch selbst ihre ärgsten Feinde – und von denen hatte sie mehr als genug und viel mehr als ihr selbst bewusst war – geben eines zu: Langweilig wurde es nie, wenn man sie traf.
Diesen Ruf machte sie einmal mehr alle Ehre.
„Ganz in Ordnung, Kuraiko. Ich kann nicht klagen“.
Verschüchtert und mit einem unsicheren Lächeln entgegnete Sumika eher zögerlich, was sie wollte, dass ihre beste Freundin dachte. Aber eigentlich war es ihr schon in diesem Moment klar, dass dieser nur halbherzige Plan, nicht aufgehen konnte. Die beiden kannten sich einfach zu gut. Schon seit der Grundschule gab es fast keinen Tag, an dem sie sich nicht gesehen hatten. Seither verband sie etwas Besonderes, das über den reinen täglichen Kontakt hinausging. Sie wuchsen in derselben Straße auf, waren bis auf den Monat genau gleich alt und sogar genau zu der Zeit krank, wenn die andere mit einer Grippe im Bett lag. Sie waren nun mal wie Zwillinge und würden es auch immer bleiben. Selbst, wenn sie keine besten Freundinnen sein wollten, ließ ihnen das Schicksal wohl keine wirkliche Wahl.
„Sag mal, willst du mich für dumm verkaufen? Erde an Sumika: Ich habe Augen im Kopf. Wenn ich´s nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast die letzten beiden Nächte durchgefeiert. Aber, da es sogar wahrscheinlicher ist, dass sich die Sonne um die Erde dreht, muss es irgendeinen anderen Grund geben, dass du so fertig aussiehst…“.
Demonstrativ schwang sie ihre langen schwarzen Haare nach hinten und nahm eine aufgesetzte Denkerpose ein.
Ihre Stirn in Falten gezogen und sich das Kinn reibend sahen ihre blaugrünen Augen forschend in Sumikas Gesicht. Diese kam sich geradezu vor, als würden just in diesem Moment all ihre Gedanken von Kuraiko gelesen, dass sie so offen dalägen wie ein aufgeschlagenes Buch, das nur wartete seine Geheimnisse preiszugeben.
„Es ist nichts. Ich habe die letzten Nächte nur nicht gut geschlafen. Es ist doch bald Examenszeit und da gibt es eben viel zu tun. Und neben der Uni stehen ja auch noch andere Dinge an, also…“.
Sumika stockte. Sie wollte weiterreden aber hielt inne und ihr Blick wanderte zu Boden.
„Aha, verstehe“.
Da war er wieder, der obligatorische und unausweichliche Überraschungsmoment bei einer Begegnung mit Kuraiko. Niemals hätte sie sich mit einer solchen Antwort zufrieden gegeben. Warum tat sie es also diesmal?
Als ob sie die Frage in Sumikas Gedanken gehört hätte, kam sie näher an sie heran. Jetzt stand sie zwar direkt vor ihr, trotzdem aber leicht versetzt, sodass sie über Sumikas Schulter blicken konnte. Da flüsterte sie in ihr Ohr.
„Und ich dachte schon, du wärst unsterblich in jemanden verliebt und denkst die ganze Nacht darüber nach, wie du es ihm sagen kannst. Dabei schafft dich nur die Uni zurzeit so sehr. Das macht schon Sinn“.
Sumika wusste immer noch nicht, was sie davon halten sollte. Aber auch hier folgte die Antwort auf dem Fuß. „Dann hast du also keinen, in den du gerade verliebt bist?“.
Hatte sie zuerst so leise wie nur möglich gesprochen, fragte sie diesmal so laut, dass es jeder, selbst der letzte am Ende des geschätzt 40 Meter langen Ganges gehört haben musste. Sumikas Blick schwankte zwischen Ungläubigkeit und Entsetzen. Sie konnte es selbst nicht sehen aber ihr Kopf musste glühen. Alle anderen schauten zu ihr herüber, tuschelten, lachten Doch dies war noch nicht einmal das schlimmste. Kuraiko schien gar nicht zu erkennen, wie peinlich das gerade gewesen war, sondern zwinkerte ihr sogar zu. So als hätte sie ihr gerade eine großen Gefallen getan. Und Sumika sollte, noch bevor sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, den Grund hierfür herausfinden.
„Lass dich nicht ärgern, Sumika. So wie ich Rai kenne, gleicht sie das mehr als aus. Habe ich nicht Recht?“. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die so vertraute Stimme hinter ihrem Rücken hörte. Wenn sie es bis jetzt doch auf irgendeine Weise geschafft haben sollte, nicht so rot wie der Kopf eines Streichholzes zu werden, dann war es spätestens jetzt der Fall. Sie musste sich nicht umdrehen, wusste, in wessen Gesicht sie blicken würde und versuchte gerade deshalb es nicht zu tun.
Stattdessen schaute sie nur kurz in Kuraikos Gesicht, bevor sie wiederum verschämt nach unten blickte. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Masaru! Zumindest solange du keiner von ihnen bist.“
„Oho!“
Über das Gesicht des Jungen blitzte ein schelmisches Grinsen und er zog seine Augenbrauen hoch.
„Ich bin also ‚keiner von ihnen‘? Das überrascht mich ja gleich doppelt, Rai!“
Es dauerte einen kurzen Moment, bis Kuraikos verdutztes Gesicht erst ein vor Wut schnaubendes, dann zutiefst beleidigtes und schließlich kindlich trotziges wurde. Mit einer schnellen, seitlichen Kopfdrehung machte sie deutlich, was sie von diesem Kommentar hielt. Doch nicht jedem ging es so.
Ein leises, kaum zu hörendes Kichern begann langsam immer lauter zu werden und sowohl Masaru als auch Kuraiko grinsten, drehten sich in die Richtung, aus der es kam. Zugegebenermaßen blickte sie noch ein wenig verschämt drein und ein leichter Rotschimmer über ihren Wangen war nicht zu übersehen. Trotzdem war all die Entrüstung aus Sumikas Gesicht verschwunden. Sie kicherte, lachte. Bald so laut, dass sie ihre Hand vor den Mund halten musste. Als Masaru und Kuraiko dies realisierten, blickten sie kurz einander an, dann die wieder fröhliche Sumika. Sie hatten noch einmal so gerade eben den Kopf aus der Schlinge gezogen.
„Sag mal, Rai, das war echt ein bisschen zu viel des Guten, oder?“.
Masaru wusch ihr den Kopf, als sich die drei auf den Weg zum Parkplatz der Universität machten.
„Ich wollte, doch nur, dass sie einmal ein bisschen aus sich rausgeht. Wie soll sie denn jemals einen anständigen Freund abbekommen, wenn sie Tag und Nacht über den Büchern hängt und sogar an der Uni immer bloß nach unten schaut? Da sieht doch keiner ihr hübsches Gesicht!“.
Sumikas Blick neigte sich wieder leicht nach unten während ihre beste Freundin ein Gesicht machte, als könne sie kein Wässerchen trüben. „Aber das ist es ja gerade!“.
Masaru hob seinen rechten Zeigefinger, als gelte es, einen gravierenden Irrtum klarzustellen.
„A secret makes a woman, woman. Gerade, weil sich Sumika nicht jedem gleich bei der erstbesten Gelegenheit offenbart, hat sie die besten Chancen, einen wirklich guten Freund zu finden. Jemand der nur allzu oberflächlich ist, verliert schnell die Lust aber jemand, der wirklich ihr Geheimnis herausfinden möchte, bleibt solange am Ball, bis sie es ihm offenbart“.
Einige Momente lang, schritten die drei schweigend voran, als würde jeder von ihnen noch ein bisschen Zeit brauchen, um das gerade gesagte zu verarbeiten.
„Hört, hört, hier spricht der nächste Philosophieprofessor von Keio. Ohren auf, ihr Studenten!“.
Zwar triefend vor Zynismus doch nicht so laut, dass es wirklich ein anderer als Masaru und Sumika hören konnte, machte Kuraiko klar, was sie von dieser Aussage gerade hielt, nicht jedoch ohne noch einmal deutlicher nachzulegen.
„Wie mir scheint, warst du niemals besonders erfolgreich, beim Rätsellösen, du Philosophieass. Wie lange ist das mit Ruri gleich her?“.
„Ähh, das tut nichts zur Sache!“.
Die Souveränität Masarus war wie weggeblasen und Kuraikos Grinsen verriet, dass sie damit ausgeglichen hatte und seinen wunden Punkt getroffen.
„Trotzdem werde ich das nächste Mal nicht ganz so dick auftragen, da hat Masaru schon Recht. Es tut mir Leid, Sumika. Ich hatte kurz vergessen, dass ich da nicht meinen eineiigen sondern meinen zweieiigen Zwilling vor mir hatte. Also, Entschuldigung akzeptiert?“.
Sie streckte Sumika die Hand entgegen. Diese blickte treuherzig und immer noch leicht verschüchtert in ihre Augen. Sie streckte die Hand aus und schlug sanft in die ihrer besten Freundin ein.
„So, alles wieder im Lot!“. Glücklich und mit breitem Grinsen vermeldete Kuraiko, dass diese Situation nun wieder bereinigt war. Masaru und Sumika stimmten ein.
Ohne es zu merken, waren die drei in der Zwischenzeit am Parkplatz angekommen, der wie jeden Donnerstag vollkommen überfüllt war. Die Parkordnung war sowieso mehr oder weniger variabel auslegbar, sodass man sich nicht nur als Fahrer sondern auch als Fußgänger teilweise abenteuerlich den Weg zum eigenen Auto oder Ausgang bahnen musste. So schlängelten sich die drei auch diesmal auf hindernisreichen Bahnen zum roten Mitsubishi Masarus, der auch schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte. Der letzte Winter zeigte deutlich seine Spuren und man musste schon genau hinsehen, um eine Stelle zu finden, in deren unmittelbarer Nähe kein Rostfleck zu sehen war. Genau aus diesem Grund hatte Masaru sich auch schon letztes Jahr entschieden, den alten Wagen seines Vaters von Weiß auf Rot umlackieren zu lassen. Das war seine Art der Schadensbegrenzung.
„Also, kann ich euch beide irgendwohin mitnehmen? In die Stadt vielleicht?“.
Masarus zahlreiche Schlüsselanhänger klimperten, als er die Fahrertür aufschloss.
„Nein, danke. Wenn ich mit dir in einem Auto gesehen werde, traut sich sowieso kein Typ mehr, mich auch nur anzusehen. Die Konkurrenz wäre zu übermächtig!“.
So als schicke sie ein Stoßgebet zum Himmel, hatte Kuraiko ihre Hände ineinander gefaltet und sah flehentlich zum Himmel.
„Aber trotzdem, danke!“.
„Kein Problem!“.
Masaru musste angesichts dieser typisch melodramatischen Vorstellung Kuraikos schmunzeln.
„Was ist mit dir Sumika?“.
Sie zuckte kurz zusammen, wie aus einem Traum gerissen und schaute zu Masaru. Dieser musste ihren hilflos erscheinenden Blick bemerkt haben und ergänzte mit einem Lächeln:
„Musst du in die Stadt?“. Er schaute kurz auf seine Uhr, die ihn schon seit Jahren überallhin begleitet hatte und nahezu Teil seines linken Arms zu sein schien.
„I… ich. Also danke für dein Angebot aber ich werde heute einmal gleich nach Hause gehen. Du weißt ja, die
Klausuren stehen bald an und außerdem ist heute der Tag an dem…“
Noch bevor Sumika den Satz vollenden konnte, hakte Masaru ein.
„Ach ja, du hast Recht! Das hätte ich natürlich wissen müssen. Dann vielleicht ein andern Mal!“.
Nachdem er ihnen kurz zum Abschied gewinkt hatte, stieg Masaru in sein Auto und fuhr los.
„Ich weiß ja, dass heute der Tag ist aber du hättest trotzdem mit ihm in die Stadt fahren können. Niemand sagt dir schließlich, dass du immer nur zu Hause bleiben sollst und dich um das Haus zu kümmern hast. Ein bisschen Erholung tut dir auch gut. Gerade an diesem Tag heute“.
Kuraiko legte die Hand auf Sumikas Schulter. Nichts war mehr da von der aufgedrehten, Gute-Laune-Verbreiterin von vor wenigen Momenten. Ihre Tonlage war sanft, einfühlsam und auch von einer Spur Melancholie durchzogen.
„Überlege es dir doch noch einmal. Ich kann ihn auch für dich anrufen, wenn du willst. Bestimmt kommt er gerne noch einmal zurück und gabelt dich auf. Na, wie wär´s?“.
Leichter Optimismus mischte sich in ihre Stimme.
„Danke dir, Kuraiko. Aber es ist, denke ich, besser, heute nach Hause zu gehen. Ich habe ja die letzten Nächte nicht so gut geschlafen. Das macht mich bestimmt für Masaru noch mehr zur Schlaftablette als ohnehin schon“.
Sumika versuchte ihre beste Freundin mit einem kleinen Lächeln zu beruhigen und hatte damit auch Erfolg. Kuraiko umarmte sie und brach, ohne weitere Worte zu verlieren, auf. Mit verträumtem Blick verfolgte Sumika ihre Freundin, die sich, kurz bevor sie aus ihrem Sichtfeld verschwand, noch einmal kurz umdrehte. Wie nahezu immer ein Grinsen im Gesicht.
Ein sanfter, dennoch leicht kühler Windhauch fuhr durch Sumikas Haar. Für einen kurzen Moment blieb sie stehen und schaute in die Richtung aus der er kam. Trotz ihrer großen Brille kniff sie leicht die Augen zusammen. Wie jeden Tag blickte sie auf den vor ihr liegenden See des Tenkaiichi-Parks. Seit nunmehr 14 Jahren kam sie jeden Tag hier vorbei – mindestens einmal. Seit nunmehr 14 Jahren lag er schon auf ihrem Weg von dem Haus ihrer Eltern zum Hauptbahnhof, von dem sie zur Schule und jetzt zur Universität aufbrach oder nach einem mehr oder weniger langen Tag ankam. Und ebenso, hielt sie jedes Mal auf den Nachhauseweg ein paar Minuten inne, um den Blick über den See inmitten des Parks zu genießen.
Seit nunmehr 14 Jahren. Die mit jedem neuen Tag schwächer werdende Sonne senkte sich gerade über dem gegenüberliegenden Ufer und tauchte das Wasser in ein kräftiges Orangerot. Wieder eine leichte Brise, das Knistern ihrer Schuhe auf dem mit Kieselsteinen bedeckten Weg, ihre Hände, die das Holzgeländer entlangfuhren. In ihrem Rücken, vorbeifahrenden Kinder auf ihren Fahrrädern, deren herzliches Lachen zu ihr herüber zog. All das und noch viel mehr war ihr schon so oft an genau diesem Platz begegnet. Und obwohl es so bekannt und vertraut war, hatte es nie seinen Reiz verloren. Seinen Reiz als genau den Ort, an dem der Tag noch einmal vorüber zog – in ihren Gedanken. Lächelnd ließ Sumika ihren Blick schweifen – ohne Ziel.
„Hätte ich vielleicht doch mitfahren sollen?
Hätte ich den Tag heute einfach mal beiseitelassen und Masaru begleiten sollen?
Kuraiko hätte sich sicher gefreut aber auf der anderen Seite wäre das vielleicht ein bisschen zu viel des Guten gewesen. Es war ja noch nicht einmal gelogen, dass ich alles andere als ausgeschlafen bin, wenngleich mich ihre Aktion im Gang heute ganz schön aufgeschreckt hat.
Dabei muss sie doch wissen, wie ich reagiere. In solchen Situationen frage ich mich manchmal wirklich, ob sie mich tatsächlich schon so lange kennt…“.
Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Nein. Wenn überhaupt kennt sie mich besser als ich mich selbst. Hätte ich etwa jemals so etwas getan? Noch dazu in seiner Gegenwart. Auch wenn einige Dinge bei ihr sehr unüberlegt und spontan erscheinen mögen. Alles hat irgendeinen tieferen Sinn, selbst, wenn man diesen nicht gleich sieht. Sie kennt mich eben doch. Vielleicht sogar besser als mir lieb ist“.
Kurz darauf – von der untergehenden Sonne war nur noch eine kleine Scheibe zu sehen, die das Wasser jetzt so blutrot färbte wie Ahornblätter im Herbst - brach Sumika auf. Zwar war es nicht mehr weit zu ihr nach Hause, doch sie hatte einiges zu erzählen und auch das Abendessen machte sich schließlich nicht von allein. Als sie sich umdrehte und zum Ausgang des Parks lief, fielen ihr wieder die Kinder mit ihren Fahrrädern auf, die sie hinter sich hatte spielen hören. Gerade schienen deren Eltern angekommen zu sein, denn sie umarmten sich so innig und herzlich, dass man nur vermuten konnte, sie hätten sich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Auch wenn die Ewigkeit sicherlich nicht länger war als ein paar Stunden musste sie den Kindern, vielleicht auch den Eltern genauso vorgekommen sein. Wie eine Ewigkeit.
„Mama, Papa. ich bin wieder da!“
Sumika zog den Schlüssel von der Tür und hängte ihn an einem kleinen Aufhänger neben der Tür auf. Sie schlüpfte in ein paar der bereitstehenden Pantoffeln und stellte ihre Stiefel ordentlich nebeneinander, bevor sie die eine Treppe in den Flur nahm.
„Ihr werdet nicht glauben, was Kuariko heute wieder gemacht hat! Ich meine, ihr kennt sie ja aber darauf kommt ihr nie. Ich habe mich vielleicht geschämt. Aber Masaru hat sie dann auch einmal ganz kurz sprachlos gemacht. Das kommt ja selten genug vor“.
Die bis jetzt so schüchterne Sumika blühte regelrecht auf, als sie mit ihren Eltern sprach. Sie war völlig befreit und redete einfach drauf los und immer weiter, obwohl sie immer noch keine Antwort bekommen hatte.
„Aber mehr sage ich euch dann beim Essen. Ich dachte an eine Miso-Suppe und ein Curry?“
Sie stellte ihre Tasche im Flur ab, ging in die Küche und griff ohne hinzusehen zielgenau zur bereitliegenden Schürze.
„Ich weiß schon, Papa. Für dich nicht ganz so scharf!“ Ein unbeschwertes Lächeln huschte über ihr strahlendes Gesicht.
„Wie lange kennen wir uns schon? Das musst du doch nicht jedes Mal dazu sagen. Auch, wenn ich manchmal sehr vergesslich bin, kann ich mir die wichtigen Dinge zumindest meistens merken. Genau wie den heutigen Tag.
Deshalb gibt es heute auch euer Lieblingsessen. Ich hoffe, ihr freut euch. Zwar kann ich bestimmt nicht mit diesem 5-Sterne Koch mithalten, den ihr in eurem Hotel hattet aber dafür bin ich deutlich günstiger. Die Rechnung liegt übrigens auf deinem Platz, Mama. Wie immer kannst schon einmal nachschauen, was ich gekauft habe. Du bist ja kein Freund von Überraschungen“.
Sumika schielte auf die große Küchenuhr über dem Herd und rief wie auch die ganze Zeit bisher in Richtung Wohnzimmer:
„Ich denke in 30 Minuten bin ich mit der Suppe fertig.
Das Curry können wir ja dann noch weiter ziehen lassen.
Das passt euch doch, oder?“.
Schon kurz nachdem draußen die Straßenlaternen angegangen waren, brach die Nacht herein. Es war erst später Nachmittag aber trotzdem schon dunkel. Nicht nur die weiterhin kühlen Temperaturen ließen jeden spüren, dass bis zum Ende des Herbstes und damit dem baldigen Winteranfang nicht mehr viel Zeit vergehen würde. Inzwischen hatte Sumika schon alles für das versprochene Abendessen vorbereitet. Eine große Schüssel Reis stand dampfend in der Mitte des Tischs, Besteck und Teller für sie und ihre Eltern waren bereitgelegt und auch die Suppe brodelte in ihrem Topf vor sich hin. Nur noch eine kleine Kostprobe, ob das Aroma auch dem heutigen Tag angemessen war, einen Blick in den großen Currytopf und schon konnte es losgehen. Sumika blickte auf die Uhr.
„Was schon so spät? Dann sind die 30 Minuten ja schon in einer um!“.
Hastig sprintete sie zum Tisch, griff zu den drei bereitgestellten Suppenschalen und füllte zügig aber gekonnt den ersten Gang hinein. Und just in diesem Moment als die Uhr 18.00 Uhr schlug, stand alles auf dem Tisch. Es war angerichtet. Die drei dampfenden Portionen Suppe, der duftende Reis. Jetzt fehlten nur noch diejenigen, für die all das zubereitet worden war. „Mama, Papa, Essen ist fertig! Wenn ihr nicht bald kommt, ist nichts mehr da!“.
Sie grinste und hängte dabei die Schürze wieder an den Haken, von dem sie sie zuvor genommen hatte. Plötzlich eilte sie aus der Küche „Dann werde ich euch wohl oder übel selbst holen müssen! Sonst kommt ihr noch zu spät. Das wäre es ja noch, wenn ihr an eurem besonderen Tag nicht rechtzeitig da wärt, denn heute ist ja schließlich …“.
Als sie zurückkam hielt sie zwei mittelgroße Rahmen in ihren Händen, die sie liebevoll neben den Tellern ihrer Eltern aufstellte. Darauf waren zwei Personen zu sehen, lachend. Ein Mann und eine Frau. Beide Rahmen waren leicht schräg gestellt, sodass sie sowohl zu ihren Tellern als auch der an der kurzen Tischseite sitzenden Sumika blickten. Diese lächelte mit unglaublicher Fröhlichkeit in die beiden Gesichter und setzte ihren Satz fort:
„ … euer Todestag!“.
In der Folge konnte man sie mit unglaublicher Hingabe beim Erzählen all der Erlebnisse ihres heutigen Tages beobachten. Wild gestikulierend und mit beeindruckendem Minenspiel, versuchte sie die Geschehnisse so lebendig wie möglich wiederzugeben.
Nur ab und zu nippte sie an der Suppenschüssel, nachdem diese eine Weile abgekühlt war.
„Ihr esst ja gar nichts. Ist euch die Suppe etwa immer noch zu heiß oder wollt ihr einfach nicht länger auf das Curry warten? Na, ihr seid mir ja vielleicht wählerisch.
Aber ihr habt es mir ja selbst immer gesagt:
‚Sumika, eins nach dem anderen. Verschüttetes Wasser kehrt nicht in die Schüssel zurück‘“.
Sie blickte in die Richtung des Bildes ihres Vaters.
„Papa, das war doch immer dein Lieblingssatz, weißt du noch? Als ich gefragt habe, ob ich nicht das Dessert gleich als erstes essen kann, oder meine Hausarbeiten nicht machen wollte, hast du mir immer diesen Satz entgegnet. Und ehrlich gesagt, habe ich ihn nie wirklich verstanden, bis Mama ihn mir einmal erklärt hat“.
Ihr Blick wanderte auf die andere Seite.
„‚Dein Vater will damit sagen, dass du nicht überstürzt handeln sollst, sondern alles in der festgelegten Reihenfolge erledigen. Du kannst etwas, dass dir nicht gefällt, immer weiter nach hinten hinausschieben und dich vergnügen aber erledigt werden muss es am Ende doch. Und wenn du da schon alles Schöne, dass dir Spaß macht hinter dir hast, gibt es nichts mehr, mit dem du dich motivieren kannst. All die Freude hast du schon ausgeschüttet, bevor du sie als Ausgleich wirklich brauchst‘.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, wie gut ihr beide zusammenpasst. Wer hätte schon aus so einem Satz des anderen eine derartige Erklärung machen können, wenn nicht jemand, der diesen Satz genauso liebt wie denjenigen, der ihn immer sagt…“.
Ihren Kopf in einen aus ihren beiden Händen geformten Trichter eingebettet, der von den aufgestützten Ellenbogen getragen wurde, wanderten ihre Augen zwischen den zwei Bildern hin und her. Da plötzlich fiel ihr Blick auf die beiden Schüsseln ihrer Eltern. Diese standen immer noch unverändert vor den leeren Plätzen.
Trotzdem aber lächelte ihre Tochter zufrieden.
„Da habt ihr euch aber lange bitten lassen. War die Suppe denn wirklich so schlecht? Oder wolltet ihr, dass ich eure Moralpredigt von damals noch einmal widergebe? Ihr nehmt euch ganz schön viel heraus heute, das muss ich schon sagen!“.
Sumika stand auf, nahm die Schüsseln und räumte sie auf ein kleines Tablett neben dem Herd. Nicht jedoch, ohne zuvor die beiden ihrer Eltern in ein gemeinsames, größeres Gefäß auszuschütten. Mit großer Kraftanstrengung griff sie den immer noch vor sich hin köchelnden Currytopf an seinen beiden Henkeln und beeilte sich, diesen schnell wieder in der Mitte des Tischs abzusetzen. Sich die leichten Schweißperlen von ihrer Stirn abwischend, fügte sie noch an:
„Dass mir das bei dem Curry aber auch so bleibt!“ Im Verlaufe dieses Abends hörte man noch häufig heiteres Gelächter und rege Unterhaltungen aus dem Haus der Maboroshis. Es muss sich für jemanden, der zufällig an ihm vorbeilief, so angehört haben, als würde dort wirklich eine glückliche Familie zu Abend essen.
Genau das sollte es sein und genau das war es auch.
Sumika genoss diesen Tag. Nachdem das Abendessen beendet war, stellte sie das übriggebliebene Curry mit einer Folie bedeckt in den Kühlschrank. Alles in allem, waren es nur zwei Teller, die übrig geblieben waren. Ihre Eltern schienen es also doch insbesondere auf das Curry abgesehen zu haben. Sie räumte die Teller, Gläser, Schüsseln und das Besteck zusammen, bevor sie den restlichen Abfall zusammentrug.
„Es hat sich wirklich gelohnt, einmal diese Gewürzmischung auszuprobieren. Dadurch kamen das Fleisch und der Reis richtig gut zur Geltung. Das werde ich demnächst einmal wieder kochen“, schmunzelte sie, die Packung in ihren Händen betrachtend, die mit einer neuen und verbesserten Curryrezeptur in der drei Personen-Sondergröße warb.
„Das findet ihr doch auch, oder? Wie wäre es nächste Woche mal mit yakitori? Das gibt es nämlich auch von dieser Firma?“.
Stille.