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Deutsches Reich, 1945. Als britische Soldaten auf ein Gefängnis der Gestapo stoßen, ahnen sie nicht, dass es sich bei der Inhaftierten um die amerikanische Geheimagentin Margret »Maggie« Nelson handelt. Allerdings erweist sie sich als keine große Hilfe für Craig Brodie, der die Kriegsverbrechen der Nazis dokumentieren soll. Und das, obwohl der Mann, den sie während des Kriegs ausspioniert hat, spurlos verschwunden ist. Doch Maggie selbst kämpft seit ihrer Befreiung mit den gesundheitlichen Folgen ihrer Gefangenschaft – und mit dem Misstrauen, das ihr von allen Seiten entgegenschlägt. Mit Gott hat sie gebrochen und versucht nun, ihren eigenen Weg zurück ins Leben zu finden ... Aber wird sie dort den Frieden finden, den Gott verspricht?
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Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2025
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
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ISBN 978-3-7751-7652-1 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6246-3 (lieferbare Buchausgabe)
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
© 2025 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
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Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen
Weiter wurde verwendet:
Bibeltext der Schlachter Bibelübersetzung. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft.
Wiedergegeben mit der freundlichen Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (SLT)
Lektorat: Christina Bachmann
Umschlaggestaltung und Bildkomposition: Oliver Häberlin, oha.swiss
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Für Dorle
Über die Autorin
Über das Buch
Stimmen zum Buch
TEIL 1
TEIL 2
TEIL 3
TEIL 4
TEIL 5
TEIL 6
Nachwort der Autorin
Reflexion und Diskussion
Danke
Anmerkungen
TABEA ROMPF (Jg. 2002) lebt in Ludwigshafen am Rhein und schreibt seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Sie ist Studentin und besucht regelmäßig eine überkonfessionelle Freikirche. Wenn sie in ihrer Freizeit nicht gerade selbst schreibt, liest sie gerne und viel. www.tabearompf.de
AUF DER SUCHE NACH DEM VERTRAUEN IN EINEN GUTEN GOTT
Deutsches Reich, 1945. Als britische Soldaten auf ein Gefängnis der Gestapo stoßen, ahnen sie nicht, dass es sich bei der Inhaftierten um die amerikanische Geheimagentin Margret »Maggie« Nelson handelt. Allerdings erweist sie sich als keine große Hilfe für Craig Brodie, der die Kriegsverbrechen der Nazis dokumentieren soll. Und das, obwohl der Mann, den sie während des Kriegs ausspioniert hat, spurlos verschwunden ist. Doch Maggie selbst kämpft seit ihrer Befreiung mit den gesundheitlichen Folgen ihrer Gefangenschaft – und mit dem Misstrauen, das ihr von allen Seiten entgegenschlägt. Mit Gott hat sie gebrochen und versucht nun, ihren eigenen Weg zurück ins Leben zu finden. Wird sie dort den Frieden finden, den Gott verspricht?
»›Das Spiel zwischen Licht und Schatten‹ ist ein gefühlvoll und mitreißend erzählter Pageturner. Ich habe mit der Protagonistin Margret Nelson gelitten, gezittert und gehofft. Ein intensives Leseerlebnis!«
ELISABETH BÜCHLE, Bestsellerautorin
Geheimes Gestapogefängnis außerhalb von Hamburg, Deutsches Reich3. Mai 1945
Die metallene Tür war schalldicht, und erst als sie aufschwang, drang Licht in die dunkle, fensterlose Zelle. Wenn sie genauso geschnitten war wie die anderen, würde sie kaum zwei mal drei Meter messen.
Eine grausame Stille lag über dem Kellerkomplex. Die britischen Soldaten hielten respektvoll den Blick gesenkt, während sie die Leichen, die die Nationalsozialisten nicht mehr hatten wegschaffen können, hinaustrugen. Gleichzeitig wurden Zellen durchsucht, bei denen noch Hoffnung bestand, dass in ihnen Leben gefunden werden konnte.
Langsam atmete er ein, doch die Luft hatte sich nicht verändert. Es waren immer noch dieselben Gerüche von Schweiß, Blut und Verwesung. Sie alle wussten, dass sie diesen Geruch und auch das, was sie heute und die letzten Monate gesehen hatten, nicht mehr vergessen würden. Umso mehr hegte er die Hoffnung, dass sie wenigstens ein Leben retten können würden. Er blieb stehen und gab den Soldaten ein paar Sekunden. Auch er trug eine Waffe und war Soldat, aber er war als Sanitäter hier – um Leben zu retten.
»Sani?« Der Tonfall des Unteroffiziers klang fragend, anders als die drei Male zuvor, bei denen sie die Zellentüren geöffnet hatten.
Mit zusammengekniffenen Augen trat er in die Zelle und kniete sich hin. »Ich brauche mehr Licht.« Seine Stimme war angespannt. Nur der unmittelbare Lichtkegel der Taschenlampen ließ ihn erkennen, was er vor sich hatte. Im Türrahmen positionierten sich weitere Soldaten, die nicht mehr in die kleine Zelle passten, mit Lampen.
»Ist sie am Leben?«
Sie. Das war das Erste, das er gesehen hatte: dass er eine Frau vor sich hatte. Sie war fast nackt. Nur ein dünnes Hemd bedeckte ihren mageren Körper. Ihr Kopf war zur Seite gedreht und sie lag reglos und ohne Anspannung da. Er tastete nach ihrem Puls am Handgelenk und hoffte, dass sie kämpfte. Seine Fingerspitzen fuhren über Dreckkörnchen und getrocknetes Blut, das beides an ihrer glühenden Haut klebte. Er drückte fester zu.
Alle hielten die Luft an und warteten auf ihn. Auf sein Urteil.
Er streckte den Arm aus und tastete nach ihrer Hauptschlagader am Hals. Während er sich darauf konzentrierte, etwas zu spüren, hörte er seinen eigenen Herzschlag in seinen Ohren pulsieren. »Sie ist am Leben.«
Ein kollektives Ausatmen hallte von den Wänden wider. Es war die Erleichterung der Soldaten, die mit dieser Nachricht noch ein Lichtfünkchen in dieser dunklen Welt sahen. Doch er wusste, dass die Frau an der Schwelle des Todes stand und es jetzt an ihm war, sie zurück ins Leben zu bringen.
»Ich brauche mehr Platz. Wir müssen sie hier rausbringen.« Er streifte seine Jacke ab und legte ihn über den Körper der Frau. Ein Soldat trat neben ihn, um ihm sein Gewehr, das er auf den Rücken geschnallt trug, abzunehmen, als sein Kopf plötzlich hochfuhr. Vorsichtig tastete er unter sich. Glasscherben. Sie waren so klein, dass man sie kaum noch hörte, wenn man auf sie trat. Erst jetzt hatte er sie durch die Schritte neben sich wahrgenommen und spürte nun auch, dass sie sich auf Höhe des Knies durch sein Hosenbein bohrten.
Wieder streckte er den Arm aus und der Lichtkegel einer Taschenlampe folgte seiner Bewegung. Er strich der Frau die Haare aus dem Gesicht und sah dann, wo das ganze Blut, das an ihr klebte, herkam. Schnittwunden auf ihrer Stirn, der Nase, um die Augen herum – und auch ihre Augen selbst waren betroffen. Die Glaspartikel, die immer noch in den Wunden klebten, glänzten im Licht.
»Ich bringe dich hier raus«, flüsterte er und nahm sie vorsichtig auf seine Arme, während er den Tränen nah war. »Ich bringe dich in Sicherheit.«
Er machte nicht im Gang vor den Zellen halt. Er ging den Weg durchs Haus zurück, den sie gekommen waren, und trat dann hinaus an die frische Luft und ins Licht der Tagessonne.
Vier Zellen hatten sie in einem Kellerkomplex unterhalb der Villa entdeckt. Es war ein Zufallsfund gewesen, als die britischen Soldaten das Haus durchsucht hatten. Umso größer war auch das Entsetzen, an einem eigentlich so schönen Ort wie einer Villa auf etwas so Grausames zu stoßen. Zwei Tote. Eine Überlebende.
Craig Brodie leuchtete mit seiner Taschenlampe jeden Winkel der Zelle aus, um sich alles genau anzusehen. Die zwei noch unidentifizierten Leichen waren erschossen worden, bevor die Nationalsozialisten vor den anrückenden alliierten Truppen geflohen waren.
Er war sich sicher, dass die Frau nicht nur überlebt hatte, weil sie in der letzten Zelle inhaftiert worden war. Die Nazis hätten eigentlich keine Zeugen am Leben gelassen. Sie hatten sich die Zeit genommen, alle Unterlagen zu verbrennen, somit hätten sie sich auch der letzten Person entledigen können, die bezeugen konnte, was hier unten geschehen war.
»Warum, warum, warum?«, murmelte Craig. Die Glasscherben glänzten auf dem Boden. Zimperlich waren sie nicht mit ihr umgegangen. Aber aus irgendeinem Grund war etwas an ihr besonders. In den deutschen Konzentrationslagern hatte er viele Opfer des NS-Regimes gesehen – Menschen, die nicht in die Ideologie gepasst hatten. Aber hier ging es ganz speziell um diese eine Frau und es war nicht klar, warum die Gestapo solch ein Interesse an ihr gehabt hatte. Craigs Aufgabe war es, dies herauszufinden.
Schritte näherten sich. Wäre die Tür geschlossen, würde man keinen Mucks hören. »Agent Brodie, ich habe etwas gefunden.«
Ruckartig erhob Craig sich aus seiner knienden Position. Bereits nach den paar Minuten, die er in diesem Raum verbracht hatte, fühlte er sich eingeengt und konnte es nicht erwarten, schleunigst die Zelle wieder zu verlassen.
»Was genau gefunden?«, fragte er und trat in den Türrahmen. Er griff nach dem Dokument, das ihm der britische Unteroffizier, der an der gründlichen Hausdurchsuchung beteiligt war, entgegenhielt.
»Ein Ausweisdokument. Sie ist Deutsche. Irma Bender.«
Craigs Augen flogen über den Namen, das Alter, den Reichsadler mit Hakenkreuz. Sie war dreiundzwanzig. In der Spalte Beruf stand »Hausmädchen«.
»Sie hat hier im Haus gewohnt.«
Craigs Kopf fuhr hoch. »Sie hat hier gewohnt? Als Hausmädchen?«
Der Soldat nickte. »Der«, er zeigte mit seinem Kinn in Richtung des Ausweises, »war in einer Handtasche in den Zimmern des Dienstpersonals. Wir haben auch überprüft, ob die … anderen Insassen Angestellte waren, doch bisher gab es nichts, was darauf hindeutet.«
Craig starrte das Bild der jungen Frau an. Er war nicht hier gewesen, als sie gefunden worden war, aber einige Soldaten hatten ihm ihren Zustand beschrieben. Er erschauderte.
Seit Oktober 1942 war er im Rahmen seiner Tätigkeit beim MI6 Teil der United Nations War Crimes Commission (UNWCC), die mit der Aufgabe betraut war, Beweismittel für die Verbrechen der Achsenmächte zu sichern. Und die junge Frau war eine Zeugin – vorausgesetzt, sie würde überleben.
»Was können Sie mir über den Besitzer des Hauses sagen?« Sie verließen den Kellerkomplex und Craig hoffte, das Gefühl der Enge in ihm würde auch weichen. Wie viel schlimmer würde es wohl Irma Bender damit gehen.
»Erich Heckler. Er ist Kunsthändler.«
Craig zog beide Augenbrauen hoch, ließ den Private First Class aber ausreden. Er konnte es kaum erwarten, das Haus mit einem Experten kleinlich genau auseinanderzunehmen, in der Hoffnung, dass sie Raubkunst der Nazis fanden.
»Er ist untergetaucht. Weder er noch irgendwelche Angestellten sind gefunden worden.«
Während sie zurück zur Haustür gingen, ließen Craig bereits einen Blick über die Gemälde, die im Eingangsbereich hingen, schweifen. Ihm kam nichts bekannt vor, aber Erich Heckler würde wohl kaum einen Monet sichtbar ausstellen und dann auch noch zurücklassen.
»Was wissen wir noch über ihn? Es muss doch eindeutige Verbindungen zur Gestapo geben?«
»Ein Freund von ihm, Karl Schäfer, ist SS-Obersturmführer. Doch bisher konnte er nicht ausfindig gemacht werden. Er selbst ist NSDAP-Mitglied.«
»In Ordnung.« Craig ging durch die offene Haustür nach draußen, während der Private Officer im Türrahmen stehen blieb. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie noch weitere interessante Dinge finden.« Als Beispiel hob er den Ausweis von Irma Bender hoch.
»Natürlich.« Der Soldat nickte und kehrte zurück zur Durchsuchung.
Craig notierte sich die wichtigsten Informationen aus dem Personalausweis sowie den Namen Karl Schäfer und riss dann das Papier vom Notizblock. Er faltete es und schob es in seine Jackentasche. Später würde er Recherchen anstellen lassen, ob man noch mehr über Irma Bender und die zwei Männer herausfinden könnte.
Er sah auf, als ein weiteres Fahrzeug des Militärs sich näherte. Der grüne Ford –GP kam neben ihm zum Halten und der Motor verstummte. Henry Poker schwang sich vom Fahrersitz und mit einem leichten Lächeln hielt Craig ihm die Hand zur Begrüßung hin.
»Ich könnte mir keinen besseren Mann wünschen.« Aus Craigs Stimme sprach echte Freude. Auch wenn die Umstände alles andere als erfreulich waren, wusste er es zu schätzen, wenn man Kameraden und guten Freunden begegnete. Henry Poker war einer von ihnen, der US-Amerikaner war auch Teil der UNWCC und für die fotografischen Beweise zuständig. Er würde die Zellen fotografieren, Beweise protokollieren und, wenn sie Kunstschätze fanden, auch diese zur Publikation und Dokumentation ablichten.
»Ich habe gehört, es gibt eine Überlebende.« Nachdem er Craigs Händedruck erwidert hatte, lehnte Poker sich über den Fahrersitz und wuchtete sein Equipment über seine Schulter. Eine Tasche drückte er ohne Umschweife Craig in die Hand.
»Ja. Aber wir wissen noch nicht, ob sie durchkommt. So oder so werden wir eine Fotografie von ihr brauchen und auch von den toten Insassen.« Mit dem Kinn deutete Craig in die Richtung, in der die Leichen in Säcken aufbewahrt wurden, bevor sie genauer untersucht werden würden.
»Mach ich. Ich muss mich aber sputen, das alles scheint kein Ende zu nehmen.«
Sowohl kein Ende in Bezug auf die Arbeit, die auf sie wartete, als auch auf den immer schlimmer werdenden Schrecken, der überall langsam ans Tageslicht sickerte. Sie alle hatten die Berichterstattung über die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau mitbekommen.
Craig schluckte, um den bitteren Geschmack in seinem Mund loszuwerden. Jetzt fing die Arbeit für ihn und seine Kollegen erst so richtig an.
Sie stiegen die fünf Stufen zur Eingangspforte hinauf. Dann ging Craig in Richtung Kellerkomplex voran.
4. Mai 1945
Kurz nach Mitternacht wurde Craig geweckt, weil das Telefon für ihn klingelte. Er hatte es gerade erst vor wenigen Minuten geschafft, einzuschlafen. Er kämpfte gegen die Müdigkeit in seinem Blick an und blinzelte mehrere Male, doch das Schlafbedürfnis ließ sich nicht abschütteln.
Er stemmte sich aus der liegenden Position hoch und schwang die Beine über die Kante des Feldbettes. Als er nach oben sah, traf ihn der fokussierende Blick des Unteroffiziers, der ihn geweckt hatte. Craig schüttelte den Kopf und wedelte mit der Hand. »Wollen Sie mich zum Telefon eskortieren, für den Fall, dass mir etwas passiert?«, murmelte er. Der Soldat erwachte aus seiner Starre und verschwand.
Craig stand auf und stopfte sich im Gehen das Hemd in die Hose, konnte sich aber nicht erinnern, wann er es das letzte Mal ordentlich gebügelt hatte. Er war es gewohnt, in Anziehsachen zu schlafen, und er war es gewohnt, nach nur wenig Schlaf geweckt zu werden. Die Arbeit forderte auch körperliche Kraft, selbst wenn er den Tag nur mit Berichten verbracht hatte. Er war froh, wenigstens an Weihnachten zu Hause in Schottland gewesen zu sein und dort seine Energiereserven aufgefüllt zu haben. Auch wenn der Krieg vorbei war, würde seine Arbeit und die der anderen noch lange nicht getan sein. Nach Abschluss des Grauens mussten nun der Wiederaufbau und die Installation eines richtigen Systems und ein Umkrempeln der Gesellschaft erfolgen. Es würde noch Jahre dauern, bis man wirklich sagen können würde, dass die sichtbaren Spuren und die Prozesse, die tagtäglich an die Verbrecher und ihre Taten erinnerten, vorbei waren.
Um Craig herum ging es zu wie in einem Taubenschlag. Er war in einem Feldlager der britischen Soldaten und teilte sich mit ihnen den Schlafsaal. Manche Männer standen gerade erst auf, manche gingen nun ins Bett, es war ein Kommen und Gehen unabhängig davon, welche Tages- oder Nachtzeit herrschte.
Das Telefon befand sich in der Offiziersmesse, die gerade nur von zwei Soldaten besucht war. Craig war froh darum, seine Ruhe zu haben. Es war besser, dass so wenige Leute wie möglich mitbekamen, was er zu besprechen hatte. Es war auf einer Seite einfach eine Sache der Geheimhaltung und auf der anderen die Angst, dass die Soldaten, egal aus welchem Land, noch einmal ausrasten würden, wie sie es in Dachau getan hatten. Es war Craigs Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alles in geordneten Bahnen und nach dem Gesetz verlief. Das Lynchen von Tätern war nichts anderes als Selbstjustiz und nicht die richtige Art, die Sache anzugehen.
Er nahm den Hörer ab. »Ja?«
Er hörte ein leicht genervtes Seufzen am anderen Ende. Es war verständlich, dass der Arzt ungeduldig war. Obwohl er den Anruf selbst ja kaum hatte erwarten können, hatte es dennoch nicht dazu geführt, dass er zum Telefon gerannt war.
»Sie ist stabil«, sagte der Anrufer. »Die Operation hat mehrere Stunden gedauert und es wird noch eine folgen müssen, aber momentan braucht ihr Körper Zeit, um sich zu regenerieren und zu Kräften zu kommen.«
»Kann ich morgen …« – Craig warf einen kurzen Blick auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr und korrigierte sich – »heute mit ihr sprechen? Je schneller, desto besser.« Er hatte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und zog sich eine Zigarette aus einer Schachtel, die immer in seiner Hosentasche steckte. Er drehte sie zwischen den Fingern, während er die Schachtel zurück an ihren Platz schob.
»Selbst wenn sie heute aufwacht, kann ich nicht sagen, ob sie bei klarem Verstand sein wird«, antwortete der Arzt. »Die wiederholte Gewaltanwendung auf ihren Kopf könnte langfristige Folgen haben.«
Craig fuhr sich unruhig mit der Hand über die müden Augen. Die Zeit lief ihnen davon. Sie wussten nicht genau, wann Erich Heckler verschwunden war, doch das musste schon einige Tage her sein. Wenn sie nicht schnell genug waren, würde der Kunsthändler es schaffen, sich ins Ausland abzusetzen – wenn er nicht sogar schon dort war. Craigs Kollegen streckten zwar schon die Fühler aus, um herauszufinden, wohin Heckler geflohen war – das war nämlich nicht seine Aufgabe –, aber für eine Suche gab es noch nicht mal Anhaltspunkte.
»Ich werde trotzdem in ein paar Stunden kommen und es probieren. Dann sehe ich mir auch ihre medizinische Akte an.«
»Na dann.« Der Arzt legte ohne Umschweife auf.
Auch Craig legte den Hörer zurück auf die Gabel. Er ließ sich an einen der Tische fallen, streckte die Beine aus und schob sich seine Zigarette zwischen die Lippen. Sein Sturmfeuerzeug klickte, als er es auf- und zuschnappen ließ, bevor es zurück in seine Hosentasche glitt. Er würde sich den kurzen Moment der Ruhe gönnen, bevor er wieder versuchen würde zu schlafen. Die Eindrücke des Tages hallten noch in ihm nach, und auch wenn sein Körper zur Ruhe kam, tat es sein Verstand nicht.
Wir entdecken den Dreck und Sie kategorisieren den Dreck.
Craig schnaubte, als er an die Worte eines Soldaten dachte, mit dem er sich unterhalten hatte. Er klopfte seine Zigarette über einem Aschenbecher ab und faltete die Hände dann hinter dem Kopf, war aber vorsichtig, um sich die Haare nicht zu versengen.
Hermann Göring, der Reichsluftfahrtminister und durch seine Rolle als Reichsmarschall der zweite Mann im Deutschen Reich war, war ein Kunstliebhaber. Bislang hatten sie jedoch keine Verbindung zu Erich Heckler herstellen können. Einer von Görings Handlangern für Kunst im besetzten Frankreich, Bruno Lohse, war von den Amerikanern inhaftiert worden und kooperierte. Auf Craigs Anfrage hin war er nach Erich Heckler gefragt worden und die Aussagen deckten sich mit dem, was sie bisher herausgefunden hatten. Heckler war Kunsthändler, der vermutlich auch Raubkunst der Nazis in einem privaten Rahmen verkaufte. Er machte es nie öffentlich, sondern man brauchte eine Einladung. Niemand wusste oder wollte sagen, wo er war. Aber er war reich genug, um unterzutauchen, nicht nur, was Geld anging, sondern auch an materiellen Dingen. Um eine andere Identität anzunehmen.
Er ist der Geist unter den Kunsthändlern. Interagiert nicht mit uns anderen Händlern, als wäre er etwas Besonderes und hätte es nicht nötig, sich mit uns abzugeben. Und es gibt keine Fotografie von ihm. Er ist paranoid und benimmt sich, als wäre allein ein Abbild von ihm zu besonders, um zu existieren. Ich habe nie eine Einladung für seine Versteigerungen bekommen. Du musstest in seinen Augen jemand sein, sonst hast du keine Möglichkeit gehabt, dorthin zu kommen. Aber niemand wusste, wann man es schaffen würde, jemand zu sein.
Das war Lohses Aussage gewesen. Es klang ganz so, als hätte Heckler das Mysterium um sich genutzt, um exklusiv zu wirken, sodass er auch weniger wertvolle Gemälde verkaufen konnte. Das stellte nun allerdings ein Problem dar, weil sie niemanden hatten, der ihnen eine Beschreibung des Mannes liefern konnte – außer Irma Bender.
Die Sterilität des Verbandes, der um ihren Kopf gewickelt war, und das Weiß der Bettdecke ließen Irma Bender angesichts ihrer Verletzungen nur noch verletzlicher wirken, als es der Dreck vor dem Waschen getan hatte, dessen war sich Craig sicher. Ihr rechtes Auge war komplett bedeckt, ihr linkes, blutunterlaufenes Augenlid war frei und hin und wieder sah man es zucken, auch wenn sie bislang nicht aufgewacht war.
In der Hand hielt Craig die angelegte Akte, die um Henrys Bilder ergänzt worden war und der außerdem der Bericht des Militärarztes hinzugefügt worden war. In dem Verletzungsmuster von Irma Bender schlüsselte sich auf, wie sie behandelt worden war und mit was für Methoden. Sie hatte eine Vielzahl von Verbrennungen, die auf Zigaretten zurückzuführen waren, und Craig war sich sicher, dass ihm seine nächste Zigarette nur noch halb so gut schmecken würde. Sie hatte diverse Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Die gebrochenen Finger ihrer linken Hand waren gerichtet worden, die gebrochenen Rippen bandagiert. Ihr ganzer Körper wies Schnittwunden auf.
»Ihr linkes Auge wird zwar nicht mehr die vollständige Sehkraft wiedererlangen, aber es sollte gut heilen. Ihr rechtes hingegen …« Doktor Mayfield, der ebenfalls neben dem Bett stand, machte eine kurze Pause und Craig konnte dem Arzt seine emotionale Erschöpfung ansehen. »Wir konnten es zwar retten, es ist aber fraglich, ob sie damit jemals wieder sehen können wird, selbst wenn wir sie morgen oder übermorgen noch einmal operieren. Sie ist Nierenschlägen ausgesetzt gewesen, deren Folgen wir aber unter Kontrolle haben sollten, genauso die Lungenentzündung. Die drei gebrochenen Rippen sind momentan stabil und es gibt kein Anzeichen von weiteren inneren Verletzungen, was mir fast wie ein Wunder erscheint.«
»Ich glaube, dass sie überhaupt noch am Leben ist, ist ein Wunder«, sagte Craig und stützte sich mit den Händen auf der Rückenlehne eines Stuhls ab. Er kannte von zu Hause genug Menschen, die das direkt einem Gott zuschreiben würden. Er selbst war sich da nicht so sicher.
»Das auch«, entgegnete Mayfield. »Ich schätze, sie ist zwei Monate inhaftiert gewesen.«
Mit verwirrter Miene sah Craig den Arzt an, sagte aber nichts. Es war ungewöhnlich, dass jemand so lange am selben Standort von der Gestapo festgehalten wurde. So etwas wie der Zellenkomplex in der Villa war eigentlich für vorübergehende Angelegenheiten gedacht, nur eine Durchgangsstation. Wenn die Nazis durch Folter nicht das bekamen, was sie wollten, richteten sie die Insassen ziemlich schnell hin oder verlegten sie in ein Konzentrationslager. Warum also war diese Frau so lange dort gewesen?
Der Arzt sprach weiter: »Deswegen ist sie auch unterernährt und dehydriert. Nach ihrem Zustand bei der Einlieferung zu schließen, war sie mindestens einen ganzen Tag lang ohne Wasser.«
Einen Tag mehr, den die Nazis hätten nutzen können, um Spuren zu beseitigen, doch sie hatten es nicht getan.
»Ist sie sexuell missbraucht worden?«
»Nein, zumindest nicht in letzter Zeit. Die Schmerzmittel, die sie bekommen hat, sind stark. Sie müssen also nicht hier warten, bis sie aufwacht. Das kann ein langwieriger Prozess sein, besonders in Anbetracht der zweiten Operation, die noch folgt.«
»Würden Sie das Verletzungsmuster auch vor Gericht wiedergeben und erläutern?«
Überrascht hob Doktor Mayfield den Kopf. Sein Blick wechselte von Craig zu Irma Bender und wieder zurück. »Vermutlich schon.« Auch wenn er zumindest ansatzweise wusste, was für eine Geschichte hinter seiner Patientin stand und weshalb Craig hier war, hatte er mit dieser Frage nicht gerechnet.
»Danke.«
»Geben Sie einer Schwester Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.« Der Arzt nickte zum Abschied.
7. Mai 1945
Es ließen sich einfach keine nützlichen Informationen über Irma Bender finden. Da war lediglich ein Eintrag im Haushaltsbuch von Erich Heckler, der bewies, dass sie wirklich Angestellte in seinem Haus gewesen war.
Craig kniete im Schlafzimmer des Mannes vor einer Kiste. Man hätte meinen können, in dieser intimen Umgebung ließe sich etwas finden, was ihnen helfen könnte, aber es gab keine Familienbilder, die auf ein Kind oder eine Frau in Hecklers Leben hinwiesen, und auch in keiner anderen Form Informationen über ihn oder seine Kunden. All das ließ für Craig diesen Mann nur noch weniger menschlich erscheinen. Genau zu so jemandem passte die Vorstellung, dass er einen Zellenkomplex unter seiner Villa hatte, in dem die Gestapo ihr grausames Werk verrichten konnte.
»Craig, komm mit.« Henry war im Türrahmen erschienen und winkte ihn mit einer Handbewegung zu sich. Um seine Taille trug er immer noch die Schürze für das Filmentwickeln. Er hatte sich seine Dunkelkammer in einem Abstellraum eingerichtet, der für seine Funktion ziemlich groß war und nichts Relevantes für ihre Untersuchungen beherbergte.
Craig erhob sich aus seiner knienden Position. Er folgte Henry in eins der vorderen Zimmer der Etage, die näher am Treppenaufgang lagen. Hier hatte sich Heckler Ausstellungsräume eingerichtet, deren Türen während der privaten Auktionen geöffnet worden waren. Leere Halterungen und Nägel prangten an vielen Stellen der Wand. Das gab ihnen einen Eindruck und Überblick darüber, wie viele Bilder er bei seiner Flucht mitgenommen hatte.
Craig zuckte unmerklich zusammen, als er David Baumgarten sah, der an einem für ihn aufgestellten Tisch saß und die Kunstunterlagen durchsah, die sie gefunden hatten. Er war ein Jude, der aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit worden war. Ein Schatten von Bartstoppeln deutete sich auf seinem Gesicht an. Dass seine Haare und sein Bart noch nicht nachgewachsen waren, ließ ihn nur noch gebrechlicher und erschreckender wirken.
Ein Kollege vom UNWCC hatte ihm von Baumgarten erzählt und Craig hatte selbst mit ihm gesprochen, als er kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers dort gewesen war. So war der Kontakt zustande gekommen und trotz seiner geschwächten körperlichen Konstitution hatte Baumgarten sich bereit erklärt, den Briten zu helfen. Da er vor der Enteignung seiner Besitztümer ein Kunsthändler gewesen war, war er denkbar für diese Aufgabe geeignet.
»Erzählen Sie ihm, was Sie gefunden haben«, forderte Henry David auf, während er die Hände in die Seiten stemmte.
»Ich habe mir das System angeschaut, nach dem die Gemälde katalogisiert worden sind.« Die Stimme des Mannes klang dünn und trocken, als hätte er nach seiner Befreiung immer noch nicht genug getrunken, trotz des Kruges und des Bechers Wasser, die vor ihm standen. Fast griff Craig selbst danach, denn sein Mund war auf einmal auch staubtrocken, als er dem Mann zuhörte. Vor ihm lag eines der wenigen Dokumente, die nicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren und teilweise noch Aufschluss über ihren Inhalt gaben.
»Hier ist ein Gemälde mit dem Titel ›Laternenschein‹ aufgelistet.« Der zittrige, knorrige Finger des Mannes fuhr über das Papier. »Als Stilrichtung ist der Impressionismus angegeben und als Künstler V. W.« Er hob den Kopf und seine Augen schienen bedeutungsvoll zu leuchten.
»Und wer ist V. W.?«, fragte Craig, der mit einem Blick auf Henry, der leicht den Kopf schüttelte, wusste, dass keiner von ihnen beiden nachvollziehen konnte, was David Baumgarten gefunden hatte.
»Ich glaube, V. W. steht für Vincent Willem.«
Stirnrunzelnd machte Craig ein paar Schritte in Richtung der großen Sprossenfenster, die viel natürliches Licht hereinließen, und wandte sich Baumgarten zu. »Vincent Willem?«
Der Kunsthändler lehnte sich in seinen Stuhl zurück und deutete erregt mit seinem Finger in die Luft. »Vincent Willem ist der Vor- und Zweitname des Malers van Gogh. Das Aufregende ist jedoch, dass es kein Gemälde von ihm gibt, das ›Laternenschein‹ heißt. Das bedeutet, dass es ein Bild aus einem Privatbestand ist, von dem die Öffentlichkeit nichts weiß. Wissen Sie, was für eine Sensation es wäre, wenn ein bisher unbekannter van Gogh auftauchen würde?!«
»Oder V. W. steht nicht für van Gogh, sondern für einen anderen, unbekannten Künstler«, stellte Craig sachlich fest. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Henry ihn mit schief gelegtem Kopf anstarrte. »Ist es verkauft worden?«, fragte Craig weiter und ignorierte sowohl den Fotografen als auch den entrüsteten Blick des Kunsthändlers, den Craigs sachliche Feststellung zu empören schien.
»Ich weiß es nicht. Von den Gemälden, die ich bisher hier gesichtet habe, ist keines impressionistisch oder passt zu van Gogh und dem Titel. Und die Liste hier ist nicht vollständig. Die Sparte Käufer ist leer.«
»Gibt uns die Information irgendeinen Aufschluss über Erich Heckler?«
Baumgartens Lippen öffneten sich. Sein Blick wanderte fragend zu Henry, um zu sehen, ob dieser seine Aufregung teilte. Craig löste sich aus seiner Position und baute sich vor dem Tisch auf. Der Geruch von Chemikalien, der an Henry hing, kribbelte in seiner Nase. »Ja oder nein?«
»Nein, solange er nicht versucht, das Bild loszuwerden.«
Zufrieden, endlich eine Antwort bekommen zu haben, nickte Craig. »Na dann, geben Sie Bescheid, wenn Sie etwas finden, das mir weiterhilft.« Er verließ das Zimmer. Ihm war bewusst, dass er den alten Mann verletzt hatte, doch er musste sich auf das Wesentliche und Wichtige konzentrieren. Sie mussten zügig arbeiten, sonst würde Erich Heckler vom Erdboden verschluckt werden und nie wieder auftauchen. Noch hatten sie eine gewisse, wenn auch geringe Möglichkeit, etwas zu finden, das ihnen Aufschluss über seine Flucht geben könnte.
Apropos. Er warf einen Blick auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Es war kurz nach achtzehn Uhr. Er würde heute noch zurück ins Lazarett gehen und schauen, ob er mit Irma Bender würde sprechen können. Als einzige Überlebende konnte sie ihnen vielleicht wertvolle Informationen liefern.
Der Schwindel in ihrem Kopf hatte aufgehört. Das Pochen war geblieben. Doch die Schmerzen in ihrem Körper waren erträglich und … sie lag auf einer weichen Unterlage. Langsam atmete sie tief ein und spürte, wie sich ihre Lungen mit sauberer Luft füllten. Sie blinzelte. Einmal, dann zweimal. Ihr rechtes Auge war bandagiert. Und auf ihrem linken sah sie alles nur verschwommen. Eine große, breite Gestalt saß auf einem Stuhl ihr gegenüber. Sie lag in einem richtigen Bett. Verwirrt von den vielen Eindrücken schloss sie wieder die Augen.
Wo war sie? Was war passiert? Wer war der Mann?
Sie hörte, wie der Stuhl knarrte, als er sich erhob, und öffnete schnell wieder die Augen, um zu beobachten, was er tat.
»Fräulein Bender?«
Seine Stimme. Der Akzent, der in der deutschen Sprache mitschwang … sie hatte Probleme, sich zu konzentrieren.
»Können Sie mich verstehen?«
Sie starrte ihn an. Was war hier los? Als sie eine Hand hob, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, sah sie die Bandagen um ihre Finger. Sie blickte an ihrem restlichen Körper herunter. Ihr Brustkorb war auch verbunden worden, das spürte sie.
»Fräulein Bender?«
Er klang penetrant, ungeduldig.
Ein kurzes Klopfen an der Tür ließ sowohl sie als auch den Mann aufschauen. Ein Mann in einem weißen Kittel kam herein.
»You’re awake«, sagte er auf Englisch eher zu sich selbst als zu den Anwesenden. – »Sie sind wach.«
»Das ist Doktor Evan Mayfield, der Arzt, der sich um Sie kümmert«, erklärte der Mann, der immer noch neben ihrem Bett stand. Er wandte sich zu dem Mediziner um. »Sie reagiert in keinster Weise auf das, was ich sage.« Er klang unzufrieden und verhielt sich, als wäre der Arzt daran schuld.
Dieser presste die Lippen aufeinander und trat zu ihr. Er fühlte ihren Puls.
»Why doesn’t she respond?«, fragte der fremde Mann mit verschränkten Armen nun auch auf Englisch. – »Warum reagiert sie nicht?«
Jetzt endlich schaffte sie es, sich zu fokussieren. Er sprach mit schottischem Akzent. Ihre Lippen öffneten sich und eine Mischung aus Seufzen und Schnauben kam aus ihrem Mund. Unruhig sprang ihr Blick umher. Sie war noch nie so froh gewesen, einen schottischen Akzent zu hören.
»Fräulein Bender, das ist Mr Brodie, er arbeitet für die englische Regierung und die UNWCC und möchte mit Ihnen über … Ihre Inhaftierung durch die Gestapo reden.« Der Arzt klang nicht erfreut über die Anwesenheit des britischen Beamten und sein holpriges Deutsch schien diese Botschaft umso mehr zu unterstreichen.
»Sie sind Briten«, murmelte sie leise. Sie konnte es nicht fassen.
Ist das wirklich real, Gott? Bin ich frei? Haben die Deutschen diesen verdammten Krieg endlich verloren? O Gott, du bist so gut. Tränen der Freude liefen ihr übers Gesicht. Die Männer schienen von dieser Reaktion nur noch verwirrter.
Aber da war noch etwas gewesen. Der Name des Mannes. Bradie – nein, Brodie. Sie kannte diesen Namen. Aber woher? Sie starrte den Mann an. Sie hatte ihn noch nie gesehen.
»Fräulein Bender, Sie sind von der britischen Armee befreit worden. Doch wir brauchen Ihre Hilfe. Erich Heckler befindet sich auf der Flucht und wir müssen alles wissen, was Sie uns über ihn sagen können.« Eindringlich hielt Craig ihren Blick mit seinen Augen fest, doch sie schien unfokussiert und mit den Gedanken ganz woanders. Er wartete einige Zeit, und als keine Antwort kam, wandte er sich an den Arzt. »Hat sie den Verstand verloren?«
»Sie ist erst seit wenigen Minuten wach, jetzt geben Sie ihr etwas Zeit.« Der Arzt tastete vorsichtig ihre verletzte Hand ab, und da er mit dem Rücken zu Brodie stand, konnte nur sie sein Augenrollen sehen. Er war genervt von dem Schotten. Ihre Mundwinkel zuckten und fast lächelte sie. Wachsam und verwirrt bewegte sich der Beamte zum Fenster, schien ihre Mimik aber nicht deuten zu können.
Er hält mich für verrückt, der Gedanke ließ sie fast laut auflachen. Vielleicht war sie das sogar. Aber im Augenblick störte sie das nicht.
»Haben Sie Schmerzen?« Der Arzt drückte ihre Hand fester und sie zog die Luft ein, als hätte er schon damit gerechnet, keine verbale, sondern nur eine körperliche Antwort auf seine Frage zu bekommen. »Ich lasse Ihnen Schmerzmittel bringen.«
Es klopfte wieder, diesmal länger als vorher. Ein Mann steckte den Kopf durch die Tür. Er blickte nur kurz zu ihr und dem Arzt und sah dann schnell weg, als würde er ihre Privatsphäre verletzen. »Craig, hast du einen Moment?«
Der Schotte nickte und löste sich aus seiner Position. Mit großen Schritten ging er auf die Tür zu, stoppte jedoch, als sie auf einmal hauchte: »Sie sind Craig Brodie.« Nicht die Tatsache, dass sie seinen Namen vollständig zusammengesetzt hatte, ließ ihn innehalten – sondern dass sie es in einem einwandfreien Englisch mit amerikanischem Akzent gesagt hatte. Mit einer Handbewegung bedeutete er dem Mann in der Tür, dass er warten solle. Dann näherte er sich ihr wieder.
»Craig Brodie«, wiederholte sie, diesmal jedoch undeutlicher.
»Was geht hier vor?« Er taxierte sie mit seinem Blick, als würde er damit eine schnellere Antwort bekommen.
Sie reagierte nicht. Sie starrte vor sich auf die Wand. Craig Brodie.
Auf einmal schnellte seine Hand vor und packte sie um den Oberarm. Sie schrie auf – vor Schmerz und Schrecken. Sie schnappte nach Luft, als das Brennen von ihren Verbrennungen und Prellungen durch ihre ganze linke Körperhälfte zog.
»Was fällt Ihnen ein?«, fuhr der Arzt Brodie an und drängte sich zwischen ihn und seine Patientin.
Selbst als seine Hand längst nicht mehr ihren Arm berührte, brauchte sie einige Sekunden, damit der Schmerz abklang und sie wieder ruhig Luft holen konnte. Sie musste sich bewusst machen, dass der Schmerz nicht zurückkehren würde. Es war nicht die Gestapo, die sie fest im Griff hatte und nur für einen Augenblick losließ, um gleich darauf wieder auszuholen.
»Wow, Craig, lass sie.« Der Mann von der Tür hatte sich ins Zimmer bewegt und blickte Brodie prüfend an. Er sah aus, als würde er zur Not seinen Freund zu Boden ringen.
»Was für ein Spiel spielen Sie hier?« Craig Brodie ignorierte die Männer um sich herum und fokussierte sich nur auf sie. Er fühlte sich bedroht.
»Ich spiele kein Spiel.« Ihre Stimme war dünn, ihr Mund trocken. Es war Monate her, dass sie das letzte Mal Englisch gesprochen hatte. »Bitte … rufen Sie Stewart Menzies an.«
Überrascht drehte sich der Arzt zu ihr um. Stewart Menzies war der Leiter des britischen Geheimdienstes. Und Mayfield wusste nicht, dass Brodie Teil davon war.
»Warum sollte ich das tun?«, fragte er interessiert und verdrängte die Tatsache, dass der Doktor nun Bescheid wusste.
»Ich bin Margret Nelson.«
Es traf Craig wie ein Schlag ins Gesicht. Margret Nelson. Eine junge Frau, die vom amerikanischen Geheimdienst, dem Office of Strategic Services (OSS), hinter die deutschen Linien geschleust worden war und seit Monaten als vermisst galt. Das war nicht gut. Ganz und gar nicht. Dass sie in den Händen der Gestapo gewesen und hier halb tot zurückgelassen worden war, bedeutete, dass die Gestapo Informationen bekommen hatte. Informationen über die Arbeit des Geheimdienstes der Vereinigten Staaten von Amerika.
4. Mai 1945
Liebe Maggie,
ich lasse mich nicht davon beirren, dass du mir nicht antwortest, ich werde dir weiter schreiben, und selbst wenn du die Briefe ungelesen wegwirfst, spüre ich, dass es mir besser geht, wenn ich dir schreibe. Vielleicht erleichtere ich so mein Gewissen, weil ich nur dadurch Kontakt zu dir haben kann – auch wenn er sehr einseitig ist. Du musst bitte auch mich verstehen, immerhin kann ich nicht einfach weitermachen, als würde mir Gott nicht sagen, dass ich in irgendeiner Form für dich da sein soll.
Das erste Mal seit Wochen spüre ich so etwas wie Erleichterung. Ich weiß nicht genau, warum, doch Gott gibt mir auf einmal ein überraschendes Gefühl von Ruhe. Ich hoffe und bete, dass du in Sicherheit bist und es dir gut geht.
Ich befinde mich gerade auf einem Truppentransporter im Pazifik – Genaueres darf ich dir nicht sagen, das unterliegt der Zensur. Doch ich schicke diesen Brief an jemanden, der ihn schließlich an dich weiterleitet. Ich weiß nicht, wann ich zurück in die Staaten komme, aber immerhin in Europa scheint sich ein Ende dieses verdammten Krieges abzuzeichnen.
Verzeih, dass ich dir nur so kurz schreibe. Wir haben nicht nur die Japaner zum Feind, sondern auch die Malaria, die uns alle niederrafft, und meine Kraftreserven sind auch schon am Ende. Auch die verwundeten Männer haben Malaria und für viele sieht es nicht gut aus … bete für ein schnelles Ende.
Ich kann es nur wiederholen: Melde dich bitte, damit ich weiß, wie es dir geht. Sag mir, wie ich dir helfen kann. Das wäre wenigstens einen Stückchen Hoffnung in diesem trüben Alltag.
Möge der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, dein Herz und deine Sinne bewahren.
Nathanael
Als Craig Brodie den Raum verließ, ließ er Maggie verwirrt zurück. Mit solch einer offensichtlichen Ablehnung hätte sie nicht gerechnet. Und auf eine ungeahnte Weise verletzte sie sein Verhalten.
Als der Arzt nun erneut seine Finger an ihr Handgelenk drückte, wurde ihr klar, dass er ihr rasendes Herz, das sie selbst gegen ihren Brustkorb schlagen spürte und in ihren Ohren pochen hörte, bemerken würde.
Sie zog ihren Arm zurück. Vielleicht lag es daran, dass ihr immer noch nicht voll und ganz bewusst war, dass sie in Sicherheit war und nicht mehr verstecken musste, wie sie sich fühlte.
Der Arzt stieß einen Seufzer aus, der ihm nicht bewusst zu sein schien, und machte sich eine Notiz in einer Akte. »Wie stark sind die Schmerzen?« Er machte da weiter, wo sie vorhin unterbrochen worden waren. Vielleicht war das seine Art, sich mit der Routine zu beruhigen, nachdem die Situation eskaliert war.
Trotz der Schmerzen, die ihr die Wunden am ganzen Körper bewusst machten, sagte Maggie: »Es geht schon.«
Evan Mayfield kniff leicht die Augen zusammen, akzeptierte trotz ihrer offensichtlichen Lüge aber ihre Antwort. Und auch wenn sie es nicht sagte, schien das eine beruhigende Wirkung auf sie zu haben, denn der Druck, der ihr das Atmen schwerer machte, wurde ein wenig leichter.
»Ist Ihre Sicht auf dem linken Auge verschwommen?«
Sie nickte nur.
»Ich werde morgen einen Sehtest machen, um einschätzen zu können, wie stark die Einschränkung ist, und Sie werden dann in geraumer Zeit eine Brille bekommen, denn mit der ersten Operation haben wir unser Bestes getan, aber eine weitere Besserung ist nicht in Sicht.« Er machte eine Pause, um ihr die Möglichkeit zu geben, nachzufragen. Doch sie schwieg. Sie sah ihn nicht mal an. »Ihr rechtes Auge ist heute zum zweiten Mal operiert worden, aber es sieht nicht gut aus.«
Welcher Tag war heute? Maggie hatte versucht, den Überblick zu behalten, doch sie war gewarnt worden, dass bei einer möglichen Gefangennahme die Zeit gegen sie eingesetzt werden würde. Es waren Wochen vergangen, seit sie inhaftiert worden war, dessen war sie sich sicher. Aber welches Datum war heute? War schon Mai? Wie stand es um den Krieg? War er schon längst vorbei und sie hatte es nicht mitbekommen? Craig Brodie hatte gesagt, sie bräuchten ihre Hilfe, um Erich Heckler zu finden. Sie hatten ihn also nicht. Er war entkommen. Unwillkürlich blickte sie zur Tür, als könnte er jeden Augenblick auftauchen.
»Sie sind hier in Sicherheit«, sagte Doktor Mayfield, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Welches Datum haben wir?«
»Miss Be…Nelson.« Er wartete, bis ihr Gedankenkarussell scheinbar aufgehört hatte, sich zu drehen, und er ihre Aufmerksamkeit hatte. In der Zeit zog er sich einen Stuhl an die Seite ihres Bettes und setzte sich ernst. »Haben Sie mir zugehört?« Er schien zu wissen, dass er keine Antwort zu erwarten brauchte, deswegen fuhr er fort: »Ihr rechtes Auge ist schwer geschädigt worden, Sie werden auf ihm vermutlich dauerhaft blind bleiben.«
»Gott kann heilen. Er hat einen blinden Mann geheilt, da ist die Heilung von einem Auge doch eine Kleinigkeit.«
»Miss Nelson, ich habe das Gefühl, Sie verstehen nicht. Sie werden langfristige, wirklich irreparable Schäden davontragen. Es wurde über einen längeren Zeitraum hinweg Gewalt auf ihren Kopf ausgeübt. Auch das kann – und wird mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit Folgen haben.«
Diesmal erwiderte sie nichts.
Evan Mayfield lehnte sich nach vorn und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab, in den Händen ihre Akte. »Sie haben Kopfschmerzen und Konzentrationsprobleme.« Er wollte ihr seine vorherigen Erklärungen damit nur noch bewusster machen. »Und Ihre röchelnde Atmung, zurückzuführen auf Ihre Lungenentzündung, stellt ein Problem dar. Ich will ganz ehrlich sein: Sie könnten daran sterben, wenn sich in nächster Zeit keine Besserung einstellt.«
Die Aussage, dass sie sterben könnte, machte ihr keine Angst. Sie glaubte nicht, dass Gott sie jetzt, nachdem sie all das überstanden hatte und in Sicherheit war, zu sich holen würde. Aber der Arzt erinnerte sie an ihre Symptome. Sie nahm es kaum noch wahr, dass sie glühte und ihr jeder Atemzug schwerfiel. Es schien schon voll und ganz zu ihr zu gehören.
»Welches Datum haben wir?« Sie war nun den Tränen nahe und das schien den Arzt wenigstens insofern zu erweichen, dass er bereit war, seinen Monolog zu beenden und ihre eine Antwort zu geben.
»Den siebten Mai.«
Maggie holte tief Luft. »Danke«, hauchte sie fast unhörbar. »Würden Sie mich bitte allein lassen?«
Schweigend akzeptierte er ihren Wunsch.
Siebter Mai, siebter Mai. Das Datum hämmerte in ihrem Kopf. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Sie versuchte sich zu fokussieren, wegzukommen von dem Sog an Gedanken in ihrem Kopf. Dies war das Erste, das ihr wieder ein Stück Kontrolle gab: Sie wusste, welcher Tag war.
Sie hatte in den letzten Wochen gelernt, Kontrolle abzugeben. Sie hatte in der Stille ihrer Zelle Gott so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie noch nie und sich bewusst gemacht und immer und immer wieder in Erinnerung gerufen, dass er Gott war und die Macht über alles hatte. Und seine Kraft hatte sie zurück in die Freiheit geführt.
»Wiederholen Sie das.«
Genervt schloss Craig die Augen, wusste aber, dass Major General William Joseph Donovan, der Chef des amerikanischen Geheimdienstes OSS, es ernst gemeint hatte.
»Margret Nelson«, wiederholte er daher in den Hörer. »Wir haben sie in einem geheimen Gestapogefängnis gefunden. Sie ist am Leben.«
Er wartete. Er hatte zuerst ein kurzes Gespräch mit dem Leiter der UNWCC geführt und dann mit seinem Chef vom MI6 telefoniert, der ihn direkt mit seinem amerikanischen Kollegen verbunden hatte. Stewart Menzies hatte klargestellt, dass er trotz des Sicherheitsrisikos, das von Miss Nelson ausging, unter allen Umständen versuchen sollte, an so viele Informationen wie möglich zu kommen, die ihnen helfen würden, Nazis zu überführen. Und ganz klar war, dass sie als Zeugin fungieren würde, sollte es einen Gerichtsprozess geben.
»Was hat sie gesagt?«
Craig hob abrupt den Kopf und sein Mund wurde schlagartig trocken. Einen Fehler beziehungsweise eine Fahrlässigkeit zu gestehen, besonders vor dem Leiter des weltweit wichtigsten Geheimdienstes, war etwas, was er bisher überaus selten hatte tun müssen. »Sie hat nur gesagt, dass ich meinen Chef Stewart Menzies anrufen soll, und dann ihren Namen gesagt.«
Hoffentlich gab er sich mit der Antwort zufrieden und konnte seine unmittelbare Entscheidung, erst diese Telefonate zu führen, verstehen.
»Bringen Sie mehr in Erfahrung.« So ziemlich das, was auch sein Chef gesagt hatte.
Er hörte den Mann einatmen und bereits für die nächsten Anweisungen ansetzen, da kam er ihm zuvor: »Haben Sie von ihr Informationen erhalten? Wie ist sie hinter die Grenze gekommen? Wann haben Sie das letzte Mal von ihr gehört?«
»Ich werde auf diesem Weg keine Einzelheiten mit Ihnen besprechen. Sie werden noch ausführlich informiert werden, doch momentan hat die Beschaffung von Informationen oberste Priorität. Sie stellt ein Sicherheitsrisiko dar und es ist an Ihnen, es einzuschätzen. Ich werde Ihnen einen meiner Mitarbeiter schicken, doch das wird ein, zwei Tage Zeit brauchen. Ich bin mir aber sicher, dass Sie genauso kompetent sind, die Aufgabe vorerst zu erfüllen.«
Vorerst. Der Mann schaffte es tatsächlich, ein Kompliment über die Lippen zu bringen und es im nächsten Moment wieder zunichtezumachen.
»Natürlich.«
»Was können Sie mir über ihren Zustand sagen?«, wollte Donovan außerdem wissen.
Im Hintergrund hörte Craig Stimmengemurmel. Der Chef des OSS war nicht allein. Wahrscheinlich war durch die Tatsache, dass eine Spionin in Feindeshand geraten war, gerade eine Ereigniskette losgetreten worden, die eine Menge Personal auf den Plan rief.
»Sie war schwerster Gewaltanwendung ausgesetzt und hat sich noch eine Lungenentzündung eingefangen. Das Gravierendste ist aber, dass ihre Sehfähigkeit eingeschränkt ist und auch ihr Verstand in Mitleidenschaft gezogen sein könnte – sowohl durch die Gewalt als auch die Umstände der Inhaftierung.« Ihm lief immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn er an die kleine Zelle dachte, in der sie über Wochen hinweg eingesperrt gewesen sein musste – wie lange genau, wussten sie noch nicht einmal.
»Hei–«
»Wann ist der Kontakt zu ihr abgebrochen, Sir?«, unterbrach ihn Craig und wiederholte damit eine seiner Fragen, die ihn am brennendsten interessierte.
Der Mann ließ sich jedoch nicht irritieren und fuhr fort: »Heißt das, sie könnte nicht mehr in der Lage sein, die vergangenen Monate zu rekapitulieren?«
Unzufrieden, keine Antwort erhalten zu haben, presste Craig kurz die Lippen zusammen und ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er antwortete. Donovan würde diese Zeichen zu verstehen wissen. »Ja.«
»Probieren Sie es. Lassen Sie nicht locker. Wir brauchen die Informationen und wir brauchen sie jetzt.«
»Natürlich, Sir.« Er hängte den Hörer in dem Moment zurück auf die Gabel, als das Tuten in der Leitung ihm zu verstehen gab, dass auch am anderen Ende aufgelegt worden war.
Langsam holte er Luft. Es würde ihm nicht leichtfallen, diese Befragung zu führen. Auch wenn er sich in den letzten Monaten ausgiebig mit den Nazis und ihren Taten auseinandergesetzt hatte, war dieser Punkt seiner Arbeit, bei dem es an das Konkretisieren und aktive Katalogisieren ging, kräftezehrend. Und dass Margret Nelson nebenbei nicht nur ein Opfer war, sondern auch ein Gefahrenpotenzial barg, was die Arbeit eines Verbündeten anging, machte die Sache nur noch komplizierter. Craig fragte sich, ob es nicht ein Fehler von Donovan oder wem auch immer gewesen war, eine Frau ins Deutsche Reich einzuschleusen.
9. Mai 1945
Maggie war sofort hellwach, als eine Krankenschwester leise das Zimmer betrat. Ihr Kopf pochte trotz der Schmerzmittel immer noch unaufhörlich, aber es störte sie nicht mehr. Irgendetwas tat immer weh.
»Ich wollte Sie nicht wecken.« Obwohl sie beide allein im Zimmer waren, flüsterte die Schwester. Nur durch die offene Tür fiel Licht vom Gang in den Raum.
»Ich war schon wach«, log Maggie, ohne nachzudenken. Sobald sie es ausgesprochen hatte, bereute sie ihre Lüge, konnte sie aber nicht mehr rückgängig machen, ohne verwirrt zu wirken.
»Haben Sie Schmerzen? Brauchen Sie etwas?«
»Nein, danke.«
Die Krankenschwester zog ein Fieberthermometer aus ihrer Schürzentasche und schob es Maggie in den Mund. Während sie auf das Ergebnis wartete, legte sie ihren Handrücken auf Maggies Stirn und schenkte ihr dann ein Glas Wasser ein.
»39,2 Grad. Das Fieber sinkt, das ist gut. Aber Sie müssen viel trinken.« Sie drückte ihr das Glas in die Hand und wartete, bis sie ein paar Schlucke genommen hatte. Doch egal wie viel Maggie trank, sie hatte immer das Gefühl, einen trockenen Mund zu haben.
»Danke«, krächzte sie und lehnte sich zurück in die Kissen. »Wann kommt der Verband ab?« Sie berührte die Mullbinden, die um ihren Kopf gebunden waren und ihr rechtes Auge bedeckten.
Die Krankenschwester blinzelte mehrmals verwirrt, bevor sie in ihrem normalen Tonfall sagte: »In ein, zwei Tagen. Das muss der Arzt entscheiden.«
Anscheinend hatte Maggie schon einmal diese Frage gestellt, sie konnte sich aber weder daran noch an die Antwort erinnern.
»Mr Brodie war vorhin wieder da, Sie haben aber geschlafen und der Arzt hätte ihn ohnehin nicht zu Ihnen gelassen, nachdem er sich so danebenbenommen hat.«
»Craig Brodie«, murmelte Maggie undeutlich. An den Namen und an ihn konnte sie sich noch erinnern.
»Keine Sorge.« Die Stimme der Schwester wurde weich. »Er möchte nur so schnell wie möglich die Informationen bekommen, die er braucht, und dann haben Sie nichts mehr mit ihm zu tun. Ich bin sicher, Sie wollen ja auch, dass die Deutschen zur Rechenschaft gezogen werden.« Gegen Ende wurde sie immer leiser und auf einmal schien sie es eilig zu haben, Maggie eine gute Nacht zu wünschen und wieder zu verschwinden. Ihre Art, einen Rückzieher zu machen, auch wenn die Worte nicht rückgängig zu machen waren.
Die Seite der Alliierten verfiel oft in eine Haltung, alle Deutschen zu verurteilen und Gerechtigkeit zu fordern. Es war offensichtlich, dass das ganze Gesellschaftssystem umgekrempelt werden müsste, um einen Rechtsstaat etablieren zu können. Die deutsche Niederlage war unausweichlich und es war nur noch eine Frage von Tagen bis zu einem offiziellen Ende – das hatte Maggie erfahren. Es war ihr schon bei ihrer Inhaftierung klar gewesen, bloß war sie sich zu dem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob sie es noch erleben würde.
Doch nicht alle waren das, was man über sie sagte, nicht alle Deutschen waren Nazis, genauso wenig wie alle Japaner schlechte Menschen waren, nur weil Japan Pearl Harbor angegriffen hatte. Es schien das Wesen des Menschen zu sein, dass er alles kategorisieren wollte. Momentan war sie sich nicht sicher, zu welcher Gruppe sie gehörte. Zu den Geisteskranken? Sie erschrak selbst manchmal über die Worte, die ihr über die Lippen kamen.
Du bist mein Kind.
Trotz des Fiebers und der Decke, die über ihr lag, fröstelte Maggie. In der Zelle war ihr trotz der Kälte ein Hitzeschauer durch den Körper gejagt, nun fror sie trotz der Wärme. Es schien ihr, als wolle Gott dadurch ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie atmete tief ein. Seit sie hier im Lazarett aufgewacht war, nickte sie immer wieder ein, erholsam war der Schlaf aber nicht. Dafür war er nicht tief und lang genug.
Sie begann, sich vor ihrem inneren Auge ein weites Feld vorzustellen, frisch gerodet. Der Duft von Erde hing in der frischen Luft, die Sonne brannte auf angenehme Weise auf ihrer Haut. Es war ihre Flucht in eine andere Welt, weg von der bedrückenden Enge und der Stille. In dieser Welt grub sie die nackten Zehen in die feuchte Erde, ließ ihre Haare vom Wind zerzausen. Vögel zwitscherten und irgendwo rauschte ein Bach.
9. Mai 1945
Der Wecker klingelte um fünf Uhr in der Frühe. Craig brauchte eine Viertelstunde, um sich anzuziehen und einen Tee zu trinken. Gestern war die bedingungslose Kapitulation der Deutschen in Kraft getreten. Der Tag ging als Victory in Europe Day – der Tag des Sieges in Europa – in die Geschichte ein.
Craigs Kollege Richard war dabei, alle Unterlagen aus dem Haus von Erich Heckler durchzusehen und zu katalogisieren, während er selbst wieder zum Lazarett fahren und versuchen würde, Informationen von Margret Nelson zu bekommen. Er hatte vor zwei Tagen überreagiert, das war ihm bewusst. Als sie seinen Namen und seinen Chef in Verbindung miteinander gebracht hatte, war irgendetwas in ihm ausgerastet. Sie war ein Opfer, aber sie war auch ein Sicherheitsrisiko und hatte in diesem Augenblick ihn und seine Arbeit gefährdet.
Das Seltsame war, dass sein Chef, Stewart Menzies, nicht wusste, warum sie augenscheinlich informiert war, dass Craig beim MI6 war. Das war auch eine Frage, auf die er eine Antwort finden wollte. Doch momentan hatte Erich Heckler Vorrang. Mit den Amerikanern hatten sie bereits koordiniert, dass alle relevanten Informationen, die aus Margret Nelsons Zeit als Spionin im Hause Heckler stammten, bei ihren Ermittlungen gebündelt und geteilt würden, damit sie ihre Chance erhöhten, eine Spur zu finden, wo der Mann sein könnte. Vermutlich würde es nur noch ein paar Stunden dauern, bis ein amerikanischer Kollege kommen würde, und diese Zeit wollte Craig noch nutzen. Gestern hatte der Arzt es geschafft, ihn von Margret Nelson fernzuhalten, doch heute würde er sich nicht abwimmeln lassen.
Auf seiner BSA M20, einem Motorrad der britischen Marke Birmingham Small Arms Company, fuhr er zum Lazarett. Es war die effektivste Methode, um vorwärtszukommen. Viele Straßen waren für Autos nicht befahrbar, und wenn, dann waren sie voller Militärfahrzeuge.
Im Lazarett lief gerade die Schichtübergabe und mehr Personal als sonst war in den Gängen unterwegs. Er fiel ohne Uniform auf, doch niemand sagte etwas. Kurz warf Craig einen Blick den Gang hinunter und dann über seine Schulter, bevor er, ohne groß anzuklopfen, in das Zimmer von Margret Nelson huschte. Es ehrte Doktor Mayfield, dass er das Wohlergehen seiner Patientin über die Möglichkeit stellte, einen Nazi zu finden. Doch Craigs Arbeit verlangte von ihm, dass er an das höhere Ziel dachte, dass viele Menschen Gerechtigkeit erfuhren, statt dass Miss Nelson ihre Ruhe vor ihm und seinen Fragen hatte.
Abrupt stoppte er, als er sah, dass das Bett leer war. Er roch das Waschmittel, das Bett war frisch bezogen worden, der Nachttisch freigeräumt. Sein Puls beschleunigte sich. Wo war Margret Nelson?
Mit zusammengebissenen Zähnen und großen Schritten eilte er in Richtung Schwesternzimmer. Wenn Margret Nelson gestorben war, hatten sie ihren einzigen Trumpf verloren. Und das alles, weil er sie nicht früher hatte befragen können.
»Wo ist Margret Nelson?«, blaffte er die erste Krankenschwester an, die ihm begegnete. Sein schottischer Akzent ließ seine Stimme noch rauer und bedrohlicher klingen, als sie durch den Tonfall ohnehin schon war.
Entsetzt weiteten sich die Augen der Frau Anfang vierzig. »Ich bitte Sie, das hier ist ein Lazarett! Senken Sie gefälligst Ihre Stimme! Und hat Ihnen niemand beigebracht, dass …«
»Ist schon gut, Sally.« Doktor Mayfield kam aus einem Patientenzimmer. Er hielt eine Akte in der Hand, die er der Schwester übergab, und entließ sie dann mit einem Kopfnicken. Er stieß leicht genervt die Luft aus. »Mr Brodie, bringen Sie wieder Chaos in mein Lazarett?«
»Wo ist Margret Nelson?« Diesmal zügelte Craig seinen Tonfall und dadurch konnte man die Sorge aus seiner Stimme heraushören. Auch der Arzt schien es zu hören und seine Gesichtszüge entspannten sich etwas. Anscheinend erkannte er, dass Craig wirklich besorgt war und nicht einfach nur unhöflich.
»Sie ist in einem Behandlungszimmer. Sie wird gleich untersucht und solange können Sie nicht zu ihr.«
Erleichtert holte Craig Luft. Sie war nicht tot. Aber die Angst, dass sie es hätte sein können, hatte ihn darin bestärkt, dass er keine Zeit mehr verlieren sollte. »Es sind nun schon über zwei Tage vergangen, seit sie hier ist. Die britische Regierung und auch die amerikanische haben keine Geduld mehr.«
»Mich unter Druck zu setzen …«, begann der Arzt.
»Es ist in Ordnung.«
Die Köpfe der beiden Männer fuhren in die Richtung, aus der Margret Nelsons Stimme kam. Auch wenn sie sehr leise gesprochen hatte, hatten beide Männer sofort reagiert.
Margret hatte eine Hand gegen ihre geprellte Hüfte gepresst und stützte sich mit der anderen am Türrahmen ab. Das Laufen war unangenehm und jeder Schritt kostete sie enorme Kraft. Sie hatte die laute Stimme von Agent Brodie bereits gehört, als er die Krankenschwester angefahren hatte. Doch erst als sie die Stimme von Doktor Mayfield vernommen hatte, hatte sie sich getraut, die Tür zu öffnen.
»Sie sollten sich besser wieder hinsetzen.« Der Arzt musterte sie besorgt, doch Maggie vertraute ihrem Körper, dass er das durchhielt. Ihre Lungenentzündung war abklingend, sie war auf dem Weg der Besserung.
»Lassen Sie uns am besten ins Zimmer gehen.« Craigs Gemüt beruhigte sich. Er war nahe daran, diese Sache endlich hinter sich zu bringen.
»Ich werde danach zu Ihnen kommen«, sagte Doktor Mayfield gepresst, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und zu seinem nächsten Patienten ging.
Maggie ging – humpelte – zurück in das Untersuchungszimmer. Da ihr rechtes Auge immer noch von einem Verband bedeckt war, stieß sie öfter gegen irgendwelche Dinge und hatte schon mehr als eine Tasse versehentlich zu Boden geworfen. Es machte sie verrückt! Es wurde höchste Zeit, dass der Verband abkam und sie wieder ihre gewohnte Sicht hatte. Sie setzte sich auf die Liege. Ihre rechte Hand fuhr in die Tasche ihres Morgenmantels und sie zog ein zerknittertes, zusammengefaltetes Papier heraus. »Hier.« Sie hielt es Brodie hin. Sie verstand seinen Drang, schnell Informationen über Erich Heckler zu bekommen.
»Was ist das?«
Sie gab ihm keine Antwort, sondern wartete, dass er es auseinanderfaltete. Mit zittriger Handschrift hatte sie eine Adresse notiert. In Österreich. »Dort ist das Ferienhaus eines Freundes von Erich Heckler. Es ist gut möglich, dass er über Österreich versucht zu entkommen und vielleicht unterzutauchen.« Ihre linke Hand lag schlaff in ihrem Schoß.
Langsam hob Brodie den Blick. »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
Maggie schluckte. »Ihn habe ich nach der Inhaftierung nur einmal gesehen. Das war …« Sie schüttelte leicht den Kopf, konnte aber keine weitere genaue Angabe machen.
»Wann sind Sie inhaftiert worden?«, versuchte er ihr zu helfen, den Fokus zu behalten.
»Mitte März.« Sie klang unsicher.
Craig versuchte, sich sein Unwohlsein nicht anmerken zu lassen. Über eine so lange Zeit hinweg von der Gestapo verhört zu werden kam einer Erfahrung in der Hölle gleich. »Was ist passiert? Wie sind Sie enttarnt worden?«
Ihr Blick sprang hin und her, selten sah sie ihn direkt an. Ihre Konzentrationsprobleme machten es ihr schwer, die richtigen Informationen zur Beantwortung seiner Fragen herauszufiltern. »Wir sprachen gerade über die Planung bezüglich der Feierlichkeiten von Hitlers Geburtstag.«
Ein Schaudern überkam Craig. Sie sprach in der Wirform. Ja, es war Teil ihrer Arbeit gewesen, sich so zu verhalten, wie es ein Großteil der deutschen Bevölkerung getan hatte, doch es klang ziemlich abstrus.
»Mitten im Gespräch wurde Luftalarm ausgelöst und ein alliiertes Flugzeug von den Flakgeschützen vom Himmel geholt. Ein Freund von Erich Heckler, der Teil der SS ist, wurde verständigt. Ich habe das Gespräch belauscht und dann versucht, den Fallschirmspringer zu finden.«
»Und dabei sind Sie entdeckt worden?«
Sie nicke. »Ich wurde als Landesverräterin dargestellt.«
»Was für Informationen haben Sie ihnen über sich, Ihre Arbeit und die amerikanische Regierung preisgegeben?« Vor Aufregung verdoppelte sich Craigs Puls. Er war sich ziemlich sicher, dass sie keine geheimdienstlichen Informationen, die von elementarer Bedeutung waren, hatte und deswegen auch nicht hätte verraten können, doch er musste sichergehen, dass es kein Sicherheitsrisiko gab.
Sie blinzelte heftig, während ihr Brustkorb sich schnell hob und senkte. Auch sie war offensichtlich angespannt – kein gutes Zeichen. »Ich habe Ihnen gesagt, dass die Amerikaner mich geschickt haben und wie ich über die deutsche Grenze gekommen bin.«
Langsam ging Craig im Raum auf und ab, die Arme fest verschränkt, um zu verhindern, dass sie womöglich in wilder Gestikulation durch den Raum flogen. Maggie musste ihren Kopf weiter drehen als sonst, um ihn im Blick behalten zu können.
»Das war es? Mehr haben Sie nicht erzählt?«, hakte er nach.
Maggie schüttelte den Kopf, bereute diese Bewegung aber schnell und verzog das Gesicht. »Nein«, fügte sie hinzu.
»Sie waren über sieben Wochen inhaftiert. Tut mir leid, aber angesichts der Folter, die Ihnen widerfahren ist, glaube ich nicht, dass das das Einzige war, was Sie preisgegeben haben. Ich habe Ihre Zelle gesehen.« Er macht eine Pause, doch Maggie sagte nichts. »Das hält niemand auf Dauer aus.«
Unruhig rieb Maggie mit ihrer Hand über den Stoff ihres Morgenmantels. Sie hatte Angst vor den Worten, die ihre Antwort sein würden. Sie entsprachen der Wahrheit, davon war sie im ersten Moment überzeugt, doch dann kamen die Zweifel. Merkte man überhaupt, wenn man verrückt war? Und was würde Craig Brodie denken? Er kannte durch seine Arbeit Geschichten wie ihre und würde ihr sicher nicht glauben, wenn sie versuchte zu erklären, was sie getan hatte, um nicht den Verstand zu verlieren.
»Ich habe die Stille genutzt. Für … nennen wir es persönliche Wiederherstellung.« Wir. Durch das Pronomen versuchte sie, ihn in ihre Situation persönlich einzubinden. Etwas, was ihr in ihrem Vorbereitungstraining gezeigt worden war. Eine Möglichkeit, um zu versuchen zu verhindern, dass man selbst und sein Gesprächspartner auf völlig unterschiedlichen Seiten standen – wie es momentan den Anschein hatte. »Ich habe Zeit mit Gott verbracht.«